Islamische Lehre in Marokko und Frankreich.

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Islamische Lehre in Marokko und Frankreich
Rajae NAJI El Mekkaoui1
In dieser kurzen Studie werde ich stichpunktartig die wesentlichen Elemente der
beiden genannten Erfahrungen anführen, um deren jeweilige Stärken und Schwächen
aufzuzeigen, damit dies anderen neuen Ansätzen zugute kommen kann.
Erste Erfahrung:
Die stille Reform des religiösen Bereichs in Marokko: ein breitangelegtes
gesellschaftliches Vorhaben
Der marokkanische König Mohammed VI hat seit seiner Thronbesteigung im
Jahre 1999 in seiner Eigenschaft als Amīr al-Mu'minīn (Befehlshaber der Gläubigen)2
einen umfassenden Reformprozess im religiösen Bereich eingeleitet. Unzählige
Initiativen wurden ergriffen, um vor allem folgende Ziele zu erreichen: die spirituelle
Sicherheit der Bürger im In- und Ausland zu gewährleisten sowie den institutionellen
Rahmen religiöser Einrichtungen und eine einheitliche Doktrin zu verankern. Dabei soll
an die religiösen Werte angeknüpft werden, die bereits seit vierzehnhundert Jahren den
religiösen Referenzrahmen in Marokko bilden.
I. Gewaltige Reformen, die u.a. Institutionalisierung, Seelsorge und Bildung betreffen
Die verschiedenen aufeinanderfolgenden oder auch sich überschneidenden
Initiativen machen den religiösen Bereich zu einem grundlegenden Bestandteil
gesellschaftlichen Lebens im modernen Marokko. Die Reformen sind Teil einer
umfassenden, multidimensionalen Gesamtstrategie aus drei Komponenten –
Institutionalisierung, Seelsorge und authentisch-islamische Bildung –, deren wesentliche
Elemente ich im Folgenden vorstellen werde:
1. Die Restrukturierung der Fatwa
In dem Bemühen, den religiösen Bezugsrahmen Marokkos, der auf Mäßigung,
Toleranz und dem goldenen Mittelweg beruht, beizubehalten und sich gegen
Extremismus, sozialen Ausschluss und Exzesse zu wappnen, hat sich das Land zunächst
auf die Überarbeitung und Restrukturierung der religiösen Einrichtungen, zuvorderst den
Obersten Rat der Ulamā3, konzentriert. Zu den Reformen gehören:
• Neustrukturierung des Obersten Rates der Ulamā und der Regionalen Räte;
1
PhD, Dozentin für Rechtswissenschaft, Universität Mohamed V, Rabat, Marokko.
ʾAmīr al-Muʾminīn: Befehlshaber der Gläubigen (latinisiert als Miramolinus oder Miramolin): dem obersten Führer der Muslime
(dem Kalifen) zuerkannter Rang. Erster Inhaber dieses Titels war ʾUmar Ibn al-ʾaʾʾāb. Heute trägt nur noch der marokkanische
König diesen Titel, was in der marokkanischen Verfassung verankert ist.
Aufgrund seiner Eigenschaft als Amīr al-Mu'minīn und höchster Vertreter des Imamats, das auf den Bindungen der Beia
(des Treueeids) basiert, widmet sich der marokkanische König ganz besonders religiösen Fragen, um die Entfaltung des spirituellen
Lebens der Bevölkerung zu sichern und weitreichende Reformen der verschiedenen, mit der Führung religiöser Angelegenheiten
betrauten Einrichtungen durchzuführen.
3
Ālim, pl. Ulamā: Gelehrter und geistliche Autorität, forscht im Bereich der Islamischen Wissenschaften. Sein Wissen kann weit
über reine Theologie hinausgehen, ja regelrecht enzyklopädisch sein.
Arabische Etymologie: Im Französischen wird Ulamā, geschrieben Ouléma ‫ء‬, eigentlich der Plural von Sg. „Ālime
“, als Singular verwendet. Der „Alime“ ist jemand, der Wissenschaft (`Ilme), abgeleitet vom Verb „alima/aléma“, wissen,
besitzt. Das Französische verwendet also den arabischen Plural als Singular und hängt diesem zur Pluralbildung ein „s“ an.
2
1
• Anpassung des Niveaus der Imame, um deren akademisches Profil und deren
Leistungen in der religiösen Bildung zu verbessern;
• gelehrten Frauen (Ulamā, Predigerinnen und Murschidat) wird eine herausragende
Stellung eingeräumt;
• Förderung der Rolle der Moscheen;
• Betreuung des Familienlebens und Beschäftigung mit frauenspezifischen Fragen...
2. Islamische Seelsorge
Der Oberste Rat der Ulamā verfügt über lokale Ableger in jeder Provinz und
Präfektur. So ist sichergestellt, dass unmittelbar vor Ort religiöse Angelegenheiten
geregelt werden und die Bevölkerung in allen Fragen bezüglich ihres religiösen Lebens
Ansprechpartner und Beratung findet.
Der Oberste Rat vor Ort ist darüber hinaus auch außerhalb Marokkos vertreten,
wo er sich um die Belange marokkanischer Migranten kümmert und sich um die
Wahrung der islamischen Lehre und der nationalen Identität bemüht.
3. Anhebung des Niveaus der seelsorgerischen Betreuung
Das Studium der Theologie erfolgt entweder in einem islamischen
Referenzrahmen, einem praxisorientierten, berufsqualifizierenden Rahmen (Ausbildung
von Imamen und anderen seelsorgerisch Tätigen), der keine weitere wissenschaftliche
Vertiefung erfordert, oder in einem anspruchsvoll-elitären religiösen Rahmen, dem es um
die eingehende Erörterung und Aufarbeitung islamspezifischer Fragestellungen geht.
Religiöse Bildung fand in Marokko bisher in verschiedenen Formen statt:
‫ ٭‬in den Koranschulen,
‫ ٭‬in der klassischen (sog. atīq) Bildung,
‫ ٭‬an der al-Qarawiyyin-Universität,
‫ ٭‬am Dar al-Hadith al-Hassania (Hochschule für Islamische Studien, gegründet
1968).
‫ ٭‬In den 70er-Jahren wurden landesweit an geisteswissenschaftlichen Fakultäten
Abteilungen für Islamische Studien eingerichtet.
Seit 1999 ist im Bereich der religiösen Bildung Vieles auf den Weg gebracht
worden, um gesellschaftliche Ausgrenzung und Abschottung zu verhindern.
Hauptelemente sind Folgende:
‫ ٭‬Neustrukturierung des Dar al-Hadith al-Hassania: Die Hochschule für
Islamische Studien, die seit 1968 eine Ausbildung in Islamischen Studien nach
klassischem Muster anbot, hat mittlerweile neue Fachbereiche eingeführt, wie
zum Beispiel Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Recht, Wirtschaft, Logik,
Soziologie, Philosophie), vergleichende Religionswissenschaft und Sprachen
(sowohl moderne als auch klassische wie Latein, Griechisch ...).
‫ ٭‬Eine an den Grundsätzen des Islams orientierte Modernisierung der islamischen
Bildung und eine akademische Ausbildung, die sehr wohl um die
Herausforderungen und Probleme der modernen Lebenswelt weiß.
‫ ٭‬Modernisierung der Lehrpläne islamwissenschaftlicher Studiengänge und
Vereinheitlichung der Studienordnungen, wobei eine Öffnung gegenüber
anderen Fächern und Kulturen und eine Harmonisierung mit anderen
2
Studienzweigen gegeben ist, um das Bildungssystem konsequent kohärent zu
gestalten.
‫ ٭‬Sanierung der ursprünglichen Bildungsträger und der Koranschulen, um deren
Rolle in der religiösen Betreuung weiter zu befördern und vor Einflüssen zu
schützen, die der marokkanischen Identität schaden könnten.
‫ ٭‬Einrichtung eines Ausbildungsinstitutes für Imame und [weibliche] Murschidat
(erster Abschlussjahrgang im April 2004).
II. Die Ramadan-Gespräche – eine ganz
eigene, feierliche Tradition erlebt eine große
Revolution!
Die sogenannten Ramadan-Gespräche
werden in einem äußerst feierlichen Rahmen im
heiligen
Monat
Ramadan
unter
dem
persönlichen Vorsitz des Königs Amīr alMu'minīn) und in Anwesenheit hochrangiger
Vertreter des politischen, diplomatischen und
wissenschaftlichen Lebens sowie von Ulamā
aus der ganzen Welt abgehalten. Sie werden
weltweit live per Satellitenfernsehen übertragen.
Die Bilder von dieser einmaligen Premiere geben
die Sitzordnung wider: Die Zuhörer hocken am
Boden, nur die Vortragende hat erhöht auf einem
Podest (Minbar, ca. 1 m hoch) Platz genommen.
Man kann ohne Übertreibung behaupten,
dass schon allein diese Vorträge an sich als
Kristallisationspunkt brillanten islamischen Denkens und allgemeinverständlicher
Darstellungen von Fachwissen eine marokkanische Besonderheit darstellen. Dabei
schöpfen sie aus koranischen Quellen und den Aussprüchen des Propheten als
Referenzen.
Der König sitzt ebenfalls auf dem Boden, der
Vortragenden genau gegenüber. Im Bildhintergrund: die
Regierung und hochrangige Persönlichkeiten aus Militär
und Zivil, auf der gegenüberliegenden Seite das
diplomatische Korps. Rechts, gegenüber dem Herrscher
und den Prinzen, die Vortragende und Ulamā aus allen
Teilen der Welt.
Die Ramadan-Gespräche, eine Zusammenkunft
von hohem akademischen Niveau, haben mit der
Einbeziehung gelehrter Frauen eine qualitative
Revolution erfahren. Diese bedeutende stille
Revolution fand im Rahmen der Ramadan-Gespräche
2003 statt. Bis dato waren diese Veranstaltungen
ausschließlich herausragenden männlichen Ulamā
vorbehalten gewesen. Doch an jenem 5. November
2003 hielt zum ersten Mal in der Geschichte der
islamischen Welt und vielleicht gar Geschichte der
ganzen Welt eine Frau (Rajae Naji Mekkaoui) einen
derartigen Vortrag.4
4
Hier einer der zahlreichen Kommentare, die diesem großartigem, revolutionären Ereignis unmittelbar folgten: „Eine Premiere –
dieses Wort lag in aller Munde, als die Bilder von einer Frau, die den vierten religiösen Vortrag im Ramadan hielt, vom
marokkanischen Fernsehen ausgestrahlt wurden ... Diese Frau ist Rajaa Naji Mekkaoui, Dozentin an der Universität Mohammed V
von Rabat-Agdal und Leiterin des universitären Forschungsbereiches Gesundheitsrecht.
3
Teilweise wird behauptet, es habe sich dabei um eine Premiere in der Geschichte
der islamischen Umma gehandelt. Doch in Wirklichkeit war es bereits das zweite Mal.
Allerdings liegt das erste Mal bereits Jahrhunderte zurück. Aischa, die Ehefrau des
Propheten Muhammad, äußerst bewandert in islamischen Wissenschaften und
insbesondere in den Hadithen und prophetischen Traditionen, hielt nämlich derartige
Sitzungen ab und empfing laufend Menschen, die etwas zu spezifischen religiösen oder
juristischen Fragestellungen oder auch über die Echtheit der Hadithe erfahren wollten.
III. Einbeziehung von weiblichen Ulamā und Predigerinnen im religiösen Bereich:
ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben
Unmittelbar nach dieser bedeutsamen stillen Revolution von 2003 (Beteiligung der
ersten Frau an den ,Ramadan-Gesprächen´) folgte der große Durchbruch: Frauen wurde nun
die Möglichkeit geboten, sich (en masse) an der Lenkung und Führung religiöser
Angelegenheiten zu beteiligen. Seither sitzen Frauen in den Ulamā-Räten, sind als
Predigerinnen oder Murschidat5 in Moscheen, Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen tätig,
wirken bei der Erstellung von Fatwen6 mit oder treten als Rednerinnen in Moscheen auf ...
Genaugenommen hat Marokko aber damit bisher nichts weiter getan, als den Frauen
die ihnen nach dem Koran und prophetischer Tradition zukommende Stellung als dem Mann
an Rechten und Pflichten gleichgestellt wiederzuzuerkennen. Dadurch trägt Marokko spürbar
dazu bei, das andernorts von unnachgiebigen, unbesonnenen Verleumdungskampagnen
kolportierte Bild der Muslimin zu korrigieren.
So unterstreicht diese ganz klar vom König (in seiner Eigenschaft als Amīr alMu'minīn) unterstützte „Revolution“ immer wieder das absolute Vertrauen in die
Fähigkeiten von Frauen ... Sie hat sich verantwortungsvoll um die aktive Mitwirkung von
Frauen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen verdient gemacht und diese befördert,
wie beispielsweise durch Beteiligung von Frauen am Obersten Rat der Ulamā, wo drei
Frauen, darunter Prof. Rajae NAJI Mekkaoui, durch deren Präsenz in lokalen Ulamā-Räten
oder deren Arbeit in Moscheen, pädagogischen Einrichtungen, Gefängnissen,
Krankenhäusern etc. vertreten sind.
Der König selbst wird nicht müde darauf zu verweisen, dass er den Frauen „die Tür“
geöffnet hat, „damit sie sich als vollwertige Mitglieder in die Tätigkeit des Obersten Rates
der Ulamā und der lokalen Ulamā-Räte einbringen. Gleichzeitig haben wir es den Frauen
gestattet, sich bei den hassanidischen Ramadan-Gesprächen ihren männlichen UlamāKollegen anzuschließen. Hierbei haben die Frauen in der Tat ihre akademischen Fähigkeiten
Die Zuhörer waren von der Rednerin deutlich sichtbar fasziniert – wie auch nicht anders zu erwarten war, schließlich war die
Veranstaltung alles andere als gewöhnlich ... Als erfahrene Hochschullehrerin blickte sie immer wieder aufmunternd in die Runde und
schuf so Anreize, ihr weiter zuzuhören.
Die Vortragende sprach über „Die Universalität der Familienstruktur in einer Welt voller Eigenarten“. Naji Mekkaoui stellte
zusammengefasst die Ergebnisse einer vergleichende Studie zum Konzept der Familie zwischen modernen Sozialwissenschaften und
koranischem Recht vor und unterstrich dabei besonders, wie gefährlich es sei, die Probleme einzelner Familienmitglieder jeweils
isoliert voneinander behandeln zu wollen. Seit dem 5. November 2003 ist Rajaa nicht mehr länger nur irgendeine Dozentin. Sie geht
mit großem Zeremoniell in die Geschichte Marokkos ein ...“ Amal Baba Ali: Rajaa Naji Mekkaoui hält in Anwesenheit des Königs
einen religiösen Vortrag – eine herausragende Premiere, „Maroc Hebdo“, 7. November 2003.
5
Hierbei handelt es sich de facto um drei Abstufungen bzw. Ränge: Ālima (weibliche Form von Ālim) ist davon die höchste, sie kann
u.a. Iğtihād betreiben und Fatwen verfassen. Es folgt die Predigerin, ebenfalls von hohem akademischen Bildungsniveau, jedoch etwas
weniger umfassend gebildet die Ālima. Die Murschida besitzt ein erstes Hochschuldiplom, hat eine spezielle Ausbildung genossen
und begleitet Menschen in Schwierigkeiten.
6
Fatwa: Religiöses oder juristisches Gutachten, erstellt von einem islamischen Rechtsgelehrten zu einer konkreten Fragestellung.
4
eindeutig unter Beweis gestellt und sich als ihren männlichen Kollegen ebenbürtig
erwiesen.“7
IV. Förderung der Rolle der Moschee
Durch die Betreuung und die Anpassung des Niveaus der Imame sind zweifellos
positive Rückwirkungen auf die Maßnahmen zur Definition neuer Aufgaben für die Moschee
und zur Betonung der dieser zustehenden Rolle als Ort der Bildung, Erziehung und
Aufklärung zu erwarten.
Ziel hierbei sind die Erneuerung des religiösen Diskurses und verbesserte Leistungen
religiöser Einrichtungen, so dass sie die Dynamik der marokkanischen Gesellschaft
begleiten, der intellektuellen und kulturellen Entwicklung folgen und die Auswirkungen der
rasanten Veränderungen weltweit aufgreifen können.8
V. Der durch Satellitenfernsehen und Internetseiten forcierten anarchischen
Ausbreitung von Fatwen (religiösen Gutachten) Einhalt gebieten
Die Fatwa ist eine Art religiöses oder juristisches Gutachten, von einem
islamischen Rechtsgelehrten zu einer spezifischen religiösen oder juristischen
Fragestellung erstellt. Da es weder juristische Texte noch spezialisierte Einrichtungen
gibt, die Fatwen einheitlich regeln, sind diese zu Objekten anarchisch wuchernder
Spekulation geworden. Schlimmer noch: „Fanatiker“, oft ohne jegliche Ausbildung oder
pädagogisches Geschick, oder gar Analphabeten und Laien, haben sich der Fatwa
bemächtigt ...
Um das Fatwen-Wesen zu strukturieren und zu institutionalisieren, wurde
innerhalb des Obersten Rates der Ulamā ein Fatwa-Ausschuss eingerichtet, der zu Fragen
von allgemeinem Interesse auf durchdachte Argumente und handfeste Beweise gestützte
religiöse oder juristische Gutachten verfassen soll. So entstand eine ganze Reihe von
Gesetzen und Reformen zu Gotteshäusern, zur Modernisierung der religiösen Bildung in
Marokko u.v.m., um den neuen Wirklichkeiten und den neuen Problemen einer sich
rapide wandelnden Gesellschaft gerecht zu werden. In den letzten zehn Jahren war daher
immer wieder von Beobachtern zu hören, dass in Marokko im religiösen Bereich ein
frischer Wind wehe.
‫٭٭٭‬
7
Ansprache Seiner Majestät des Königs vor dem ersten nationalen Kongress der Ālimat, Predigerinnen und Murschidat vom 17. bis
19. Juli 2009 in Skhirat, Marokko.
8
In dieser Absicht wurde im Juni 2009 für 45.000 Imame ein Programm zur Weiterbildung aufgelegt, das auf der Ebene der
verschiedenen städtischen und ländlichen Gemeinden von 1.500 Betreuern überwacht wird.
5
Zweite Erfahrung:
Islamische Lehre in Frankreich
I. Kurzer Abriss zur Entwicklung kultureller Fragen in Frankreich
1. Die vollkommene Vernachlässigung der kulturellen und religiösen Bedürfnisse von
Einwanderern anderer Religionszugehörigkeit schafft vielfältige Probleme
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Einwanderer (europäischer
Herkunft) sich weitgehend unproblematisch in die Gesellschaft integrieren und
assimilieren können. Unmittelbar nach Kriegsende jedoch lassen sich dann erste
Anzeichen von Ablehnung beobachten, die sich in der Zusammenziehung der
Neuankömmlinge in städtischen Randgebieten konkretisierte, während diese zuvor breit
gestreut ansässig geworden waren. Diese Ghettobildung verschärfte sich mit der
massiven Zuwanderung aus Afrika und dem Maghrebraum.
Da der Großteil der Zuwanderer außerdem sozial besonders benachteiligten
Schichten angehört und damit eine genau eingrenzbare wahlpolitische (und insbesondere
gewerkschaftliche) Rolle spielt, weigert sich Frankreich weiterhin, die Frage der
Integration von Ausländern ernsthaft anzugehen.
2. Organisierte Ghettoisierung, Abkapselung, Verarmung: Das Banlieue-Phänomen
Andererseits wurde bei der massiven Zuwanderung von Menschen aus anderen
Kulturen (aus den verlorenen Kolonien im Maghreb, in Afrika etc.) die koloniale
Situation exakt übertragen, was sich in der Bildung von Ghettos und ethnisch
einheitlich strukturierten Wohnvierteln sowie der Segregation der Zuwanderer nach
Rassen manifestierte. Der Prestigeverlust auf internationaler Ebene wurde so durch den
massiven Zustrom von Zuwanderern (aus ehemaligen Kolonien) ins französische
Mutterland noch verschärft. All dies hat Ressentiments geschürt.
Die Zuwanderer aus anderen Kulturen (Muslime, Araber, Asiaten, Afrikaner
usw.) hätten aber nun durchaus integriert und damit Gewalt- und
Kriminalisierungstendenzen abgeschwächt werden können, wenn Europa sich
pluralisiert, andere Kulturen anerkannt und die grundlegenden kulturellen und religiösen
Bedürfnisse der Zuwanderer befriedigt hätte. Da dies jedoch nicht der Fall war, ist die
kulturelle und religiöse Problematik schier unüberwindbar geworden9 und hat weitere
9
Anscheinend fanden sich derartige Argumentationslinien bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Die unterschiedlichen politischen
Spaltlinien waren damals ganz ähnlich gelagert wie heute. Die Zuwanderungsproblematik hat von ihrer Natur her die Tendenz, sich
historisch zu wiederholen, wobei die jüngste Welle von Zuwanderern stets als die bedrohlichste wahrgenommen wird. Man könnte
sagen, dass Zuwanderung von beiden Seiten des politischen Spektrums als politische Waffe eingesetzt wird. Siehe „Histoire de
l´Immigration
en
France“
[Geschichte
der
Zuwanderung
in
Frankreich]
unter
http://www.reynier.com/Anthro/Interethnique/Immigration.html. Siehe auch:
Noiriel, G.: Histoire de l´Immigration [Geschichte der Zuwanderung], in: Actes de la Recherche en sciences sociales
[Forschungsschriften der Sozialwissenschaften], Nr. 54 – Oktober 1984.
Schor, R: Histoire de l´Immigration en France [Geschichte der Zuwanderung in Frankreich] (A. Colin – Col U).
6
Problemkomplexe hervorgebracht mit all ihren u.a. sozioökonomischen, kulturellen und
rassistischen Auswirkungen (das sog. Banlieue-Phänomen), man könnte auch sagen: mit
allem, was Gewalt fördert.
Mehr noch: Macht das Aufnahmeland eine Wirtschaftskrise durch, kann es sich
sogar ganz offen gegen Zuwanderung stellen und regelrecht fremdenfeindlich werden.
Fremdenfeindlichkeit wiederum verstärkt natürlich das Gefühl beim Zuwanderer,
abgelehnt zu werden und befördert aufrührerisches Verhalten. Abkapselung,
Viktimisierung, die Verschiedenartigkeit von Werten und Eigenarten sowie
Hoffnungslosigkeit nehmen manchmal gewaltsame Formen an.
In dieser Entwicklungslinie halten sich die Regierungen bisher stets an die gleiche
Strategie: die Aufoktroyierung einer einheitlichen, „gemeinsamen“ Identität, um die
eigene Existenz zu festigen und zu legitimieren. Als mögliches Bindeglied wird u.a. auch
Religion vorgeschlagen (etymologisch bedeutet religere im Lateinischen Verbindungen
zwischen Menschen schaffen), die sich hier v.a. in kultureller Einheitlichkeit äußert.
Der Schuss ging jedoch nach hinten los. Statt der stets als Slogan vorgetragenen
Integration lässt sich die Abkapselung ganzer Bevölkerungsgruppen in teilweise
bedenklichem Ausmaß beobachten. Dies ist nur menschlich: Wenn eine
Bevölkerungsgruppe ihre Identität durch die neu auf sie einströmende Kultur bedroht
sieht, kapselt sie sich ab, lehnt die Gesellschaft und deren andersartige soziale Normen,
die lokalen und nationalen Werte ab oder begehrt gar dagegen auf und verzichtet selbst
auf die Vorteile, die die Staatsbürgerschaft eigentlich bietet.
Der Wunsch nach Bekanntheit und Anerkennung wurzelt tief in der menschlichen
Natur. Anstelle der Ghettoisierung hätte man gerade in Frankreich die Zuwanderer in
das soziale und politische Leben vor Ort einbinden sollen ...
Die Herkunftsländer der Migranten dagegen hätten ihrerseits diesen klarmachen
müssen, dass die Staatsangehörigkeit des Gastlandes keineswegs mit dem Islam
unvereinbar ist, und dass sie keinesfalls weder ihre Herkunftskultur noch ihren religiösen
Überzeugungen schadet, sondern ihnen ganz einfach den vollen Genuss
staatsbürgerlicher Rechte zusichert.
Die Kumulierung der erwähnten Phänomene im Zusammenhang mit dem
Auseinanderbrechen und der Desillusionierung diverser aufeinanderfolgender Politiken
führte dann in den Achtziger Jahren dazu, dass das Problem der ungeplanten
Zuwanderung, verschärft durch Marginalisierung, Ghettoisierung, rassische Trennung
und Vernachlässigung der elementaren, kulturellen und moralischen Bedürfnisse
der Minderheiten, alarmierende Ausmaße annahm.
In der Folge entstanden in den Neunziger Jahren zahlreiche (islamische und
andere) Verbände und Vereine, die versuchten, diesen Problemen und
besorgniserregenden Mängeln beizukommen oder vielmehr diese abzuschwächen. In der
ersten Dekade des 21. Jahrhunderts schließlich entstanden (erneut ohne jegliche Planung)
in mehreren europäischen Ländern und insbesondere in Frankreich islamische
Bildungszentren.
7
3. Das Aufblühen islamischer Hochschulen und Gymnasien: Welche
Synergien, welche Strategien?
Seit dem Jahr 2000 sind in Frankreich zahlreiche derartige Ausbildungsstätten
entstanden. Beispielhaft seien hier angeführt:
1. das Muslimische Gymnasium von Marseille
2. die Mittelschule Réussite [„Erfolg“] (erste muslimische Mittelschule Frankreichs)
3. das Averroès-Gymnasium in Lille (als Reaktion auf das Schleierverbot)
4. das Islamstudien- und Forschungszentrum in Saint-Denis (93. Departement,
nördlicher Stadtrand von Paris)
5. das Europäische Institut der Geisteswissenschaften (IESH Saint-Denis)
6. das Islamstudien- und Forschungszentrum (CERSI) in Saint-Denis
7. das Internationale Institut für Islamisches Denken (IIIT) in Saint-Ouen
8. das Höhere Institut für Islamische Wissenschaften (ISSI) in Saint-Ouen
(Departement Seine-Saint-Denis)
9. das Europäische Averroès-Institut (IEA, gegründet vom Verlag Jeunesse sans
frontières [Jugend ohne Grenzen])
10. das Muslimische Institut für Fernstudien (IMED)
11. das Europäische Institut der Geisteswissenschaften (IESH) in Château-Chinon
und Paris
12. das Französische Institut für Islamstudien und -wissenschaften (IFESI) in BoissySaint-Léger (94. Departement)
13. das Institut für Theologie der Großen Moschee von Paris (zur Ausbildung von
Imamen)
14. die Französische Akademie für Kulturen und Sprachen (AFCL) in Vitry-sur-Seine
15. das Avicenna-Institut für Geisteswissenschaften (IASH) in Lille (Departement
Nord)
Da diese Einrichtungen alle noch recht jung sind, ist eine abschließende
Bewertung nicht möglich. Aber sie existieren zumindest und bieten das Studium der
arabischen Sprache und der islamischen Wissenschaften an. Und sie spiegeln den Mut
ihrer Gründer, den Geist und den sozialen Zweck wider, zu dem sie (in Ermangelung
einer landesweiten Politik) eingerichtet wurden.
Nichtsdestotrotz muß man auch festhalten, dass diese Vielzahl kleiner Institute
verdeutlicht, wie vielgestaltig und vor allem zersplittert der Islam in Frankreich ist. Und
man kommt nicht umhin, die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, und die
bereits erkennbaren Schwächen aufzuzählen.
II. Der übergroße Einfluss des Politischen auf islamische Lehre und Bildung in
Frankreich
Die Debatte über den Islam findet beständig in einem säkularen Kontext statt.
Man könnte sogar davon sprechen, dass „Frankreich durch den Islam seine Identitätskrise
erlebt“. Dies äußert sich sehr häufig in unterschiedlichen Formen von Islamophobie. Das
Thema Islam sorgt ständig für im Allgemeinen sehr heftig geführte Debatten, in denen er
8
der Unvereinbarkeit mit dem Laizismus bezichtigt und als Bedrohung für die
grundlegenden Prinzipien des Säkularismus wahrgenommen wird.
Trotz dieser Debatten/Polemiken lassen sich bisher weder eine Politik noch ein
deutliches Auftreten der Regierung, weder Vernetzungen noch Synergien zwischen den
Einrichtungen, die islamwissenschaftliche Ausbildungen anbieten, erkennen. Man kann
vielmehr beobachten, dass islamische Hochschulinstitute wie Pilze aus dem Boden
schießen, deren Hauptziel aber nicht vorrangig Bildung ist, sondern die vielmehr der
Islamophobie und den Polemiken ihrer Umwelt einfach etwas entgegensetzen wollen.
Dies hat natürlich Auswirkungen auf die pädagogisch-inhaltliche Ausrichtung und die
Qualität der Lehre.
1. Religiöse Lehre angesichts des Laizismus
Man muß betonen, dass die inhaltliche Ausrichtung und die Lehre islamischer
Wissenschaften innerhalb der Strukturen und Studiengänge der französischen
Universitäten in einem vom Laizismus geprägten rechtlichen Rahmen stets
problematisch waren10. Aus mehreren Gründen ist islamischer Religionsunterricht an
Schulen nur schwer vorstellbar. Verschiedene Fragen sind bisher unbeantwortet: Soll der
Lehrkörper nur aus Muslimen bestehen oder gemischt sein? In welchem Rahmen soll
der Religionsunterricht stattfinden? Sollten sich die Lerninhalte ausschließlich auf Koran
und Hadithe konzentrieren? Oder sich vielmehr auch soziologischen, politischen oder
anderen Sichtweisen des Islams widmen? Soll es um die Geschichte des Laizismus in
Frankreich und dessen Beziehungen zu den Religionen gehen? Um das Studium der
arabischen Sprache, die Geschichte des modernen Islam ...? Sollte man sich eher auf
Theologie beschränken und dazu auch eine wissenschaftliche Ausbildung anbieten (nach
dem System LMD – Licence, Master, Doktor [im Rahmen des Bologna-Prozesses
eingeführtes, europaweit vergleichbares dreistufiges Studiensystem, a.d.Ü.]? All diese
und viele weitere Fragen sind noch offen und werden es wohl auch bleiben.
2. Unsichtbare Regierung ohne Politik
Angesichts der steigenden Nachfrage nach Ausbildung in islamischen Studien
und in der Forschung in den unterschiedlichsten Bereich wie Arabisch, Scharia,
islamische Jurisprudenz, Koran- und Hadith-Wissenschaften, Vorbereitung auf den
Predigerberuf (Imame) usw., ist es die Zivilgeschellschaft, die sich für die Einrichtung
der erwähnten Institute eingesetzt hat, nicht die französische Regierung, die bisher gar
nicht in Erscheinung getreten ist.
In jüngster Zeit sind islamisches Bankenwesen, interkulturelles Management,
Personalverwaltung, internationale Projekte etc. groß in Mode gekommen. Um der
gewaltigen Nachfrage nach Ausbildung in islamischen Studien und in der Forschung in
diesen hochaktuellen Bereichen nachzukommen schießen islamische Universitäten,
Institute und Gymnasien wie Pilze aus dem Boden, aber lediglich, um, fernab jeder
10
Jean-Philippe Bras vom Institut für das Studium des Islams und der Gesellschaften der islamischen Welt, s.: Internationales
Kolloqium „Die Lehre religiöser Disziplinen in universitären Einrichtungen“, im Lichte der Geistes- und Sozialwissenschaften,
Tunesien, Februar 2010.
9
Synergie und Strategie, kurzfristig und ausschließlich nur den drängendsten
wirtschaftlichen Bedürfnissen nachzukommen.
3. Keinerlei Vernetzungen oder Synergien
Anders als in Belgien und den Niederlanden, wo sich eine Einrichtung findet, die
Kompetenzen vernetzt, indem sie die Fakultät für Islamische Wissenschaften von
Brüssel (FSIB) und die Islamische Universität Europas in Rotterdam (die Bachelor-,
Master- und Doktorstudien anbietet) zusammenbringt, anders also als bei dieser äußerst
seltenen „Politik“ des Zusammenschlusses und der Vernetzung, sind die französischen
Institute weder in einem „Verbund“ für Forschung und universitäre Lehre in islamischen
Wissenschaften zusammengeschlossen, noch sind sie in einen landesweiten oder
regionalen politischen Rahmen eingebunden.
Nicht verschwiegen werden sollte allerdings, dass Überlegungen im französischen
Innenministerium zur Ausbildung von Imamen immerhin zu einer Aufgabenteilung
zwischen der theologischen Unterrichtung durch das Ghazali-Institut der Großen
Moschee von Paris (das Imame ausbildet) und der Unterweisung in
Geisteswissenschaften durch die Katholische Hochschule von Paris geführt haben.
4. Eröffnung islamischer Hochschulinstitute, nur um der Islamophobie und den
Polemiken der Umgebung Paroli zu bieten: Auswirkungen auf die pädagogischinhaltliche Ausrichtung
Sehr häufig suchen junge Menschen, verärgert über falsche Vorstellungen, die
über den Islam verbreitetet sind, nach einer islamischen Ausbildung, um auf die
Polemiken und nicht endenwollenden Vorurteile ihrer Umgebung reagieren zu
können. Diese Nachfrage trifft nun ständig auf das Problem, dass die Dozenten bei
weitem nicht in der Lage sind, derartige Antworten vorzulegen und darüberhinaus auch
die Situation der inhaltlichen Konzepte geradezu krisenhaft ist!
Ein bedeutende Schwierigkeit ergibt sich also daraus, dass die inhaltliche
Konzeption der islamischen Studienangebote sehr häufig unmittelbar von der Art des
Publikums, dem jeweiligen Bedarf, aber auch der öffentlichen Debatte, kurz, den
Polemiken der Umgebung über den Islam, beeinflusst wird. Die Islamophobie im
Westen hat ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen und beeinträchtigt damit auch
alle Bildungsbemühungen.
Wenn sich die Lehre von einer derartigen Atmosphäre mitreißen lässt, klärt sie
jedoch nicht auf, sondern sie sät sogar noch mehr Angst und verursacht Abschottung
unter den Muslimen ... Dabei sollte doch eigentlich das Zusammenleben den
Ausgangspunkt jeglicher islamischer Ausbildung darstellen, nicht Furcht!
III. Der lange, unvollendete Weg der islamischen Lehre in Frankreich
Die oben angeführten Überlegungen zeigen, wie vertrackt die Frage der religiösen
Lehre bei den Muslimen in Frankreich in der Praxis ist. Obwohl diese Lehre, die ja in
Frankreich in voller Blüte steht, äußerst wichtig ist, stößt sie sich an religiösen,
10
wirtschaftlichen, ideologischen und auch sicherheitspolitischen Fragen. Lassen Sie
mich nur diese Erfahrung nur ganz kurz und knapp vorstellen:
1. Die Islamwissenschaft in Frankreich beschränkt sich auf Geschichte und
Literatur ...
Aus den oben genannten und vielen anderen Gründen beschränken sich
islamwissenschaftliche Studien de facto auf das Studium der Geschichte des Islams, auf
die von Muslimen geschaffene Literatur und auf die arabische Sprache... ohne auf
Quellen und Grundlagen des Islams (Koran und Hadith), Fiqh (im Rahmen der
kultischen Riten und der großen Schulen ausgearbeitete Doktrin11) oder Iğtihād12
einzugehen.
2. Eklatanter Mangel an Pädagogen
Sowohl quantitativ als auch qualitativ sind bedauerlicherweise Mängel an und bei
Dozenten und Forschern festzustellen. Ein Gutteil des derzeitigen Lehrpersonals verfügt
nicht über das erforderliche Niveau und hat keine pädagogische Ausbildung genossen.
Hier kann nur ein Austausch mit den muslimischen Ländern dazu beitragen, die
programmatische Ausrichtung neu zu überdenken und Mängel auszugleichen.
3. Wachsende Religiosität bei den einen, mangelnde Ausbildung bei den anderen
Das Thema der islamischen Lehre ist heutzutage in Frankreich eine der
wichtigsten Fragestellungen im Zusammenhang mit der Organisation muslimischen
Glaubenslebens. Abgesehen von der kniffligen Frage, inwieweit die eine oder andere
Strömung im Islam (sunnitisch, schiitisch, marokkanisch, afrikanisch, asiatisch,
europäisch, französisch ...) repräsentativ ist, lässt auch die gesamte feindliche Polemik,
die dem Wiedererstarken der Religiosität bei den Muslimen ablehnend gegenübersteht,
dies zu einer äußerst schwierigen Aufgabe werden. Die Debatten staatlicher Stellen sind
keineswegs abgeklärt, weil sie unmittelbar von der öffentlichen Debatte und der
vorherrschenden Wahrnehmung des Islams als sicherheitspolitische Frage abhängen.
Selten wird in Betracht gezogen, dass es auch eine muslimische Öffentlichkeit gibt, die
mitten in einer Identitätskrise steckt und die dringend Aussagen zur Wahrheit und
Authentizität des Islams einfordert. Affektives Handeln, Ideologie, Fremdenfeindlichkeit
– das sind die Schlagworte, die die Polemiken der Umgebung beherrschen und sich damit
nachhaltig und schwerwiegend auf die islamische Lehre niederschlagen.
4. Abkommen mit staatlichen Hochschulen zur Anerkennung der Abschlüsse: ein
echtes Dilemma
11
Fiqh : (abgeleitet vom Verb faqiha, َ ِ َ , was ,verstehen´ bedeutet): die islamische Rechtswissenschaft, von den muslimischen
Rechtsgelehrten erstellte Gutachten zu Fragen bezüglich des Alltagslebens der Muslime. Es handelt sich also um das Verständnis der
Botschaft des Islams im juristischen Bereich. Der Fiqh-Gelehrte, der Jurist, wird Faqih () genannt.
12
Der Iğtihād sind die gedanklichen, meditativen und wissenschaftlichen Bemühungen der Ulamā und der muslimischen
Rechtsgelehrten zur Auslegung der grundlegenden Texte des Islams (Koran und Hadith), um daraus die Regeln des muslimischen
Rechts abzuleiten oder die Einordnung einer Tat oder einer Handlung aus muslimischer Sicht vorzunehmen.
11
Die bereits existierenden oder im Aufbau befindlichen islamischen
Hochschulinstitute müssten Studiengänge anbieten, die den Grundprinzipien des LMDSystems (Licence, Master, Doctorat) entsprechen. Dies ist de facto jedoch ein Ding der
Unmöglichkeit, denn bevor ein an einer islamischen Hochschule in Frankreich
erworbener Abschluss staatlich anerkannt werden kann, sind im Wesentlichen drei
Probleme zu lösen:
‫ ٭‬Erstens benötigt die Einrichtung die Zulassung durch die zuständige regionale
Schul- und Bildungsbehörde, was eine echte Herausforderung darstellt13.
‫ ٭‬Zweitens geht es um die Anerkennung der Abschlüsse an sich. In Frankreich sind
jedoch nur staatliche Universitäten befugt, einen Hochschulabschluss zu
verleihen. Private Hochschulen sind daher gezwungen, mit einer staatlichen
Hochschule ein Abkommen zu schließen. Andernfalls haben ihre Studierenden
nicht die Möglichkeit, ihre Hochschulausbildung an einer staatlichen
französischen oder europäischen Hochschule (wie der Sorbonne, den
katholischen Hochschulen etc.) fortzusetzen. Dieses Dilemma belastet die
Zukunft der islamischen Hochschulen und die ihrer Absolventen deutlich.
Bezüglich der Imame bleiben zahlreiche Fragen offen – ob es
beispielsweise erforderlich ist, dass sie eine zweigleisige Ausbildung (in
religiösen Studien und Sozialwissenschaften) absolvieren und welche Art von
Einrichtungen eine solche anbieten könnten. Und das sind nur einige ganz banale
Beispiele für die zahlreichen Hindernissen, die die islamische Lehre hemmen.
‫ ٭‬Drittens gibt es ein Problem, das unmittelbar mit den Abkommen zwischen den
islamischen Hochschulen und den staatlichen französischen Universitäten
zusammenhängt. Aufgrund des Prinzips des Laizismus bietet nämlich keine
dieser Universitäten Studiengänge an, die religiöse Fächer und
Geisteswissenschaften verbinden. Zur Anerkennung ihrer Studiengänge müssten
daher die islamischen Hochschulen über entsprechende Abkommen mit nichtfranzösischen Hochschulen nachdenken, die dem LMD-System-konforme
Abschlüsse verleihen14.
5. Andere Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Nutzbarkeit
Absolventen islamischer Hochschulinstitute haben nicht nur Schwierigkeiten bei
dem Zugang zu staatlichen Hochschulen und der Anerkennung ihrer Abschlüsse, sondern
auch Probleme mit dem praktischen Nutzen ihrer Ausbildung und dem Zugang zum
Arbeitsmarkt mittels des an diesen Einrichtungen erworbenen Abschlusses.
Die Studierenden der islamischen Wissenschaften haben sich sehr häufig für
einen derartigen Studiengang entschieden, um ihre Neugier zu befriedigen oder etwas
über ihre Identität zu erfahren, nicht, um den Beruf des Imams auszuüben oder eine
anderweitige religiöse Betreuerrolle zu übernehmen. Die weitgehend nur wenig
strukturierten Moscheen verfügen nämlich ganz oft einfach nicht über die nötigen Mittel,
13
Beispielsweise hat das Europäische Institut für Geisteswissenschaften (IESH) von Paris die Zulassung erst nach mehrjährigen
Verhandlungen erhalten, das IASH von Lille dagegen bereits kurz nach seiner Eröffnung. Der erforderliche Zeitrahmen hängt von
einer Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit dem Studienangebot und dem akademischen Hintergrund der Dozenten ab, aber
auch vom jeweiligen lokalen islampolitischen Kontext. www.saphirnews.com/Enseignement-islamique-en-France.
14
Hierbei denken manche Hochschulen an osteuropäische Universitäten, andere an südeuropäische ...
12
um Imame anzustellen. Und da es keine landesweite Politik hierzu gibt, sind die
allermeisten Imame ehrenamtlich tätig.
Die bereits praktizierenden Imame und sonstigen religiösen Betreuer ihrerseits
äußern so gut wie nie den Wunsch nach einer Ausbildung an den islamischen
Hochschulen, weil sie überwiegend keine geisteswissenschaftliches Studium absolviert
haben oder kein Französisch sprechen.
6. Das Scheitern abgehobener Bildungsangebote
Die für die islamische Lehre und Ausbildung vorgeschlagenen Ansätze sind oft
exzentrisch und abgehoben. Dies wiederum schafft bei den Studierenden, die nicht an
einen von ihrer Zugehörigkeit abweichenden Diskurs gewöhnt sind, ein
Identitätsproblem, stört ihr religiöses Zugehörigkeitsgefühl und vermittelt ihnen den
Eindruck, der Islam befinde sich in Auflösung. Denn die meisten der heutigen
LehrerInnen besitzen nicht mehr die von ihren Vorgängern brillant beherrschte Fähigkeit,
Physisches und Metaphysisches einander näherzubringen, Wissenschaft zu
vermitteln, ohne religiöse Überzeugungen ins Wanken zu bringen.
Die Neu- oder Ummodellierung seines Glaubens ist für einen Muslim nicht ohne
Risiko. Im Allgemeinen hat es sich gezeigt, dass die Sozialisierung schwierig wird,
wenn familiäres Umfeld und Bildungseinrichtungen jeweils unterschiedliche Werte
vermitteln, weil dann Normenkonflikte, tiefgreifende Risse und Identitätskrisen
auftreten15. Wenn es aber erst um existenzielle Fragen geht, wird die ganze
Angelegenheit noch schwieriger. In der Praxis ist die islamische Lehre, die sich von der
theologischen Sichtweise völlig abgekoppelt hatte, auf gewaltige psychologische
Blockaden gestoßen16. Die Studierenden kommen ja gerade, um Antworten auf
existentielle Fragen zu finden, Fragen nach dem Sinn des Lebens, und nicht auf Fragen
zum Verständnis oder zur Philosophie, die die Geisteswissenschaften ohne geringste
Einbeziehung eines religiösen Bezugssystems beantworten.
7. Weitere Hindernisse bezüglich des Referenzrahmens, des Inhalts, der
Sprache ...
Die oben angesprochene Frage der Repräsentativität steht häufig in unmittelbarem
Zusammenhang mit dem religiösen Referenzrahmen der Herkunftsländer. Sollte man
also je nach Herkunft der Studierenden, der Gründer der Hochschulen oder auch des
Lehrkörpers unterschiedliche Studiengänge und Inhalte anbieten?
15
Siehe Rajaa NAJI El Mekkaoui: La Moudawanah: le Référentiel et le Conventionnel en Harmonie [Die Mudawana :
Harmonie zwischen religiösem und rechtlichem Referenzrahmen], in drei Bänden
Band 1: Le Mariage et la filiation [Ehe und Abstammungsverhältnisse]
Band 2: La Dissolution du Mariage [Die Auflösung der Ehe]
Band 3: De la Réforme de la Moudawanah à la Concrétisation de son Âme [Von der Reform der Mudawana zur
Konkretisierung ihres Geistes]
Siehe auch: Philippe Senaux: Die Krise der Werte, Beitrag zum vom Zentrum für Theologische Studien Caen am 6. und 7. Oktober
2006 ausgerichteten wissenschaftlichen Kolloquium, Akten.
16
Konkretes Beispiel eines gescheiterten Versuches: das Avicenna-Institut für Geisteswissenschaften (Lille). Gegründet 2007, wurde
das Projekt schließlich infolge reihenweiser Rücktritte fast des gesamten Lehrkörpers eingestellt. Ursache dafür waren „Differenzen
zwischen den Vorstellungen des Trägers (Mohamed Béchari) und der Art, wie der Lehrkörper eine unausgewogenen religiösen Ansatz
einführte“. Erklärung von Oméro Marongin-Perria in: Enseignement Islamique en France: le casse-tête de la programmation
[Islamische Lehre in Frankreich : Die harte Nuss der inhaltlichen Ausrichtung]. Vom Institut für das Studium des Islams und der
Gesellschaften der islamischen Welt (IISMM) veranstalteter Runder Tisch, Montag, 7. Juni 2010.
13
Was den Inhalt angeht, so tritt man im Übrigen immer noch auf der Stelle in der
Frage, ob nun eine doppelte Ausbildung in religiösen und in Geistes- und
Sozialwissenschaften eingeführt werden sollte.
Das Problem der Sprache wiederum stellt sich auf mehr als einer Ebene:
- Zum Zweck der Anerkennungsabkommen mit den staatlichen
Bildungseinrichtungen und der Anerkennung des Status als private Bildungseinrichtung
muß Französisch dominieren. Aber zum Verständnis zahlreicher Teilbereiche ist
Arabisch oft unverzichtbar ... Um mit einer Gruppe von Menschen zu kommunizieren,
sollte man deren Sprache sprechen!
- Die Sprache stellt also eine bedeutende Zugangshürde zu den verschiedentlich
in Europa bestehenden Hochschulen (insbesondere für Imame, die von außerhalb
kommen), aber auch eine Hürde für die Einschreibung an verschiedenen Universitäten
der islamischen Welt dar, die Muslimen aus Europa und Nordamerika weitgehend
verschlossen bleiben, weil diese die Unterrichtssprache nur selten beherrschen.
IV. Gibt es spezielle Ausbildungsgänge für Imame?
Die Problematik der Imam-Ausbildung ist dagegen ganz anders gelagert. Und
diese Aussage ist so sehr untertrieben, dass schon allein die Fragestellung Unbehagen
hinterlässt. Denn es geht dabei unterschwellig auch um Ideologie. Die politischen und
logistischen Schwierigkeiten sind zahlreich: äußerst unzureichende Zahl von Imamen,
Qualifikation, Qualität und Art des betriebenen Diskurses, Kommunikation mit der
Gemeinschaft und den Behörden ...
1. Der Mangel an Imamen
Wie überall in Europa fehlen noch Imame an Tausenden von Moscheen. Die
Frage der Ausbildung, Ausrichtung und Kontrolle der Imame und ihrer Aussagen
wiederum bleibt zwischen den Herkunfts- und den Aufnahmeländern umstritten.
Unterdessen haben viele Moscheen entweder gar keinen Imam oder einen ohne
Ausbildung, der damit wenig prädestiniert ist, sich für Integration und Interkulturalität
einzusetzen oder auf die Probleme und Bedürfnisse der Gemeinde einzugehen und darauf
passende Antworten zu geben.
2. Ausbildungsgänge sehen sich vor gewaltige Probleme gestellt
Manchmal stößt man auf äußerst ungewöhnliche Konstellationen, wie
beispielsweise die Ausbildung von Imamen durch eine katholische Einrichtung: Seit
2008 bildet die Katholische Hochschule von Paris muslimisches religiöses
Führungspersonal aus und bereitet die Teilnehmer auf interkulturelles Arbeiten vor.
Daraus ergeben sich zuweilen seltsame, manchmal auch unvollkommene und geradezu
unvereinbare Lehrangebote. Um nun diejenigen zu beruhigen, die diese Schieflage
anprangern, hat sich das Ministerium für Zuwanderung und Integration eigens herbemüht
und verkündet, dass „der Islam sehr wohl mit dem Prinzip des Laizismus vereinbar ist“17.
17
Ansprache vor künftigen islamischen Seelsorgern, 11. Mai 2010, an der Katholischen Hochschule von Paris.
14
3. Sprachliche Defizite bei den Imamen
Einer Vielzahl von Imamen mangelt es ernsthaft an Kenntnissen der Sprache des
Aufnahmelandes. Dies bremst wesentlich die Integration und auch die Kommunikation
mit der muslimischen Gemeinde. Außerdem hat es fatale Auswirkungen auf Qualität und
Inhalt des von ihnen betriebenen Diskurses, der interkulturellen Ansätzen bestenfalls
gleichgültig, schlimmstenfalls offen feindlich gegenübersteht. In vielen Moscheen
versteht mehr als die Hälfte der Besucher des Freitagsgebetes die Sprache des Imams
nicht und dieser wiederum beherrscht die Sprache seiner Zuhörer nicht. In manchen
Moscheen wird ein Teil der Freitagspredigt auf Französisch gehalten (so in der Großen
Moschee von Paris), anderswo werden in Einzelbemühungen die Predigten entweder
unmittelbar oder im Anschluß übersetzt.
Nur über die Kenntnis der Kultur und der Sprache kann im Übrigen eine bessere
Beziehung zwischen den Imamen und den jüngeren Generationen gedeihen. Mehrere
Lösungen sind vorstellbar, darunter die Entsendung muslimischer Studierender aus
Europa in ihre Herkunftsländer, damit sie dort eine spezielle Ausbildung genießen und
für das Imamat und die Führung gottesdienstlicher Aufgaben des Islams innerhalb der
muslimischen Gemeinde befähigt sowie in die Lage versetzt werden, zur Integration
dieser Gemeinde zumindest an den Stellen, wo diese mit der Gesellschaft des
Aufnahmelandes in Kontakt kommt, beizutragen... In jedem Fall ist unbedingt über
Partnerschaften zwischen den Aufnahme- und den Herkunftsländern nachzudenken, und
die Imame müssen in der Sprache und den Normen der Gesellschaft des
Aufnahmelandes unterrichtet werden18.
Gerade der laizistische Islam wird in Frankreich breit angelegt debattiert. Siehe z. B.: Bessou: Vom Institut Montaigne veranstaltete
Konferenz, think tank zum Thema „Was heißt es, französisch zu sein?“, Freitag, 4. Dezember 2009.
Siehe auch: Der Islam wird durch die nationale Identität untergraben. Nach einer Umfrage des CSA [Conseil Supérieur de
l`Audiovisuel – Rundfunkaufsichtsrat] hält jeder zweite Franzose die Ausübung des Islams für unvereinbar mit dem Leben in der
französischen Gesellschaft, www.saphirnews.com.
18
Wie es das der Katholischen Hochschule von Paris angegliederte Institut für französische Sprache und Kultur tut, das eine
sechsmonatige Sprachausbildung anbietet.
15
V. Perspektiven: Islamwissenschaftliche Ausbildungen mit weltweiter Vorbildfunktion
1. Entscheidung für ein Modell
Weltweit folgt religiöse Lehre einem von zwei Modellen: konfessionelle oder
minimalistische Lehre. In der ersten, sehr verbreiteten Form werden vertiefte Studien
angeboten und Seelsorger, Lehrer und Theologen ausgebildet. Der minimalistische
Ansatz dagegen beschränkt sich auf das Studium der Geschichte der Gründer, der
Literatur und manchmal der Sprache.
Eine dritte Form, die zwar bisher noch wenig verbreitet ist, aber der islamischen
Lehre und Ausbildung in Europa am meisten zugute kommen würde, ist das
pluralistische Modell. Es macht Sinn, jeder Gemeinschaft eine religiöse Bildung
anzubieten, die deren Prinzipien und religiösen Erfahrung besonders entspricht. Der
Mehrwert dieses Ansatzes liegt darin, dass dabei die Prinzipien der Toleranz, der
Achtung vor dem Anderen und der sozialen Umgänglichkeit vermittelt werden. Er
gestattet es, die Frage nach der Identität mit der Integration und damit dem auf den
Regeln des Zusammenlebens basierenden Neben- und Miteinander verschiedener
Gemeinschaften zu versöhnen19.
2. Religion und Religiöses zeitgemäß angehen
In Zeiten der zweiten Globalisierung, der Expansion, der engsten Koexistenz der
drei großen monotheistischen Religionen, der religiösen Konflikte und der
Säkularisierung ist es nur das Mindeste, davon zu sprechen, dass Europa und die
arabisch-islamische Welt dringendst gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie
Religion und Religiöses so angegangen werden können, dass dies zeitgemäß den
Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird.
Im Allgemein lässt sich festhalten, dass religiöse Bildung und Lehre in unserer
Zeit gefordert sind, eine Art Dynamik und Kohärenz zwischen mindestens drei
Elementen herzustellen: dem analytischen Studium religiöser Fragen, der Kultur der
Gemeinschaft und den erhofften Zielen dieser Lehre. Anders ausgedrückt: Es wäre an
der Zeit, Geistes- und Sozialwissenschaften in die akademische religiöse Ausbildung
miteinzubeziehen. In den islamischen Universitäten, deren Wissen und Glanz
jahrhundertelang auf die ganze Welt abstrahlte, war dies durchgehend der Fall, und sie
brachten bedeutende Gelehrte hervor, wahre Meister darin, religiöse Wissenschaften und
Geistes- und Sozialwissenschaften in Einklang zu bringen und Metaphysisches und
Physisches einander näherzubringen (in Medizin, biomedizinischer Forschung,
Pharmakologie, Physik, Chemie, Algebra und Mathematik, Astrophysik, Philosophie
(Kalam), Logik ...). Die moderne Zivilisation hat ihnen viel zu verdanken!
Im Übrigen macht die weltweite Tendenz zu mehr Religiosität die Einbindung
von religiösen Wissenschaften in die modernen Wissenschaften unabdingbar. In diesem
Zusammenhang kann man durchaus einmal die Frage aufwerfen, ob es nicht sinnvoll
wäre, Religion als Universalwissenschaft und auf allen Ebenen gelehrtes Fach
19
Hier sei betont, dass es sich bei der Ausbildung an der Katholischen Hochschule von Paris nicht um eine Unterrichtung in
islamischer Religionswissenschaft handelt, sondern vielmehr um die Vermittlung von Kenntnissen der Rahmenbedingungen der
französischen Gesellschaft, also eine Unterrichtung im Laizismus.
16
einzuführen. Und der Islam als zweitgrößte Religion in Europa sollte dabei ebenfalls zu
den gelehrten Religionen zählen.
Gleichgültigkeit hat, – man braucht es kaum eigens zu erwähnen –, die Lage nur
noch verschärft. Der Mensch ist von Natur aus so veranlagt, dass er sich beständig
existenzielle Fragen stellt, und wenn es keine offiziellen Stellen gibt, bei denen er Rat
finden könnte, holt er ihn sich da, wo er die Möglichkeit sieht, seinen Wissensdurst zu
befriedigen. Sehr oft sind es dann extremistische Gruppierungen, die dieses
besorgniserregende Vakuum füllen.
Nur gegenseitiges Wissen über den anderen und der Dialog helfen aus der
Sackgasse heraus, in die ein vom Zusammenprall der Zivilisationen und Extremismus
geprägter Diskurs geführt hat. Für Interdisziplinarität, Dialog und gegenseitiges Wissen
über den anderen benötigt man aber unbedingt Bildung und Lehre, die beiden Seiten die
Möglichkeit bieten, den anderen zu entdecken und zu achten.
3. Die Regierungen sollten sich nicht in die Organisation der Studiengänge einmischen
Die islamischen akademischen Bildungseinrichtungen sind einerseits aufgerufen,
religiöse Studiengänge und Fächer anzubieten, aber andererseits auch, diese mit
geisteswissenschaftlichen Fächern zu verbinden, um damit auf individuelle Bedürfnisse
und den Bedarf staatlicher Stellen einzugehen, indem sie philosophische, politische,
technische u.a. Fragen ausführlich behandeln, natürlich stets unter Wahrung und Achtung
der religiösen Überzeugungen.
Die jungen Generationen europäischer Muslime sind auf der Suche nach
Bildungsangeboten, die religiöse Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften
miteinander verbinden, um sich selbst besser zu verstehen und harmonisch mit sich selbst
und dem anderen leben zu können. Leider sind nur wenige Theologen offen für
Geisteswissenschaften und umgekehrt. Die erste Herausforderung, die es zu meistern gilt,
ist also die Heranbildung einer Generation von Dozenten, die beides beherrscht, religiöse
und Geistes- und Sozialwissenschaften, wie es ihre Vorgänger an den ältesten
Universitäten der Welt, den islamischen Universitäten (al-Qarawiyyin in Fez, Zaituna in
Tunesien, al-Azhar in Kairo, Cordoba in Andalusien ...) taten.
4. Den Schwierigkeiten bei der Verbindung von Religions- und Geisteswissenschaften
entgegenwirken
Die französische Erfahrung zeigt das Scheitern der meisten akademischen
Ausbildungsinstitute auf, die Geisteswissenschaften nicht in die religiösen Studien
integrieren. Allerdings ist diese Verbindung auch nicht immer einfach.
Große Herausforderungen: In Frankreich wird eine wissenschaftliche
Herangehensweise an die islamischen Wissenschaften vielfach gefürchtet und für
gegensätzlich gehalten. Die logische Ausformulierung religiöser Überzeugungen, so die
Befürchtungen weiter, könnten diese ins Wanken bringen. Um dem entgegenzuwirken,
begnügen sich die französischen islamischen Hochschulinstitute im Bemühen um ihre
Legitimierung damit, die traditionellen Theologiefächer aufzulegen, sprich
Koranstudium, Hadithe und ein wenig Recht/Fiqh. Es wäre also erforderlich, diesen
17
Fächerkanon nachzuzeichnen, um dann Religions- mit Geistes- und Sozialwissenschaften
verbinden zu können, ohne befürchten zu müssen, dass das Gebilde ins Wanken gerät.
Im Übrigen sorgt auch die Unwissenheit des Umfeldes im Aufnahmeland (sowohl
von staatlicher Seite als auch von Seiten der Gesellschaft) über den Islam für
Verkennung, Mißtrauen, Konflikte und Ablehnung... und damit für die Zurückweisung
jeglicher islamischer Lehre auf europäischem Boden.
Es wäre an der Zeit, dass die (radikalen) Europäer begreifen, dass nur Wissenschaft,
die Verbreitung von Wissen ... und gegenseitiges Kennenlernen des anderen
interkulturelles Zusammenleben, eine Abschwächung des Diskurses vom Zusammenprall
der Zivilisationen (und der sich daraus ergebenden Handlungen) und der Tendenz zum
Extremismus ermöglichen. Dazu müssten mehrere pädagogische Regeln beachtet werden,
nämlich:
‫ ٭‬Objektive akademische Ausbildungen, die wissenschaftliche Integrität und
intellektuelle Redlichkeit gewährleisten, so dass Religionswissenschaft in der Absicht
vermittelt wird, die Welt zu verstehen und Normproduktion analytisch zu zerlegen und
die historischen und soziopolitischen Grundlagen der islamischen Theologie- und
Rechtsschulen erklärt werden.
‫ ٭‬Insbesondere bedarf es eines erfahrenen Lehrkörpers, der sich aus namhaften
islamischen Hochschulen rekrutiert und über umfangreiche Erfahrung in der Verbindung
von islamischen Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften verfügt, so dass
ein Verständnis der Eigenarten der islamischen Welt und Kultur möglich wird.
Als Schlussfolgerung bleibt festzustellen, dass die französischen Anstrengungen im
Zusammenhang mit islamischer Bildung und Lehre zu den weniger erfolgreichen zu
zählen scheinen. Nichtsdestotrotz sollte man sie nicht außer Acht lassen, wenn man nicht
in genau die gleichen Fallen tappen will.
Die marokkanischen Ansätze sind dagegen sehr gewagt und im Vergleich zu den
anderen muslimischen Ländern und natürlich im Vergleich zu den westlichen Ländern
sehr weit fortgeschritten. Viele der immer wieder neu vom marokkanischen Staat
aufgelegten Projekte haben Vorbildcharakter.
Weitere Anregungen!
Damit islamische Bildung und Lehre in den europäischen Ländern mit großen
muslimischen Gemeinschaften erfolgreich sein kann, scheint es mir unverzichtbar,
folgende Anforderungen zu formulieren:
1. Einführung von Unterricht zu Grundbegriffen des Islams im staatlichen
Bildungssystem in Schulen mit muslimischen Schülern;
2. Einrichtung von Kooperationen mit den Herkunftsländern und Nutzung der
erfolgreichsten Modelle, die der Toleranz förderlich sind: Das marokkanische
Modell bleibt eines der besten;
3. Lehrplanentwurf jenseits von rassistischen, sicherheitspolitischen oder
islamophoben Sichtweisen;
4. Verstärkte Bemühungen zum besseren Verständnis des Islams und seiner
authentischen Werte, ohne dabei soziale Fakten und den Islam oder den Islam
18
und das Verhalten bestimmter Gruppen oder Personen oder den Islam und
sozioökonomisch prekäre Lebenssituationen miteinander zu vermengen;
5. Bei der Verbindung von islamischen Wissenschaften mit Geistes- und
Sozialwissenschaften sollte man auf die Schaffung von Synergien zwischen
mindestens vier wesentlichen Prinzipien bedacht sein:
ο Definition des erwarteten Ziels dieser Lehre und Bildung und dieser
Verbindung;
ο Vermeidung
jeglicher
ideologischer
oder
sicherheitspolitischer
Ausrichtung der kritischen Analyse;
ο Miteinbeziehung der Erfahrungen der Gemeinschaft;
ο Rückgriff auf Ausbilder von hohem Niveau und zweigleisiger Ausbildung
(in islamischen Wissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften)...
Partnerschaft verpflichtet!
Die Verfasserin ist gerne bereit, Kontakte herzustellen.
Danke
19
Inhaltsübersicht
Islamische Lehre in Marokko und Frankreich
Erste Erfahrung:
Die stille Reform des religiösen Bereichs in Marokko: ein breitangelegtes
gesellschaftliches Vorhaben
I. Gewaltige Reformen, die u.a. Institutionalisierung, Seelsorge und Bildung betreffen
1. Die Restrukturierung der Fatwa
2. Islamische Seelsorge
3. Anhebung des Niveaus der seelsorgerischen Betreuung
II. Die Ramadan-Gespräche – eine ganz eigene, feierliche Tradition erlebt eine große
Revolution!
III. Einbeziehung von weiblichen ʾUlamāʾ und Predigerinnen im religiösen Bereich:
ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben
IV. Förderung der Rolle der Moschee
V. Der durch Satellitenfernsehen und Internetseiten forcierten anarchischen Ausbreitung
von Fatwen (religiösen Gutachten) Einhalt gebieten
Zweite Erfahrung:
Islamische Lehre in Frankreich
I. Kurzer Abriss zur Entwicklung kultureller Fragen in Frankreich
1. Die vollkommene Vernachlässigung der kulturellen und religiösen Bedürfnisse
von Einwanderern anderer Religionszugehörigkeit schafft vielfältige Probleme
2. Organisierte Ghettoisierung, Abkapselung, Verarmung: Das Banlieue-Phänomen
3. Das Aufblühen islamischer Hochschulen und Gymnasien: Welche Synergien,
welche Strategien?
III. Der übergroße Einfluss des Politischen auf islamische Lehre und Bildung in
Frankreich
1. Religiöse Lehre angesichts des Laizismus
2. Unsichtbare Regierung ohne Politik
3. Keinerlei Vernetzungen oder Synergien
4. Eröffnung islamischer Hochschulinstitute nur um der Islamophobie und den
Polemiken der Umgebung Paroli zu bieten: Auswirkungen auf die pädagogischinhaltliche Ausrichtung
III. Der lange, unvollendete Weg der islamischen Lehre in Frankreich
1. Die Islamwissenschaft in Frankreich beschränkt sich auf Geschichte und
Literatur...
2. Eklatanter Mangel an Pädagogen
3. Wachsende Religiosität bei den einen, mangelnde Ausbildung bei den anderen
4. Abkommen mit staatlichen Hochschulen zur Anerkennung der Abschlüsse: ein
echtes Dilemma
5. Andere Probleme im Zusammenhang mit der praktischen Nutzbarkeit
6. Das Scheitern abgehobener Bildungsangebote
7. Weitere Hindernisse bezüglich des Referenzrahmens, des Inhalts, der Sprache...
IV. Gibt es spezielle Ausbildungsgänge für Imame?
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1. Der Mangel an Imamen
2. Ausbildungsgänge sehen sich vor gewaltige Probleme gestellt
3. Sprachliche Defizite bei den Imamen
V. Perspektiven: Islamwissenschaftliche Ausbildungen mit weltweiter Vorbildfunktion
1. Entscheidung für ein Modell
2. Religion und Religiöses zeitgemäß angehen
3. Die Regierungen sollten sich nicht in die Organisation der Studiengänge
einmischen
4. Den Schwierigkeiten bei der Verbindung von Religions- und
Geisteswissenschaften entgegenwirken
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