Gute Sicht, unklare Aussicht

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Gute Sicht, unklare Aussicht
Kurzsichtige setzen auf Lasertechnik zur Richtung der Hornhaut - aber die Risiken sind noch nicht abzusehen
MAINZ, im Juli. Tiger Woods, der beste
Golfspieler der Welt, kann seit einiger Zeit noch
genauer putten. Wie mehr als drei Millionen
andere Menschen auch hat er sich die Hornhaut
richten lassen, jenes durchsichtige Scheibchen,
das die Pupille bedeckt. Eine Laserbehandlung
dieser delikaten Struktur ersetzt immer häufiger
Brillen oder Kontaktlinsen. Die Nachfrage
kündet von großen Erfolgen. Jedes Jahr lassen
sich mehr als eine Million Amerikaner die
Hornhaut lasern. Nach zurückhaltendem Start
will man auch in Deutschland nicht mehr das
Nachsehen haben. Die Zahl der Operierten soll in
diesem Jahr auf rund 60 000 wachsen. Im
nächsten Jahr könnten es schon 100 000 sein.
überwiegend sind die Kunden, wie man die
Patienten wohl nennen muß, kurzsichtig und
jung, im Durchschnitt etwa dreißig Jahre alt: Die
meisten möchten wohl nicht nur gut sehen,
sondern auch auf eine bestimmte Art gesehen
werden.
Das bevorzugte Verfahren heißt „Lasik", ist
kurz und schmerzlos und geht fast automatisch
vonstatten. Im Liegen wird der Augapfel
angesaugt, ein winziges Messer, das Mikrokeratom, schneidet eine hauchdünne Kappe von
der Hornhaut ab, läßt aber am Rand noch eine
Verbindung stehen. Die Kappe wird hochgeklappt, das Innere der Hornhaut sodann von
einem Präzisionslaser abgetragen, damit sich die
Wölbung der Hornhaut abflacht. Auf diese Weise
läßt sich die Brechung der Licht-strahlen so
verändern, daß sie nicht mehr vor, sondern genau
auf die lichtempfindliche Netzhaut im Innern des
Auges fallen. Deshalb bieten sich den meisten
Kurzsichtigen schon unmittelbar nach dem
Eingriff nie gekannte Ausblicke, sie sehen ohne
jegliches Hilfsmittel in der Ferne plötzlich
scharf. Dieses Erlebnis trägt zu einem nicht
unerheblichen Teil dazu bei, daß das Verfahren
einen inzwischen fast legendären Ruf erlangt hat.
Bekannte Ärzte unter den Anwendern sind zu
wahren Gurus avanciert.
Bei näherer Betrachtung erweisen sich die
Erfolge indes als nicht so ungetrübt, wie es auf
den ersten Blick scheinen mag. Denn der Eingriff
ist durchaus nicht risikofrei. Der Schnitt kann zu
tief geraten. Die Kappe kann sich auffalten oder
verlorengehen. Es kann das gefürchtete
„Knopfloch" entstehen, wenn das Mikrokeratom
ein Loch in die Kuppe schneidet. Obgleich derlei
Komplikationen selten sind, können sie doch im
Einzelfall das Sehvermögen drastisch beeinträchtigen. Besonders düster sind die
Aussichten, wenn der behandelnde Arzt ein
„Laserspezialist" ist, der zuvor nur an Schweineaugen geübt hat, über keinerlei sonstige
Operationserfahrung am Auge verfügt und auch
keinen sterilen Operationsraum zur Verfügung
hat.
So aber sind oft die Verhältnisse in den
Laserzentren, die wie Pilze aus dem Boden
sprießen. Aber selbst versierte Fachleute sind bei
Komplikationen mitunter machtlos. Schwerwiegende Entzündungen der Hornhaut oder des
ganzen Auges können sogar das Augenlicht
gefährden. Bei länger dauernden Lasersitzungen
besteht die Gefahr, daß sich durch den Andruck
des Mikrokeratoms der Druck im Augen-innern
um ein Vielfaches erhöht und währenddessen die
Blutzufuhr der Netzhaut stockt. Außerdem
durchtrennt das Messer feinste Nerven, so daß als
Folge die Befeuchtung der Augenoberfläche
gestört ist und die Betroffenen unter trockenen
Augen leiden, mitunter auf Dauer. Manchmal
wachsen Deckzellen der Hornhaut in den Spalt,
der durch den Schnitt entstand. Die Wundheilung
kann die Hornhautwölbung gegen jede
Vorhersage verändern. Der Erfolg bleibt auch
dann aus, wenn sich die Abtragung nicht genau
am Zentrum der Hornhaut ausrichtet.
Es mangelt nicht an Ankündigungen, diese
Schwierigkeiten würden in Kürze gelöst. Neue
Geräte berücksichtigen ungewollte Bewegungen
des Augapfels unter dem Laserstrahl. Eine
entscheidende Verbesserung dürfte vor allem ein
neuartiges Mikrokeratom mit sich bringen, dem
es gelingt, die Kappe der Hornhaut zu schneiden,
ohne gleichzeitig auf den Augapfel zu drücken.
Darüber hinaus arbeitet man daran, den
Wundheilungsprozeß mit Hilfe von Medikamenten günstig zu beeinflussen. Doch all diese
Bemühungen zeugen
in den Augen kritischer Fachleute lediglich
davon, daß man das Verfahren in großem Stil
propagierte, bevor wichtige Details der
Behandlung verstanden waren und man sich über
die möglichen Gefahren im klaren war. Letztlich
weiß niemand zu sagen, welche Schäden dieser
Freilandversuch an Millionen Hornhäuten erst in
Zukunft offenbar werden läßt.
Vor allem, was das Ausmaß der Kurzsichtigkeit
angeht, die man behandeln zu können glaubte,
haben die Anwender wenig Weitsicht bewiesen.
Um die ursprüngliche Hornhautkrümmung
ausreichend abzuflachen, muß man um so mehr
Gewebe wegnehmen, je kurzsichtiger das Auge
vorher war. Aber die Hornhaut ist nur rund einen
halben Millimeter dick. Bereits am Anfang der
„Lasik"-Ära fehlte es nicht an Warnungen vor
einer übermäßigen Schwächung dieser dünnen
Struktur. Trotzdem hat man hochgradig
kurzsichtige Patienten von mehr als minus 20
Dioptrien gelasert und sogar in Fachzeitschriften
stolz darüber berichtet. Aus dem Schaden der
Patienten ist man inzwischen klug geworden.
Immer häufiger wurde nämlich daraufhin
berichtet, daß bei zu starker Ausdünnung der
Hornhaut das Risiko wächst, daß sie sich
ausbeult. Derartige Keratektasien können noch
nach Jahren auftreten und normales Sehen
unmöglich machen. Oft hilft nur noch eine
Hornhauttransplantation.
Deshalb sollte man zur Zeit nicht mehr als
minus zehn Dioptrien angehen und beim
Aushöhlen mindestens einen Viertel Millimeter
Restgewebe als Basis stehenlassen. Allerdings
weiß niemand, ob sich dadurch derartige
Hornhautbeulen sicher verhindern lassen.
Denkbar ist nämlich, daß es nicht nur an der Dicke
der Hornhaut liegt, wenn sie sich ausbeult,
sondern auch an der mangelhaften Fixierung der
angeschnittenen Kuppe. Eine solche Vermutung
läßt sich zumindest aus der Geschichte des
„Lasik"-Verfahrens ableiten. Vor Jahrzehnten
schon hatte José Barraquer, Sproß einer
berühmten Dynastie spanischer Augenärzte, die
Idee, die Hornhaut abzuschleifen, um Fehlsichtigkeiten ohne Brille zu korrigieren. Damals
ließen sich rund 20 000 Patienten eine
Hornhautkuppe ganz abschneiden; sie wurde
tiefgefroren, auf einer Drehbank zurechtgefeilt
und nach dem Auftauen wieder angenäht. Die
Fixierung durch eine Naht mag mit dafür
verantwortlich sein, daß bei dieser Vorgehensweise kein einziger Fall von Hornhautausbeulung
bekannt wurde. Der Vater Barraquers hat im
übrigen die Erfindung seines Sohnes nicht
geschätzt. Enttäuscht über dessen Hinwendung
zur refraktiven Chirurgie, übertrug er die
traditionsreiche Familienklinik dem Bruder.
Wenngleich inzwischen der Hornhaut-schliff
erheblich an Renommee gewonnen hat, mahnen
Fachleute zu mehr Vorsicht. Zwar wird die
Komplikationsrate insgesamt auf nur etwa ein bis
fünf Prozent beziffert. Aber das will nicht viel
besagen. Denn nicht selten stammen diese Zahlen
von versierten Fachleuten, die Fehler der
Anfänger außer acht lassen. Dabei wiegt jeder
Mißerfolg bei einem nur kosmetisch motivierten
Eingriff besonders schwer: Es ist eine
Katastrophe, wenn jemand die Brille nicht mehr
will und bei einer Hornhauttransplantation endet.
Wegen des ungünstigen Ausgangs eines
refraktiven Eingriffs brauchen zwischen dreißig
und vierzig Deutsche im Jahr eine neue Hornhaut.
Es sind jedoch bei weitem nicht solch spektakuläre Versager der Therapie, die nach der
Behandlung beklagt werden. In den Vereinigten
Staaten haben sich die Betroffenen im Internet
(www.surgicaleyes.org) ein eindrucksvolles
Forum geschaffen. Erst vor kurzem haben
Laseropfer in Deutschland eine ähnliche Gruppe
gegründet (www.OperationAuge.org). Bei
„Surgicaleyes" haben sich mehr als 1400
Augenlaseropfer gemeldet und zusammengetragen, wie die Folgen des Eingriffs das künftige
Leben im wahrsten Sinne des Wortes überschatten können. Schatten- oder Geisterbilder nänilich
zählen zu den vielen optischen Fehlern, die nach
einer Behandlung der Hornhaut die Qualität des
Sehens herabsetzen. Manche sehen einzelne
Objekte wie gedoppelt, von einem Heiligenschein eingerahmt oder wie durch einen Schleier.
Helle Objekte können besonders grell erscheinen,
von Lichtpunkten gehen Strahlen aus wie bei
einem Feuerwerk. Die Schwierigkeiten treten vor
allem auf, wenn es dunkel wird und Straßen oder
Innenräume erleuchtet sind. Beim Abendbummel
durch die Stadt, beim Rendezvous bei Kerzenschein oder auch im Kino werden die Betroffenen
von den Folgen ihrer Operation eingeholt. Es gibt
Patienten, die bei Dämmerung und nachts nicht
mehr Auto fahren können. Aber auch im hellen
Sonnenlicht haben manche Schwierigkeiten und
können sich - Ironie des Schicksals - oft nur noch
mit dunkler Brille draußen aufhalten. Ständige
Naharbeit bereitet vor allem dann Schwierigkeiten, wenn - wie bei der Arbeit am Laptop ungünstige Lichtverhältnisse hinzukommen.
„Surgicaleyes" bietet im Internet zahlreiche
Abbildungen an, die zeigen, wie das Sehen nach
dem Eingriff beeinträchtigt ist. Dazu gehört nicht
zuletzt die Unfähigkeit, schwache Kontraste also einen weißen Hasen im Schnee wahrnehmen zu können. Auch deswegen tragen
Betroffene wieder Brillen, die den Kontrast
verschärfen.
Vornehmlich beklagen die Opfer jedoch, daß
ihre Beschwerden von den Ärzten nicht ernst
genommen werden. Immer wieder halte man
ihnen vor, daß schließlich ihre Kurzsichtigkeit
behoben sei. Aber „weit sehen" heißt nicht
unbedingt „gut sehen". Diese Lektion haben die
Opfer schon lange lernen müssen. Denn der
Eingriff behebt zwar die Kurzsichtigkeit, aber
feine Unebenheiten, die eine irreguläre
Hornhautoberfläche zurücklassen, mindern
unweigerlich die Sehqualität. Derartige Aberrationen, wie sie in der Fachsprache heißen,
kommen zwar auch bei gesunden, nichtgelaserten
Augen vor. Aber nach einer „Lasik" nehmen sie
um das Vierfache zu. Die neue Entwicklung der
„wellenfrontgeführten Lasik" ist ein Versuch,
jene feinen Irregularitäten der Hornhaut zu
vermeiden, wie sie bei der herkömmlichen
„Lasik" entstehen. Erste Untersuchungen legen
die Vermutung nahe, daß das bei mehr als der
Hälfte der Patienten gelingen könnte. Bei jedem
vierten verschlechterte sich der Zustand aber
wieder. In 15 bis 20 Prozent der Fälle ließ sich die
Optik sogar verbessern. Doch ist man weit davon
entfernt, dem Menschen ein Adlerauge
herbeilasern zu können, wie es mancherorts
schon angekündigt wird.
Angesichts des wohlaustarierten Gleichgewichts des Sehapparates nimmt sich der Versuch,
das kurzsichtige Auge durch Hornhautschliff zu
überlisten, ohnehin vergleichsweise primitiv aus.
Aberrationen ändern sich mit dem Alter und mit
der Entfernung, auf die wir unser Auge scharf
stellen. Das alles läßt sich bislang bei der
Bearbeitung der Hornhaut nicht berücksichtigen.
Sogar die „wellenfrontgeführte Lasik" kann die
Hornhaut nur für einen Wellenlängenbereich
verbessern. Um diesen auszunutzen, müßte man
stets einen Filter benutzen.
Ebenso sind jene Schlagzeilen Augenwischerei, die vorgaukeln, man könne nach dem
Lasereingriff auf Dauer ohne Brille auskommen.
Spätestens wenn das Auge alterssichtig wird,
braucht man wieder eine Brille. Nur jene
Kurzsichtigen, die in weiser Voraussicht auf die
Laserbehandlung verzichtet haben, brauchen im
Alter gerade wegen ihrer Kurzsichtigkeit keine
Lese-brille. Der Brille entgeht man deshalb so
schnell nicht. Es sei denn, man besitzt ein
kurzsichtiges und ein normalsichtiges Auge - wie
es zum Beispiel Goethe und Adenauer nachgesagt
wird. In der Jugend sahen sie mit dem normalsichtigen Auge scharf, im Alter ersparte ihnen das
kurzsichtige Auge die Lesebrille. Der moderne
Versuch, diese Variante der Natur nachzuahmen,
scheint indes weniger erfolgreich zu sein.
„Monovision" heißt das Angebot, das ein Auge
bis zu einem gewissen Grad kurzsichtig beläßt,
das andere indes auf normales Niveau bringt.
Dabei geht jedoch das räumliche Sehen verloren,
das gleiche Qualität beider Augen voraussetzt.
Das stört nicht nur Sportler. Die meisten
wünschen eine Nachbehandlung, weil sie mit
dieser Vision nicht zurechtkommen.
Angesichts der schier unglaublichen Erfolgsgeschichte der Laserbehandlung ist schwer zu
entscheiden, ob es sich bei den Einwänden um
Schwarzseherei handelt. Offenbar verläßt die
überwiegende Zahl der Kunden die Laserzentren
höchst zufrieden. Für viele, die über bestimmte
optische Nachteile klagen, überwiegt der Vorteil,
endlich von der Kurzsichtigkeit befreit zu sein.
Infolgedessen kommt manches Opfer in den
Verdacht, Hypochonder zu sein - „Surgicaleyes"
bietet auch psychologische Unterstützung an.
Allerdings darf man vermuten, daß sich nicht alle
Opfer zu erkennen geben. Das mag damit
zusammenhängen, daß jene, die eine Brille
bereits als Stigma empfanden, der Umgebung
ungern ihre neuen Schwierigkeiten eingestehen.
Wenn Fahren in der Dunkelheit besonders
heikel ist, mag man ein Fahrverbot nicht gerne
riskieren. In Kanada zählt man die „Lasik" beim
Autofahren bereits zu den Risikofaktoren. Eine
Nachtschwester wird ihre Irritation durch
blinkende Monitoren vielleicht ebenso ungern
zugeben wie ein Polizist seine Sehmängel beim
nächtlichen Einsatz. In manchen Sparten will
man Bewerber nach einem Hornhauteingriff
schon nicht mehr oder nur unter Vorbehalt
einstellen.
Stärker als früher wird es deshalb darauf
ankommen, künftig die Lebensumstände der
Patienten stärker zu berücksichtigen. Es läßt sich
nicht sicher sagen, welchen Einfluß die Operation
auf das Golfspielen hat. Auf den Internetseiten
von „Surgicaleyes" registriert man jedenfalls alle
Schwächen des berühmten Laserpatienten Tiger
Woods mit Argusaugen und spekuliert über einen
Zusammenhang mit seiner Behandlung. Auch
andere Berühmtheiten werden beäugt. Man hofft,
endlich werde sich jemand als geschädigt outen,
um der Opferseite mehr Publizität zu verschaffen.
Aber Tiger Woods siegte zuletzt ununterbrochen,
selbst bei Dämmerung.
Quelle: FAZ 20. Juli 2001, Nr. 166 / Seite 9
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