MEDIZINREPORT GLAUKOM Eine vaskuläre Neuropathie Fotot: Stroebl Communication Circa 40 Prozent der Glaukompatienten haben einen normalen Augeninnendruck, aber das Auge ist extrem empfindlich gegenüber Blutdruckschwankungen. Ophthalmologen und Internisten sollten deshalb die Behandlung miteinander abstimmen. Ein trockenes, gereiztes Auge kann auf ein Glaukom hinweisen. A 562 N eue Erkenntnisse zur Pathogenese und Pathophysiologie des Glaukoms (grüner Star) legen vor allem eines nahe: Ein Teil der Patienten bedarf einer interdisziplinären Behandlung, sonst könnte durch die Therapie das Fortschreiten der Erkrankung gefördert werden. Charakteristisch für das Glaukom ist, dass es kaum spezifische Symptome hervorruft. Der Funktionsverlust manifestiert sich zunächst mit Ausfällen in der Peripherie des Gesichtsfelds. Unbehandelt vergrößern sich diese Skotome, gehen ineinander über und verursachen erst in weit fortgeschrittenem Stadium eine wahrnehmbare visuelle Beeinträchtigung. Bis vor einigen Jahren wurde der grüne Star fast ausschließlich auf eine Erhöhung des Augeninnendrucks zurückgeführt, auf Werte über 21 oder 22 mmHg. Bei der neueren Definition des Glaukoms, wie jener der European Glaucoma Society, wird der Augeninnendruck gar nicht mehr erwähnt. Stattdessen liegt der Schwerpunkt des Krankheitsbegriffs auf dem Aspekt der glaukomatösen Neuropathie. Einen Verlust von Nervenfasern gibt es zwar bei zahlreichen degenerativen Erkrankungen des Zentralnervensystems oder der Sinnesorgane: Der Zelltod von Neuronen führt zu einem blassen und atrophischen Sehnervenkopf, zum Beispiel nach einem Zentralarterienverschluss oder nach einer anterioren ischämischen Optikusneuropathie, aber nicht zwangsläufig zu einer Exkavation der Sehnervenscheibe, wie sie beim Glaukom ophthalmoskopisch sichtbar ist. Aktiver Umbauprozess und Reduktion des Blutflusses Diese für das Glaukom spezifische Veränderung bedarf neben eines Verlusts von Axonen, Gliazellen und Blutgefäßen auch eines Gewebeumbaus, der zu einer Ausbuchtung und Dehnung der Lamina cribrosa führt. Die Exkavation, so erklärt Prof. Dr. med. Josef Flammer (Kantonsspital Basel) anlässlich des Weltglaukomtages am 6. März, sei nicht einfach das Ergebnis mechanischer Kräfte, sondern das eines aktiven biologischen Umbauprozesses. Zu diesem Prozess trägt eine Reduzierung des Blutflusses beträchtlich bei. Er ist nach Flammers Einschätzung bei der Mehrzahl der Glaukompatienten in allen Teilen des Auges reduziert. Die Angiografie offenbart relative und absolute Füllungsdefekte, eine verspätete Füllung der Gefäße und eine diffuse Anfärbung der Papille. In den retrookulären Gefäßen ist die Blutge- schwindigkeit reduziert und der Flusswiderstand erhöht. Die Reduktion des Blutflusses kann zwar zur Atrophie des Sehnervs führen, aber nicht zwingend zu einer Exkavation. Beim Glaukom, so das Fazit der Forschungsergebnisse aus Basel und anderen klinischen Zentren, führt weniger die Verringerung der Perfusion zur Exkavation als vielmehr die Instabilität der Blutversorgung, die einen Reperfusionsschaden hervorruft. Der Terminus beschreibt einen Gewebeschaden, der dadurch ausgelöst wird, dass nach einer Phase der Ischämie der Blutfluss wieder zurückkehrt. Das während der Ischämie bestehende Sauerstoff- und Nährstoffdefizit im Gewebe bewirkt, dass bei der Restituierung der Perfusion ein Entzündungsreiz gesetzt wird, der zu oxidativen Schäden führt, denn in der Reperfusionsphase entstehen viele freie Sauerstoffradikale. Der wieder aufgenommene Blutfluss mit der neuerlichen Zufuhr von Sauerstoff schädigt Proteine, Lipide und Plasmamembranen. Das Blutgefäß gewinnt nicht seine normale Funktion zurück. Fluktuationen des okulären Blutflusses, die gemäß diesem Postulat viel gefährlicher sind als eine konstante Reduktion, findet man vor Jg. 105 Heft 11 14. März 2008 Deutsches Ärzteblatt MEDIZINREPORT allem bei einem Krankheitskomplex, der als primäre vaskuläre Dysregulation (PVD) bezeichnet wird. Die PVD, auch primäres vasospastisches Syndrom genannt, ist die vererbte Veranlagung, anders (oder intensiver) auf gewisse Stimuli, wie Kälte, mechanische Belastung oder emotionalen Stress, zu reagieren als andere Individuen. Frauen sind von dieser Disposition häufiger betroffen als Männer, Japaner – in deren Land das Normaldruckglaukom die häufigste Glaukomform ist – viel häufiger als Europäer. Menschen mit PVD haben durch die veränderte Expression von ABCTransport-Proteinen eine veränderte Medikamenten- und Geruchsempfindlichkeit. Sie haben darüber hinaus eine veränderte Herzfrequenzvariabilität und eine vergleichsweise niedrige Blut-Hirn-Schranke mit erhöhter Membranpermeabilität. Darin dürfte eine Ursache für das Auftauchen der bei Patienten mit Normaldruckglaukom häufig zu beobachtenden spritzerförmigen Blutungen am Papillenrand liegen. Die Betroffenen haben oft ein vermindertes Durstgefühl, vermutlich wegen eines erhöhten Endothelinspiegels. Viele Patienten mit PVD berichten über verlängerte Einschlafzeiten und die Verschiebung des zirkadianen Rhythmus um etwa eine Stunde. Ziel ist Stabilisierung oder Erhöhung des Blutdrucks Gerade Patienten mit Normaldruckglaukom, deren Augeninnendruckwerte eigentlich im „gesunden Bereich“ unter 20 mmHg liegen, bedürfen der interdisziplinären Betreuung. Diese Situation ist keine Seltenheit: Ihr Anteil liegt bei 40 Prozent aller Glaukompatienten. Sie haben einen sehr niedrigen und – für die retinalen Ganglienzellen pathogenetisch fast noch schlimmer – einen stark schwankendem Blutdruck. Bei diesen Patienten strebt der Augenarzt daher therapeutisch eine Stabilisierung des systemischen Blutdrucks an; häufig jedoch auch dessen Erhöhung, was für den Hausarzt oder Internisten wenig nachvollziehbar ist. Andere Patienten mit Normaldruckglaukom haben oder hatten einen Hypertonus und wurden oder A 564 werden deshalb mit blutdrucksenkenden Mitteln behandelt. Als Folge der antihypertensiven Therapie haben sie – vor allem nachts – Blutdruckabfälle und -schwankungen, die buchstäblich Gift für die Nervenzellen in Netzhaut und Sehnerv sind. Das Glaukom wird heute eher als Neuropathie, denn als Folge einer mechanischen Schädigung des Seh- nervs gesehen. Patienten mit Exkavation der Papille, die einen normalen Augeninnendruck haben, sollten interdisziplinär behandelt werden, vor allem wenn sie gleichzeitig eine PVD haben, eine Hypotonie oder wegen eines Bluthochdrucks sehr effektiv mit Antihypertensiva behandelt werden. I Dr. med. Dr. phil. Ronald D. Gerste Systemische Datenrückkopplung verbessert Notfallabläufe Bei Patienten mit ST-HebungsMyokardinfarkt (STEMI) kann die kritische Zeit bis zur Klinikeinlieferung und Behandlung erheblich verkürzt werden, wenn alle Beteiligten der Notfallkette systematisch über die Abläufe und Zeiten informiert werden. Dies ergab eine prospektive Untersuchung eines Myokardinfarkt-Kliniknetzwerks in Niedersachsen. Der Verbund besteht aus einem 524-Betten-Zentrum, zwei Allgemeinkrankenhäusern und vier Notfallfahrzeugen inklusive 12-Kanal-EKG-Geräten und Telemetrie. Diagnose, Transport und Therapie der 120 in die Studie eingeschlossenen Patienten wurden in einem speziellen Protokoll dokumentiert. Die Patienten der ersten drei Monate dienten als Referenzgruppe. Am Ende jeden Quartals wurden die Notfallteams bei einem interaktiven Treffen systematisch über die Abläufe informiert. Diese beschleunigten sich über das Jahr 2006 erheblich. Die durchschnittliche Contact-to-Balloon-Zeit wurde um 59 Minuten (im Median um 39 Minuten), die mittlere Doorto-Balloon-Zeit um 27 Minuten (im Median um 28 Minuten) verkürzt. Contact-to-Balloon-Zeiten von unter 90 Minuten wurden bei 21 Prozent der Patienten des ersten Quartals und bei 61, 76 und 79 Prozent der Patienten des zweiten bis vierten Quartals 2006 erreicht. I Dr. Susanne Heinzl Quelle: Scholz KH et al. Am J Cardiol 2008; 101: 46–52. Kooperation senkt Amputationsrate bei Diabetikern Durch eine umfassende Kooperation von stationär und ambulant tätigen Fachärzten verschiedener Disziplinen sowie definierten Behandlungspfaden gelang es in der Stadt Leverkusen, die Inzidenz von Amputationen bei Diabetikern in den letzten 15 Jahren um etwa 37 Prozent zu senken. Im Rahmen der Leverkusen Amputation Reduction Study (LARS) wurden die Daten von Patienten der Jahre 1990/1991 und 1995 bis 2005 verglichen; 692 erfüllten die Einschlusskriterien. Das mittlere Alter der Betroffenen lag bei 71,7 Jahren, 58 Prozent waren Männer, 72 Prozent litten an einem Diabetes mellitus. Im Verlauf von 15 Jahren verringerten sich die Amputationszahlen oberhalb des Sprunggelenks (n = 352) um 36,7 Prozent (p = 0,0318), oberhalb der Zehen um 37,1 Prozent. In der nicht diabetischen Bevölkerung veränderten sich die Amputationszahlen hingegen nicht. I Dr. Susanne Heinzl Quelle: Trautner C et al. Diabetes Care 2007; 30: 2633–7. Jg. 105 Heft 11 14. März 2008 Deutsches Ärzteblatt