Islamische Lehre in Marokko und Frankreich Rajae NAJI El Mekkaoui1 In dieser kurzen Studie werde ich stichpunktartig die wesentlichen Elemente der beiden genannten Erfahrungen anführen, um deren jeweilige Stärken und Schwächen aufzuzeigen, damit dies anderen neuen Ansätzen zugute kommen kann. Erste Erfahrung: Die stille Reform des religiösen Bereichs in Marokko: ein breitangelegtes gesellschaftliches Vorhaben Der marokkanische König Mohammed VI hat seit seiner Thronbesteigung im Jahre 1999 in seiner Eigenschaft als Amīr al-Mu'minīn (Befehlshaber der Gläubigen)2 einen umfassenden Reformprozess im religiösen Bereich eingeleitet. Unzählige Initiativen wurden ergriffen, um vor allem folgende Ziele zu erreichen: die spirituelle Sicherheit der Bürger im In- und Ausland zu gewährleisten sowie den institutionellen Rahmen religiöser Einrichtungen und eine einheitliche Doktrin zu verankern. Dabei soll an die religiösen Werte angeknüpft werden, die bereits seit vierzehnhundert Jahren den religiösen Referenzrahmen in Marokko bilden. I. Gewaltige Reformen, die u.a. Institutionalisierung, Seelsorge und Bildung betreffen Die verschiedenen aufeinanderfolgenden oder auch sich überschneidenden Initiativen machen den religiösen Bereich zu einem grundlegenden Bestandteil gesellschaftlichen Lebens im modernen Marokko. Die Reformen sind Teil einer umfassenden, multidimensionalen Gesamtstrategie aus drei Komponenten – Institutionalisierung, Seelsorge und authentisch-islamische Bildung –, deren wesentliche Elemente ich im Folgenden vorstellen werde: 1. Die Restrukturierung der Fatwa In dem Bemühen, den religiösen Bezugsrahmen Marokkos, der auf Mäßigung, Toleranz und dem goldenen Mittelweg beruht, beizubehalten und sich gegen Extremismus, sozialen Ausschluss und Exzesse zu wappnen, hat sich das Land zunächst auf die Überarbeitung und Restrukturierung der religiösen Einrichtungen, zuvorderst den Obersten Rat der Ulamā3, konzentriert. Zu den Reformen gehören: • Neustrukturierung des Obersten Rates der Ulamā und der Regionalen Räte; 1 PhD, Dozentin für Rechtswissenschaft, Universität Mohamed V, Rabat, Marokko. ʾAmīr al-Muʾminīn: Befehlshaber der Gläubigen (latinisiert als Miramolinus oder Miramolin): dem obersten Führer der Muslime (dem Kalifen) zuerkannter Rang. Erster Inhaber dieses Titels war ʾUmar Ibn al-ʾaʾʾāb. Heute trägt nur noch der marokkanische König diesen Titel, was in der marokkanischen Verfassung verankert ist. Aufgrund seiner Eigenschaft als Amīr al-Mu'minīn und höchster Vertreter des Imamats, das auf den Bindungen der Beia (des Treueeids) basiert, widmet sich der marokkanische König ganz besonders religiösen Fragen, um die Entfaltung des spirituellen Lebens der Bevölkerung zu sichern und weitreichende Reformen der verschiedenen, mit der Führung religiöser Angelegenheiten betrauten Einrichtungen durchzuführen. 3 Ālim, pl. Ulamā: Gelehrter und geistliche Autorität, forscht im Bereich der Islamischen Wissenschaften. Sein Wissen kann weit über reine Theologie hinausgehen, ja regelrecht enzyklopädisch sein. Arabische Etymologie: Im Französischen wird Ulamā, geschrieben Ouléma ء, eigentlich der Plural von Sg. „Ālime “, als Singular verwendet. Der „Alime“ ist jemand, der Wissenschaft (`Ilme), abgeleitet vom Verb „alima/aléma“, wissen, besitzt. Das Französische verwendet also den arabischen Plural als Singular und hängt diesem zur Pluralbildung ein „s“ an. 2 1 • Anpassung des Niveaus der Imame, um deren akademisches Profil und deren Leistungen in der religiösen Bildung zu verbessern; • gelehrten Frauen (Ulamā, Predigerinnen und Murschidat) wird eine herausragende Stellung eingeräumt; • Förderung der Rolle der Moscheen; • Betreuung des Familienlebens und Beschäftigung mit frauenspezifischen Fragen... 2. Islamische Seelsorge Der Oberste Rat der Ulamā verfügt über lokale Ableger in jeder Provinz und Präfektur. So ist sichergestellt, dass unmittelbar vor Ort religiöse Angelegenheiten geregelt werden und die Bevölkerung in allen Fragen bezüglich ihres religiösen Lebens Ansprechpartner und Beratung findet. Der Oberste Rat vor Ort ist darüber hinaus auch außerhalb Marokkos vertreten, wo er sich um die Belange marokkanischer Migranten kümmert und sich um die Wahrung der islamischen Lehre und der nationalen Identität bemüht. 3. Anhebung des Niveaus der seelsorgerischen Betreuung Das Studium der Theologie erfolgt entweder in einem islamischen Referenzrahmen, einem praxisorientierten, berufsqualifizierenden Rahmen (Ausbildung von Imamen und anderen seelsorgerisch Tätigen), der keine weitere wissenschaftliche Vertiefung erfordert, oder in einem anspruchsvoll-elitären religiösen Rahmen, dem es um die eingehende Erörterung und Aufarbeitung islamspezifischer Fragestellungen geht. Religiöse Bildung fand in Marokko bisher in verschiedenen Formen statt: ٭in den Koranschulen, ٭in der klassischen (sog. atīq) Bildung, ٭an der al-Qarawiyyin-Universität, ٭am Dar al-Hadith al-Hassania (Hochschule für Islamische Studien, gegründet 1968). ٭In den 70er-Jahren wurden landesweit an geisteswissenschaftlichen Fakultäten Abteilungen für Islamische Studien eingerichtet. Seit 1999 ist im Bereich der religiösen Bildung Vieles auf den Weg gebracht worden, um gesellschaftliche Ausgrenzung und Abschottung zu verhindern. Hauptelemente sind Folgende: ٭Neustrukturierung des Dar al-Hadith al-Hassania: Die Hochschule für Islamische Studien, die seit 1968 eine Ausbildung in Islamischen Studien nach klassischem Muster anbot, hat mittlerweile neue Fachbereiche eingeführt, wie zum Beispiel Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Recht, Wirtschaft, Logik, Soziologie, Philosophie), vergleichende Religionswissenschaft und Sprachen (sowohl moderne als auch klassische wie Latein, Griechisch ...). ٭Eine an den Grundsätzen des Islams orientierte Modernisierung der islamischen Bildung und eine akademische Ausbildung, die sehr wohl um die Herausforderungen und Probleme der modernen Lebenswelt weiß. ٭Modernisierung der Lehrpläne islamwissenschaftlicher Studiengänge und Vereinheitlichung der Studienordnungen, wobei eine Öffnung gegenüber anderen Fächern und Kulturen und eine Harmonisierung mit anderen 2 Studienzweigen gegeben ist, um das Bildungssystem konsequent kohärent zu gestalten. ٭Sanierung der ursprünglichen Bildungsträger und der Koranschulen, um deren Rolle in der religiösen Betreuung weiter zu befördern und vor Einflüssen zu schützen, die der marokkanischen Identität schaden könnten. ٭Einrichtung eines Ausbildungsinstitutes für Imame und [weibliche] Murschidat (erster Abschlussjahrgang im April 2004). II. Die Ramadan-Gespräche – eine ganz eigene, feierliche Tradition erlebt eine große Revolution! Die sogenannten Ramadan-Gespräche werden in einem äußerst feierlichen Rahmen im heiligen Monat Ramadan unter dem persönlichen Vorsitz des Königs Amīr alMu'minīn) und in Anwesenheit hochrangiger Vertreter des politischen, diplomatischen und wissenschaftlichen Lebens sowie von Ulamā aus der ganzen Welt abgehalten. Sie werden weltweit live per Satellitenfernsehen übertragen. Die Bilder von dieser einmaligen Premiere geben die Sitzordnung wider: Die Zuhörer hocken am Boden, nur die Vortragende hat erhöht auf einem Podest (Minbar, ca. 1 m hoch) Platz genommen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass schon allein diese Vorträge an sich als Kristallisationspunkt brillanten islamischen Denkens und allgemeinverständlicher Darstellungen von Fachwissen eine marokkanische Besonderheit darstellen. Dabei schöpfen sie aus koranischen Quellen und den Aussprüchen des Propheten als Referenzen. Der König sitzt ebenfalls auf dem Boden, der Vortragenden genau gegenüber. Im Bildhintergrund: die Regierung und hochrangige Persönlichkeiten aus Militär und Zivil, auf der gegenüberliegenden Seite das diplomatische Korps. Rechts, gegenüber dem Herrscher und den Prinzen, die Vortragende und Ulamā aus allen Teilen der Welt. Die Ramadan-Gespräche, eine Zusammenkunft von hohem akademischen Niveau, haben mit der Einbeziehung gelehrter Frauen eine qualitative Revolution erfahren. Diese bedeutende stille Revolution fand im Rahmen der Ramadan-Gespräche 2003 statt. Bis dato waren diese Veranstaltungen ausschließlich herausragenden männlichen Ulamā vorbehalten gewesen. Doch an jenem 5. November 2003 hielt zum ersten Mal in der Geschichte der islamischen Welt und vielleicht gar Geschichte der ganzen Welt eine Frau (Rajae Naji Mekkaoui) einen derartigen Vortrag.4 4 Hier einer der zahlreichen Kommentare, die diesem großartigem, revolutionären Ereignis unmittelbar folgten: „Eine Premiere – dieses Wort lag in aller Munde, als die Bilder von einer Frau, die den vierten religiösen Vortrag im Ramadan hielt, vom marokkanischen Fernsehen ausgestrahlt wurden ... Diese Frau ist Rajaa Naji Mekkaoui, Dozentin an der Universität Mohammed V von Rabat-Agdal und Leiterin des universitären Forschungsbereiches Gesundheitsrecht. 3 Teilweise wird behauptet, es habe sich dabei um eine Premiere in der Geschichte der islamischen Umma gehandelt. Doch in Wirklichkeit war es bereits das zweite Mal. Allerdings liegt das erste Mal bereits Jahrhunderte zurück. Aischa, die Ehefrau des Propheten Muhammad, äußerst bewandert in islamischen Wissenschaften und insbesondere in den Hadithen und prophetischen Traditionen, hielt nämlich derartige Sitzungen ab und empfing laufend Menschen, die etwas zu spezifischen religiösen oder juristischen Fragestellungen oder auch über die Echtheit der Hadithe erfahren wollten. III. Einbeziehung von weiblichen Ulamā und Predigerinnen im religiösen Bereich: ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben Unmittelbar nach dieser bedeutsamen stillen Revolution von 2003 (Beteiligung der ersten Frau an den ,Ramadan-Gesprächen´) folgte der große Durchbruch: Frauen wurde nun die Möglichkeit geboten, sich (en masse) an der Lenkung und Führung religiöser Angelegenheiten zu beteiligen. Seither sitzen Frauen in den Ulamā-Räten, sind als Predigerinnen oder Murschidat5 in Moscheen, Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen tätig, wirken bei der Erstellung von Fatwen6 mit oder treten als Rednerinnen in Moscheen auf ... Genaugenommen hat Marokko aber damit bisher nichts weiter getan, als den Frauen die ihnen nach dem Koran und prophetischer Tradition zukommende Stellung als dem Mann an Rechten und Pflichten gleichgestellt wiederzuzuerkennen. Dadurch trägt Marokko spürbar dazu bei, das andernorts von unnachgiebigen, unbesonnenen Verleumdungskampagnen kolportierte Bild der Muslimin zu korrigieren. So unterstreicht diese ganz klar vom König (in seiner Eigenschaft als Amīr alMu'minīn) unterstützte „Revolution“ immer wieder das absolute Vertrauen in die Fähigkeiten von Frauen ... Sie hat sich verantwortungsvoll um die aktive Mitwirkung von Frauen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen verdient gemacht und diese befördert, wie beispielsweise durch Beteiligung von Frauen am Obersten Rat der Ulamā, wo drei Frauen, darunter Prof. Rajae NAJI Mekkaoui, durch deren Präsenz in lokalen Ulamā-Räten oder deren Arbeit in Moscheen, pädagogischen Einrichtungen, Gefängnissen, Krankenhäusern etc. vertreten sind. Der König selbst wird nicht müde darauf zu verweisen, dass er den Frauen „die Tür“ geöffnet hat, „damit sie sich als vollwertige Mitglieder in die Tätigkeit des Obersten Rates der Ulamā und der lokalen Ulamā-Räte einbringen. Gleichzeitig haben wir es den Frauen gestattet, sich bei den hassanidischen Ramadan-Gesprächen ihren männlichen UlamāKollegen anzuschließen. Hierbei haben die Frauen in der Tat ihre akademischen Fähigkeiten Die Zuhörer waren von der Rednerin deutlich sichtbar fasziniert – wie auch nicht anders zu erwarten war, schließlich war die Veranstaltung alles andere als gewöhnlich ... Als erfahrene Hochschullehrerin blickte sie immer wieder aufmunternd in die Runde und schuf so Anreize, ihr weiter zuzuhören. Die Vortragende sprach über „Die Universalität der Familienstruktur in einer Welt voller Eigenarten“. Naji Mekkaoui stellte zusammengefasst die Ergebnisse einer vergleichende Studie zum Konzept der Familie zwischen modernen Sozialwissenschaften und koranischem Recht vor und unterstrich dabei besonders, wie gefährlich es sei, die Probleme einzelner Familienmitglieder jeweils isoliert voneinander behandeln zu wollen. Seit dem 5. November 2003 ist Rajaa nicht mehr länger nur irgendeine Dozentin. Sie geht mit großem Zeremoniell in die Geschichte Marokkos ein ...“ Amal Baba Ali: Rajaa Naji Mekkaoui hält in Anwesenheit des Königs einen religiösen Vortrag – eine herausragende Premiere, „Maroc Hebdo“, 7. November 2003. 5 Hierbei handelt es sich de facto um drei Abstufungen bzw. Ränge: Ālima (weibliche Form von Ālim) ist davon die höchste, sie kann u.a. Iğtihād betreiben und Fatwen verfassen. Es folgt die Predigerin, ebenfalls von hohem akademischen Bildungsniveau, jedoch etwas weniger umfassend gebildet die Ālima. Die Murschida besitzt ein erstes Hochschuldiplom, hat eine spezielle Ausbildung genossen und begleitet Menschen in Schwierigkeiten. 6 Fatwa: Religiöses oder juristisches Gutachten, erstellt von einem islamischen Rechtsgelehrten zu einer konkreten Fragestellung. 4 eindeutig unter Beweis gestellt und sich als ihren männlichen Kollegen ebenbürtig erwiesen.“7 IV. Förderung der Rolle der Moschee Durch die Betreuung und die Anpassung des Niveaus der Imame sind zweifellos positive Rückwirkungen auf die Maßnahmen zur Definition neuer Aufgaben für die Moschee und zur Betonung der dieser zustehenden Rolle als Ort der Bildung, Erziehung und Aufklärung zu erwarten. Ziel hierbei sind die Erneuerung des religiösen Diskurses und verbesserte Leistungen religiöser Einrichtungen, so dass sie die Dynamik der marokkanischen Gesellschaft begleiten, der intellektuellen und kulturellen Entwicklung folgen und die Auswirkungen der rasanten Veränderungen weltweit aufgreifen können.8 V. Der durch Satellitenfernsehen und Internetseiten forcierten anarchischen Ausbreitung von Fatwen (religiösen Gutachten) Einhalt gebieten Die Fatwa ist eine Art religiöses oder juristisches Gutachten, von einem islamischen Rechtsgelehrten zu einer spezifischen religiösen oder juristischen Fragestellung erstellt. Da es weder juristische Texte noch spezialisierte Einrichtungen gibt, die Fatwen einheitlich regeln, sind diese zu Objekten anarchisch wuchernder Spekulation geworden. Schlimmer noch: „Fanatiker“, oft ohne jegliche Ausbildung oder pädagogisches Geschick, oder gar Analphabeten und Laien, haben sich der Fatwa bemächtigt ... Um das Fatwen-Wesen zu strukturieren und zu institutionalisieren, wurde innerhalb des Obersten Rates der Ulamā ein Fatwa-Ausschuss eingerichtet, der zu Fragen von allgemeinem Interesse auf durchdachte Argumente und handfeste Beweise gestützte religiöse oder juristische Gutachten verfassen soll. So entstand eine ganze Reihe von Gesetzen und Reformen zu Gotteshäusern, zur Modernisierung der religiösen Bildung in Marokko u.v.m., um den neuen Wirklichkeiten und den neuen Problemen einer sich rapide wandelnden Gesellschaft gerecht zu werden. In den letzten zehn Jahren war daher immer wieder von Beobachtern zu hören, dass in Marokko im religiösen Bereich ein frischer Wind wehe. ٭٭٭ 7 Ansprache Seiner Majestät des Königs vor dem ersten nationalen Kongress der Ālimat, Predigerinnen und Murschidat vom 17. bis 19. Juli 2009 in Skhirat, Marokko. 8 In dieser Absicht wurde im Juni 2009 für 45.000 Imame ein Programm zur Weiterbildung aufgelegt, das auf der Ebene der verschiedenen städtischen und ländlichen Gemeinden von 1.500 Betreuern überwacht wird. 5 Zweite Erfahrung: Islamische Lehre in Frankreich I. Kurzer Abriss zur Entwicklung kultureller Fragen in Frankreich 1. Die vollkommene Vernachlässigung der kulturellen und religiösen Bedürfnisse von Einwanderern anderer Religionszugehörigkeit schafft vielfältige Probleme Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Einwanderer (europäischer Herkunft) sich weitgehend unproblematisch in die Gesellschaft integrieren und assimilieren können. Unmittelbar nach Kriegsende jedoch lassen sich dann erste Anzeichen von Ablehnung beobachten, die sich in der Zusammenziehung der Neuankömmlinge in städtischen Randgebieten konkretisierte, während diese zuvor breit gestreut ansässig geworden waren. Diese Ghettobildung verschärfte sich mit der massiven Zuwanderung aus Afrika und dem Maghrebraum. Da der Großteil der Zuwanderer außerdem sozial besonders benachteiligten Schichten angehört und damit eine genau eingrenzbare wahlpolitische (und insbesondere gewerkschaftliche) Rolle spielt, weigert sich Frankreich weiterhin, die Frage der Integration von Ausländern ernsthaft anzugehen. 2. Organisierte Ghettoisierung, Abkapselung, Verarmung: Das Banlieue-Phänomen Andererseits wurde bei der massiven Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen (aus den verlorenen Kolonien im Maghreb, in Afrika etc.) die koloniale Situation exakt übertragen, was sich in der Bildung von Ghettos und ethnisch einheitlich strukturierten Wohnvierteln sowie der Segregation der Zuwanderer nach Rassen manifestierte. Der Prestigeverlust auf internationaler Ebene wurde so durch den massiven Zustrom von Zuwanderern (aus ehemaligen Kolonien) ins französische Mutterland noch verschärft. All dies hat Ressentiments geschürt. Die Zuwanderer aus anderen Kulturen (Muslime, Araber, Asiaten, Afrikaner usw.) hätten aber nun durchaus integriert und damit Gewalt- und Kriminalisierungstendenzen abgeschwächt werden können, wenn Europa sich pluralisiert, andere Kulturen anerkannt und die grundlegenden kulturellen und religiösen Bedürfnisse der Zuwanderer befriedigt hätte. Da dies jedoch nicht der Fall war, ist die kulturelle und religiöse Problematik schier unüberwindbar geworden9 und hat weitere 9 Anscheinend fanden sich derartige Argumentationslinien bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Die unterschiedlichen politischen Spaltlinien waren damals ganz ähnlich gelagert wie heute. Die Zuwanderungsproblematik hat von ihrer Natur her die Tendenz, sich historisch zu wiederholen, wobei die jüngste Welle von Zuwanderern stets als die bedrohlichste wahrgenommen wird. Man könnte sagen, dass Zuwanderung von beiden Seiten des politischen Spektrums als politische Waffe eingesetzt wird. Siehe „Histoire de l´Immigration en France“ [Geschichte der Zuwanderung in Frankreich] unter http://www.reynier.com/Anthro/Interethnique/Immigration.html. Siehe auch: Noiriel, G.: Histoire de l´Immigration [Geschichte der Zuwanderung], in: Actes de la Recherche en sciences sociales [Forschungsschriften der Sozialwissenschaften], Nr. 54 – Oktober 1984. Schor, R: Histoire de l´Immigration en France [Geschichte der Zuwanderung in Frankreich] (A. Colin – Col U). 6 Problemkomplexe hervorgebracht mit all ihren u.a. sozioökonomischen, kulturellen und rassistischen Auswirkungen (das sog. Banlieue-Phänomen), man könnte auch sagen: mit allem, was Gewalt fördert. Mehr noch: Macht das Aufnahmeland eine Wirtschaftskrise durch, kann es sich sogar ganz offen gegen Zuwanderung stellen und regelrecht fremdenfeindlich werden. Fremdenfeindlichkeit wiederum verstärkt natürlich das Gefühl beim Zuwanderer, abgelehnt zu werden und befördert aufrührerisches Verhalten. Abkapselung, Viktimisierung, die Verschiedenartigkeit von Werten und Eigenarten sowie Hoffnungslosigkeit nehmen manchmal gewaltsame Formen an. In dieser Entwicklungslinie halten sich die Regierungen bisher stets an die gleiche Strategie: die Aufoktroyierung einer einheitlichen, „gemeinsamen“ Identität, um die eigene Existenz zu festigen und zu legitimieren. Als mögliches Bindeglied wird u.a. auch Religion vorgeschlagen (etymologisch bedeutet religere im Lateinischen Verbindungen zwischen Menschen schaffen), die sich hier v.a. in kultureller Einheitlichkeit äußert. Der Schuss ging jedoch nach hinten los. Statt der stets als Slogan vorgetragenen Integration lässt sich die Abkapselung ganzer Bevölkerungsgruppen in teilweise bedenklichem Ausmaß beobachten. Dies ist nur menschlich: Wenn eine Bevölkerungsgruppe ihre Identität durch die neu auf sie einströmende Kultur bedroht sieht, kapselt sie sich ab, lehnt die Gesellschaft und deren andersartige soziale Normen, die lokalen und nationalen Werte ab oder begehrt gar dagegen auf und verzichtet selbst auf die Vorteile, die die Staatsbürgerschaft eigentlich bietet. Der Wunsch nach Bekanntheit und Anerkennung wurzelt tief in der menschlichen Natur. Anstelle der Ghettoisierung hätte man gerade in Frankreich die Zuwanderer in das soziale und politische Leben vor Ort einbinden sollen ... Die Herkunftsländer der Migranten dagegen hätten ihrerseits diesen klarmachen müssen, dass die Staatsangehörigkeit des Gastlandes keineswegs mit dem Islam unvereinbar ist, und dass sie keinesfalls weder ihre Herkunftskultur noch ihren religiösen Überzeugungen schadet, sondern ihnen ganz einfach den vollen Genuss staatsbürgerlicher Rechte zusichert. Die Kumulierung der erwähnten Phänomene im Zusammenhang mit dem Auseinanderbrechen und der Desillusionierung diverser aufeinanderfolgender Politiken führte dann in den Achtziger Jahren dazu, dass das Problem der ungeplanten Zuwanderung, verschärft durch Marginalisierung, Ghettoisierung, rassische Trennung und Vernachlässigung der elementaren, kulturellen und moralischen Bedürfnisse der Minderheiten, alarmierende Ausmaße annahm. In der Folge entstanden in den Neunziger Jahren zahlreiche (islamische und andere) Verbände und Vereine, die versuchten, diesen Problemen und besorgniserregenden Mängeln beizukommen oder vielmehr diese abzuschwächen. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts schließlich entstanden (erneut ohne jegliche Planung) in mehreren europäischen Ländern und insbesondere in Frankreich islamische Bildungszentren. 7 3. Das Aufblühen islamischer Hochschulen und Gymnasien: Welche Synergien, welche Strategien? Seit dem Jahr 2000 sind in Frankreich zahlreiche derartige Ausbildungsstätten entstanden. Beispielhaft seien hier angeführt: 1. das Muslimische Gymnasium von Marseille 2. die Mittelschule Réussite [„Erfolg“] (erste muslimische Mittelschule Frankreichs) 3. das Averroès-Gymnasium in Lille (als Reaktion auf das Schleierverbot) 4. das Islamstudien- und Forschungszentrum in Saint-Denis (93. Departement, nördlicher Stadtrand von Paris) 5. das Europäische Institut der Geisteswissenschaften (IESH Saint-Denis) 6. das Islamstudien- und Forschungszentrum (CERSI) in Saint-Denis 7. das Internationale Institut für Islamisches Denken (IIIT) in Saint-Ouen 8. das Höhere Institut für Islamische Wissenschaften (ISSI) in Saint-Ouen (Departement Seine-Saint-Denis) 9. das Europäische Averroès-Institut (IEA, gegründet vom Verlag Jeunesse sans frontières [Jugend ohne Grenzen]) 10. das Muslimische Institut für Fernstudien (IMED) 11. das Europäische Institut der Geisteswissenschaften (IESH) in Château-Chinon und Paris 12. das Französische Institut für Islamstudien und -wissenschaften (IFESI) in BoissySaint-Léger (94. Departement) 13. das Institut für Theologie der Großen Moschee von Paris (zur Ausbildung von Imamen) 14. die Französische Akademie für Kulturen und Sprachen (AFCL) in Vitry-sur-Seine 15. das Avicenna-Institut für Geisteswissenschaften (IASH) in Lille (Departement Nord) Da diese Einrichtungen alle noch recht jung sind, ist eine abschließende Bewertung nicht möglich. Aber sie existieren zumindest und bieten das Studium der arabischen Sprache und der islamischen Wissenschaften an. Und sie spiegeln den Mut ihrer Gründer, den Geist und den sozialen Zweck wider, zu dem sie (in Ermangelung einer landesweiten Politik) eingerichtet wurden. Nichtsdestotrotz muß man auch festhalten, dass diese Vielzahl kleiner Institute verdeutlicht, wie vielgestaltig und vor allem zersplittert der Islam in Frankreich ist. Und man kommt nicht umhin, die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, und die bereits erkennbaren Schwächen aufzuzählen. II. Der übergroße Einfluss des Politischen auf islamische Lehre und Bildung in Frankreich Die Debatte über den Islam findet beständig in einem säkularen Kontext statt. Man könnte sogar davon sprechen, dass „Frankreich durch den Islam seine Identitätskrise erlebt“. Dies äußert sich sehr häufig in unterschiedlichen Formen von Islamophobie. Das Thema Islam sorgt ständig für im Allgemeinen sehr heftig geführte Debatten, in denen er 8 der Unvereinbarkeit mit dem Laizismus bezichtigt und als Bedrohung für die grundlegenden Prinzipien des Säkularismus wahrgenommen wird. Trotz dieser Debatten/Polemiken lassen sich bisher weder eine Politik noch ein deutliches Auftreten der Regierung, weder Vernetzungen noch Synergien zwischen den Einrichtungen, die islamwissenschaftliche Ausbildungen anbieten, erkennen. Man kann vielmehr beobachten, dass islamische Hochschulinstitute wie Pilze aus dem Boden schießen, deren Hauptziel aber nicht vorrangig Bildung ist, sondern die vielmehr der Islamophobie und den Polemiken ihrer Umwelt einfach etwas entgegensetzen wollen. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die pädagogisch-inhaltliche Ausrichtung und die Qualität der Lehre. 1. Religiöse Lehre angesichts des Laizismus Man muß betonen, dass die inhaltliche Ausrichtung und die Lehre islamischer Wissenschaften innerhalb der Strukturen und Studiengänge der französischen Universitäten in einem vom Laizismus geprägten rechtlichen Rahmen stets problematisch waren10. Aus mehreren Gründen ist islamischer Religionsunterricht an Schulen nur schwer vorstellbar. Verschiedene Fragen sind bisher unbeantwortet: Soll der Lehrkörper nur aus Muslimen bestehen oder gemischt sein? In welchem Rahmen soll der Religionsunterricht stattfinden? Sollten sich die Lerninhalte ausschließlich auf Koran und Hadithe konzentrieren? Oder sich vielmehr auch soziologischen, politischen oder anderen Sichtweisen des Islams widmen? Soll es um die Geschichte des Laizismus in Frankreich und dessen Beziehungen zu den Religionen gehen? Um das Studium der arabischen Sprache, die Geschichte des modernen Islam ...? Sollte man sich eher auf Theologie beschränken und dazu auch eine wissenschaftliche Ausbildung anbieten (nach dem System LMD – Licence, Master, Doktor [im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführtes, europaweit vergleichbares dreistufiges Studiensystem, a.d.Ü.]? All diese und viele weitere Fragen sind noch offen und werden es wohl auch bleiben. 2. Unsichtbare Regierung ohne Politik Angesichts der steigenden Nachfrage nach Ausbildung in islamischen Studien und in der Forschung in den unterschiedlichsten Bereich wie Arabisch, Scharia, islamische Jurisprudenz, Koran- und Hadith-Wissenschaften, Vorbereitung auf den Predigerberuf (Imame) usw., ist es die Zivilgeschellschaft, die sich für die Einrichtung der erwähnten Institute eingesetzt hat, nicht die französische Regierung, die bisher gar nicht in Erscheinung getreten ist. In jüngster Zeit sind islamisches Bankenwesen, interkulturelles Management, Personalverwaltung, internationale Projekte etc. groß in Mode gekommen. Um der gewaltigen Nachfrage nach Ausbildung in islamischen Studien und in der Forschung in diesen hochaktuellen Bereichen nachzukommen schießen islamische Universitäten, Institute und Gymnasien wie Pilze aus dem Boden, aber lediglich, um, fernab jeder 10 Jean-Philippe Bras vom Institut für das Studium des Islams und der Gesellschaften der islamischen Welt, s.: Internationales Kolloqium „Die Lehre religiöser Disziplinen in universitären Einrichtungen“, im Lichte der Geistes- und Sozialwissenschaften, Tunesien, Februar 2010. 9 Synergie und Strategie, kurzfristig und ausschließlich nur den drängendsten wirtschaftlichen Bedürfnissen nachzukommen. 3. Keinerlei Vernetzungen oder Synergien Anders als in Belgien und den Niederlanden, wo sich eine Einrichtung findet, die Kompetenzen vernetzt, indem sie die Fakultät für Islamische Wissenschaften von Brüssel (FSIB) und die Islamische Universität Europas in Rotterdam (die Bachelor-, Master- und Doktorstudien anbietet) zusammenbringt, anders also als bei dieser äußerst seltenen „Politik“ des Zusammenschlusses und der Vernetzung, sind die französischen Institute weder in einem „Verbund“ für Forschung und universitäre Lehre in islamischen Wissenschaften zusammengeschlossen, noch sind sie in einen landesweiten oder regionalen politischen Rahmen eingebunden. Nicht verschwiegen werden sollte allerdings, dass Überlegungen im französischen Innenministerium zur Ausbildung von Imamen immerhin zu einer Aufgabenteilung zwischen der theologischen Unterrichtung durch das Ghazali-Institut der Großen Moschee von Paris (das Imame ausbildet) und der Unterweisung in Geisteswissenschaften durch die Katholische Hochschule von Paris geführt haben. 4. Eröffnung islamischer Hochschulinstitute, nur um der Islamophobie und den Polemiken der Umgebung Paroli zu bieten: Auswirkungen auf die pädagogischinhaltliche Ausrichtung Sehr häufig suchen junge Menschen, verärgert über falsche Vorstellungen, die über den Islam verbreitetet sind, nach einer islamischen Ausbildung, um auf die Polemiken und nicht endenwollenden Vorurteile ihrer Umgebung reagieren zu können. Diese Nachfrage trifft nun ständig auf das Problem, dass die Dozenten bei weitem nicht in der Lage sind, derartige Antworten vorzulegen und darüberhinaus auch die Situation der inhaltlichen Konzepte geradezu krisenhaft ist! Ein bedeutende Schwierigkeit ergibt sich also daraus, dass die inhaltliche Konzeption der islamischen Studienangebote sehr häufig unmittelbar von der Art des Publikums, dem jeweiligen Bedarf, aber auch der öffentlichen Debatte, kurz, den Polemiken der Umgebung über den Islam, beeinflusst wird. Die Islamophobie im Westen hat ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen und beeinträchtigt damit auch alle Bildungsbemühungen. Wenn sich die Lehre von einer derartigen Atmosphäre mitreißen lässt, klärt sie jedoch nicht auf, sondern sie sät sogar noch mehr Angst und verursacht Abschottung unter den Muslimen ... Dabei sollte doch eigentlich das Zusammenleben den Ausgangspunkt jeglicher islamischer Ausbildung darstellen, nicht Furcht! III. Der lange, unvollendete Weg der islamischen Lehre in Frankreich Die oben angeführten Überlegungen zeigen, wie vertrackt die Frage der religiösen Lehre bei den Muslimen in Frankreich in der Praxis ist. Obwohl diese Lehre, die ja in Frankreich in voller Blüte steht, äußerst wichtig ist, stößt sie sich an religiösen, 10 wirtschaftlichen, ideologischen und auch sicherheitspolitischen Fragen. Lassen Sie mich nur diese Erfahrung nur ganz kurz und knapp vorstellen: 1. Die Islamwissenschaft in Frankreich beschränkt sich auf Geschichte und Literatur ... Aus den oben genannten und vielen anderen Gründen beschränken sich islamwissenschaftliche Studien de facto auf das Studium der Geschichte des Islams, auf die von Muslimen geschaffene Literatur und auf die arabische Sprache... ohne auf Quellen und Grundlagen des Islams (Koran und Hadith), Fiqh (im Rahmen der kultischen Riten und der großen Schulen ausgearbeitete Doktrin11) oder Iğtihād12 einzugehen. 2. Eklatanter Mangel an Pädagogen Sowohl quantitativ als auch qualitativ sind bedauerlicherweise Mängel an und bei Dozenten und Forschern festzustellen. Ein Gutteil des derzeitigen Lehrpersonals verfügt nicht über das erforderliche Niveau und hat keine pädagogische Ausbildung genossen. Hier kann nur ein Austausch mit den muslimischen Ländern dazu beitragen, die programmatische Ausrichtung neu zu überdenken und Mängel auszugleichen. 3. Wachsende Religiosität bei den einen, mangelnde Ausbildung bei den anderen Das Thema der islamischen Lehre ist heutzutage in Frankreich eine der wichtigsten Fragestellungen im Zusammenhang mit der Organisation muslimischen Glaubenslebens. Abgesehen von der kniffligen Frage, inwieweit die eine oder andere Strömung im Islam (sunnitisch, schiitisch, marokkanisch, afrikanisch, asiatisch, europäisch, französisch ...) repräsentativ ist, lässt auch die gesamte feindliche Polemik, die dem Wiedererstarken der Religiosität bei den Muslimen ablehnend gegenübersteht, dies zu einer äußerst schwierigen Aufgabe werden. Die Debatten staatlicher Stellen sind keineswegs abgeklärt, weil sie unmittelbar von der öffentlichen Debatte und der vorherrschenden Wahrnehmung des Islams als sicherheitspolitische Frage abhängen. Selten wird in Betracht gezogen, dass es auch eine muslimische Öffentlichkeit gibt, die mitten in einer Identitätskrise steckt und die dringend Aussagen zur Wahrheit und Authentizität des Islams einfordert. Affektives Handeln, Ideologie, Fremdenfeindlichkeit – das sind die Schlagworte, die die Polemiken der Umgebung beherrschen und sich damit nachhaltig und schwerwiegend auf die islamische Lehre niederschlagen. 4. Abkommen mit staatlichen Hochschulen zur Anerkennung der Abschlüsse: ein echtes Dilemma 11 Fiqh : (abgeleitet vom Verb faqiha, َ ِ َ , was ,verstehen´ bedeutet): die islamische Rechtswissenschaft, von den muslimischen Rechtsgelehrten erstellte Gutachten zu Fragen bezüglich des Alltagslebens der Muslime. Es handelt sich also um das Verständnis der Botschaft des Islams im juristischen Bereich. Der Fiqh-Gelehrte, der Jurist, wird Faqih () genannt. 12 Der Iğtihād sind die gedanklichen, meditativen und wissenschaftlichen Bemühungen der Ulamā und der muslimischen Rechtsgelehrten zur Auslegung der grundlegenden Texte des Islams (Koran und Hadith), um daraus die Regeln des muslimischen Rechts abzuleiten oder die Einordnung einer Tat oder einer Handlung aus muslimischer Sicht vorzunehmen. 11 Die bereits existierenden oder im Aufbau befindlichen islamischen Hochschulinstitute müssten Studiengänge anbieten, die den Grundprinzipien des LMDSystems (Licence, Master, Doctorat) entsprechen. Dies ist de facto jedoch ein Ding der Unmöglichkeit, denn bevor ein an einer islamischen Hochschule in Frankreich erworbener Abschluss staatlich anerkannt werden kann, sind im Wesentlichen drei Probleme zu lösen: ٭Erstens benötigt die Einrichtung die Zulassung durch die zuständige regionale Schul- und Bildungsbehörde, was eine echte Herausforderung darstellt13. ٭Zweitens geht es um die Anerkennung der Abschlüsse an sich. In Frankreich sind jedoch nur staatliche Universitäten befugt, einen Hochschulabschluss zu verleihen. Private Hochschulen sind daher gezwungen, mit einer staatlichen Hochschule ein Abkommen zu schließen. Andernfalls haben ihre Studierenden nicht die Möglichkeit, ihre Hochschulausbildung an einer staatlichen französischen oder europäischen Hochschule (wie der Sorbonne, den katholischen Hochschulen etc.) fortzusetzen. Dieses Dilemma belastet die Zukunft der islamischen Hochschulen und die ihrer Absolventen deutlich. Bezüglich der Imame bleiben zahlreiche Fragen offen – ob es beispielsweise erforderlich ist, dass sie eine zweigleisige Ausbildung (in religiösen Studien und Sozialwissenschaften) absolvieren und welche Art von Einrichtungen eine solche anbieten könnten. Und das sind nur einige ganz banale Beispiele für die zahlreichen Hindernissen, die die islamische Lehre hemmen. ٭Drittens gibt es ein Problem, das unmittelbar mit den Abkommen zwischen den islamischen Hochschulen und den staatlichen französischen Universitäten zusammenhängt. Aufgrund des Prinzips des Laizismus bietet nämlich keine dieser Universitäten Studiengänge an, die religiöse Fächer und Geisteswissenschaften verbinden. Zur Anerkennung ihrer Studiengänge müssten daher die islamischen Hochschulen über entsprechende Abkommen mit nichtfranzösischen Hochschulen nachdenken, die dem LMD-System-konforme Abschlüsse verleihen14. 5. Andere Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Nutzbarkeit Absolventen islamischer Hochschulinstitute haben nicht nur Schwierigkeiten bei dem Zugang zu staatlichen Hochschulen und der Anerkennung ihrer Abschlüsse, sondern auch Probleme mit dem praktischen Nutzen ihrer Ausbildung und dem Zugang zum Arbeitsmarkt mittels des an diesen Einrichtungen erworbenen Abschlusses. Die Studierenden der islamischen Wissenschaften haben sich sehr häufig für einen derartigen Studiengang entschieden, um ihre Neugier zu befriedigen oder etwas über ihre Identität zu erfahren, nicht, um den Beruf des Imams auszuüben oder eine anderweitige religiöse Betreuerrolle zu übernehmen. Die weitgehend nur wenig strukturierten Moscheen verfügen nämlich ganz oft einfach nicht über die nötigen Mittel, 13 Beispielsweise hat das Europäische Institut für Geisteswissenschaften (IESH) von Paris die Zulassung erst nach mehrjährigen Verhandlungen erhalten, das IASH von Lille dagegen bereits kurz nach seiner Eröffnung. Der erforderliche Zeitrahmen hängt von einer Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit dem Studienangebot und dem akademischen Hintergrund der Dozenten ab, aber auch vom jeweiligen lokalen islampolitischen Kontext. www.saphirnews.com/Enseignement-islamique-en-France. 14 Hierbei denken manche Hochschulen an osteuropäische Universitäten, andere an südeuropäische ... 12 um Imame anzustellen. Und da es keine landesweite Politik hierzu gibt, sind die allermeisten Imame ehrenamtlich tätig. Die bereits praktizierenden Imame und sonstigen religiösen Betreuer ihrerseits äußern so gut wie nie den Wunsch nach einer Ausbildung an den islamischen Hochschulen, weil sie überwiegend keine geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben oder kein Französisch sprechen. 6. Das Scheitern abgehobener Bildungsangebote Die für die islamische Lehre und Ausbildung vorgeschlagenen Ansätze sind oft exzentrisch und abgehoben. Dies wiederum schafft bei den Studierenden, die nicht an einen von ihrer Zugehörigkeit abweichenden Diskurs gewöhnt sind, ein Identitätsproblem, stört ihr religiöses Zugehörigkeitsgefühl und vermittelt ihnen den Eindruck, der Islam befinde sich in Auflösung. Denn die meisten der heutigen LehrerInnen besitzen nicht mehr die von ihren Vorgängern brillant beherrschte Fähigkeit, Physisches und Metaphysisches einander näherzubringen, Wissenschaft zu vermitteln, ohne religiöse Überzeugungen ins Wanken zu bringen. Die Neu- oder Ummodellierung seines Glaubens ist für einen Muslim nicht ohne Risiko. Im Allgemeinen hat es sich gezeigt, dass die Sozialisierung schwierig wird, wenn familiäres Umfeld und Bildungseinrichtungen jeweils unterschiedliche Werte vermitteln, weil dann Normenkonflikte, tiefgreifende Risse und Identitätskrisen auftreten15. Wenn es aber erst um existenzielle Fragen geht, wird die ganze Angelegenheit noch schwieriger. In der Praxis ist die islamische Lehre, die sich von der theologischen Sichtweise völlig abgekoppelt hatte, auf gewaltige psychologische Blockaden gestoßen16. Die Studierenden kommen ja gerade, um Antworten auf existentielle Fragen zu finden, Fragen nach dem Sinn des Lebens, und nicht auf Fragen zum Verständnis oder zur Philosophie, die die Geisteswissenschaften ohne geringste Einbeziehung eines religiösen Bezugssystems beantworten. 7. Weitere Hindernisse bezüglich des Referenzrahmens, des Inhalts, der Sprache ... Die oben angesprochene Frage der Repräsentativität steht häufig in unmittelbarem Zusammenhang mit dem religiösen Referenzrahmen der Herkunftsländer. Sollte man also je nach Herkunft der Studierenden, der Gründer der Hochschulen oder auch des Lehrkörpers unterschiedliche Studiengänge und Inhalte anbieten? 15 Siehe Rajaa NAJI El Mekkaoui: La Moudawanah: le Référentiel et le Conventionnel en Harmonie [Die Mudawana : Harmonie zwischen religiösem und rechtlichem Referenzrahmen], in drei Bänden Band 1: Le Mariage et la filiation [Ehe und Abstammungsverhältnisse] Band 2: La Dissolution du Mariage [Die Auflösung der Ehe] Band 3: De la Réforme de la Moudawanah à la Concrétisation de son Âme [Von der Reform der Mudawana zur Konkretisierung ihres Geistes] Siehe auch: Philippe Senaux: Die Krise der Werte, Beitrag zum vom Zentrum für Theologische Studien Caen am 6. und 7. Oktober 2006 ausgerichteten wissenschaftlichen Kolloquium, Akten. 16 Konkretes Beispiel eines gescheiterten Versuches: das Avicenna-Institut für Geisteswissenschaften (Lille). Gegründet 2007, wurde das Projekt schließlich infolge reihenweiser Rücktritte fast des gesamten Lehrkörpers eingestellt. Ursache dafür waren „Differenzen zwischen den Vorstellungen des Trägers (Mohamed Béchari) und der Art, wie der Lehrkörper eine unausgewogenen religiösen Ansatz einführte“. Erklärung von Oméro Marongin-Perria in: Enseignement Islamique en France: le casse-tête de la programmation [Islamische Lehre in Frankreich : Die harte Nuss der inhaltlichen Ausrichtung]. Vom Institut für das Studium des Islams und der Gesellschaften der islamischen Welt (IISMM) veranstalteter Runder Tisch, Montag, 7. Juni 2010. 13 Was den Inhalt angeht, so tritt man im Übrigen immer noch auf der Stelle in der Frage, ob nun eine doppelte Ausbildung in religiösen und in Geistes- und Sozialwissenschaften eingeführt werden sollte. Das Problem der Sprache wiederum stellt sich auf mehr als einer Ebene: - Zum Zweck der Anerkennungsabkommen mit den staatlichen Bildungseinrichtungen und der Anerkennung des Status als private Bildungseinrichtung muß Französisch dominieren. Aber zum Verständnis zahlreicher Teilbereiche ist Arabisch oft unverzichtbar ... Um mit einer Gruppe von Menschen zu kommunizieren, sollte man deren Sprache sprechen! - Die Sprache stellt also eine bedeutende Zugangshürde zu den verschiedentlich in Europa bestehenden Hochschulen (insbesondere für Imame, die von außerhalb kommen), aber auch eine Hürde für die Einschreibung an verschiedenen Universitäten der islamischen Welt dar, die Muslimen aus Europa und Nordamerika weitgehend verschlossen bleiben, weil diese die Unterrichtssprache nur selten beherrschen. IV. Gibt es spezielle Ausbildungsgänge für Imame? Die Problematik der Imam-Ausbildung ist dagegen ganz anders gelagert. Und diese Aussage ist so sehr untertrieben, dass schon allein die Fragestellung Unbehagen hinterlässt. Denn es geht dabei unterschwellig auch um Ideologie. Die politischen und logistischen Schwierigkeiten sind zahlreich: äußerst unzureichende Zahl von Imamen, Qualifikation, Qualität und Art des betriebenen Diskurses, Kommunikation mit der Gemeinschaft und den Behörden ... 1. Der Mangel an Imamen Wie überall in Europa fehlen noch Imame an Tausenden von Moscheen. Die Frage der Ausbildung, Ausrichtung und Kontrolle der Imame und ihrer Aussagen wiederum bleibt zwischen den Herkunfts- und den Aufnahmeländern umstritten. Unterdessen haben viele Moscheen entweder gar keinen Imam oder einen ohne Ausbildung, der damit wenig prädestiniert ist, sich für Integration und Interkulturalität einzusetzen oder auf die Probleme und Bedürfnisse der Gemeinde einzugehen und darauf passende Antworten zu geben. 2. Ausbildungsgänge sehen sich vor gewaltige Probleme gestellt Manchmal stößt man auf äußerst ungewöhnliche Konstellationen, wie beispielsweise die Ausbildung von Imamen durch eine katholische Einrichtung: Seit 2008 bildet die Katholische Hochschule von Paris muslimisches religiöses Führungspersonal aus und bereitet die Teilnehmer auf interkulturelles Arbeiten vor. Daraus ergeben sich zuweilen seltsame, manchmal auch unvollkommene und geradezu unvereinbare Lehrangebote. Um nun diejenigen zu beruhigen, die diese Schieflage anprangern, hat sich das Ministerium für Zuwanderung und Integration eigens herbemüht und verkündet, dass „der Islam sehr wohl mit dem Prinzip des Laizismus vereinbar ist“17. 17 Ansprache vor künftigen islamischen Seelsorgern, 11. Mai 2010, an der Katholischen Hochschule von Paris. 14 3. Sprachliche Defizite bei den Imamen Einer Vielzahl von Imamen mangelt es ernsthaft an Kenntnissen der Sprache des Aufnahmelandes. Dies bremst wesentlich die Integration und auch die Kommunikation mit der muslimischen Gemeinde. Außerdem hat es fatale Auswirkungen auf Qualität und Inhalt des von ihnen betriebenen Diskurses, der interkulturellen Ansätzen bestenfalls gleichgültig, schlimmstenfalls offen feindlich gegenübersteht. In vielen Moscheen versteht mehr als die Hälfte der Besucher des Freitagsgebetes die Sprache des Imams nicht und dieser wiederum beherrscht die Sprache seiner Zuhörer nicht. In manchen Moscheen wird ein Teil der Freitagspredigt auf Französisch gehalten (so in der Großen Moschee von Paris), anderswo werden in Einzelbemühungen die Predigten entweder unmittelbar oder im Anschluß übersetzt. Nur über die Kenntnis der Kultur und der Sprache kann im Übrigen eine bessere Beziehung zwischen den Imamen und den jüngeren Generationen gedeihen. Mehrere Lösungen sind vorstellbar, darunter die Entsendung muslimischer Studierender aus Europa in ihre Herkunftsländer, damit sie dort eine spezielle Ausbildung genießen und für das Imamat und die Führung gottesdienstlicher Aufgaben des Islams innerhalb der muslimischen Gemeinde befähigt sowie in die Lage versetzt werden, zur Integration dieser Gemeinde zumindest an den Stellen, wo diese mit der Gesellschaft des Aufnahmelandes in Kontakt kommt, beizutragen... In jedem Fall ist unbedingt über Partnerschaften zwischen den Aufnahme- und den Herkunftsländern nachzudenken, und die Imame müssen in der Sprache und den Normen der Gesellschaft des Aufnahmelandes unterrichtet werden18. Gerade der laizistische Islam wird in Frankreich breit angelegt debattiert. Siehe z. B.: Bessou: Vom Institut Montaigne veranstaltete Konferenz, think tank zum Thema „Was heißt es, französisch zu sein?“, Freitag, 4. Dezember 2009. Siehe auch: Der Islam wird durch die nationale Identität untergraben. Nach einer Umfrage des CSA [Conseil Supérieur de l`Audiovisuel – Rundfunkaufsichtsrat] hält jeder zweite Franzose die Ausübung des Islams für unvereinbar mit dem Leben in der französischen Gesellschaft, www.saphirnews.com. 18 Wie es das der Katholischen Hochschule von Paris angegliederte Institut für französische Sprache und Kultur tut, das eine sechsmonatige Sprachausbildung anbietet. 15 V. Perspektiven: Islamwissenschaftliche Ausbildungen mit weltweiter Vorbildfunktion 1. Entscheidung für ein Modell Weltweit folgt religiöse Lehre einem von zwei Modellen: konfessionelle oder minimalistische Lehre. In der ersten, sehr verbreiteten Form werden vertiefte Studien angeboten und Seelsorger, Lehrer und Theologen ausgebildet. Der minimalistische Ansatz dagegen beschränkt sich auf das Studium der Geschichte der Gründer, der Literatur und manchmal der Sprache. Eine dritte Form, die zwar bisher noch wenig verbreitet ist, aber der islamischen Lehre und Ausbildung in Europa am meisten zugute kommen würde, ist das pluralistische Modell. Es macht Sinn, jeder Gemeinschaft eine religiöse Bildung anzubieten, die deren Prinzipien und religiösen Erfahrung besonders entspricht. Der Mehrwert dieses Ansatzes liegt darin, dass dabei die Prinzipien der Toleranz, der Achtung vor dem Anderen und der sozialen Umgänglichkeit vermittelt werden. Er gestattet es, die Frage nach der Identität mit der Integration und damit dem auf den Regeln des Zusammenlebens basierenden Neben- und Miteinander verschiedener Gemeinschaften zu versöhnen19. 2. Religion und Religiöses zeitgemäß angehen In Zeiten der zweiten Globalisierung, der Expansion, der engsten Koexistenz der drei großen monotheistischen Religionen, der religiösen Konflikte und der Säkularisierung ist es nur das Mindeste, davon zu sprechen, dass Europa und die arabisch-islamische Welt dringendst gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie Religion und Religiöses so angegangen werden können, dass dies zeitgemäß den Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird. Im Allgemein lässt sich festhalten, dass religiöse Bildung und Lehre in unserer Zeit gefordert sind, eine Art Dynamik und Kohärenz zwischen mindestens drei Elementen herzustellen: dem analytischen Studium religiöser Fragen, der Kultur der Gemeinschaft und den erhofften Zielen dieser Lehre. Anders ausgedrückt: Es wäre an der Zeit, Geistes- und Sozialwissenschaften in die akademische religiöse Ausbildung miteinzubeziehen. In den islamischen Universitäten, deren Wissen und Glanz jahrhundertelang auf die ganze Welt abstrahlte, war dies durchgehend der Fall, und sie brachten bedeutende Gelehrte hervor, wahre Meister darin, religiöse Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften in Einklang zu bringen und Metaphysisches und Physisches einander näherzubringen (in Medizin, biomedizinischer Forschung, Pharmakologie, Physik, Chemie, Algebra und Mathematik, Astrophysik, Philosophie (Kalam), Logik ...). Die moderne Zivilisation hat ihnen viel zu verdanken! Im Übrigen macht die weltweite Tendenz zu mehr Religiosität die Einbindung von religiösen Wissenschaften in die modernen Wissenschaften unabdingbar. In diesem Zusammenhang kann man durchaus einmal die Frage aufwerfen, ob es nicht sinnvoll wäre, Religion als Universalwissenschaft und auf allen Ebenen gelehrtes Fach 19 Hier sei betont, dass es sich bei der Ausbildung an der Katholischen Hochschule von Paris nicht um eine Unterrichtung in islamischer Religionswissenschaft handelt, sondern vielmehr um die Vermittlung von Kenntnissen der Rahmenbedingungen der französischen Gesellschaft, also eine Unterrichtung im Laizismus. 16 einzuführen. Und der Islam als zweitgrößte Religion in Europa sollte dabei ebenfalls zu den gelehrten Religionen zählen. Gleichgültigkeit hat, – man braucht es kaum eigens zu erwähnen –, die Lage nur noch verschärft. Der Mensch ist von Natur aus so veranlagt, dass er sich beständig existenzielle Fragen stellt, und wenn es keine offiziellen Stellen gibt, bei denen er Rat finden könnte, holt er ihn sich da, wo er die Möglichkeit sieht, seinen Wissensdurst zu befriedigen. Sehr oft sind es dann extremistische Gruppierungen, die dieses besorgniserregende Vakuum füllen. Nur gegenseitiges Wissen über den anderen und der Dialog helfen aus der Sackgasse heraus, in die ein vom Zusammenprall der Zivilisationen und Extremismus geprägter Diskurs geführt hat. Für Interdisziplinarität, Dialog und gegenseitiges Wissen über den anderen benötigt man aber unbedingt Bildung und Lehre, die beiden Seiten die Möglichkeit bieten, den anderen zu entdecken und zu achten. 3. Die Regierungen sollten sich nicht in die Organisation der Studiengänge einmischen Die islamischen akademischen Bildungseinrichtungen sind einerseits aufgerufen, religiöse Studiengänge und Fächer anzubieten, aber andererseits auch, diese mit geisteswissenschaftlichen Fächern zu verbinden, um damit auf individuelle Bedürfnisse und den Bedarf staatlicher Stellen einzugehen, indem sie philosophische, politische, technische u.a. Fragen ausführlich behandeln, natürlich stets unter Wahrung und Achtung der religiösen Überzeugungen. Die jungen Generationen europäischer Muslime sind auf der Suche nach Bildungsangeboten, die religiöse Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften miteinander verbinden, um sich selbst besser zu verstehen und harmonisch mit sich selbst und dem anderen leben zu können. Leider sind nur wenige Theologen offen für Geisteswissenschaften und umgekehrt. Die erste Herausforderung, die es zu meistern gilt, ist also die Heranbildung einer Generation von Dozenten, die beides beherrscht, religiöse und Geistes- und Sozialwissenschaften, wie es ihre Vorgänger an den ältesten Universitäten der Welt, den islamischen Universitäten (al-Qarawiyyin in Fez, Zaituna in Tunesien, al-Azhar in Kairo, Cordoba in Andalusien ...) taten. 4. Den Schwierigkeiten bei der Verbindung von Religions- und Geisteswissenschaften entgegenwirken Die französische Erfahrung zeigt das Scheitern der meisten akademischen Ausbildungsinstitute auf, die Geisteswissenschaften nicht in die religiösen Studien integrieren. Allerdings ist diese Verbindung auch nicht immer einfach. Große Herausforderungen: In Frankreich wird eine wissenschaftliche Herangehensweise an die islamischen Wissenschaften vielfach gefürchtet und für gegensätzlich gehalten. Die logische Ausformulierung religiöser Überzeugungen, so die Befürchtungen weiter, könnten diese ins Wanken bringen. Um dem entgegenzuwirken, begnügen sich die französischen islamischen Hochschulinstitute im Bemühen um ihre Legitimierung damit, die traditionellen Theologiefächer aufzulegen, sprich Koranstudium, Hadithe und ein wenig Recht/Fiqh. Es wäre also erforderlich, diesen 17 Fächerkanon nachzuzeichnen, um dann Religions- mit Geistes- und Sozialwissenschaften verbinden zu können, ohne befürchten zu müssen, dass das Gebilde ins Wanken gerät. Im Übrigen sorgt auch die Unwissenheit des Umfeldes im Aufnahmeland (sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten der Gesellschaft) über den Islam für Verkennung, Mißtrauen, Konflikte und Ablehnung... und damit für die Zurückweisung jeglicher islamischer Lehre auf europäischem Boden. Es wäre an der Zeit, dass die (radikalen) Europäer begreifen, dass nur Wissenschaft, die Verbreitung von Wissen ... und gegenseitiges Kennenlernen des anderen interkulturelles Zusammenleben, eine Abschwächung des Diskurses vom Zusammenprall der Zivilisationen (und der sich daraus ergebenden Handlungen) und der Tendenz zum Extremismus ermöglichen. Dazu müssten mehrere pädagogische Regeln beachtet werden, nämlich: ٭Objektive akademische Ausbildungen, die wissenschaftliche Integrität und intellektuelle Redlichkeit gewährleisten, so dass Religionswissenschaft in der Absicht vermittelt wird, die Welt zu verstehen und Normproduktion analytisch zu zerlegen und die historischen und soziopolitischen Grundlagen der islamischen Theologie- und Rechtsschulen erklärt werden. ٭Insbesondere bedarf es eines erfahrenen Lehrkörpers, der sich aus namhaften islamischen Hochschulen rekrutiert und über umfangreiche Erfahrung in der Verbindung von islamischen Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften verfügt, so dass ein Verständnis der Eigenarten der islamischen Welt und Kultur möglich wird. Als Schlussfolgerung bleibt festzustellen, dass die französischen Anstrengungen im Zusammenhang mit islamischer Bildung und Lehre zu den weniger erfolgreichen zu zählen scheinen. Nichtsdestotrotz sollte man sie nicht außer Acht lassen, wenn man nicht in genau die gleichen Fallen tappen will. Die marokkanischen Ansätze sind dagegen sehr gewagt und im Vergleich zu den anderen muslimischen Ländern und natürlich im Vergleich zu den westlichen Ländern sehr weit fortgeschritten. Viele der immer wieder neu vom marokkanischen Staat aufgelegten Projekte haben Vorbildcharakter. Weitere Anregungen! Damit islamische Bildung und Lehre in den europäischen Ländern mit großen muslimischen Gemeinschaften erfolgreich sein kann, scheint es mir unverzichtbar, folgende Anforderungen zu formulieren: 1. Einführung von Unterricht zu Grundbegriffen des Islams im staatlichen Bildungssystem in Schulen mit muslimischen Schülern; 2. Einrichtung von Kooperationen mit den Herkunftsländern und Nutzung der erfolgreichsten Modelle, die der Toleranz förderlich sind: Das marokkanische Modell bleibt eines der besten; 3. Lehrplanentwurf jenseits von rassistischen, sicherheitspolitischen oder islamophoben Sichtweisen; 4. Verstärkte Bemühungen zum besseren Verständnis des Islams und seiner authentischen Werte, ohne dabei soziale Fakten und den Islam oder den Islam 18 und das Verhalten bestimmter Gruppen oder Personen oder den Islam und sozioökonomisch prekäre Lebenssituationen miteinander zu vermengen; 5. Bei der Verbindung von islamischen Wissenschaften mit Geistes- und Sozialwissenschaften sollte man auf die Schaffung von Synergien zwischen mindestens vier wesentlichen Prinzipien bedacht sein: ο Definition des erwarteten Ziels dieser Lehre und Bildung und dieser Verbindung; ο Vermeidung jeglicher ideologischer oder sicherheitspolitischer Ausrichtung der kritischen Analyse; ο Miteinbeziehung der Erfahrungen der Gemeinschaft; ο Rückgriff auf Ausbilder von hohem Niveau und zweigleisiger Ausbildung (in islamischen Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften)... Partnerschaft verpflichtet! Die Verfasserin ist gerne bereit, Kontakte herzustellen. Danke 19 Inhaltsübersicht Islamische Lehre in Marokko und Frankreich Erste Erfahrung: Die stille Reform des religiösen Bereichs in Marokko: ein breitangelegtes gesellschaftliches Vorhaben I. Gewaltige Reformen, die u.a. Institutionalisierung, Seelsorge und Bildung betreffen 1. Die Restrukturierung der Fatwa 2. Islamische Seelsorge 3. Anhebung des Niveaus der seelsorgerischen Betreuung II. Die Ramadan-Gespräche – eine ganz eigene, feierliche Tradition erlebt eine große Revolution! III. Einbeziehung von weiblichen ʾUlamāʾ und Predigerinnen im religiösen Bereich: ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben IV. Förderung der Rolle der Moschee V. Der durch Satellitenfernsehen und Internetseiten forcierten anarchischen Ausbreitung von Fatwen (religiösen Gutachten) Einhalt gebieten Zweite Erfahrung: Islamische Lehre in Frankreich I. Kurzer Abriss zur Entwicklung kultureller Fragen in Frankreich 1. Die vollkommene Vernachlässigung der kulturellen und religiösen Bedürfnisse von Einwanderern anderer Religionszugehörigkeit schafft vielfältige Probleme 2. Organisierte Ghettoisierung, Abkapselung, Verarmung: Das Banlieue-Phänomen 3. Das Aufblühen islamischer Hochschulen und Gymnasien: Welche Synergien, welche Strategien? III. Der übergroße Einfluss des Politischen auf islamische Lehre und Bildung in Frankreich 1. Religiöse Lehre angesichts des Laizismus 2. Unsichtbare Regierung ohne Politik 3. Keinerlei Vernetzungen oder Synergien 4. Eröffnung islamischer Hochschulinstitute nur um der Islamophobie und den Polemiken der Umgebung Paroli zu bieten: Auswirkungen auf die pädagogischinhaltliche Ausrichtung III. Der lange, unvollendete Weg der islamischen Lehre in Frankreich 1. Die Islamwissenschaft in Frankreich beschränkt sich auf Geschichte und Literatur... 2. Eklatanter Mangel an Pädagogen 3. Wachsende Religiosität bei den einen, mangelnde Ausbildung bei den anderen 4. Abkommen mit staatlichen Hochschulen zur Anerkennung der Abschlüsse: ein echtes Dilemma 5. Andere Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Nutzbarkeit 6. Das Scheitern abgehobener Bildungsangebote 7. Weitere Hindernisse bezüglich des Referenzrahmens, des Inhalts, der Sprache... IV. Gibt es spezielle Ausbildungsgänge für Imame? 20 1. Der Mangel an Imamen 2. Ausbildungsgänge sehen sich vor gewaltige Probleme gestellt 3. Sprachliche Defizite bei den Imamen V. Perspektiven: Islamwissenschaftliche Ausbildungen mit weltweiter Vorbildfunktion 1. Entscheidung für ein Modell 2. Religion und Religiöses zeitgemäß angehen 3. Die Regierungen sollten sich nicht in die Organisation der Studiengänge einmischen 4. Den Schwierigkeiten bei der Verbindung von Religions- und Geisteswissenschaften entgegenwirken 21