Psychologie - Schulbuchzentrum Online

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Sophia Altenthan, Sylvia Betscher-Ott, Wilfried Gotthardt, Hermann Hobmair,
Reiner Höhlein, Wilhelm Ott, Rosemarie Pöll
Herausgeber: Hermann Hobmair
Psychologie
Zusatzmaterial BuchPlusWeb
5. Auflage
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Inhaltsverzeichnis
Zu Kapitel 1: Grundfragen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Wann ist eine Erklärung befriedigend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Wir kaufen, was wir (nicht) sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Beispiel für ein Anwendungsgebiet: die Werbepsychologie . . . . . . . . .
4. Der Hirnforscher und Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 2: Methoden der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Beispiele für eine systematische Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . .
2. Die Normierung von Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Erfassung manifester Angst (MAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Beispiele für Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 3: Wahrnehmung und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Der Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Über die Begegnung zweier Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Geometrisch-optische Wahrnehmungstäuschungen . . . . . . . . . . . . . . .
4. Figur-Grund-Prinzip: Umkehrbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 4: Psychische Fähigkeiten und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Hirnmythen und Hirnfakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Regeln für die Vorbereitung auf eine Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Intelligenzmodelle nach Spearman, Thurstone und Gardner . . . . . . . .
4. Theorien des Vergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 5: Psychische Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Möglichkeiten der Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Leistungsmotivation als Beispiel für Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Kritische Lebensereignisse als Beispiel für eine emotionale Belastung .
4. Das Stressmodell von Richard S. Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 6: Grundlagen der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Hat der Mensch einen freien Willen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Das Gedächtnis des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Grundaussagen der Konditionierungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die Grundaussagen der sozial-kognitiven Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 7: Entwicklung auf verschiedenen Altersstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Bewegung macht schlau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Übersicht über die Entwicklung der Motorik (Richtwerte) . . . . . . . . . .
3. Frühförderung – wie, wann und warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Übersicht über mögliche Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 8: Von der Zeugung bis zum Alter: Aufgaben und Erziehung . . . . . . . . . . . .
1. Wehrlose Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Kritische Phasen in der vorgeburtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . .
3. Geschlechtsspezifische Muster der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation
(SOK-Modell). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Zu Kapitel 9: Psychologie der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Verfahren der Persönlichkeitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Temperamentstypen nach Claudius Galen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Wie viel ist ein Mensch wert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Kritische Würdigung der personenzentrierten Theorie . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 10: Der Mensch im sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Erforschung von Gruppenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Der gute Amerikaner. Wie ein Einwanderer die New Yorker
beschämte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Der Kater Oscar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 11: Soziale Kommunikation und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Ausdrucksverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Paradoxie und die Doppelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Elemente einer Ich-Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Konfliktmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 12: Klinische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Gesund oder krank ist immer der ganze Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Problematik des Begriffs „Psychische Störung“ . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Entstehung von psychischen Störungen aus der Sicht verschiedener
Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Der Krieg in mir – die Geschichte einer Magersucht . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu Kapitel 13: Behandlung von psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Beratungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieangebote . . . . . . . . . . . . . .
3. Weitere Techniken des verhaltensorientierten Handlungskonzeptes
auf der Grundlage der operanten Konditionierung. . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die Neuropsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildquellen:
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•
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Fotolia Deutschland GmbH, Berlin: S. 18.1 (iulias), 18.2 (SVLuma), 18.3 (kmiragaya)
Bildungsverlag EINS/Angelika Brauner: S. 19.1, 50
Bildungsverlag EINS/Elisabeth Galas: S. 19.2
M. C. Escher’s „Circle Limit IV” © The M. C. Escher Company-Holland. All rights reserved.
www.mcescher.com: S. 19.3
MEV Verlag, Augsburg: S. 21.1 (Ulrich Wirth), 21.2 (Susanne Holzmann). 21.3 (Photodesign
Müller)
Hogrefe Verlag, Göttingen, Bezugsquelle des EAS: Testzentrale Göttingen, Robert-BoschBreite 25, 37079 Göttingen, [email protected]: S. 54
ullstein bild, Berlin: S. 55.1 (The Granger Collection)
Testzentrale, Hogrefe Verlag Göttingen, www.testzentrale.de: S. 55.2
Bildungsverlag EINS/Cornelia Kurtz: S. 56.1, 56.2, 66, 68, 75 (alle)
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Kapitel 1
Materialien Kapitel 1
1. Wann ist eine Erklärung befriedigend?
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Wir hatten uns Poppers Zielsetzung für die
Erfahrungswissenschaft zu eigen gemacht.
Erfahrungswissenschaftler
streben
nach
„befriedigenden Erklärungen“. Was in diesem
Ausdruck „Erklärung“ heißt, das sollte jetzt
klar sein. Offensichtlich ist aber Erklärung
nicht gleich Erklärung. Es gibt befriedigende
und unbefriedigende. Wovon hängt die
Zufriedenheit mit einer Erklärung ab? Dieser
Frage gelten die folgenden Überlegungen.
Popper sagt dazu: „Eine Erklärung ist dann
befriedigend, wenn sie mithilfe von prüfbaren allgemeinen Gesetzen ausgeführt wird.“
Es leuchtet unmittelbar ein, dass Erklärungen
bzw. Vorhersagen, die auf Gesetzen oder
Theorien fußen, die nicht erprobt wurden
oder sich gar einer Erprobung entziehen,
nicht zufriedenstellen.
Nehmen wir an, wir kämen zu einem Arzt, der
uns sagte, er habe da ein Medikament, das er
uns verschreiben könne, es sei allerdings nicht
erwiesen, dass es gegen die Krankheit, derentwegen wir kommen, helfe. Oder: Stellen wir
uns vor, unser Arzt entpuppt sich sogar als
eine Art Wunderdoktor, der uns zwar selbstsicher bestimmte Medikamente verschriebe,
uns aber auf die Frage, ob und wie erwiesen
sei, dass das Medikament wirksam sei, nur
beleidigt anschaut und uns dann klarmacht,
dass man nicht alles „naturwissenschaftlich“
zu begreifen versuchen solle, man solle ihm
vertrauen und glauben. – Zwar mag selbst
unser „Wunderdoktor“ kurieren (über die
Wirksamkeit von Placebos werden wir später
sprechen), doch sind wir sicher, dass uns in
beiden genannten Fällen recht mulmig wäre.
Berechtigter Grund dafür ist, dass die pharmakologischen Gesetze oder Theorien, die
das ärztliche Handeln bestimmen, nicht überprüft bzw. nicht überprüfbar sind.
Wir akzeptieren also, dass eine unabdingbare
Voraussetzung für Zufriedenheit mit Erklärungen die Überprüfung der grundlegenden
Gesetze ist. Unserem Arztbeispiel können wir
ferner folgenden Gedanken entnehmen:
Überprüfung setzt Überprüfbarkeit voraus.
Da wir uns momentan mit den Zielen erfahrungswissenschaftlichen Tuns befassen, lautet
unsere Frage: Wie muss man Gesetze oder
Theorien konstruieren, damit sie überprüfbar
sind (…)?
Die Überprüfbarkeit eines Gesetzes/einer
Theorie hängt von der konstruktiven Eigenart
der verschiedenen Komponenten einer Theorie ab. Dabei sind einige konstruktive Überprüfungsvoraussetzungen von allen Psychologen
als gültig anerkannt, andere sind umstritten.
Die „Sachlogik“ des gewählten Nacheinanders bei der folgenden Behandlung prüfungsrelevanter Theorieteile ergibt sich aus einer
Vorüberlegung und einer Metapher. Zum
einen, Theorien werden stets dadurch überprüft, dass man ihre Bedingungsvariablen
z. B. experimentell manipuliert und dann feststellt, ob die Folgevariablen in der gemäß der
Theorie zu erwartenden Weise variieren.
Gedankliche Voraussetzung für ein solches
Überprüfungsunternehmen ist, dass eine
Theorie
spezifizierte/bestimmte/eindeutige
Folgen auf Bedingungsänderungen vorherzusagen erlaubt. Zum anderen, d. h. zur Metapher: Blicken wir noch einmal zurück auf
unser Schema! Wenn wir auf der Grundlage
einer Theorie vorhersagen wollen, auf welche
Bedingungskonstatierung welche Folge zu
erwarten ist, dann „durchwandern“ wir
gedanklich das Schema von links nach rechts.
Bei dieser „Wanderung“ stoßen wir auf verschiedene Stationen, die so gebaut sein können, dass ein eindeutiges Vorhersagen (und
damit Überprüfen) unmöglich ist. Wir brauchen bei unserem „Marsch“ freilich nur bis
zur Hälfte laufen, da der Weg hinein dem
Weg hinaus konstruktiv gleicht.
Quelle: Laucken u. a., 19967, S. 43 f.
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Kapitel 1
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2. Wir kaufen, was wir (nicht) sehen
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Werbung ist überall. Häufig sind es sogar
immer die gleichen Plakate, die an den Wänden kleben. Man schaut eigentlich schon gar
nicht mehr hin. Und nimmt sie also auch gar
nicht mehr wahr?
Dem ist nicht so: Unser Gehirn nutzt viele
Informationen, die wir unbewusst – also quasi
im „Vorbeigehen“ – aufnehmen. Je öfter wir
dabei einem noch nicht bekannten Reiz
begegnen, desto schneller können wir ihn
später auch kognitiv verarbeiten. Aufgrund
dieser Verarbeitungsschnelligkeit erscheint
uns der entsprechende Reiz wiederum als vertraut und positiv.
Inwieweit dieser „Effekt der bloßen Darbietung“ (mere exposure effect) auch unser tatsächliches
Konsumverhalten
beeinflusst,
untersuchten Mitarbeiter der Universität
Erlangen-Nürnberg. Ihr Experiment war so
einfach wie raffiniert: Die Forscher baten
Besucher des Erlanger Schlossgartens, lokale
Sehenswürdigkeiten zu benennen, die auf
verschiedenen Fotografien in einer Mappe zu
sehen waren. In zwei Experimentalgruppen
waren auf einigen Fotos zusätzlich Werbeplakate abgebildet, die entweder eine Packung
„pfeffi“- oder „zitro“-Lutschbonbons zeigten.
Diese ehemaligen DDR-Produkte sind erst seit
2000 wieder (ausschließlich) im ostdeutschen
Handel erhältlich und in den alten Bundesländern eher unbekannt. In einer Kontrollgruppe
zeigten die Fotografien keine Produktplakate. Am Ende der Umfrage konnten die
Befragten sich als Dankeschön eine Packung
„pfeffi“ oder „zitro“ nehmen. Personen, die
vorher auf den Fotos „zitro“-Plakate gesehen
hatten, wählten überwiegend Zitronenbonbons aus – ebenso wie die Probanden der
Kontrollgruppe. Diese allgemeine Vorliebe
für Zitronenbonbons kehrte sich allerdings
um, wenn den Teilnehmern zuvor „pfeffi“Plakate in den Fotografien präsentiert wurden – sie wählten anschließend überwiegend
Pfefferminzbonbons. Wer sich dabei an die
spezifischen Werbeplakate erinnern konnte,
wurde von der Auswertung ausgeschlossen:
Frühere Studien haben aufgedeckt, dass eine
bewusste Erinnerung den „Effekt der bloßen
Darbietung“ dämpft.
Die mehrfache und beiläufige Präsenz eines
unbekannten Produktes hat also tatsächlich
einen Einfluss auf konkretes Verhalten. Die
Studie zeigt, dass dies auch für Alltagssituationen gilt und nicht nur auf Experimente im
Labor begrenzt ist. Wenn Sie also das nächste
Mal im Supermarkt vor einem Einkaufsregal
stehen, wird vielleicht genau dieser Effekt
Ihre Kaufentscheidung beeinflussen: Sie greifen zu einem bestimmten Produkt, weil es ein
positives Gefühl auslöst, ohne dass Sie spontan sagen könnten, warum …
Quelle: Haupt, 2008, S. 12
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Kapitel 1
3. Beispiel für ein Anwendungsgebiet: die Werbepsychologie
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a) Was Werbung will
Die kommerzielle Reklame als die eigentliche
Werbung will den Verbraucher mit verschiedenen Methoden beeinflussen, seine Kaufentscheidung zugunsten des umworbenen
Produkts zu treffen. Daneben wird unter dem
Begriff „Werbepsychologie“ auch die Öffentlichkeitsarbeit zum Aufbau eines positiven
Images einer Einrichtung – zum Beispiel eines
Supermarkts, einer Automarke, einer Person
(etwa eines Politikers), einer Partei oder eines
Vereins – sowie politische Werbung (zum Beispiel politische Veranstaltungen) verstanden.
So wird beispielsweise in der politischen Propaganda dem Einzelnen bewusst eine Rolle
suggeriert, die vermeintliche Manipulation
ausschließt wie die Rolle des Kritischen, des
Informierten, des Entschlossenen, des Sicheren, des Klugen oder des Erfahrenen.
Werbepsychologie bezeichnet also zum einen
die Beeinflussung von Konsumenten und
deren Kaufverhalten zugunsten eines bestimmten Produktes, zum anderen die Öffentlichkeitsarbeit zum Aufbau eines positiven
Images einer bestimmten Einrichtung sowie
schließlich politische Agitation zugunsten
von bestimmten Politikern bzw. Parteien.
Ausgangspunkt der Werbepsychologie war
die Reklame, um Konsumenten und deren
Kaufverhalten zugunsten eines bestimmten
Produktes zu beeinflussen. Wie die Wissenschaft heute weiß, sind Menschen durch die
Werbung in einem sehr großen Maß manipulierbar. Vor allem Werbekampagnen, die
ihre Produkte sehr emotional anbieten, können den Menschen so stark beeinflussen, dass
dessen Kritikfähigkeit gemindert wird; sie
sind aufgrund gezielt eingesetzter emotionaler Reize ohne sachliche Informationsvermittlung steuerbar, indem zum Beispiel das
umworbene Produkt mit angenehmen und
begehrenswerten Reizen gekoppelt wird.
Solche Emotionen können zum Beispiel
Selbsterhaltung, Essen und Trinken, Freiheit,
Erotik, Sexualität, Sicherheit, Anerkennung, Geborgenheit, Urlaubsstimmung,
Freiheit, Abenteuer und gute Laune sein.
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Bei austauschbaren Produkten entscheidet
zunehmend der stärkere Werbereiz, der mit
Emotionen arbeitet.
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Oft ist sich der Konsument der von den
Medien angewandten Werbestrategie nicht
bewusst, sodass er die Manipulation gar nicht
wahrnimmt und davon überzeugt ist, dass er
selbst es ist, der das Produkt erwerben will.
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Jede Erfahrung lässt im Gehirn bestimmte
Spuren entstehen, die sich bei Wiederholung
verfestigen. Auf all diese Prozesse trifft auch
die Werbung mit vielen Werbespots an einem
einzigen Tag zu, die uns, ohne wir es oft merken, beeinflussen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Musik,
Gesang oder Sprüche der Werbung zum
Bekanntesten gehören, was es in unserer
westlichen Kultur gibt.
Neben der Manipulation zugunsten der Kaufentscheidung eines Produktes vermittelt Werbung auch weniger erwünschte Werte, die
vom zu Erziehenden übernommen werden
können.
Eine Modesendung oder ein Modejournal
beispielsweise verkörpert oft ein bestimmtes
Frauenbild, nachdem die Frau möglichst
schlank und schön zu sein hat, den Haushalt
gut führt und eine reichhaltige Garderobe
besitzt.
Quelle: eigener Text
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Kapitel 1
b)
Wie das Gehirn in Scanuntersuchungen auf Produkte anspricht
Hot-Spots
Wie das Gehirn in Scan-Untersuchungen auf Produkte
anspricht
Die Sammelleidenschaft
RF
TW
U
R
Produkte, die hohes soziales Prestige versprechen, reizen
besonders die sogenannte Brodmann-Region 10.
Die Schwäche, bestimmte Produkte weit
über den eigentlichen Bedarf hinaus zu erwerben und aufzuhäufen, ist offenbar im rechten medialen präfrontalen
Kortex beheimatet.
U
Der Coolness-Faktor
EN
Quelle: Martin Lindstrom
Das geheime Verlangen
Werbung, die unsere unterschwelligen Sehnsüchte einfängt,
spricht vor allem den Nucleus accumbens an.
Der Angstkauf
Ob Angst vor Übergewicht, vor zu viel Cholesterin oder
fehlender sozialer Anerkennung: Werbung bedient sich
menschlicher Instinkte. Eine entscheidende Rolle bei der
Angst-Auslösung spielt die Amygdala.
Quelle: Müller/Tuma, 2010, S. 58
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Kapitel 1
4. Der Hirnforscher und Ich
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Ich:
„Aha, es geht also um die Abfolge der Ereignisse, mein Wille kommt immer zu spät. Das
ist wie bei der Fabel mit dem Hasen und dem
Igel.“
Hirnforscher:
„Richtig! Sie haben erkannt, worum es geht.
Ihr Wollen und Ihr damit verbundenes bewusstes Ich sind nicht die Ursachen für Ihre Handlung, sondern neuronale Prozesse tief im
Innern Ihres Gehirns, die die Handlung von
Anfang an schon geplant haben.“
Ich:
„Das müssen Sie mir aber näher erläutern. Ich
habe immer den Eindruck, dass mein Wille
autonom ist und diese ganze wundersame
Chemie und ‚Elektrik’ im Gehirn souverän
steuert.“
Hirnforscher:
„Befreien Sie sich von diesen vagen Illusionen.
Die interessieren uns Naturwissenschaftler
sowieso nicht. Uns geht es um Naturgesetze,
die man auf objektive Weise beschreiben und
erklären kann. Wie sollen wir Forscher Ihr
immaterielles1 Ich und seinen Willen messen
und beschreiben? Ihr immaterielles Ich muss
über Energie verfügen, und zwar nicht über
eine mystische spirituelle, sondern über eine
ganz handfeste physikalische Energie.“
Ich:
„Das ist aber doch Physikalismus in reinster
Form! Sie streiten meinem Willen und Geist
jegliche Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit
ab. Dabei ist Ihre Disziplin doch noch gar nicht
so weit! Sie können doch nicht in mein Gehirn
gucken und Freiheit oder Willenlosigkeit
sehen!“
sischen2 Sinne können wir fürs Erste mit dem
nüchternen neurowissenschaftlichen Vokabular zu Grabe tragen. Es geht um jenen immateriellen Willen, der aus dem Reich der
Naturgesetze herausgehoben und damit Symbol einer metaphysisch verankerten Freiheit
zur vernünftigen Sittlichkeit ist. Diesen Willen
mögen wir Naturwissenschaftler nicht, das ist
idealistischer Humbug, und diesem Willen
läuten wir Hirnforscher frohgemut das Sterbeglöcklein! Noch mal: Es gibt kein unverursachtes Wollen, kein immaterielles bewusstes
Ich!“
Ich:
„Ich soll also meine Intuition zerstören, mit
der ich mir einbilde, ich hätte einen Willen.
Aber, es gäbe dann nichts Unvorhersehbares
in meinem Gehirn, keinen Zufall. Sie könnten
mich als einen Bioautomaten beschreiben,
der handelt wie ein Roboter. Und eine Frage
müssen Sie mir noch beantworten: Wenn alles
Handeln durch Neuronen gesteuert und verursacht wird, dann könnten Sie ja meine
gesamten Entscheidungen und Handlungen
voraussehen und mein komplexes Gehirn und
alle seine Vorgänge vollständig analysieren.“
Hirnforscher:
„Was ist so schlimm daran, wenn Sie ein Bioautomat sein sollten? Ihr Gehirn wird Sie
schon sicher und gut durchs Leben führen,
sonst gäbe es ja in und um uns herum nur
Chaos und Wahnsinn. Das ist aber nicht der
Fall, Ihre Neuronen sind ja hervorragende
Piloten.“
Quelle: Caspary, 2010, S. 12–17, verändert
Hirnforscher:
„In Teilen mögen Sie recht haben, aber schon
jetzt zeigen Experimente, wohin die Reise
geht. Ihren freien Willen im starken metaphy-
1
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immateriell (lat.): unkörperlich, unstofflich
metaphysisch (griech.): das hinter der sinnlich erfahrbaren Welt Liegende
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Kapitel 2
Materialien Kapitel 2
1. Beispiele für eine systematische Verhaltensbeobachtung
a)
Beobachtung von aggressivem Verhalten eines Kindes im Kindergarten (im Heim, in der
Schule etc.)
Name des Kindes:
Beobachtungszeitraum:
Schreien Trampeln Umsich- Attackie- Attackie- Attackieund
schlagen ren der ren von ren von
Herumeigenen anderen Gegenbrüllen
Person Personen ständen
1. Tag
Vormittag
1. Tag
Nachmittag
2. Tag
Vormittag
2. Tag
Nachmittag
3. Tag
Vormittag
3. Tag
Nachmittag
4. Tag
Vormittag
4. Tag
Nachmittag
etc.
etc.
usw.
usw.
usw.
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Kapitel 2
b)
Beobachtung von Verhaltensauffälligkeiten im körperlichen Bereich eines Kindes
Name des Kindes:
sehr häufig
beobachtet
Nägelkauen
Daumenlutschen
Einnässen
Einkoten
Zittern
Zappeln
Zuckungen
Tics
Stottern
Haare
ausreißen
usw.
Beobachtungszeitraum:
häufig
beobachtet
öfter
beobachtet
selten
beobachtet
sehr selten
beobachtet
nie
beobachtet
Kapitel 2
c)
11
Beobachtung des Sprachverhaltens von Erziehern (Lehrern) und Kindern (Schülern)
(herausgegeben vom Kultusministerium von Niedersachsen – etwas abgeändert)
Einrichtung, Gruppe, Klasse:
Datum:
, Tag:
, Uhrzeit:
Machen Sie bitte in dem entsprechenden Kästchen Striche!
1. Äußerungen des(r) Erziehers(in) / des(r) Lehrers(in) – zu den Kindern /den Schülern(-innen):
Aufforderungen,
Befehle
Tadel, geringschätzige
Äußerungen
Lob, Hilfen, Ermutigung
sachliche Äußerungen
2. Äußerungen der Kinder/der Schüler(-innen) – gegenüber dem(r) Erzieher(in)/dem(r) Lehrer(in)
Sachfragen
Erbitten von Hilfe
und Zuwendung
Kritik
aggressive
Äußerungen
Erzählen,
Berichten
3. Äußerungen des Kindes/des(r) Schülers(in) – zu den Kindern/Schülern(-innen)
Sachfragen
Erbitten von Hilfe
und Zuwendung
Kritik
aggressive
Äußerungen
Erzählen,
Berichten
2. Die Normierung von Tests
Um den Grad der individuellen Ausprägung
eines bestimmten psychischen Merkmals feststellen zu können, braucht der Test eine
Bezugsgröße, eine Norm.
So genügt es – wie in Abschnitt 2.2.4 schon
als Beispiel erwähnt – nicht, wenn ein Wissenschaftler sagt: „Sie haben 51 Aufgaben in
dem Intelligenztest richtig gelöst.“ Es ist
eine Bezugsgröße, eine Norm erforderlich,
die besagt, ob man mit der richtigen Lösung
von 51 Aufgaben über oder unter dem
Durchschnitt liegt und damit über- oder
unterdurchschnittlich intelligent ist.
5
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1
vgl. Abschnitt 2.2.6
Jeder Test muss also, bevor er zum Einsatz
kommt, normiert sein. Dabei können wir zwei
unterschiedliche Möglichkeiten der Normierung unterscheiden:
– Die Bezugsgröße stellt eine statistische
Norm dar, die durch Erprobung des Tests an
einer genügend großen, repräsentativen
Stichprobe gewonnen wird.1 Der Durchschnitt der Testergebnisse von dieser Stichprobe gilt dann als Norm.
Ein Intelligenztest, der normiert werden soll,
wird an einer Stichprobe durchgeführt und
im Durchschnitt lösen die Personen dieser
Stichprobe 43 Aufgaben richtig. Bei diesem
Test liegt dann die Norm bei 43 richtig gelösten Aufgaben.
15
20
25
12
Kapitel 2
5
10
Werden – um bei obigem Beispiel zu bleiben –
von einer Person nur 36 Aufgaben richtig
gelöst, so ist sie unterdurchschnittlich intelligent, löst sie aber 51 Aufgaben richtig, so ist
sie überdurchschnittlich intelligent.
Mithilfe von Rechenverfahren können nun
bestimmte „Werte“ angegeben werden, wie
weit der Einzelne in seiner Merkmalsausprägung vom Durchschnitt abweicht.
20
25
30
Häufigkeitsdichte
15
So hat man sich beispielsweise bei allen
Intelligenztests auf einen Intelligenzquotienten (IQ) von 100 geeinigt. Dies entspricht
dem Durchschnitt. Im obigen Beispiel würde
die richtige Lösung von 43 Aufgaben einen
IQ von 100 bedeuten. Mit der Hilfe von
Rechenverfahren können nun bestimmte
„Werte“ festgelegt werden: Wer einen IQ
von 85 bis 115 hat, ist durchschnittlich intelligent; wer einen IQ von 115 bis 130 hat,
kann als überdurchschnittlich, wer einen IQ
von 85 bis 70 hat, als unterdurchschnittlich
gelten; ein IQ von über 130 wäre weit überdurchschnittlich, ein IQ von unter 70 weit
unterdurchschnittlich intelligent.
Abweichungen von dieser Norm geben
dann den Grad der individuellen Ausprägung des psychischen Merkmals an: Liegt
es über der Norm, so ist das gemessene
Merkmal überdurchschnittlich, liegt es
unter der Norm, so ist es unterdurchschnittlich ausgeprägt.
50
60
Schwachsinn
70
sehr niedrige
Intelligenz
80
niedrige
Intelligenz
90
100
110
durchschnittliche
Intelligenz
120
130
140
150
hohe sehr hohe extrem hohe Intelligenz
Intelli- Intelligenz
genz
Quelle: Stemmler u. a., 20117, S. 142
35
Tests, deren Bezugsgröße eine statistisch
gewonnene Norm darstellt und als Vergleich dient, werden normorientierte Tests
genannt.
– Die Bezugsgröße stellt eine Idealnorm dar,
die der Testkonstrukteur selbst entwirft. Er
legt bestimmte inhaltlich definierte Ziele,
Kriterien, fest, die dann als Norm gelten.
40
Die theoretische Prüfung zur Erlangung des
Führerscheins ist hierfür ein Beispiel: Hier
muss der Prüfling Aufgaben lösen, die
Inhalte widerspiegeln, die ein Forscher für
wichtig hält, wenn der Prüfling ohne Gefährdung für sich selbst oder andere ein Fahrzeug
bewegen will.
Diese Idealnorm erlaubt einen Vergleich
der „Leistung“ einer Person mit den vom
Test geforderten Kriterien. Tests, deren
Bezugsgröße eine Idealnorm darstellt und
als Vergleich dient, werden kriteriumsorientierte Tests genannt.
45
50
Kapitel 2
Möglichkeiten der Normierung eines Tests
normorientierte Tests
kriteriumsorientierte Tests
Die Bezugsgröße stellt eine statistische Norm
dar, die als Vergleich dient.
Die Bezugsgröße stellt eine Idealnorm dar,
die als Vergleich dient.
Quelle: eigener Text
3. Die Erfassung manifester Angst (MAS)
Anweisung
Hier sind eine Anzahl von Behauptungen aufgeführt, die persönliche Eigenschaften und Einstellungen betreffen. Lesen Sie bitte jeden Satz und bestimmen Sie, ob die Behauptung in
Bezug auf Sie selbst richtig oder falsch ist und machen Sie jeweils einen Kreis um „richtig“ oder
„falsch“.
MAS
1. Ich glaube, ich bin nicht nervöser als andere.
2. Ich arbeite unter großer innerer Spannung.
3. Ich erröte nicht öfter als andere.
4. Ich mache mir ziemlich viel Sorgen über ein mögliches Missgeschick.
5. Wenn ich verlegen bin, bricht mir manchmal
der Schweiß aus, was mich sehr stört.
6. Ich bemerke nur selten Herzklopfen bei mir und
komme nur selten außer Atem.
7. Ich habe Zeiten gehabt, wo ich vor Sorgen nicht
genügend schlafen konnte.
8. Ich schlafe unruhig und werde oft wach.
9. Ich habe oft Träume, die ich am besten für mich behalte.
10. Meine Gefühle sind leichter verletzbar als die anderer Menschen.
11. Es passiert mir oft, dass ich mir um etwas Sorgen mache.
12. Ich wünschte, ich könnte so glücklich sein,
wie andere Leute zu sein scheinen.
13. Ich habe fast immer Angst um irgendetwas oder um irgendjemanden.
14. Ich habe Zeiten, in denen ich so ruhelos bin,
dass ich nicht lange auf einem Stuhl sitzen kann.
15. Ich habe manchmal das Gefühl, als häuften sich so viele
Schwierigkeiten, dass ich sie nicht überwinden könnte.
16. Manchmal habe ich mir unsinnig viel Sorgen über etwas
gemacht, was wirklich nicht wichtig war.
17. Im Vergleich zu meinen Bekannten habe ich sehr wenig Ängste.
18. Ich bin befangener als die meisten anderen Menschen.
19. Ich neige dazu, Dinge schwerzunehmen.
20. Ich bin ein sehr nervöser Mensch.
21. Das Leben ist oft eine Last für mich.
22. Ich scheue mich, einer Schwierigkeit ins Auge zu sehen oder
eine wichtige Entscheidung zu treffen.
23. Ich habe volles Selbstvertrauen.
richtig
falsch
Quelle: Lück/Timaeus, in: Diagnostica 15, 1969, S. 138
13
14
Kapitel 2
4. Beispiele für Korrelationen
x
15
r = + 0,99
x
x
9
x
x
x
x
3
x
12
Schülermeldungen
Schülermeldungen
x
x
12
6
x
15
x
r = – 0,99
x
x
9
x
x
6
x
x
3
x
x
0
6
5
4
3
2
Noten der Schüler
1
Hier liegt eine hohe positive Korrelation vor,
es besteht eine enge Beziehung zwischen den
Merkmalen.
x
Schülermeldungen
5
4
3
2
Noten der Schüler
x
9
x
x
6
x
3
x
x
6
5
x
4
3
2
Noten der Schüler
1
Hier liegt keine Korrelation vor, es besteht
keine Beziehung zwischen den Merkmalen.
1
Hier liegt eine hohe negative Korrelation vor,
es besteht eine „umgekehrte“ enge Beziehung zwischen den Merkmalen.
x
x
12
5
6
r = + 0,45
15
0
0
Quelle: Asendorpf, 20074, 53
Kapitel 3
15
Materialien Kapitel 3
1. Der Konstruktivismus
5
10
15
20
Im 20. Jahrhundert entwickelten sich mehrere
Strömungen, die davon ausgehen, dass das,
was wir wahrnehmen, eine Konstruktion
unseres Gehirns ist und keine wirkliche Abbildung der Welt. Diese Strömungen werden mit
dem Begriff Konstruktivismus zusammengefasst. Der Konstruktivismus ist eine Sammelbezeichnung für Positionen, die davon
ausgehen, dass das menschliche Gehirn die
Welt nicht so abbildet, wie sie wirklich ist,
sondern sich der Mensch seine eigene Welt
entwirft und formt.
Nach dem Konstruktivismus ist die Lebenswelt
eines Menschen seine eigene Konstruktion, er
entwirft sich seine Wirklichkeit in seinem Kopf.
Menschliche Wahrnehmung ist eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung
eines Individuums. Damit ist der Mensch von
Kindheit an aktiver Gestalter seiner Welt, der
sein eigenes Leben selbst strukturiert.
Der Konstruktivismus unterscheidet drei Perspektiven bzw. drei Denk- und Handlungsweisen:
– Die Konstruktion: Der Mensch ist Erfinder –
Konstrukteur – seiner Wirklichkeit. Die
Konstruktion gilt als Basis allen pädagogischen und psychologischen Handelns. „Wir
sind die Erfinder unserer Wirklichkeit.“
(Reich, 20106, S. 119)
25
– Die Rekonstruktion: Der Mensch erfindet
nicht alles neu, er entdeckt auch die Erfindungen – Konstruktionen – anderer und
übernimmt diese. „Wir sind die Entdecker
unserer Wirklichkeit.“ (Reich, 20106, S. 119)
30
– Die Dekonstruktion: Der Mensch nimmt
Erfindungen – Konstruktionen – nicht nur
hin, er steht ihnen kritisch gegenüber – er
enttarnt die Wirklichkeit, und als Enttarner
ist er kritisch. Die Dekonstruktion stellt
eine Möglichkeit zu kritischer Neuorientierung dar. „Wir sind die Enttarner unserer
Wirklichkeit.“ (Reich, 20106, S. 121)
35
40
Perspektiven des Konstruktivismus
Konstruieren
nder“
45
50
Rekonstruieren
der Mensch als „Entdecker“
Der Radikale Konstruktivismus bestreitet die
Fähigkeit von Menschen, objektive Realität zu
erfassen, und geht davon aus, dass es keine
Objektivität gibt. Das Wissen eines Menschen,
seine Sicht über andere Menschen und seiner
Umwelt, ist grundsätzlich eine geistige Konstruktion. Die Wahrnehmung der konstruierten Welt kann niemals mit der Realität
übereinstimmen – Wahrnehmung ist zu jedem
Zeitpunkt subjektiv. Entsprechend lehnt er
rein naturwissenschaftliche Methoden ab.
„Wahrheit
Lügners.“
Dekonstruieren
der Mensch als „Enttarner“
ist
die
Erfindung
eines
(von Förster/Pörksen, 20088, S. 11)
Der Konstruktivismus ist die Grundlage der
systemischen Psychotherapie, die davon ausgeht, dass alle einzelnen Elemente eines
Lebensbereiches, dem ein Mensch angehört,
zueinander in einer wechselseitigen Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. In der systemischen Therapie geht es
55
60
16
Kapitel 3
5
deshalb um Veränderungen im System, dem
der Betroffene angehört. Im Gespräch wird
der Klient angeregt, seine Sicht der Welt,
seine Konstruktionen, so zu verändern, dass
sie für ihn weniger leidvoll ist (vgl. von Förster,
20105, S. 39–60).
Entsprechend wird unterschieden zwischen
Realität, wie die Welt „an sich“ ist, und Wirk-
lichkeit, wie wir die Realität wahrnehmen
und wie sie uns erscheint. Die Realität, das
sind physikalische Reize wie elektromagnetische Wellen, mechanische Schwingungen,
chemische Veränderungen, thermische Reize
und dergleichen, die Wirklichkeit ist die von
Menschen subjektiv wahrgenommene Welt.
Realität
Wirklichkeit
wie die Welt „an sich“ beschaffen ist
wie die Welt wahrgenommen wird
und wie sie uns erscheint
10
15
Quelle: Hobmair, 2012, S. 183 f.
2. Über die Begegnung zweier Kulturen
5
10
15
20
25
Ein Indianer verließ die Reservation und
besuchte einen weißen Freund in der Stadt. Es
war das erste Mal, dass er eine Großstadt sah.
Die Bilder, Farben und Geräusche waren neu
für ihn, ebenso befremdet war er von der
Luft, die er einatmete und von den Menschen,
die an ihm vorüber hasteten.
Der rote und der weiße Mann gingen die
Straße entlang, als plötzlich der Indianer seinem Freund auf die Schulter tippte und sagte:
„Bleib einmal stehen. Hörst du auch, was ich
höre?“ Der weiße Mann antwortete: „Alles,
was ich höre, ist das Hupen der Autos und das
Rattern der Omnibusse. Und dann freilich
auch die Stimmen und das Geräusch der
Schritte vieler Menschen. Was hörst denn
du?“ „Ich höre eine Grille zirpen.“
Der weiße Mann horchte. Dann schüttelte er
den Kopf: „Du musst dich täuschen, Freund.
Hier gibt es keine Grillen. Und selbst, wenn es
hier irgendwo eine Grille gäbe, würde man
doch ihr Zirpen bei dem Lärm nicht hören
können.“ Der Indianer ging ein paar Schritte
weiter. Vor einer Hauswand blieb er stehen.
Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob
die Blätter auseinander und da – sehr zum
Erstaunen seines Freundes – saß eine Grille,
die laut zirpte. Jetzt, da der weiße Städter die
Grille sehen konnte, nahm er auch das
Geräusch wahr, das sie von sich gab.
Als die beiden Männer weitergegangen
waren, sagte der Weiße nach einer Weile:
„Freilich hast du die Grille hören können.
Dein Gehör ist eben besser geschult als meines. Indianer hören zudem einfach besser als
Weiße.“ Der Indianer lächelte, schüttelte den
Kopf und sagte: „Du täuschst dich, mein
Freund. Das Gehör eines Indianers ist nicht
besser und nicht schlechter als das eines weißen Menschen. Pass auf ...“
Er griff in die Hosentasche, holte ein 50-CentStück heraus und warf es auf das Pflaster. Die
Münze klimperte auf dem Asphalt. Leute wurden auf das Geräusch aufmerksam und sahen
sich um. Einer bückte sich, hob das Geldstück
auf, steckte es ein und ging weiter. „Siehst
du“, sagte der Indianer, „das Geräusch der
50 Cents war nicht viel lauter als das der Grille,
und doch hörten es viele der weißen Frauen
und Männer und sie drehten sich um, während das Geräusch der Grille niemand hörte
außer mir. Es stimmt nicht, dass das Gehör der
Indianer besser ist als das der Weißen.“
Quelle: Verfasser unbekannt
30
35
40
45
50
Kapitel 3
3. Geometrisch-optische Wahrnehmungstäuschungen
Hering’sche Täuschung
Die waagerechten Parallelen erscheinen
gekrümmt.
Ehrenstein‘sche Täuschung
Das Quadrat erscheint zum Trapez verzerrt.
Müller-Lyer‘sche Täuschung
Die Strecke mit den nach außen zeigenden
Pfeilspitzen erscheint kürzer als die mit den
nach innen weisenden Pfeilen.
Sander‘sche Täuschung
Die Diagonale im größeren Parallelogramm
erscheint länger als die im kleineren.
Das Mach’sche Buch
Aufgeschlagenes Buch oder Buchrücken nach
vorne?
Konturen, wo keine sind: Dreieck
EILT EILT
Schräge Streifen bringen die – exakt senkrechten – Buchstaben ins Wanken.
17
18
Kapitel 3
Das gleichbleibende graue Quadrat wirkt umso heller, je dunkler seine Umgebung wird.
Sind die Querlinien schräg oder parallel?
Drehen Sie diese beiden Abbildungen einmal um 180°. Was passiert mit den Objekten und warum?
Kapitel 3
Spiel mit der „Müller-Lyer-Täuschung“: Die beiden dicken Balken sind in Wirklichkeit gleich lang.
4. Figur-Grund-Prinzip: Umkehrbilder
Oft ist es nicht leicht, eine Figur von ihrem Hintergrund eindeutig abzugrenzen, was viele
Künstler dazu bewegt hat, Bilder so zu gestalten, dass sogenannte Umkehrbilder entstehen.
Zwei Beispiele hierfür sind das Kippbild von Edwin Rubin und der Holzschnitt von Maurits
Escher:
Der Rubin‘sche Becher:
Kelch oder zwei Gesichter?
Holzschnitt von M. C. Escher: Engel oder Teufel?
19
20
Kapitel 4
Materialien Kapitel 4
1. Hirnmythen und Hirnfakten
Thema
Konzepte „hirngerechten Lernens“
Befunde der Neurowissenschaft
Spezialisierung der
Hirnhälften
– Klar abgrenzbare Fähigkeiten der Hemisphären
– Linke Hemisphäre:
intellektuell, verbales, analytisches Denken
– Rechte Hemisphäre:
emotionale, nichtverbale, intuitive Denkprozesse
– Es gibt zwar eine Arbeitsteilung zwischen
den Hirnhälften,
– doch beide Hemisphären können grundlegende Prozesse wie sensorische Analysen,
Gedächtnis und Lernen durchführen.
– Beide Hemisphären sind an der Kontrolle
fast jeden Verhaltens beteiligt.
„Dominanz“
der linken
Hirnhälfte
– Die Schule fördert die linke Hirnhälfte und vernachlässigt die rechte.
– Daraus entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Hemisphären; die linke wird
„dominant”.
– Die gestörte Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften bewirkt Lernstörungen.
– Ziel muss eine lntegration beider Hirnhälften sein.
– lm Normalfall arbeiten beide Hemisphären
eng vernetzt.
– Die Wechselwirkungen zwischen beiden
Hemisphären sind so stark, dass spezielle
Funktionen nicht voneinander unterschieden werden können.
– Der Ausdruck „Dominanz” bezieht sich
auf sprachliche Fähigkeiten.
Brachliegende
Gehirnkapazitäten
– Die Hirnkapazität wird nicht ausreichend genutzt.
– Weite Hirnteile liegen brach.
– Übung bewirkt verstärkte Aktivierung und optimale Ausnutzung des Gehirns.
– Das Gehirn ist ein äußerst energieaufwendiges Organ.
– Übung bewirkt, dass man zum Lösen von
Aufgaben weniger Aktivität aufwendet
und der Kortex „effektiver arbeitet”.
Lerntypen
– Es gibt verschiedene Lerntypen.
– Auf diese Unterschiede muss die Schule eingehen.
– Lerntypen ermittelt man durch spezielle Tests, die
Auskunft über die individuell passende Lernform
geben.
– Zum Thema „Lerntypen” gibt es keine
Forschung.
– Lernen ist, ebenso wie die Wahrnehmung
selbst, ein komplexer Prozess, der sich
nicht auf ein Sinnesorgan reduzieren lässt.
– Lerntypentests sind weder zuverlässig
noch aussagekräftig.
Quelle: Becker, 2009, S. 76
2. Regeln für die Vorbereitung auf eine Prüfung
1. Prüfungen akzeptieren (…)
2. Motivation erzeugen1 (…)
5
10
3. Spannung nutzen: Die Anspannung vor
einer Prüfung kann helfen, aus dysfunktionalem Stress [Disstress] einen positiven Stress
[Eustress] zu machen.2 (…)
4. Rituale entwickeln: Pünktliches Aufstehen,
definierter Arbeitsbeginn, geplante Pausen,
festgelegtes Arbeitsende und dergleichen
sind für effektives Lernen notwendig. Eine
deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit
hilft bei der Vorbereitung auf Prüfungen.
1
2
siehe Abschnitt 4.6.1
vgl. Kapitel 5.5.2
5. Fachlich gut vorbereiten: (…) Eine langfristig
geplante, fundierte Aneignung [und Auseinandersetzung mit dem] Prüfungsstoff vermittelt (…) Sicherheit und Selbstvertrauen. (…)
15
6. Prüfungen üben: Häufiges Üben erleichtert
es, Prüfungen als alltägliche Aufgaben [anzusehen und] zu bewältigen. (…)
7. Störungen vermeiden (…): Eine Lernumgebung, in der man nicht gestört ist bzw. wird,
ist für das Lernen sehr förderlich. (…)
Quelle: Holm-Hadulla, 2008, S. 64 f.,
gekürzt und verändert
20
Kapitel 4
21
Wichtige ‚Lerngesetze‘:
„Je länger und intensiver man sich in der
Vorbereitungszeit mit seinem Prüfungsgebiet beschäftigt hat, je enger die Inhalte
miteinander verknüpft worden sind,
desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sie auch in Belastungssituationen
abrufbar sind.“
– Man lernt nur, was man lernen will.
– Gut geplant ist halb gelernt.
– Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen. Tue
den 1. Schritt!
– Nicht alles auf einmal, sondern gestaffelt
wiederholen. ‚Nicht klotzen, sondern kleckern.’
– Nachhaltig lernt man nur, was man be- und
verarbeitet.
– Man behält nur, was man zur rechten Zeit
wiederholt.
– Am Tag vor der Prüfung muss die Arbeit
ruhen.
(Mietzel, 20016, S. 245)
5
10
Quelle: Raithel u. a., 20093, S. 356
3. Intelligenzmodelle nach Spearman, Thurstone und Gardner
a)
5
10
Die Zweifaktorentheorie von Charles E.
Spearman
Charles E. Spearman1 kam aufgrund seiner
Beobachtung, dass intelligente Menschen auf
vielen Gebieten intelligentes Verhalten zeigen, zu dem Schluss, dass Intelligenz aus einer
einheitlichen Grundfähigkeit, die er den
allgemeinen Intelligenzfaktor g nennt, und
aus speziellen Einzelfähigkeiten, die er als
spezielle Faktoren s bezeichnet, besteht.
Ist beispielsweise eine Rechenaufgabe zu
lösen, so ermöglichen der allgemeine Faktor g und ein spezieller Faktor s – in
diesem Beispiel der Faktor „Rechenfähigkeit – die Lösung der Aufgabe. Ist aber
eine Leistung im sprachlichen Bereich
gefordert, so werden wiederum der
generelle Faktor g und der spezielle Faktor „Sprachbegabung“ aktiviert.
Wirkungsweise des g-Faktors und der s-Faktoren
g
S1
rechnerische Fähigkeit
S3
Sprachbegabung
S2
spezielles Handgeschick
T3
Fremdsprachentest
T1
Rechentest
T2
Test für Handgeschick
1
S1–S3
g
T1–T3
= spezielle Faktoren
= Generalfaktor
= Testleistungen
Charles Edward Spearman (1863–1945) war englischer Psychologe und wurde berühmt für seine
Zweifaktorentheorie der Intelligenz.
15
22
Kapitel 4
b)
5
10
Die multiple Faktorentheorie von Louis L.
Thurstone
Nach Louis L. Thurstone1 gibt es keinen allgemeinen Faktor g, sondern nur mehrere
voneinander unabhängige, gleichrangige
Faktoren, die je nach gestellter Aufgabe zum
Einsatz kommen. Diese Annahme ergibt sich
aus der Beobachtung, dass Menschen, die in
einem Bereich – zum Beispiel der Sprache –
sehr begabt sind, in einem anderen Bereich –
wie beispielsweise Mathematik – erhebliche
Schwierigkeiten haben. Maßgeblich für die
Intelligenzleistungen bei diesem Modell sind
hauptsächlich sieben Primärfaktoren:
–
–
–
–
Sprachverständnis/Sprachbeherrschung
Wortflüssigkeit
Rechengewandtheit/Rechenfähigkeit
Raumvorstellung/räumliches
Vorstellungsvermögen
– Gedächtnis
– Wahrnehmungsgeschwindigkeit/
Auffassungsgeschwindigkeit
– schlussfolgerndes, logisches Denken
Wirkungsweise der sieben Primärfaktoren
Sprachverständnis
Schlussfolgerndes
Denken
Wortflüssigkeit
T2
T1
T3
Wahrnehmungsgeschwindigkeit
Gedächtnis
Rechengewandtheit
Raumvorstellung
T1–T3 = Testleistungen
Das Konzept der multiplen2 Intelligenz
nach Howard Gardner
Howard Gardner3 geht davon aus, dass wir
über mehrere „Intelligenzen“ verfügen, die
jeweils relativ unabhängig voneinander sind.
Entsprechend kam er auf verschiedene eigenständige Intelligenzen:
c)
25
30
1
2
3
4
– die logisch-mathematische Intelligenz4,
– die sprachliche Intelligenz4,
– die räumliche Intelligenz,
– die musikalische Intelligenz,
Louis Leon Thurstone (1887–1955) war amerikanischer Psychologe.
multus (lat.): viel, zahlreich
Howard Gardner (* 1943) lehrt an der Harvard-Universität, an der Boston University School of
Medicine und am Boston Veterans Administration Medical Center. Bekannt wurde er vor allem
durch seine Bücher über Intelligenz und den menschlichen Geist.
Die logisch-mathematische und die sprachliche Intelligenz sind diejenigen Fähigkeiten, die in der
Regel von den üblichen Intelligenztests erfasst werden.
15
20
Kapitel 4
– die körperlich-kinästhetische1 Intelligenz,
die in der Beherrschung und Koordination
des Körpers und einzelner Körperteile, zum
Beispiel beim Tanzen, besteht,
5
10
15
– die intrapersonale2 Intelligenz, die sich
darin zeigt, sich selbst zu verstehen und
mit sich selbst umgehen zu können,
– die interpersonale3 Intelligenz, von anderen Autoren häufig soziale Intelligenz
genannt, als die Fähigkeit, das soziale Leben
in den verschiedenen Organisationsformen
und Beziehungen, in denen ein Mensch
lebt – zum Beispiel in der Familie, Schule
und Arbeit, in der Ehe, im Bekannten- und
Freundeskreis – zu bewältigen, sowie
23
– die naturalistische Intelligenz als die Fähigkeit, die Natur zu verstehen und verantwortungsbewusst mit ihr umgehen zu können.
Kritiker wenden ein, ob diese Spezialfähigkeiten – logisch-mathematische, sprachliche,
räumliche, musikalische, körperlich-kinästhetische, naturalistische, intrapersonale und
interpersonale Intelligenz – tatsächlich den
Begriff „Intelligenz“ verdienen oder ob es
sich nicht vielmehr lediglich um „Begabungen“ oder „Talente“ handelt. Trotz dieser Kritik hat sich das Konzept der multiplen Intelligenz heute sehr stark durchgesetzt.
20
25
Quelle: Hobmair, 2012, S. 213 ff.
4. Theorien des Vergessens
5
Die Theorie des Spurenzerfalls (Fading-Theorie)
Die Interferenztheorie
Die vom Lernen hinterlassenen Spuren bzw.
Veränderungen sind mit der Zeit nicht mehr
klar erkennbar; sie „verludern“ im Laufe der
Zeit, wenn der Lernstoff längere Zeit nicht
mehr wiederholt und geübt wird. Vergessen
wird hier als ein passiver Prozess verstanden,
bei dem eine Gedächtnisspur entschwindet.
Neues Lernen kann sich mit dem unmittelbar
vorher Gelernten überlagern – interferieren –,
sodass das vorher Gelernte oder auch das neu
Gelernte blockiert und damit vergessen wird.4
Die Verzerrungstheorie (Distortions-Theorie)
10
15
Menschen erinnern sich bei der Suche in ihrem
Gedächtnis an Hauptideen, an die Kernaussage, aber nicht an die Einzelheiten. Später
bringen sie die Details hervor, wobei das Original häufig verzerrt wird.
Die Versagenstheorie beim Abruf von Hinweisreizen
Das Vergessen ist auf einen Mangel an
angemessenen Hinweisreizen für das Abrufen
beim Zeitpunkt des Erinnerns (nicht des Lernens) zurückzuführen, das Abrufen von Inhalten
aus dem Gedächtnis misslingt.
Quelle: Lefrançois, 20084, S. 275 ff.
Die Verdrängungstheorie
Erlebensinhalte, die der Mensch nicht wahrhaben will oder kann und die Angst auslösen,
werden in das Unbewusste abgeschoben und
so „vergessen“.
1
2
3
4
kinein (griech.): bewegen; aísthesis (griech.): die Sinneswahrnehmung; Kinästhetik: die Fähigkeit,
Bewegungen der Körperteile kontrollieren und steuern zu können
intra (lat.): innerhalb
inter (lat.): zwischen
vgl. die Ausführungen über die retro- und proaktive Hemmung in Abschnitt 4.5.7
20
25
30
24
Kapitel 5
Materialien Kapitel 5
1. Möglichkeiten der Entspannung
5
10
15
20
a) Atemübungen
Mit den folgenden einfachen Atemübungen
können Sie im Alltag Ihre Sauerstoffaufnahme verbessern und Ihre Konzentrationsfähigkeit steigern. Sie finden damit auch in
Stresssituationen schnell zu einem harmonischen Atemrhythmus zurück. Mithilfe der
Kraftlenkung (…) können Sie sich willentlich
in einen Zustand der Ruhe, Harmonie und
Stärke versetzen.
Führen Sie die Übungen immer dann aus, wenn
Sie abgespannt und müde, unkonzentriert
oder nervös sind, egal ob im Büro, auf Reisen
oder zu Hause. Achten Sie nur darauf, dass Sie
ungestört sind und dass Ihre Kleidung Sie nicht
beengt. Die Übungen eignen sich aber auch als
Vorbereitung für die Atemübungen.
Führen Sie die Übungen in einer aufrechten
Sitzhaltung oder im aufrechten Stand aus. So
kann der Atem ungehindert fließen.
Gähnen
So wirkt die Übung:
Entspannt die Rachenmuskeln.
Vertieft die Atmung. Hilft beim Ausscheiden
von Giftstoffen.
Löst Verspannungen.
– Atmen Sie zunächst vorbereitend aus.
– Atmen Sie langsam ein.
– Öffnen Sie den Mund, weiten Sie den
Rachenraum, lassen Sie den Unterkiefer
entspannt sinken.
– Atmen Sie langsam gähnend aus. Entspannen Sie dabei die Rachenmuskeln.
– Schließen Sie danach weich den Mund.
– Wiederholen Sie das Gähnen einige Male.
Dehnen und recken Sie sich dabei von den
Zehen bis zu den Fingerspitzen und geben
Sie verschiedene Laute von sich.
Quelle: Waesse, 19995, S. 28
b)
Fang Song Gong – Die Drei-Wege-Entspannung
1. Teil
Erster Weg
Die Linie der Entspannung verläuft zu
beiden Seiten Ihres Körpers. Beginnen
Sie am Kopf.
Zweiter Weg
Die Linie der Entspannung verläuft
entlang der Körpervorderseite.
Beginnen Sie diesmal bei Ihrer Stirn.
Dritter Weg
Die Linie der Entspannung verläuft
über die Körperrückseite. Beginnen
Sie wieder bei Ihrem Kopf.
Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung langsam von
oben nach unten und entspannen Sie
nach und nach die Körperteile, die auf
der beschriebenen Linie liegen:
– linke und rechte Kopfseite,
– die beiden Seiten des Nackens,
– die Schultern,
– beide Oberarme,
– beide Unterarme,
– beide Hände, und dann
– die Finger.
Sind Sie bei Ihren Fingern angelangt,
dann konzentrieren Sie sich 2 Minuten auf Ihre beiden Mittelfinger.
Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung wieder
langsam von oben nach unten und
entspannen Sie nach und nach die
Körperteile, die auf der beschriebenen
Linie liegen:
– Gesicht,
– Hals,
– Brustkorb,
– Oberbauch,
– Unterbauch,
– Becken,
– Vorderseite beider
Oberschenkel,
– beide Knie,
– Vorderseite beider
Unterschenkel,
– die Mitte beider Füße und
– die Zehen.
Wandern Sie auch diesmal mit Ihrer
Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
langsam von oben nach unten und
entspannen Sie nach und nach die
Körperteile, die auf der beschriebenen
Linie liegen:
– Hinterkopf,
– Hals und Nacken,
– oberer Teil des Rückens,
– mittlerer Teil des Rückens,
– unterer Teil des Rückens,
– Becken und Po,
– Rückseite der Oberschenkel,
– Kniekehlen,
– Waden,
– Fersen und
– Fußsohlen.
Atmen Sie ruhig und gleichmäßig ein
und aus und versuchen Sie bei jedem
Atemzug zu spüren, wie sich der
betreffende Teil Ihres Körpers nach
und nach leichter und entspannter
anfühlt.
Sind Sie bei den Zehen angelangt,
konzentrieren Sie sich 2 Minuten auf
Ihre großen Zehen.
Sind Sie bei Ihren Fußsohlen angelangt, konzentrieren Sie sich 5
Minuten auf den Punkt Sprudelnde
“
Quelle” [in der Fußmitte, unterhalb
des Zehenballens].
25
30
35
Kapitel 5
25
2. Teil
Im zweiten Teil dieser Übung wandern
Sie erneut mit Ihrer Aufmerksamkeit
und Wahrnehmung von Kopf bis Fuß,
doch diesmal entspannen Sie größere
Areale als im ersten Teil.
Entspannen Sie nach und nach
– Kopf,
– beide Arme,
– Brustkorb,
– Bauchregion,
– Becken und Po und anschließend
– beide Beine.
Verharren Sie bei jedem dieser
Abschnitte für die Dauer von 6 Atemzügen und wiederholen Sie bei jedem
Atemzug innerlich die Worte „wohlig
entspannt“.
Wiederholen Sie den gesamten Ablauf
3-mal.
Quelle: Engel, 20092, S. 60 f.
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c) Entspannungstechniken
Die progressive Muskelentspannung (PMR)
stammt von Edmund Jacobson (1885–1976).
Dieser ging davon aus, dass eine muskuläre
Entspannung eine Herabsetzung der Aktivitäten des zentralen Nervensystems zur Folge hat
und somit über eine systematische Kontrolle
einzelner Muskelpartien ein Entspannungszustand erreicht werden kann (vgl. Kaluza, 20103,
S. 81). Bei dieser Technik werden mehrmals
hintereinander einzelne Muskeln des Körpers
angespannt und dann wieder losgelassen.
So wird zum Beispiel des Öfteren die Hand
zu einer Faust geballt, diese etwas angehalten und dann wieder locker gelassen.
Das autogene Training (AT), das auf den Berliner
Nervenarzt Johannes H. Schultz (1884–1970)
zurückgeht, beruht auf der Auffassung der
„Beeinflussung des Körpers durch die Macht der
Vorstellung“ (Lindemann, 2002, S. 10). Durch
Wiederholung von formelhaften Sätzen wie „Ich
bin ganz ruhig und gelassen“ überträgt sich
diese Entspannung auf den gesamten Körper.
Bei der Biofeedback-Methode werden Herzschlag oder Hautwiderstand gemessen und
dem Anwender durch Ton- oder Lichtsignale
rückgemeldet. Dadurch lernt er seine Atmung,
seinen Herzschlag, seinen Blutdruck oder seine
Muskelspannung positiv zu beeinflussen.
Yoga ist eine Entspannungstechnik aus Indien,
die auf der Annahme beruht, dass mithilfe
gezielter Übungen Seele, Geist und Körper
des Menschen in Einklang gebracht werden
können. Im Mittelpunkt stehen Atem-, Meditations- und Konzentrationsübungen, die
durch festgelegte Körperübungen verstärkt
und auf den Punkt gebracht werden. „Yoga
stabilisiert den ganzen Menschen. Das hat zur
Folge, dass stressauslösende Situationen leich-
ter gemeistert werden, Stressfolgen abgemildert werden oder verschwinden.“ (Waesse,
19995, S. 11)
d) Qi Gong
Die Wurzeln des Qi Gong liegen in der traditionellen
chinesischen
Medizin
(TCM).
„Gesundheit und Wohlbefinden sind nach
Auffassung der TCM nur möglich, wenn
Körper, Geist und Seele eine harmonische Einheit bilden.“ (Engel, 20092)
e) Fantasiereise
Fantasiereisen oder auch Imaginationen sind
Übungen, die helfen sollen, sich bewusst auf
eine Reise in eine Fantasiewelt einzulassen. Die
folgende Übung stellt ein solches Beispiel dar:
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Quelle: eigener Text
„Und nun möchte ich Sie einladen, die Übung
des inneren sicheren Ortes kennenzulernen ...
Dieser Ort kann auf der Erde sein, er muss es
aber durchaus nicht. Er kann auch außerhalb
der Erde sein ... Lassen Sie Gedanken oder
Vorstellungen oder Bilder aufsteigen von
einem Ort, an dem Sie sich ganz wohl und
geborgen fühlen. Und geben Sie diesem Ort
eine Begrenzung Ihrer Wahl, die so beschaffen
ist, dass nur Sie bestimmen können, welche
Lebewesen an diesem Ort, Ihrem Ort, sein sollen, sein dürfen. Sie können natürlich Lebewesen, die Sie gerne an diesem Ort haben
wollen, einladen. Wenn möglich, rate ich
Ihnen, keine Menschen einzuladen, aber vielleicht liebevolle Begleiter oder Helfer, Wesen,
die Ihnen Unterstützung und Liebe geben.
Prüfen Sie, ob Sie sich dort mit allen Ihren Sinnen wohlfühlen. Prüfen Sie zuerst, ob das,
was Ihre Augen wahrnehmen, angenehm ist
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Kapitel 5
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für die Augen. Wenn es noch etwas geben
sollte, was Ihnen nicht gefällt, dann verändern
Sie es ... Nun überprüfen Sie bitte, ob das, was
Sie hören, für Ihre Ohren angenehm ist …
Wenn nicht, verändern Sie es bitte so, dass
alles, was Ihre Ohren wahrnehmen, angenehm
ist … Ist die Temperatur angenehm? ... Wenn
nicht, so können Sie sie jetzt verändern …
Kann Ihr Körper sich so bewegen, dass Sie sich
damit ganz wohlfühlen, und können Sie jede
Haltung einnehmen, in der Sie sich wohlfühlen? … Wenn noch etwas fehlt, verändern Sie
alles so, bis es ganz stimmig für Sie ist ... Sind die
Gerüche, die Sie wahrnehmen, angenehm? …
Auch die können Sie verändern, sodass Sie
sich ganz wohl damit fühlen … Wenn Sie nun
spüren können, dass Sie sich ganz und gar
wohlfühlen an Ihrem inneren Ort, dann können Sie mit sich eine Körpergeste vereinbaren. Und diese kleine Geste können Sie in
Zukunft ausführen und sie wird Ihnen helfen,
dass Sie diesen Ort ganz rasch wieder in der
Vorstellung haben. Und wenn Sie das
möchten, können Sie diese Geste jetzt ausführen … Um die Übung zu beenden, können
Sie wieder Ihre Körpergrenzen wahrnehmen
und den Kontakt des Körpers mit dem Boden
achtsam registrieren. Danach kommen Sie
dann mit der Aufmerksamkeit zurück in den
Raum.“
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Quelle: Reddemann, 2010 , S. 45 f.
2. Leistungsmotivation als Beispiel für Motivation
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a) Der Begriff „Leistungsmotivation“
Leistung bezeichnet die Bewältigung einer
Anforderung bzw. Aufgabe mit geistiger
und/oder körperlicher Anstrengung. Leistungsmotivation bedeutet entsprechend das
von
bestimmten
Motiven
gesteuerte
Bestreben, eine bestimmte Anforderung bzw.
Aufgabe mit Anstrengung zu bewältigen
bzw. zu vollbringen.
Solche Motive können beispielsweise das
Erzielen guter Noten und das Erhalten von
Anerkennung, von Prämien oder von Auszeichnungen sein.
Leistungsmotivation bezeichnet ein von
bestimmten Motiven gesteuertes Bestreben,
eine bestimmte Anforderung bzw. Aufgabe
mit Anstrengung zu bewältigen bzw. zu vollbringen.
Am Beispiel von Beobachtungen von kleinen
Kindern kann man Leistungsmotivation gut
veranschaulichen: Sie bauen mit großer
Anstrengung und enormem Eifer einen
Turm oder eine Burg und lassen sich durch
nichts stören. Ist das Werk vollbracht, so verliert es seinen Reiz.
Lernmotivation bezieht sich auf die Anstrengung eines Schülers in Lern- oder Prüfungssituationen, -aufgaben oder -anforderungen.
Das Bedürfnis, Leistung zu erbringen, setzt
einen persönlichen Maßstab, einen individuellen „Sollwert“ voraus, auf den die Leistung
bezogen ist und wie diese bewertet wird
(Selbstbewertung).
Ludwig hat in der Prüfungsarbeit die Note 3
erhalten. Er ist darüber sehr enttäuscht und
traurig, denn er hatte an seine Leistungen
einen relativ hohen Maßstab angelegt.
Maria hat in der gleichen Arbeit ebenfalls
die Note 3 erreicht. Sie strahlt über das
ganze Gesicht und freut sich über diese Note.
Maria hatte einen niedrigeren Maßstab.
Jeder Mensch stellt also an seine Leistung
einen Gütemaßstab, der von Individuum zu
Individuum unterschiedlich und der das Ergebnis von vorhergegangenen Lernprozessen ist.
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Ludwig und Maria messen ihre Leistungen
mit einem unterschiedlichen Gütemaßstab,
beide haben in ihre Arbeit unterschiedliche
Erwartungen gesetzt.
Heinz Heckhausen (19876, S. 95) spricht in
diesem Zusammenhang von einem Anspruchsniveau, was die Gesamtheit aller aufgrund
vorausgegangener Erfahrungen bestehenden
Erwartungen an die zukünftige eigene Leistung bedeutet. Dem individuellen Anspruchsniveau gemäß kann nun die erbrachte
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Kapitel 5
5
Leistung der erwarteten entsprechen oder sie
sogar übertreffen – also gelingen; sie kann
die erwartete Leistung aber auch verfehlen –
also misslingen. Übertrifft die erbrachte Leistung die erwartete oder entspricht sie ihr, so
hat das Individuum Erfolg; verfehlt sie sie, so
ist Misserfolg die Folge.
Für Ludwig war das Ergebnis seiner Leistung
ein Misserfolg, für Maria dagegen ein Erfolg.
„Wird das Anspruchsniveau erreicht
oder überschritten, erlebt man Erfolg;
wird es nicht erreicht, erlebt man Misserfolg. Im ersten Falle wird das
Anspruchsniveau in der Regel erhöht, im
zweiten Falle gesenkt. Immer liegen dem
persönliche und je nach dem erreichten
Leistungsstand wandelbare persönliche
Gütemaßstäbe zugrunde. Die Auseinandersetzung mit solchen Gütemaßstäben
ist das Kennzeichen eines wichtigen
Motivs, das nur dem Menschen eigen ist:
der Leistungsmotivation.“
(Heckhausen, 19876, S. 95)
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Solche vorausgegangenen Erfolgs- oder Misserfolgserfahrungen schlagen sich nun hinsichtlich der Erwartungen bei zukünftigen
Aufgaben nieder: Sie sind entweder durch
Hoffnung auf Erfolg oder durch Furcht vor
Misserfolg charakterisiert. Es handelt sich also
dabei um eine Vorwegnahme, um eine Antizipation1 des Handlungsausganges.
Ludwig wird bei seinen künftigen Prüfungsarbeiten durch „Furcht vor Misserfolg“ motiviert sein: Er macht sich Sorgen, in der
nächsten Arbeit wieder die Note 3 zu
bekommen. Maria dagegen ist guter Dinge,
dass sie auch in der kommenden Arbeit wieder eine 3 erreichen kann; sie ist durch
„Hoffnung auf Erfolg“ motiviert.
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Die individuelle Erwartungshaltung hinsichtlich einer Leistung ist nicht allein von Erfolgsund Misserfolgserfahrungen abhängig, sondern auch von der Selbstwirksamkeit2 eines
Menschen, der bisherigen Erziehung, den
Botschaften, die er im Laufe seines Lebens
erhält („Das kannst du nicht“, „Dazu bist du
zu dumm“) oder von dem, wovon er selbst
überzeugt ist („Ich kann das“ oder „Ich kann
das nicht!“). Auch der Vergleich mit anderen
spielt eine große Rolle: Der Einzelne vergleicht sich mit anderen und dieser Vergleich
beeinflusst den Lernenden, ob bzw. mit welcher Anstrengung er eine Aufgabe bewältigen will.
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Die Erwartungen „Hoffung auf Erfolg“ und
„Furcht vor Misserfolg“ bestimmen nach Heinz
Heckhausen das künftige Leistungsverhalten,
was die Leistungsmotivation ausmacht.
Ludwig ist zum Lernen motiviert, weil er sich
sorgt, wieder nur eine 3 in der Prüfungsarbeit zu bekommen; Maria dagegen ist
motiviert, weil sie hofft, die 3 halten zu
können.
Wie intensiv und ausdauernd ein Mensch
seine Leistungsmotivation entwickelt, hängt
zum einen vom individuellen Anspruchsniveau ab. Jeder Mensch sucht nach Erfolg
und versucht, Misserfolg zu vermeiden. Aus
dem Spannungsverhältnis dieser beiden Tendenzen ergibt sich die Leistungsmotivation.
Zum anderen liegen Aktivierung, Intensität
und Ausdauer einer Leistungsmotivation auch
an der Schwierigkeit der Aufgabe: Das Lösen
einer Aufgabe, die man für sehr leicht hält,
wird nicht als Erfolg erlebt, das Nichtbewältigen einer solchen, die man für zu schwer hält,
nicht als Misserfolg. Dazwischen liegt ein
mittlerer Schwierigkeitsbereich, innerhalb
diesem die Tüchtigkeit des Einzelnen herausgefordert und ein Anspruch an die persönliche Tüchtigkeit erlebt wird.
Antizipation (lat.): gedankliche Vorwegnahme
Selbstwirksamkeit bedeutet die eigene subjektive Überzeugung, bestimmte Verhaltensweisen
ausüben und Situationen bewältigen zu können, etwas bewirken und sein Leben selbst kontrollieren zu können.
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Kapitel 5
Vorangegangene Lernprozesse
bestimmen
Anspruchsniveau
die Gesamtheit aller aufgrund vorausgegangener Erfahrungen bestehenden
Erwartungen an die zukünftige eigene Leistung
Folge
Erfolg
Die erbrachte Leistung übertrifft
die erwartete oder entspricht ihr.
Misserfolg
Die erbrachte Leistung verfehlt
die erwartete.
schlagen sich nieder in
Erwartungen
Hoffnung auf Erfolg
Furcht vor Misserfolg
bestimmen
Leistungsmotivation
5
b) Förderung der Leistungsmotivation
Manfred Holodynski und Rolf Oerter (20086,
S. 553) heben zwei erzieherische Verhaltensweisen zur Förderung der Leistungsmotivation besonders hervor:
– ein warmherziges und unterstützendes
Verhalten der Eltern und anderer Erzieher
gegenüber ihren Kindern und
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– hohe, aber dennoch realistische Leistungserwartungen der Eltern und Lehrer mit
einer „herausfordernden“ Atmosphäre.
Dabei müssen die Kinder auf jeden Fall die
Erwartungen auch erreichen können.
Untersuchungen zeigen, dass intrinsische
Motivierung ein wesentlich höheres Leistungsniveau sowie ein ausdauernderes Lernen bedingt als eine extrinsische Motivierung.1 Wer
mit einer primären Motivation, aus Interesse an
der Sache selbst, lernt, der lernt auch intensiver
und empfindet eine tiefere Befriedigung über
1
vgl. Abschnitt 5.3.1
die geleistete Arbeit. Aus diesem Grund ist es
erforderlich, Kinder bzw. Schüler primär für die
verschiedenen Fachgebiete zu motivieren. Lob
bzw. Belohnung, die den Zweck der erzieherischen Bemühungen ändern und eine
Sekundärmotivation begünstigen, sind dann
nicht mehr erforderlich.
Alternativ zum Lob bzw. zur Belohnung ist es
vorteilhafter, wenn Erzieher und Lehrer
Erfolgserlebnisse für den zu Erziehenden
arrangieren. Erfolg geht nicht unmittelbar von
einer Person aus, sondern ergibt sich aus einer
bestimmten Verhaltensweise, einer Handlung
oder einem Sachverhalt, zieht aber ebenso
wie das Lob bzw. die Belohnung eine angenehme Konsequenz nach sich.
Dies kann beispielsweise, wie Wolfgang
Metzger (19763, S. 57) ausführt, das Gelingen
eines Unternehmens sein, das Zustandebringen eines Werkes, die unmittelbar als richtig
erkannte Lösung einer Aufgabe oder die
Überwindung einer Schwierigkeit.
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Kapitel 5
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Unter Erfolg als Erziehungsmaßnahme wird
eine angenehme Konsequenz verstanden, die
unmittelbar aus einer bestimmten Verhaltensweise bzw. Handlung oder einem Sachverhalt hervorgeht (Hobmair, 2010, S. 405).
Der zu Erziehende handelt bei Erfolgserlebnissen nicht um der Belohnung bzw. des
Lobes, sondern um der Sache willen und kann
dadurch eine sachbezogene Motivation aufbauen. Er macht bzw. lernt etwas aus „Freude
an der Sache“.
Nach Heinz Heckhausen ist das Bestreben,
gute Leistungen zu erbringen, am größten,
wenn der Schüler selbst nicht beurteilen kann,
wie er bei der Lösung der Aufgaben abschneiden wird. Dies ist der Fall, wenn sich „Hoffnung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“
die Waage halten. Bei zu leichten Aufgaben
ist der Erfolg gewiss, und eine innere Befriedigung – ein Erfolgserlebnis, welches motiviert –
bleibt aus. Bei zu schweren Aufgaben muss
man von vornherein mit einem Misserfolg
rechnen, der das Kind bzw. den Schüler nicht
(mehr) motiviert, sondern resignieren lässt.
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„Spaß stellt sich ein, wenn man etwas kann, und zwar ganz von allein. Das Lernen selbst
ist keineswegs immer spaßig, sondern oft mühsam und anstrengend. Aber wenn ein Schüler
aus Erfahrung weiß, dass er Spaß haben wird, wenn er etwas kann, dann hat er einen
Anreiz, auch wenn der Weg dahin manchmal etwas schwierig ist.“
(Stern, in: Sonnenmoser, 2004, S. 31)
warmherziges und unterstützendes
Erzieherverhalten
hohe, aber dennoch realistische
Leistungserwartungen
Förderung der Leistungsmotivation
intrinsische Motivierung
Arrangieren von
Erfolgserlebnissen
Ausgeglichenheit der beiden
Erwartungen „Hoffnung auf
Erfolg“ und „Furcht vor
Misserfolg“
Quelle: Hobmair, 2012, S. 276–279
3. Kritische Lebensereignisse als Beispiel für eine emotionale
Belastung
5
Kritische Lebensereignisse stellen eine emotionale Belastung im Leben eines Menschen
dar mit kurz- oder langfristigen Auswirkungen. Die Erforschung der kritischen Lebensereignisse erscheint in der Literatur häufig
auch unter den Begriffen „life-stress-Forschung“, „life-event-Forschung“, „(Lebens-)
Krise“ oder „psychosozialer Stress“.
Als kritisches Lebensereignis bezeichnet man
eine Veränderung der bisherigen Lebenssituation einer Person, wobei diese Veränderung
einen Zustand des Ungleichgewichts zwischen
der Person und ihrer Umwelt verkörpert, von
gefühlsmäßigen Reaktionen begleitet ist und
eine Belastung darstellt sowie eine Neuanpassung der Person an die veränderte Lebenssituation erfordert.
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Kapitel 5
Sitzenbleiben in der Schule, Trennung der
Eltern, eine gerichtliche Bestrafung, ein
Wohnortwechsel, eine schwere Erkrankung,
der Tod eines Familienmitglieds, die Heirat,
die Geburt des ersten Kindes, Scheidung, der
Verlust des Arbeitsplatzes, die Verwicklung
in einen Verkehrsunfall, ein Erdbeben, eine
kriegerische Auseinandersetzung, die Versetzung in den Ruhestand, die Einweisung
ins Altersheim, die Konfrontation mit dem
eigenen Tod usw. sind Beispiele für kritische
Lebensereignisse.
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Kritische Lebensereignisse können positiv
sein, wie zum Beispiel die Heirat oder die
Geburt des ersten Kindes, oder auch negativ,
wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder der
Tod eines geliebten Menschen. Je nachdem,
wie stark eine Belastung für den Menschen
ist, wird sie zu unterschiedlichen Reaktionen
führen. Die Schwere des subjektiven Erlebens
einer Belastung hängt in erster Linie von der
Vorhersehbarkeit und von der Kontrollierbarkeit von solchen Ereignissen ab.
Mit Kontrollierbarkeit ist die subjektive
Überzeugung eines Menschen gemeint, ob
und inwieweit er eine Situation beeinflussen
und bewältigen kann.
Erlebt sich zum Beispiel ein Mensch bei
einem eingetretenen Ereignis als sehr hilflos
und ist er davon überzeugt, dieses nicht
beeinflussen zu können, so wird er die Situation als sehr belastend empfinden. Glaubt
er jedoch, diese in Griff zu bekommen, so
wird die Belastung sehr gering sein.
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Dabei handelt es sich nicht um eine objektive
Kontrollierbarkeit, sondern um eine subjektive, bei der das Individuum glaubt, dass dies
so ist.
So zum Beispiel ist die Bewältigung der Um
siedlung von alten Menschen in ein Altenheim in einem sehr entscheidenden Maße
von der Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit von Kontaktmöglichkeiten
abhängig.
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Kritische Lebensereignisse können altersabhängig oder altersunabhängig sein. Es gibt
auch Ereignisse, die vom biologischen Alter
bestimmt werden.
Dazu gehören zum Beispiel die sexuelle Reife
oder der Beginn der Menopause1.
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Auch die Bedeutung, die einzelnen Ereignissen beigemessen wird, ist vom Alter abhängig.
Die Schwangerschaft einer minderjährigen Schülerin hat eine andere Bedeutung
für die Betroffene als die Schwangerschaft einer erwachsenen Frau in stabilen
Beziehungen und mit gutem finanziellen
Auskommen.
Daneben gibt es Ereignisse, die nicht vom
Alter abhängen, wie etwa einen Autounfall,
den man erleidet.
Zudem können kritische Lebensereignisse kulturabhängig oder kulturunabhängig sein.
Schuleintritt oder Übertritt in das Rentenalter zum Beispiel sind durch die jeweilige
Gesellschaft bestimmt, in der wir leben – sie
sind kulturabhängig.
Kulturunabhängige Ereignisse stehen in
keinem direkten Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur.
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Dies ist beispielsweise bei plötzlichem Verlust einer lieb gewonnenen Person der Fall.
Alters- und kulturabhängige kritische Lebensereignisse haben gemeinsam, dass man sie relativ gut vorhersagen und sich auf sie einstellen
kann; alters- und kulturunabhängige Ereignisse
sind in der Regel unvorhersehbar. Kritische Lebensereignisse, die vorhersehbar sind, werden
als normative Lebensereignisse oder Entwicklungsaufgaben2 gesehen; solche, die unvermittelt eintreten, bezeichnet man als nonnormative
Lebensereignisse. Normative Lebensereignisse
treten also beabsichtigt auf, sind vorhersehbar,
alters- oder kulturabhängig; nonnormative
Lebensereignisse treten unvermittelt auf und
sind alters- oder kulturunabhängig.
Die Menopause ist der Zeitraum nach der letzten Regelblutung.
siehe Kapitel 8.1
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Kapitel 5
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Kritische Lebensereignisse
Bezeichnung für Veränderungen der bisherigen Lebenssituation einer Person; diese Veränderungen sind durch einen Zustand des Ungleichgewichts zwischen dieser Person und der
Umwelt gekennzeichnet, sind von gefühlsmäßigen Reaktionen begleitet und erfordern eine
Neuanpassung der Person an die veränderte Lebenssituation
können
positiv
negativ
sein und sind
alters- und/oder kulturabhängig
alters- und/oder kulturunabhängig
und damit
und damit
vorhersehbar
nicht vorhersehbar
normative Lebensereignisse
treten beabsichtigt auf, sind vorhersehbar,
alters- oder kulturabhängig;
= Entwicklungsaufgaben
nonnormative Lebensereignisse
treten unvermittelt auf, sind nicht kulturabhängig oder vom Alter her bestimmt
Quelle: eigener Text
4. Das Stressmodell von Richard S. Lazarus
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Zur Beschreibung eines Stresszustandes gibt
es verschiedene Modelle. Ein sehr bekanntes
Stressmodell stammt von Richard S. Lazarus1.
Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt
in der Betonung der kognitiven Prozesse im
Menschen; die Einschätzung einer bestimmten Situation oder Anforderung als bedrohlich, schädlich oder auch als herausfordernd
ist ein entscheidendes Merkmal des Stresses.
Stress ist nach Lazarus durch die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und
der daraus resultierenden gegenseitigen
Beeinflussung gekennzeichnet.
Aus der Umwelt wirken auf den Menschen
bestimmte Reize ein. In einem ersten Einschätzungsprozess (primäre Einschätzung)
werden diese Reize bewertet.
1
Um das Beispiel in Abschnitt 5.5.5 nochmals
aufzugreifen: Ein Schüler hat in der schriftlichen Abschlussprüfung in Mathematik
nicht die Note erhalten, die er gebraucht
hätte, um im Zeugnis eine 4 zu erhalten. Er
muss sich deshalb im Fach Mathematik der
mündlichen Prüfung unterziehen. Der Schüler nimmt diese Situation wahr und leitet sie
in sein Gedächtnis weiter. Dort versucht er, in
einer ersten Überprüfungsphase (= primäre
Einschätzung) herauszufinden, ob „Gefahren“ von der neuen Situation ausgehen:
Könnte er Schaden nehmen oder einen Verlust erleiden – zum Beispiel keine bessere
Note erzielen oder ein ganzes Schuljahr wiederholen müssen? Ist die neue Situation
bedrohlich – beispielsweise Versagen in der
Prüfung? Stellt die Sache eine Herausforderung dar – zum Beispiel kann er nicht nur die
4 erhalten, sondern sich möglicherweise
sogar noch steigern?
Richard S. Lazarus (1922–2002) war ein amerikanischer Psychologe. Nach einer Professur in
Pittsburgh lehrte er an der University of California, Berkeley.
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Kapitel 5
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Werden nun diese Reize als angenehm bewertet, kommt es zu keiner stresshaften Situation
(kein Stress); empfindet der Mensch die Reize
jedoch als bedrohlich, schädlich oder zumindest als herausfordernd – also als unangenehm
–, so erlebt er eine stressreiche Situation.
Der Schüler stellt beispielsweise fest, dass
Mathematik seine einzige schlechte Note im
Zeugnis sein wird; er macht sich aus diesem
Grund keine großen Sorgen um die mündliche Prüfung und erlebt deshalb die Situation
nicht als krisenhaft. Gehen jedoch „Gefahren“ von der Situation aus – beispielsweise,
wenn er hier versagt, ist er durch die Prüfung gefallen – dann wird er die Situation
als stressreich erleben.
Wird nun die Situation als stressreich wahrgenommen, werden in einem zweiten Einschätzungsprozess (= sekundäre Einschätzung) die
Möglichkeiten der Bewältigung überprüft.
Auch hier findet wiederum ein individueller
Bewertungsprozess statt. Kommt nun das
Individuum zu der Überzeugung, dass es ihm
keine Probleme bereiten wird, die Krise zu
meistern, dann entsteht in der Regel kein
Stress. Glaubt es jedoch, die Situation nicht
meistern zu können, so wird sie als stressreich
erlebt.
Nimmt der Schüler die Situation als unangenehm wahr, so überlegt er in einer zweiten
Überprüfungsphase, in der sekundären Einschätzung, welche Bewältigungsmöglichkeiten ihm zur Verfügung stehen. Erkennt er,
dass die Situation zwar bedrohlich ist, er sie
aber mühelos bewältigen kann, wird kein
Stress entstehen. Im anderen Fall wird von
unserem Schüler Stress erlebt.
Beide Einschätzungsprozesse – primäre und
sekundäre Einschätzung – lassen sich in der
Praxis jedoch nicht voneinander trennen.
Erlebt der Mensch aufgrund der Einschätzungsprozesse Stress, dann beginnt die Planung und
Durchführung von Bewältigungsversuchen.
Nahezu alle Bewältigungsversuche – auch das
Nichtstun – haben in der Regel bestimmte
Wirkungen und verändern sowohl die Person
als auch die sie umgebende Umwelt.
Der Schüler schließt sich beispielsweise einer
Lerngruppe an und nimmt Nachhilfestunden
bei einem Klassenkameraden; er übt jeden
Tag mindestens eine Stunde Mathematikaufgaben. Dadurch gewinnt er neue Zuversicht, die Auswirkung auf sein gesamtes
Verhalten hat. Er erlebt die gesamte Situation nicht mehr so stark als Bedrohung, die
ganze Atmosphäre vor der Prüfung wird
entspannter, was positive Auswirkungen auf
das häusliche Zusammenleben seiner Familie
hat.
Diese Veränderungen motivieren den Menschen zu einem erneuten Einschätzungsprozess (Neueinschätzung), durch den diese
Veränderungen gedanklich überprüft werden. Wird die Situation nicht mehr als stressreich erlebt, kann zu neuen Handlungen
übergegangen werden (kein Stress); bleibt
das Stresserleben erhalten, wird das Individuum erneut Bewältigungsversuche unternehmen (neue Bewältigungsversuche).
In der veränderten Situation beginnt der
Schüler dann mit einer Neueinschätzung, die
wiederum zwei Möglichkeiten eröffnet:
Abbau des Stresses oder Fortdauer. Entsprechend dem Ergebnis der Neueinschätzung
folgt das weitere Verhalten. Im Idealfall führen die Bewältigungsversuche zum Erfolg
und der Stress wird abgebaut; andernfalls
beginnen die Bewältigungsversuche von
neuem.
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Kapitel 5
Vereinfachtes Stressmodell nach Richard S. Lazarus
Person
Umwelt
Reize oder Stressoren, je nach Einschätzung
kognitive Einschätzung
primäre Einschätzung
Vorgang der Bewertung einer Situation für das eigene Wohlbefinden
Bedrohung, Schaden, Verlust,
Herausforderung = stressreich
bedeutungslos angenehm
kein Stress
sekundäre Einschätzung
Vorgang der Bewertung der Bewältigung einer Situation
negativ = stressreich
positiv
kein Stress
Bewältigungsversuche
veränderte Umwelt
veränderte Person
Neueinschätzung
negativ = stressreich
positiv
kein Stress
neue Bewältigungsversuche
Quelle: eigener Text
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Kapitel 6
Materialien Kapitel 6
1. Hat der Mensch einen freien Willen?
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Vorn am Rednerpult erklärt Professor Henning Scheich die Informationsverarbeitung im
Langzeitgedächtnis von Rennmäusen. (…)
Scheich erläutert gerade die Wirkung des
Neurotransmitters Dopamin, und das interessiert Palmero, und überhaupt geht es um das
spannendste Gebiet der Welt: um das Gehirn.
Um dieses Organ, das im Schnitt 1300 Gramm
schwer, seit 30.000 Jahren praktisch unverändert und immer noch ein Rätsel ist. (…) Palmeros Spezialität sind neue bildgebende
Programme, die zeigen, was im Gehirn passiert. So erträgt er die Kleinstadt und den
November, es ist sein freier Wille, seine Entscheidung. Was aber, wenn er sich irrt? Was,
wenn es gar keinen „freien Willen“ gäbe? Wir
tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen,
was wir tun, hat vorhin ein Neurologe süffisant gesagt. Weil das Gehirn uns dirigiert.
Weil es nur neuronale Prozesse sind, die im
Gehirn ablaufen und dort festlegen, was wir
wollen, wo wir sind, auf welchem Kongress
wir sitzen. Das Ich: eine Einbildung. Der freie
Wille: ein romantisches Konzept.
Es wird zurzeit heftig gestritten über diese
These: Hirnforscher zanken sich mit Strafrechtlern, Neokantianer attackieren Neurodeterministen. Die Debatte wird geführt in
Fachzeitschriften und Feuilletons (…). Der
Streit um die Willensfreiheit passt da bestens.
Provoziert wurde die Debatte von Deutschlands führenden Hirnforschern, die, nüchtern
im Ton und basierend auf empirischen Ergebnissen, mal eben den freien Willen als Illusion
definierten, nützlich, aber ein Gespinst, tut
uns leid.
Wie bitte? Ehrgeiz, Moral, Zärtlichkeit, Wut –
alles nur Sache einiger Aminosäuren? Den
Philosophen wurde mulmig. Und ein potenzieller Mörder hätte demnach gar keine
Chance, nicht zu morden? Die Juristen waren
empört. Palmero, der Mann aus Kuba, kennt
diese These natürlich. Sie schmeichelt ihm,
weil sie sein Forschungsgebiet aufwertet. Sie
irritiert ihn aber auch, weil sein Gehirn ihn
demnach offenbar nach Jülich geschickt hat,
ohne ihn vorher zu fragen.
Thema: „Der freie Mensch – nur eine Illusion?“ Im Großen Saal reden fünf Ichs aus
fünf Fakultäten, fünf Neuronenbündel aus
fünf Professionen elegant aneinander vorbei.
(…) Palmero, als Physiker, ist sehr beeindruckt
von Einsteins Leistung; ein Mann, der mit
einer einzigen Formel das Universum, Raum,
Zeit erklärt – ein Traum wäre das, so eine Formel, die diese Sache mit dem Hirn und den
Neuronen und dem Willen endgültig sortiert.
„Aber das Hirn“, sagt Palmero, „ist ungleich
komplizierter.“
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Quelle: Hoppe, 2004, S. 83
2. Das Gedächtnis des Körpers
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Sind Gelassenheit, Übergewicht, Intelligenz
und Langlebigkeit angeboren? Genfunde
nähren den Glauben an die Allmacht der Biologie. Doch nun zeigt sich, wie sehr Umwelteinflüsse die Erbanlagen verändern: Die Gene
steuern uns – aber auch wir steuern die Gene,
durch unseren Lebensstil.
(…) Als Ausrede für störende Speckpolster
taugen scheinbar allmächtige Gene also nicht,
wie auch eine Studie unter 704 Frauen und
Männern zeigt, die zur christlichen Religionsgemeinschaft der Amischen gehören und im
US-Bundesstaat Pennsylvania leben. Einige
von ihnen haben zwar ein bestimmtes Gen für
Fettsucht (FTO) – und trotzdem sind sie nicht
dicker als Vergleichspersonen mit unauffälligen Erbanlagen.
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Kapitel 6
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Das haben die Amischen durch ihren Lebensstil geschafft, fanden Gesundheitsforscher
heraus. Weil die Amischen aus religiösen
Gründen Maschinen nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzen, sind sie körperliche Arbeit
gewohnt und leben, wie es vor 200 Jahren
auch noch in Deutschland üblich war. Jene
Frauen und Männer, die während des Tagwerks 900 Kilokalorien verbrennen, können
den Einfluss des vermeintlichen FettsuchtGens komplett ausschalten.
Der Effekt setzt aber schon bei niedrigerem
Energieverbrauch ein. Wer sich körperlich
ertüchtigt, der verbrennt nicht nur Kalorien;
er verringert auch die Wirkung des FettsuchtGens im Hypothalamus, der das Hungerzentrum beherbergt.
Der Lebensstil verändert die Biologie.
Leidenschaftlich haben Naturforscher und
Philosophen gestritten, was den Menschen
stärker prägt: seine biologische Natur – oder
die äußeren Einflüsse? Nun versöhnen neue
wissenschaftliche Befunde die beiden Lager:
Gene und Umwelt stehen sich gar nicht alternativ gegenüber – sie wirken stets im Zusammenspiel.
Denn äußere Einflüsse können Gene chemisch
verändern und sie auf diese Weise an- und
ausschalten. Körperliche Aktivität, aber auch
zwischenmenschliche
Beziehungen
und
soziale Faktoren prägen das Erbgut.
Die Gene steuern uns – aber auch wir steuern
sie.
Neben dem Inhalt der Gene, der Abfolge der
DNA-Bausteine, trägt das Erbgut eine übergeordnete Ebene von Informationen. Die epigenetischen (auf den Genen liegenden)
Mechanismen steuern das Verhalten von
Genen. Die Epigenetik stellt das lange
gesuchte Scharnier dar, über das die Umwelt
auf die Erbanlagen wirkt. (…)
Die Gene sind kein Schicksal, sondern wunderbar wandelbar – diese bahnbrechende
Erkenntnis der Epigenetiker räumt auf mit
alten Vorstellungen. Lange hielten Biologen
die Gene für fixiert: Nur durch Änderungen
der Abfolge der DNA-Bausteine, durch Muta-
tionen, könnten neue Eigenschaften entstehen – darunter Talente, Verhaltensweisen
und Anfälligkeiten für Krankheiten. (…)
Dabei haben Biologen lange kategorisch ausgeschlossen, dass Erfahrungen Spuren in den
Erbanlagen hinterlassen können. Gene galten
immer als starre Gebilde, kaum fähig, sensibel
auf soziale Reize zu reagieren.
Doch stimmt diese Vorstellung? Dem Neurowissenschaftler Michael Meaney von der
McGill University im kanadischen Montreal
kamen Zweifel (…).
In einer Kneipe traf er den Pharmakologen
Moshe Szyf, der an der McGill University
eigentlich nach neuartigen Substanzen zur
Behandlung von Krebs suchte. Szyf war ein
biochemisches Detail aufgefallen, dem er
größte Bedeutung beimaß: Manche Gene in
Krebszellen trugen kleine chemische Markierungen, sogenannte Methylgruppen. Durch
die Methylierung wird ein Gen selbst nicht
verändert – jedoch wird es dadurch abgeschaltet. Das bedeutet: Die Methylierung
kann die Wirkung eines Gens verändern,
ohne dessen Inhalt zu verändern. (…)
In Experimenten an Laborratten wiesen die
Montrealer in der Folge tatsächlich nach, dass
traumatische Erlebnisse das Erbgut chemisch
markieren können. (…)
„Das bedeutet“, sagt Michael Meaney, „diese
Zellen können sich in einer Art und Weise verändern, die niemand vorhergesehen hat.“
Die Arbeit von Meaney und Szyf ist einer der
am häufigsten zitierten Aufsätze, die das
renommierte Fachblatt „Nature Neuroscience“ jemals veröffentlicht hat. Die Ergebnisse erklären erstmals, warum traumatische
Erlebnisse in der Kindheit auch Jahrzehnte
später mit einer erhöhten Anfälligkeit für
seelische Leiden verbunden sein können. Und
sie räumen mit liebgewordenen Vorstellungen auf: Es ist nicht nur wichtig, was in den
Genen geschrieben steht. Es kommt ganz entscheidend darauf an, was die Gene erleben,
wie sie geprägt werden. (…)
Quelle: Blech, 2010, S. 110–116, gekürzt
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Kapitel 6
3. Die Grundaussagen der Konditionierungstheorien
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a) Das klassische Konditionieren
Aus der Sicht des klassischen Konditionierens
wird ein Verhalten erlernt, wenn ein Reiz, der
noch keine bestimmte Reaktion auslöst, mehrmals zeitlich und räumlich gleichzeitig mit
einem anderen Reiz auftritt, der schon ein
bestimmtes Verhalten zur Folge hat. Dadurch
entsteht zwischen den beiden Reizen eine Verknüpfung, und der Reiz, der zunächst zu keiner bestimmten Reaktion führte, löst dann die
gleiche Reaktion aus wie der andere Stimulus.
Die Befriedigung von Bedürfnissen löst beim
Menschen angenehme Gefühle aus. „Befriedigung von Bedürfnissen“ ist also ein Reiz, der
als Reaktion „angenehme Gefühle“ zur Folge
hat. Beim Kind ist es seine Bezugsperson, die
seine Bedürfnisse befriedigt. Die Bezugsperson, die zunächst beim Kind zu noch keiner
Reaktion führt, löst, da sie immer dann auftritt, wenn Bedürfnisse befriedigt werden, allmählich die gleiche Reaktion aus wie die
Befriedigung von Bedürfnissen, nämlich angenehme Gefühle. Schon beim Anblick der
Bezugsperson werden angenehme Gefühle
geweckt.
Bezugsperson
Befriedigung von Bedürfnissen
keine bestimmte Reaktion
angenehme Gefühle
Bezugsperson + Befriedigung von Bedürfnissen
angenehme Gefühle
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nach mehreren Wiederholungen
angenehme Gefühle
Bezugsperson
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Einen Reiz, der zu keiner bestimmten Reaktion führt, bezeichnen wir als neutralen Reiz
(= neutral stimulus: NS).
Einen Reiz, der ohne vorangegangenes Lernen eine Reaktion auslöst, bezeichnen wir als
unbedingten Reiz (= unconditioned stimulus:
UCS), die Reaktion, die auf diesen Reiz folgt,
als unbedingte Reaktion (= unconditioned
response: UCR).
Einen Reiz, der aufgrund einer mehrmaligen
Koppelung mit einem unbedingten Reiz die
gleiche Reaktion auslöst wie dieser unbedingte Reiz, nennen wir bedingten Reiz
(= conditioned stimulus: CS), die Reaktion auf
den bedingten Reiz bedingte Reaktion (= conditioned response: CR).
NS
Bezugsperson
führt zu
keiner bestimmten Reaktion
UCS
Befriedigung von Bedürfnissen
führt zu
UCR
angenehmen Gefühlen
NS
+ UCS
Bezugsperson + Befriedigung von Bedürfnissen
führt zu
UCR
angenehmen Gefühlen
führt zu
CR
angenehmen Gefühlen
wird nach mehreren
Wiederholungen zu
CS
Bezugsperson
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Kapitel 6
5
Der neutrale Reiz (NS) verknüpft sich nur
dann mit dem unbedingten Reiz (UCS), wenn
beide Reize mehrmals miteinander oder in
einem zeitlich kurzen Abstand nacheinander
in der gleichen Situation auftreffen. Wir
bezeichnen diese Voraussetzung als Gesetz
der Kontiguität.
10
Das Gesetz der Kontiguität besagt, dass eine
Konditionierung erst erfolgt, wenn der neutrale und der unbedingte Reiz mehrmals miteinander bzw. zeitlich kurz nacheinander
auftreten und räumlich beieinander liegen.
15
Ein solcher Lernvorgang muss nicht unbedingt
mithilfe eines angeborenen Reiz-ReaktionsSchemas stattfinden; es ist möglich, dass er
auf eine bereits gelernte Reiz-ReaktionsVerbindung aufbaut.
So hat zum Beispiel ein Schüler in seiner
Schulzeit schon erfahren, dass das Geprüftwerden und das Benoten unangenehme
Gefühle auslösen. „Geprüftwerden“ ist also
ein bereits erlernter Reiz, der als Reaktion
„unangenehme Gefühle“ zur Folge hat. Es
ist grundsätzlich der Lehrer, der die Schüler
prüft. Die Lehrkraft, die zunächst beim Schüler zu noch keiner Reaktion führt, löst, da sie
immer dann auftritt, wenn geprüft wird, allmählich die gleiche Reaktion aus wie das
Prüfen selbst, nämlich unangenehme
Gefühle. Schon wenn man den Lehrer sieht,
können unangenehme Gefühle geweckt
werden. Die Konditionierung hat auf einen
bereits gelernten Reiz, also auf einen bedingten Reiz, aufgebaut.
NS
Lehrkraft
führt zu
keiner bestimmten Reaktion
CS1
Geprüftwerden
führt zu
CR1
unangenehmen Gefühlen
NS
+ CS1
Lehrkraft + Geprüftwerden
führt zu
CR1
unangenehmen Gefühlen
führt zu
CR2
unangenehmen Gefühlen
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nach mehreren
Wiederholungen
CS2
Lehrkraft
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Einen Lernvorgang, der mithilfe eines unbedingten Reizes (UCS) stattfindet, bezeichnet
man als Konditionierung 1. Ordnung; eine
Konditionierung, die auf einen schon gelernten, also auf einen bedingten Reiz (CS) aufbaut, nennt man Konditionierung 2. Ordnung.
Man kann beobachten, dass Kinder den gelernten Reiz zunächst auf andere Reize übertragen,
die dem gelernten Reiz ähnlich sind. Diesen
Vorgang bezeichnen wir als Reizgeneralisierung. Allmählich aber lernt das Kind je nach
seinen Erfahrungen zu unterscheiden zwischen
ähnlichen Reizen, die unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Wir sprechen hier von Reizdifferenzierung.
Wird beispielsweise ein Kind von seinem
Vater angebrüllt und geschlagen, so wird es
zunächst in Zukunft nicht nur Angst vor dem
eigenen Vater haben, sondern möglicherweise vor allen erwachsenen männlichen
Personen (= Reizgeneralisierung). Erst allmählich wird es unterscheiden zwischen
dem Vater, der brüllt und schlägt, und anderen erwachsenen Personen, die das nicht tun
(= Reizdifferenzierung).
Von Reizgeneralisierung spricht man, wenn ein
Reiz, der mit dem bedingten Reiz Ähnlichkeit
hat, ebenfalls die bedingte Reaktion auslöst,
von Reizdifferenzierung, wenn der Organismus zwischen dem bedingten und einem ihm
ähnlichen Reiz unterscheiden kann und nur
auf den bedingten Reiz eine bedingte Reaktion zeigt.
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Kapitel 6
5
Ein durch das klassische Konditionieren
gelerntes Verhalten kann wieder verlernt
werden, wenn der bedingte Reiz CS längere
Zeit ohne den unbedingten Reiz UCS auftritt.
Auf diese Weise wird aus dem gelernten Reiz
wieder ein neutraler Reiz.
Prüft der Lehrer nun längere Zeit nicht mehr,
so wird er auch im Laufe der Zeit keine
unangenehmen Gefühle mehr auslösen.
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Diesen Vorgang nennt man Löschung bzw.
Extinktion.
Von Extinktion spricht man, wenn nach einer
Konditionierung der bedingte Reiz längere
Zeit nicht mehr mit dem unbedingten Reiz
gekoppelt wird und daraufhin die bedingte
Reaktion nicht mehr erfolgt.
b) Das operante Konditionieren
Bei der operanten Konditionierung spielen
der Erfolg und die Verstärkung die entscheidende Rolle. Die wichtigsten Aussagen des
operanten Konditionierens sind:
Das Gesetz der Bereitschaft
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Gelernt wird nur, wenn im Organismus eine
Bereitschaft zum Lernen vorhanden ist. Diese
ist vorhanden, wenn ein Bedürfnis vorliegt:
wenn das Individuum einen angenehmen
Zustand herstellen bzw. aufrechterhalten
oder einen unangenehmen Zustand beseitigen, vermeiden bzw. beenden will.
Ein Kind beispielsweise hat das Bedürfnis,
von seiner Mutter Aufmerksamkeit und
Zuwendung zu bekommen; es will den angenehmen Zustand der Aufmerksamkeit erreichen bzw. den unangenehmen Zustand des
Alleinseins beseitigen.
Prinzip des Versuchs und Irrtums
Der Mensch probiert verschiedene Verhaltensweisen aus, um zum Ziel zu kommen.
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Das Kind versucht nun, mit verschiedenen
Verhaltensweisen – etwa durch Quengeln
und Schreien, durch Anstellen von etwas
Verbotenem, durch Anschmiegen an die
Mutter oder durch das Äußern seines Bedürfnisses, dass es beispielsweise mit ihr spielen
will – die Aufmerksamkeit und Zuwendung
der Mutter zu erreichen.
Das Effektgesetz
Verhaltensweisen, die zum Erfolg führen,
werden wieder gezeigt, Verhaltensweisen,
die nicht zum Erfolg führen, werden nicht
wieder gezeigt. Die Konsequenz einer Verhaltensweise bestimmt deren zukünftige Auftretenswahrscheinlichkeit.
Die Mutter reagiert nicht, wenn das Kind
quengelt oder schreit – das Kind wird diese
Verhaltensweisen nicht mehr zeigen; die
Mutter wendet sich ihm aber zu und spielt
mit ihm, wenn es sein Bedürfnis äußert – es
wird dieses Verhalten wieder zeigen.
Das Prinzip der Verstärkung
Verstärkung ist der Prozess, der dazu führt, dass
ein Verhalten häufiger gezeigt wird. Mit Prinzip der Verstärkung ist der Vorgang gemeint,
bei dem ein Verhalten, das angenehme Konsequenzen herbeiführt bzw. aufrechterhält oder
unangenehme Konsequenzen verringert, vermeidet bzw. beendet, vermehrt auftritt.
Das Kind kann durch sein Äußern den angenehmen Zustand der Aufmerksamkeit und
Zuwendung herbeiführen und den unangenehmen Zustand des Alleinseins beseitigen
– es wird deshalb zukünftig bestimmte
Bedürfnisse wieder ansprechen.
Dementsprechend kann unterschieden werden zwischen positiver und negativer Verstärkung: Positive Verstärkung ist der Prozess, der
dazu führt, dass ein Verhalten häufiger gezeigt
wird, weil durch dieses angenehme Konsequenzen herbeigeführt oder aufrechterhalten
werden können; negative Verstärkung ist der
Prozess, der dazu führt, dass ein Verhalten
häufiger gezeigt wird, weil durch dieses unangenehme Konsequenzen verringert, vermieden oder beendet werden können.
Bei dem Herbeiführen des angenehmen
Zustands der Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Äußern des Bedürfnisses
handelt es sich um eine positive Verstärkung, bei der Beseitigung des unangenehmen Zustand des Alleinseins um eine
negative Verstärkung.
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Kapitel 6
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Der Prozess der Verstärkung benötigt
bestimmte Reize, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöhen. Solche Konsequenzen eines Verhaltens, die dazu
führen, dass dieses Verhalten wieder gezeigt
wird, bezeichnet man als Verstärker. Verstärker sind somit nur ein Element im Gesamtprozess der Verstärkung, an dessen Anfang ein
Verhalten steht.
Im obigen Beispiel sind die Verstärker, die
das Verhalten „Sich-Äußern” vermehrt auftreten lassen, die Zuwendung, das Schenken
von Aufmerksamkeit und das Alleinsein.
10
haltens erhöhen, weil durch sie ein unangenehmer Zustand vermieden, verringert oder
beendet werden kann.
Die Zuwendung und das Schenken von Aufmerksamkeit sind positive Verstärker, da
durch das Äußern des Bedürfnisses ein angenehmer Zustand herbeigeführt werden kann
und so das Sich-Äußern wieder gezeigt wird;
bei dem Alleinsein handelt es sich um einen
negativen Verstärker, da es durch das
Äußern diesen unangenehmen Zustand
beseitigen kann.
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Das Frequenzgesetz
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Entsprechend der positiven und negativen
Verstärkung kann unterschieden werden zwischen positiven und negativen Verstärkern:
Positive Verstärker sind alle Verhaltenskonsequenzen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöhen, weil durch sie
ein angenehmer Zustand herbeigeführt oder
aufrechterhalten werden kann; negative Verstärker sind alle Verhaltenskonsequenzen, die
die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Ver-
Eine zum Erfolg führende Verhaltensweise
kann nur durch mehrere Wiederholungen
(= Übung) aufgebaut und erhalten werden,
durch mangelnde Wiederholung (= Nichtübung) wird sie abgebaut und verlernt.
Effektgesetz und Frequenzgesetz sind nicht
unabhängig voneinander: Weder Erfolg ohne
Übung noch Übung ohne Erfolg führen zu
einem dauerhaften Lernergebnis.
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Quelle: eigener Text
4. Die Grundaussagen der sozial-kognitiven Theorie
Albert Bandura1 hat die Tatsache, dass Menschen von anderen durch Beobachtung lernen, systematisch erforscht. Die wichtigsten
Aussagen der sozial-kognitiven Theorie sind:
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Phasen und Prozesse des Modelllernens
Der Vorgang des Modelllernens besteht aus
der Phase der Aneignung und der Ausführung.
Die Aneignungsphase beinhaltet die Aufmerksamkeits- und die Gedächtnisprozesse, die
Ausführungsphase die motorischen Reproduktions- sowie die Motivations- und Verstärkungsprozesse.
– Aufmerksamkeitsprozesse
Aus der Vielzahl von Informationen, die
das Verhalten eines Vorbilds enthält, wählt
der Lernende die für ihn wichtigen Bestandteile aus und beobachtet sie exakt. Ob ein
Modell viel oder wenig Aufmerksamkeit
1
bekommt, hängt unter anderem ab von
den Persönlichkeitsmerkmalen des Modells
und des Beobachters, von der Art der
Beziehung zwischen Modell und Beobachter sowie von den Situationsbedingungen.
– Gedächtnisprozesse
Ein Beobachter speichert das Gesehene
mithilfe seines Gedächtnisses so lange, bis
er sich einen Nutzen vom Zeigen der erlernten Verhaltensweise verspricht. Das Beobachtete wird in Form von bildlichen oder
sprachlichen Symbolen im Gehirn gespeichert und ist somit vorstellungsmäßig dort
vorhanden (= repräsentiert).
– Motorische Reproduktionsprozesse
Damit ein beobachtetes Verhalten gezeigt
werden kann, bedarf es eines Umsetzens
des Gespeicherten in angemessene Handlungen und Verhaltensweisen. Hierbei
Albert Bandura (*1925) erforschte zunächst unter anderem mögliche Ursachen von Aggression,
was ihn auf die zentrale Bedeutung des Lernens am Modell brachte. Er entwickelte zusammen mit
Walter Mischel eine eigene Theorie des Nachahmungslernens, die er sozial-kognitive Theorie
nannte.
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Kapitel 6
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werden aus einer Vielzahl der im Gedächtnis gespeicherten Kodierungen solche ausgewählt und organisiert, die für das
beabsichtigte Verhalten relevant sind. Häufig muss der Betrachter seine motorischen
Fähigkeiten erst üben, korrigieren und
wiederholen, bis sich ein Erfolg einstellt.
Beim Üben und Korrigieren vergleicht der
Lernende immer wieder die Ergebnisse seiner Handlungen und Verhaltensweisen mit
den gespeicherten Kodierungen.
– Motivations- und Verstärkungsprozesse
Ob ein Mensch ein bestimmtes Verhalten
überhaupt beachtet, um es zu lernen,
hängt von seiner Motivation ab. Nur wer
sich vom Beachten und Durchführen einer
Verhaltensweise einen Erfolg bzw. Vorteil
verspricht oder einen Misserfolg bzw.
Nachteil abzuwenden glaubt, wird entsprechende Aktivitäten entfalten. Motivation ist daher eng mit der Aussicht auf
Bekräftigung verbunden.
Bedingungen der Aufmerksamkeit
Ob ein Modell viel oder wenig Aufmerksamkeit bekommt, hängt unter anderem von folgenden Faktoren ab:
– Persönlichkeitsmerkmale des Modells
Besonders beobachtet werden Menschen,
die soziale Macht besitzen, also belohnen
und bestrafen können, Menschen, die ein
hohes Ansehen genießen sowie sympathisch und attraktiv sind (die Attraktivität
kann zum Beispiel im Geschlecht, im Alter
oder in der Herkunft begründet liegen),
und Menschen, die die Bedürfnisse des Lernenden zufriedenstellen können.
– Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters
Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters,
wie fehlendes Selbstvertrauen und geringe
Selbstachtung, begünstigen die Aufmerksamkeit einem Modell gegenüber. Zudem
steuern eine Reihe von Faktoren die menschliche Wahrnehmung, wie zum Beispiel die
Erfahrungen, die der Beobachter gemacht
hat, seine Interessen und Wertvorstellungen, seine Bedürfnisse und Triebe, Gefühle
und Stimmungen.
– Beziehungen
zwischen
Modell
und
Beobachter
Verständnis und Wertschätzung und eine
positive emotionale Beziehung sowie Abhängigkeit des Beobachters vom Modell begünstigen die Nachahmungsbereitschaft. Zudem
wirkt sich auch die Häufigkeit einer Beobachtung auf den Lernenden aus.
– Gegebene Situationsbedingungen
Die emotionalen Befindlichkeiten eines
Beobachters wirken sich auf die Wahrnehmung aus: Befindet er sich in einem mittleren Erregungszustand, so beeinflusst dies
seine Wahrnehmungsleistungen positiv.
Fühlen sich Menschen von einer Situation
bedroht, haben sie Schwierigkeiten, ihre
Aufmerksamkeit auf die wichtigen Aspekte
zu konzentrieren. Erzeugt das gesehene
Verhalten Angst, so wenden sie sich sogar
davon ab. Die Aufmerksamkeit wird auch
erhöht, wenn sich der Beobachter Vorteile
von der Nachahmung verspricht und er
bereits nützliche Erfahrungen mit dem
Modelllernen gemacht hat.
Bedingungen der Motivation
Auch für die sozial-kognitive Theorie gilt der
Grundsatz, dass die Konsequenzen von Handlungen, die sowohl das Modell als auch der
Beobachter selbst erfahren kann, mit bestimmen, ob ein beobachtetes Verhalten gezeigt
wird oder nicht. Bekräftigungen fördern zwar
das Lernen am Modell, aber sie sind keine
notwendigen Bedingungen dafür. Bandura
unterscheidet vier Arten von Bekräftigungen:
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– Erfährt ein Mensch die angenehmen Folgen eines Verhaltens oder vermeidet unangenehme, so handelt es sich um eine
externe Bekräftigung.
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– Häufig beobachten Menschen andere Personen, die für ein bestimmtes Verhalten
angenehme Konsequenzen – zum Beispiel
Belohnungen – erfahren. Dies nennt man
stellvertretende Bekräftigung.
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– Manchmal belohnen Menschen sich selbst
nach erfolgreichem Verhalten. Ein solcher
Vorgang wird als direkte Selbstbekräftigung bezeichnet.
Kapitel 6
– Eine stellvertretende Selbstbekräftigung
liegt vor, wenn der Beobachter sieht, dass
sich das Modell selbst für ein Verhalten
belohnt.
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Doch es sind vor allem die Erwartungshaltungen, die einen Menschen motivieren, ein
bestimmtes Verhalten zu zeigen oder nicht.
– Ergebniserwartung: Darunter werden all
jene Konsequenzen verstanden, die sich
eine Person vom Nachahmen einer Verhaltensweise verspricht.
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– Kompetenzerwartung meint die von einem
Beobachter vorgenommene subjektive Einschätzung eigener Fähigkeiten, die er zum
Nachahmen eines Verhaltens benötigt.
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– Aussicht auf Selbstbekräftigung meint die
Erwartung einer günstigen Selbstbewertung bei Zeigen eines nachzuahmenden
Verhaltens, die zu Zufriedenheit, Wohlbefinden und Selbstbelohnung führt.
Effekte des Modelllernens
Sowohl natürliche als auch symbolische
Modelle können eine Reihe von Effekten
bewirken:
Beobachten einer
Verhaltensweise
– Modellierender Effekt
An Vorbildern lernen Menschen neue, ihnen
bisher nicht bekannte Verhaltensweisen
sowie Einstellungen gegenüber Personen,
Objekten und Sachverhalten, Vorurteile,
Verhaltensvorschriften, Gefühle, Bedürfnisse und vieles andere mehr.
– Enthemmende und hemmende Effekte
Bereits erlerntes Verhalten kann durch
wahrgenommene Konsequenzen beeinflusst werden. Sehen Menschen, wie ein
bestimmtes Verhalten anderer keine negativen Folgen oder sogar Belohnung nach
sich zieht, so kann dies ihre bisherige
Hemmschwelle, ein ähnliches Verhalten an
den Tag zu legen, entscheidend herabsetzen. Hemmende Effekte entstehen in Fällen, in denen das Modellverhalten negative
Konsequenzen nach sich zieht. Dabei sinkt
die Bereitschaft, dem Vorbild nachzueifern.
– Auslösender Effekt
Das Verhalten eines Modells veranlasst
andere Menschen, es unmittelbar nachzuahmen.
Aneignung
Ausführung
Aufmerksamkeits- und
Gedächtnisprozesse
motorische Reproduktions-, Motivations- und
Verstärkungsprozesse
– Persönlichkeitsmerkmale des
Modells
– Persönlichkeitsmerkmale des
Beobachters
– Art der Beziehung zwischen
Modell und Beobachter
– Situationsbedingungen
Zeigen der
Verhaltensweise
– Bekräftigung:
externe Bekräftigung
stellvertretende Bekräftigung
direkte Selbstbekräftigung
stellvertretende Selbstbekräftigung
– Erwartungshaltungen:
Ergebniserwartungen
Kompetenzerwartungen
Aussicht auf Selbstbekräftigung
Quelle: eigener Text
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Kapitel 7
Materialien Kapitel 7
1. Bewegung macht schlau
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Immer mehr Forschungsbefunde bestätigen:
Bewegung bringt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist in Schwung. Fitnessübungen verbessern Konzentration, Lernen und
Gedächtnis. Das Gehirn ist trainierbar wie ein
Muskel.
Schon eine tägliche Stunde Sport könnte
womöglich vielen Schülerinnen und Schülern
das Leben leichter machen. Bewegung, so
zeichnet sich immer deutlicher ab, fördert
kognitive Leistungen. Kurzfristig verbessert
sich zum Beispiel die Konzentration. Doch
Bewegung scheint auch überdauernde Effekte
auf das Gehirn zu haben. (...)
Neurobiologisch bedeutet Lernen eine Änderung der Funktionsabläufe im Gehirn. Solche
Veränderungen vollziehen sich permanent.
Sowohl beim Einprägen als auch beim Abrufen
von Lerninhalten schalten sich sehr viele Neuronen1 ein, die im Gehirn mitunter weit verstreut
liegen können. Es gilt als erwiesen, dass die
Gedächtnisleistung steigt, je breiter eine Information im Gehirn verarbeitet wird. Besser wird
die Leistung demnach, wenn verschiedene
Gehirnareale zusammenarbeiten, darunter
auch motorische und sensorische – eine Erkenntnis, die man sich unter anderem in der „Erlebnispädagogik“ zunutze macht. (...)
„Wir nehmen an, dass körperliche Aktivität
einen starken Regulator in der gesamten
Gehirnphysiologie darstellt“, sagt Hollmann2.
Sie scheint die Bildung neuer Nervenzellen
sowie die Verstärkung und Neubildung von
Synapsen3 hervorzurufen. Das gilt für (...) dynamische Ausdauerbelastung, bei Kindern allerdings eher für koordinative Übungen. (…)
Im Verhaltensexperiment hat Hollmanns
Team die kognitive Leistung älterer Versuchspersonen getestet. Nach 20 Wochen mit 30 bis
60 Minuten Walking, dreimal pro Woche, konnten sich die Teilnehmer Wortpaare wesentlich
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besser merken als davor. Die Schlussfolgerung
des Wissenschaftlers: Sport sei nicht nur zur
Krankheitsvorbeugung und Stabilisierung von
Stoffwechsel, Herz- und Lungenfunktion zu
empfehlen, sondern auch zur Leistungssteigerung des Gehirns. „Motorische Funktionen“,
sagt Hollmann, „sind mit planvollem Handeln
gekoppelt.“ Das sei wohl ein Erbe der Evolution: Wer Beute fangen will, braucht nicht nur
Muskeln, sondern auch Grips.
Beim kindlichen Lernen scheinen vor allem
koordinierte Bewegungen die Hirnentwicklung positiv zu beeinflussen. „Grundsätzlich
ist Bewegung bei Kindern eine unerlässliche
Form der Erkenntnisgewinnung über die
Umwelt. Schaukeln, drehen, Schwung holen,
das Gleichgewicht halten, das alles muss
durch Ausprobieren gelernt werden“, sagt
Renate Zimmer, Professorin für Sportpädagogik an der Universität Osnabrück. Ein Jahr
lang förderte sie eine Kindergartengruppe
mit einem täglichen Bewegungsprogramm.
Diese Kinder erzielten in den Intelligenztests
bessere Ergebnisse als die Kontrollgruppe.
Zimmer nimmt an, dass ein Bewegungs- und
Koordinationstraining in jungen Jahren dazu
beiträgt, dass die anfangs noch relativ wahllos verschalteten Synapsen im Gehirn sich
gezielter und umweltangepasst vernetzen.
Gertraud Teuchert-Noodt, Professorin für
Neuroanatomie in Bielefeld, weist darauf hin,
dass solche Vernetzungen nicht unwiderruflich sind und sich das Gehirn im Prinzip in
jedem Lebensalter reorganisieren könne.
Allerdings gebe es in der Kindheit für
bestimmte Fertigkeiten kritische Phasen, in
denen das Nervensystem besonders empfindlich auf Umwelteinflüsse reagierte und seine
Verknüpfungsstrukturen stark veränderte.
Quelle: Kühner/Vaaler, 2004, S. 34 ff., gekürzt
neuron (griech.): Nerv, Sehne
Prof. Dr. Dr. Wildor Hollmann ist Internist, Kardiologe und Biochemiker an der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Synapsen (griech. synapsis: Verbindung) bezeichnen die Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen bei der Informationsübertragung.
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Kapitel 7
2. Übersicht über die Entwicklung der Motorik (Richtwerte)
nach der Geburt:
–
–
–
–
–
dreht in Bauchlage von allein Kopf zur Seite (Halsmuskeln reifen zuerst)
bewegt in Rückenlage Arme und Beine gleichmäßig
„schreitet“, wenn Füße auf den Boden gestellt werden (Schreitreflex)
Hände und Füße greifen bei Berührung (Greifreflex, Palmarreflex)
Arme und Beine sind angezogen, Hände und Füße geballt, da die Beugemuskeln besser gereift sind als die
Streckmuskeln
bis Ende des 1. Monats:
– hebt den Kopf in Bauchlage kurz
– kann Kopf für einen Moment aufrecht halten
– führt ergriffenen Finger sofort zum Mund
bis Ende des 2. Monats:
–
–
–
–
Kopf kann bis ca. fünf Sekunden aufrecht gehalten werden
hebt Kopf in Bauchlage um ca. 45 Grad und hält ihn ca. 10 Sekunden
zieht Knie nicht mehr an Bauch
streckt sich mehr
bis Ende des 3. Monats:
–
–
–
–
–
stützt sich in Bauchlage auf Unterarme
hebt Kinn und Schultern von der Unterlage ab
hält Kopf in Bauchlage ca. eine Minute
hält Kopf sitzend ca. eine halbe Minute – rollt sich allein von Seite auf Rücken
kann besser greifen
bis Ende des 4. Monats:
–
–
–
–
stützt sich in Bauchlage sicher auf Unterarme
zieht den Kopf mit hoch, wenn es an den Händen zum Sitzen hochgezogen wird
kann sich zur Seite drehen
greift nach Gegenständen, die es sieht
bis Ende des 5. Monats:
– versucht, sich auf die Beine zu stellen, wenn es zum Sitzen hochgezogen wird, und stemmt sich mit den
Zehen gegen die Unterlage
– es „schwimmt“ in der Bauchlage
– es stemmt sich mit den Zehen gegen die Unterlage, wenn es hingestellt wird
– greift gezielter nach Spielsachen
– steckt alles in den Mund
bis Ende des 6. Monats:
–
–
–
–
–
–
„Sphinxstellung”: stützt sich in der Bauchlage mit gestreckten Armen ab
rollt sich in der Rückenlage von einer Seite auf die andere
bringt den Kopf sofort hoch und hebt die Beine an, wenn es an den Händen hochgezogen wird
stützt sich im Sitzen mit den Armen seitlich ab, hält Balance
ergreift mit den Händen die eigenen Füße und steckt sie in den Mund
hält das Fläschchen selbst
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Kapitel 7
bis Ende des 7. Monats:
–
–
–
–
dreht sich vom Rücken auf den Bauch
kann mit einer Hand nach Spielzeug greifen und sich gleichzeitig mit der anderen Hand abstützen
kann angelehnt allein sitzen
beugt die Knie und stößt sich ab, sobald es hingestellt wird
bis Ende des 8. Monats:
– „Vierfüßlerstand“: stützt sich in Bauchlage mit gestreckten Armen ab und hebt das Gesäß leicht an
– beginnt zu „robben”
– zieht sich zum Knien hoch
bis Ende des 9. Monats:
–
–
–
–
kann frei sitzen und sich nach vorne beugen, ohne umzufallen
ergreift Gegenstände mit Daumen und Zeigefinger im „Scherengriff“
steht, an den Händen gehalten, ca. eine halbe Minute
hält die Tasse selbst
bis Ende des 10. Monats:
–
–
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–
–
setzt sich aus der Bauchlage allein auf
setzt sich aus der Rückenlage auf, wenn es sich irgendwo festhalten kann
zieht sich vom Sitzen zum Stehen hoch
kann kurzzeitig stehen, wenn es sich festhält
beginnt zu krabbeln
greift im „Pinzettengriff”
bis Ende des 11. Monats:
– krabbelt gut
– zieht sich an Möbeln hoch
– macht mit Hilfestellung die ersten Schritte
bis Ende des 12. Monats:
– läuft mit Hilfestellung
– versucht die ersten freien Schritte, ohne sich festzuhalten
– hält sich mit einer Hand im Stehen fest und hebt mit der anderen Gegenstände auf
bis Ende des 15. Monats:
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–
kann frei stehen
kann ohne Hilfe gehen
fängt an Ball zu rollen
beginnt Würfel aufeinanderzusetzen
bis Ende des 18. Monats:
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–
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–
steigt Treppen, wenn es sich festhalten kann
setzt sich hin
hüpft mit beiden Beinen
bückt sich, ohne umzufallen
klettert
zieht beim Gehen einen Gegenstand hinter sich her oder schiebt etwas
geht rückwärts
baut Türme
trinkt aus der Tasse
isst mit dem Löffel
Kapitel 7
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bis Ende des 2. Lebensjahres:
– steigt Treppen, auch ohne sich festzuhalten, zieht jedoch noch ein Bein nach
– kann einen Gegenstand mit dem Fuß anstoßen, ohne umzufallen
– kann rasch laufen, hüpfen und sich drehen
zwischen 3 und 4 Jahren:
–
–
–
–
–
kann Treppensteigen ohne Festhalten und ohne Beinnachziehen
kann auf Zehenspitzen gehen
kann Bewegungen abrupt beenden, ohne umzufallen
kann um die Ecke biegen, ohne vorher anhalten zu müssen
kann Dreirad fahren
5 bis 6 Jahre:
–
–
–
–
kann auf einem Bein stehen und hüpfen
kann Fahrrad fahren
kann Purzelbäume schlagen und einen Kopfstand machen
kann schreiben lernen, da nun die Muskeln des Handgelenkes soweit gereift sind, dass das Kind derartige
feinmotorische Leistungen erbringen kann
Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2004; Schenk-Danzinger, 20062, S. 107 ff.
3. Frühförderung – wie, wann und warum?
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Das Zauberwort seit PISA heißt „Frühförderung“. Doch ist zweifelhaft, ob sich mit
abstrakten Denkspielen die kindliche Gehirnentwicklung stimulieren lässt. Als vielversprechender hat sich erwiesen, Kinder schon in
frühem Alter gezielt mit dem Lehrstoff der
Schule vertraut zu machen – denn nicht Intelligenz, sondern Wissen ist der Schlüssel zum
Können. (...)
Wir müssen eine anspruchsvollere Vor- und
Grundschulerziehung etablieren, weil in dieser
Zeit mit dem Aufbau von Wissen begonnen
werden muss. Der Aufbau einer intelligenten
Wissensbasis benötigt Zeit, weil eben intelligentes Wissen nicht einfach aufgesogen
werden kann, sondern in einem mühsamen
Prozess der inneren Umstrukturierung entsteht.1
Ein Grund, früh damit anzufangen, besteht
darin, die mit dem Lernen einhergehende
„Automatisierung“ von Wissen besser und
sinnvoller auszuschöpfen. Dass wir in Sekundenschnelle das Wort „Mississippidampfschifffahrtsgesellschaftskapitän“ lesen können,
verdanken wir der hochgradigen Automatisierung des Erkennens von Buchstaben sowie
1
vgl. Kapitel 4.4.3
dem Wissen darüber, welche Buchstabengruppen welchen Silben zugeordnet sind. (...)
Die PISA-Studie zeigte, dass hier das Problem
für viele Hauptschüler liegt: Der Leseprozess
ist so wenig automatisiert, dass die gesamte
Aufmerksamkeit absorbiert wird und für das
Stiften von Sinnzusammenhängen nichts übrig
bleibt.
Automatisierung wird in allen Bereichen
gefordert. Das Beherrschen des Einmaleins
gehört ebenso dazu wie das Erkennen von
Schaubildern oder das Vokabellernen in der
Fremdsprache. Automatisierung ist die Folge
von Übung in Teilschritten. Ein kapitaler Fehler der Bildungsreform der 1960er- und
1970er-Jahre bestand in der geringen Bedeutung, die dem Üben beigemessen wurde. Man
solle Dinge verstehen und nicht auswendig
lernen, hieß es. Damit wurden künstliche
Widersprüche aufgebaut. Tatsächlich ist automatisiertes Wissen die Voraussetzung für
Verstehensprozesse, eben weil man für Verstehensprozesse freie Kapazitäten (des Arbeitsspeichers im Gehirn) braucht. (...)
Aber Automatisierung braucht Zeit. Je früher
bestimmte Teilschritte automatisiert werden,
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Kapitel 7
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umso eher kann man sich auf Sinnstiftung
konzentrieren.
Ein Beispiel: Wir wissen inzwischen, dass die
Voraussetzung für einen unproblematischen
Schriftspracherwerb die sogenannte phonologische1 Bewusstheit ist. Darunter versteht
man die Fähigkeit, die lautlichen Merkmale
einer Sprache zu erkennen. Dies drückt sich in
der Fähigkeit aus, im Rhythmus der Silben zu
klatschen oder Reime zu erkennen. Phonologische Bewusstheit ist Voraussetzung für eine
Automatisierung des Lesens.
Mithilfe von Sprachspielen (...) lässt sich die
phonologische Bewusstheit bereits im
1
phone (griech.): der Laut, der Ton, die Stimme
Kindergarten trainieren. Kinder, die dieses
Training durchlaufen haben, lernen in der
Grundschule sehr viel unproblematischer
Lesen und Schreiben.
In den nächsten Jahren müssen Wissenschaftler und Lehrer enger zusammenarbeiten, um gemeinsam den langfristigen Aufbau
einer intelligenten Wissensbasis in unterschiedlichen Fächern zu planen. Welche Übungen in
Vor- und Grundschule den späteren Unterricht am besten unterstützen, muss in langfristig angelegten empirischen Studien untersucht
werden.
Quelle: Stern, 2007, S. 20 ff., gekürzt
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Kapitel 7
4. Übersicht über mögliche Entwicklungsstörungen
Entwicklungsbereich
Störungsart
Symptome
Entwicklungsstörungen der
motorischen Funktionen
• körperliche Ungeschicklichkeit
(fein- und grobmotorisch)
• fehlende Raumorientierung
• Rechts-links-Problematik
Schwierigkeiten beim Laufen, Hüpfen,
GIeichgewicht, Stifthalten, Ausschneiden
usw.
ungebremste, überschießende,
ungeschickte Bewegungen
EntwickIungsstörungen
der geistigen Entwicklung
• Lernstörungen
• Lernbehinderungen
• geistige Behinderung
Schwierigkeiten beim Denken, Merken,
Erfassen, Verstehen und Konzentrieren
Entwicklungsstörungen
schulischer Fertigkeiten (bei
gutem Intelligenzpotenzial)
• Lese-Rechtschreib-Schwäche
(Legasthenie)
• Rechenstörung (Dyskalkulie,
Zahlen-Mischmasch)
• fein- und/oder grobmotorische
Koordinationsstörungen
Beeinträchtigung beim Erlernen des
Lesens, Rechtschreibens und Rechnens
Schwierigkeiten in der Informationsverarbeitung
Entwicklungsstörungen der
Sinneswahrnehmung
• ungebremste Aufnahme von
Sinnesreizen (Wahrnehmungsstörungen)
• Sinnesstörungen
mit geschlossenen Augen Dinge nicht
ertasten können; Töne nicht erkennen;
oftmals zwischen verschiedenen
Tätigkeiten wechseln; leichte Ablenkbarkeit über Sinne unzureichend/kaum
wahrnehmen
Entwicklungsstörungen
des Sprechens und der
Sprache
• Sprechstörungen (Artikulationsstörungen, Störungen des Redeflusses)
• Sprachstörungen (Störungen des
sprachlichen Ausdrucks, des
Wortschatzes, des Sprachaufbaus)
• geringe Kurzzeitgedächtniskapazität
• langsame Informationsverarbeitung
• erworbene Aphasie (Sprachverlust
infolge einer Erkrankung)
Schwierigkeiten im Sprachverständnis, in
der Fähigkeit, sich verständlich zu
machen; mit 2 Jahren keine ersten Worte;
mit 3 Jahren keine 2-Wort-Sätze; geringer
aktiver Wortschatz; das Kind spricht z. B.
unvollständige Sätze, kann Geschichten
schlecht nacherzählen
Ein Kind mit zuvor normaler Sprachentwicklung verliert aktive und passive
Sprachfertigkeiten.
Störungen der sozialen
Entwicklung
• Normverletzungen
• Mutismus (psychisch bedingtes
Schweigen)
• Bindungsstörung mit Enthemmung
Schwierigkeiten, sich in eine Gruppe zu
integrieren, Regeln einzuhalten
Das Kind isoliert sich selbst, meidet den
Umgang mit anderen Menschen oder
zeigt Distanzlosigkeit.
Distanzlosigkeit, Fremde wie Vertraute
behandeln, sich an Fremde anklammern
Störungen der emotionalen
Entwicklung
•
•
•
•
•
Das Kind kann schlecht Gefühle
ausdrücken und damit umgehen, reagiert
schnell aggressiv oder übermäßig still
und zurückgezogen.
Autoaggressionen (Selbstverletzung)
Angst
Überempfindlichkeit
hyperkinetische Störungen
Einnässen und Einkoten
Quelle: Neumann u. a., 2008, S. 178
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Kapitel 8
Materialien Kapitel 8
1. Wehrlose Wesen
a)
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Der Contergan-Skandal
Das Mittel versprach werdenden Müttern
eine ruhige Nacht und wurde als garantiert
ungiftig angepriesen. In aufwendig hergestellten Broschüren warb der Pharmahersteller Grünenthal Ende der Fünfzigerjahre [des
letzten Jahrhunderts] für sein Schlafmittel
Contergan – dessen Name heute mit einem
der größten Medizinskandale des Jahrhunderts verbunden ist. Bis das Medikament 1961
schließlich vom Markt genommen wurde,
kamen in Deutschland schätzungsweise 5 000
schwer missgebildete Kinder zur Welt.
Als Folge des Skandals hat die Bundesrepublik
heute eines der strengsten Arzneimittelgesetze der Welt. Contergan wurde ab Oktober
1957 verkauft; die 30er-Packung kostete 3,90
Mark. Das Mittel mit dem Wirkstoff Thalidomid wurde rezeptfrei abgegeben, und gerade
deshalb glaubten viele Frauen, es sei harmlos.
Bereits Anfang 1960 fiel Ärzten auf, dass
immer häufiger Kinder mit missgebildeten
inneren Organen sowie Gliedmaßen geboren
wurden. Die betroffenen Eltern wurden
befragt, Tests wurden unternommen, und
langsam kristallisierte sich ein Zusammenhang zwischen der Contergan-Einnahme – vor
allem in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft – und der Behinderung der Kinder
heraus. Aber erst im November 1961 nahm
Grünenthal das Medikament unter öffentlichem Druck vom Markt.
Contergan war kaum getestet worden –
damals gab es in Deutschland noch kein
Arzneimittelgesetz. Später fanden Wissenschaftler heraus, das Thalidomid zu Missbildungen beim Fötus führt und außerdem
schwerste Nervenschädigungen verursachen
kann. Margit Hudelmeyer vom Bundesverband für Contergan-Geschädigte schätzt,
dass in Deutschland etwa 5 000 missgebildete Kinder geboren wurden. Aber die Dunkelziffer sei hoch: Zahlreiche Neugeborene
seien kurz nach der Geburt gestorben, ohne
dass ihre Todesursache registriert worden
sei. Heute leben in der Bundesrepublik noch
etwa 2 600 Contergan-„Kinder“ – die inzwischen erwachsen sind und größtenteils
eigene Familien haben. Ihre Behinderungen
sind äußerst unterschiedlich: Sie sind blind
oder taub, Arme oder Beine sind missgebildet, bei einigen sind innere Organe nicht
komplett ausgebildet.
Etwa 90 Prozent von ihnen, so schätzt Hudelmeyer, sind in einem der Landesverbände für
Contergan-Geschädigte organisiert. Diese
bieten nicht nur Hilfe bei Rechts- und Verwaltungsfragen, sondern auch bei ganz
praktischen Problemen: Sie informieren zum
Beispiel über Anbieter behindertengerechter
Autos sowie über Computersysteme. Gegen
den Contergan-Hersteller Grünenthal wurde
Ende 1961 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Als im April 1967 endlich Anklage
gegen mehrere Verantwortliche des Unternehmens erhoben wurde, waren die geschädigten Kinder bereits zwischen fünf und
neun Jahre alt. Der Prozess zählt zu einem
der längsten Verfahren Europas. Die Anklageschrift umfasste knapp 1 000 Seiten, mehr
als 1 200 Zeugen wurden vernommen. Im
Dezember 1970 endete der Prozess überraschend mit einem Vergleich. Das Verfahren
gegen die Grünenthal-Angestellten wurde
eingestellt, weil sich – so die damalige
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Kapitel 8
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Begründung – persönliches Verschulden nicht
nachweisen lasse. Damals allerdings spekulierten Beobachter, dass die juristische Entscheidung eher politische Gründe habe: Denn
eigentlich hätte auf die Anklagebank auch die
staatlichen Aufsichtsbehörden gehört, die bei
der Zulassung und Überwachung des Schlafmittels eine klägliche Rolle spielten. Grünenthal verpflichtete sich, gut 100 Millionen Mark
zur Entschädigung der Contergan-Opfer
bereitzustellen. Diese Zahlung löste sämtliche
Ansprüche ab. Die Betroffenen wurden untersucht, der Schädigungsgrad wurde nach
einem Punktesystem bewertet, und danach
setzte man die Rente fest. Nach Angaben des
Hilfswerks für behinderte Kinder – eine vom
Staat eingerichtete Stiftung, die das Grünenthal-Geld sowie die staatlichen Zuschüsse verwaltet – erhielten die geschädigten Kinder
eine einmalige Zahlung zwischen 5 000 und
25 000 Mark. Außerdem bekommen sie eine
monatliche Rente auf Lebenszeit zwischen
400 und 1 000 Mark. „Ich fühle mich nicht
unglücklich“, sagt Margit Hudelmeyer, die
ohne Arme geboren wurde. „Aber in Situationen, in denen ich an meine Grenzen stoße,
ärgere ich mich schon über die Behinderung.“
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Quelle: Gabriel, in: Main-Post, 08.12.1999
b)
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Schadstoffe und deren Wirkung auf Ungeborene
Wehrlose Wesen
Ausgewählte Schadstoffe und deren mögliche
Wirkung auf Ungeborene und Kleinkinder
Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)
– enthalten u. a. in Pkw- und Kraftwerksabgasen und Zigarettenrauch
35
– Aufnahme durch Einatmen; Beeinträchtigung der geistigen und motorischen Entwicklung, Entstehung von Asthma
Flammschutzmittel
– Brandhemmer, z. B. in elektronischen Geräten
40
– Aufnahme durch Einatmen, Verschlucken
oder Hautkontakt; Störung der geistigen
Entwicklung
Phenole (z. B. Bisphenol A)
– Verwendung u. a. bei der Kunststoffherstellung
– Aufnahme u. a. durch Hautkontakt; Schädigung vor allem der Haut, der Schleimhäute
und Augen; Hormonstörungen und Stoffwechselerkrankungen
Phthalate (z. B. Phthalsäureester)
– Kunststoffherstellung (Weichmacher)
– Aufnahme u. a. durch Lebensmittel mit Kunststoffverpackung; allergische Reaktionen, Nervenschädigung, Hormonstörungen
Quelle: Shafy, 2010, S. 160
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Kapitel 8
2. Kritische Phasen1 in der vorgeburtlichen Entwicklung
Quelle: Mietzel, 200613, S. 69
3. Geschlechtsspezifische Muster der Lebensführung
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Die Shell Jugendstudie 2002 zeichnete eine
starke Generation junger Frauen. Wurden bis
dahin junge Männer insgesamt als konkurrenzorientierter und durchsetzungsstärker
beschrieben, waren es nach den Ergebnissen
der letzten Studie die jungen Frauen, die mindestens ebenso starken schulischen und beruflichen Ehrgeiz zeigten und durch erhöhten
Einsatz auf größer werdende Anforderungen
auf dem Arbeitsmarkt reagierten.
Diese Entwicklung zur „Umkehrung“ des traditionellen Geschlechterverhältnisses in den
Leistungsbilanzen wird auch in anderen Ländern beobachtet. Sowohl in den alten als
auch in den neuen EU-Ländern sind es inzwischen mehr junge Frauen, die einen hochwertigen schulischen und oft schon einen besseren
universitären Abschluss vorweisen können als
ihre gleichaltrigen männlichen Geschlechtsgenossen (...). Allerdings schlagen sich der
hohe Ausbildungsgrad und die beträchtliche
1
Leistungsbereitschaft der jungen Frauen bislang nicht gleichermaßen in ihrem beruflichen Erfolg nieder.
Die traditionelle Hausfrauenrolle wird von
Mädchen zunehmend abgelehnt. Sie stellen
heute oft ausgesprochen hohe Anforderungen an sich selbst: Sie wollen gut aussehen,
aktiv sein, Freunde und einen Partner haben,
gebildet sein, einen interessanten Beruf ergreifen, ein sicheres Zuhause haben, in einer
harmonischen Beziehung leben und einmal
Kinder bekommen. Fast alle sind daran interessiert, Karriere mit Familie zu verbinden. Für
die jungen Männer bleibt hingegen nach wie
vor insbesondere bei der Kindererziehung die
traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter
ein zentraler Orientierungspunkt. Neuere
Erhebungen lassen vermuten, dass der Drang
junger Frauen, auch als Mütter ihre beruflichen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren,
weiter steigt (...), und die jungen Frauen
Der Begriff „kritische Phase“ ist in Kapitel 6.2.5 geklärt.
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Kapitel 8
innovative Strategien entwickeln, wie sie Partnerschaft und Mobilität, Kinder und Karriere
unter einen Hut bringen können.
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Verunsicherte Jungen – selbstbewusste Mädchen?
Die jungen Männer bleiben mehrheitlich dem
traditionellen Männer- und Frauenbild verhaftet (...). Von vielen Jungen wird nach wie
vor die Vorstellung vertreten, dass sich die
Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert und der Mann um die Ernährerrolle.
Offensichtlich wird die ehrgeizige Generation
junger Frauen von einem Teil der jungen
Männer als ernsthafte Gefährdung ihres
Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen, wogegen sie sich mit Zuflucht in alte
Muster mental „wehren“ wollen.
Junge Frauen sind heute eine durchsetzungswillige und leistungsstarke Generation, die
Gleichberechtigung fordert und sich – ganz
pragmatisch – nicht mehr in lange Grundsatzdebatten verstrickt. Dass in letzter Zeit immer
öfter Actionheldinnen wie Lara Croft, Catwoman oder Charlie‘s Angels auf den Leinwänden der großen Kinos die Welt retten, ist ein
weiterer Hinweis auf den Anspruch dieser
neuen Generation von Frauen, sich weder mit
den Zuschauerplätzen noch mit der Rolle der
romantischen Heldin zufriedenzugeben. Es ist
eine Generation, über die wir – eben weil sie
sich von den vorherigen Frauengenerationen
unterscheidet – bisher noch wenig wissen.
Deswegen werden wir sie in dieser Studie
sowohl in der repräsentativen Erhebung als
auch in ausführlichen Interviews zu Wort
kommen lassen.
Neben den leistungsstarken Mädchen und
jungen Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren möchten und diesen Wunsch selbstbewusst vertreten, fallen viele Jungen auf, die
noch unsicher dabei sind, ihre Rolle in der
Gesellschaft zu suchen und sich neu zu definieren. Jungen sind heute widersprüchlichen
Erwartungen ausgesetzt. Sie erfahren völlig
neue Herausforderungen an ihre Geschlechtsrolle, denn die Erwartungen junger Frauen an
das Zusammenleben und eine gemeinsame
Erziehung der Kinder weichen von traditionellen Mustern radikal ab. Alte und vertraute Rollenverteilungen sind nicht mehr so ohne
Weiteres möglich. Die Beziehungen müssen in
ständigen Aushandlungsprozessen neu justiert
werden (...). Unverkennbar fühlen sich viele
junge Männer hierdurch überfordert.
Helfen würde ihnen dabei ein enges soziales
Netzwerk der Unterstützung. Aber auch hier
besteht ein Problem: Sie verfügen zwar über
viele soziale Kontakte, doch über wenige
enge Bindungen zu Eltern und Freunden.
Hierdurch sinkt ihre Chance, Probleme emotional zu verarbeiten (...). Im Gegensatz zu
Mädchen reagieren Jungen bei Alltagsbelastungen deshalb häufig mit externalisierenden
Verhaltensweisen. Sie tragen ihre Überforderung aus sich heraus und signalisieren durch
Unruhe, Aktivismus, Aggressivität und erhöhten Drogenkonsum innere Spannungen.
Die traditionelle Männerrolle „verbietet“
Jungen, ihre Überforderung, Unsicherheit
und Hilflosigkeit nach außen zu zeigen und
sich – wie die Mädchen – Hilfe von Freunden
und Familie zu holen.
Quelle: Hurrelmann u. a., 2006, S. 36 f.
4. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation
(SOK-Modell)
5
Erfolgreiches Altern hängt nach Paul und Margret Baltes1 von dem Zusammenspiel dreier
übergeordneter Entwicklungsprozesse ab, die
sie in dem Modell der selektiven Optimierung
mit Kompensation (SOK-Modell) zusammen1
gefasst haben. Dieses Modell geht von der
Annahme aus, dass erfolgreiche Entwicklung
durch das Zusammenspiel von Selektion, Optimierung und Kompensation verläuft.
Paul B. Baltes (1939–2006) war deutscher Psychologe und einer der führenden Gerontologen.
Bekannt wurde er mit seiner Theorie zur erfolgreichen Entwicklung des Alterns, die er zusammen
mit seiner ersten Frau Margret (1939–1999), Professorin für Gerontologie am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, entwarf.
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52
Kapitel 8
5
Selektion bedeutet dabei das Begrenzen von
Beziehungen, Aufgaben und Tätigkeiten im
höheren Erwachsenenalter, auf die sich die
geringer werdenden Kräfte eines Menschen
konzentrieren; sie ermöglicht die Spezialisierung auf „Weniger“.
So ziehen sich beispielsweise ältere Menschen aus bestimmten Bereichen des Lebens
wie Beruf oder Sport zurück, sind nicht mehr
in (so vielen) Vereinen tätig und unternehmen nicht mehr so viel.
10
„Selektion bedeutet nicht nur Reduzierung der Lebensbereiche (…), sondern
kann auch Erschließung geänderter oder
neuer Lebensbereiche beinhalten.“
(Kühn, 20065, S. 149)
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20
Dabei konzentrieren sich alternde Menschen
auf dieses „Weniger“, bauen dies aus, verfeinern und verbessern es mithilfe der ihnen zur
Verfügung stehenden Kräfte, sogenannte
Ressourcen1. Die Möglichkeit, auf eigene
Kräfte zurückgreifen zu können, trägt zur
Zufriedenheit und zum Wohlbefinden bei. Der
Vorgang des Verfeinerns und Verbesserns von
Ressourcen zum Erzielen von Entwicklungsgewinnen wird als Optimierung bezeichnet
(vgl. Lindenberger/Schaefer, 20086, S. 372).
„Optimierung stellt auf die Möglichkeiten Älterer ab, ihr Anspruchs- und
Lebensniveau stabil zu halten und eventuell sogar weiterzuentwickeln.“
(Kühn, 20065, S. 149)
1
vgl. Abschnitt 8.8.4
Im Laufe des Alterns verschwinden zwangsläufig bestimmte Ressourcen und die persönlichen Kräfte lassen nach. Dies muss jedoch
nicht unbedingt eine Einschränkung der
Lebensqualität bedeuten; verloren gegangene
Fähigkeiten und Fertigkeiten können durch
andere Handlungsressourcen ersetzt werden,
um die Lebensziele aufrechtzuerhalten.
So wird die sehr aktive sportliche Tätigkeit
vernachlässigt zugunsten von Spaziergängen
oder Radfahren. Die berufliche Tätigkeit wird
ersetzt durch Unternehmungen, ehrenamtlichen Tätigkeiten oder vermehrtes Reisen.
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Dieses Ersetzen verloren gegangener Kräfte
durch andere Handlungsressourcen bezeichnet man als Kompensation.
Ein Beispiel, welches das SOK-Modell treffend veranschaulicht, gab der Pianist Artur
Rubinstein, der erzählte, dass er deshalb
auch mit 90 Jahren vor seinem Publikum
noch glänzende Leistungen auf dem Klavier
vollbringen konnte, weil er sein Repertoire
verringert und weniger Stücke gespielt habe
(= Selektion). Diese habe er aber länger
geübt als in jungen Jahren (= Optimierung).
Zugleich verringerte er vor schnell zu spielenden Passagen das Tempo, um das Nachfolgende dann schneller erscheinen zu lassen
(= Kompensation) (vgl. Mietzel, 1992, S. 17).
Diese Kompensation trifft auch für das
menschliche Nervensystem zu, indem es für
bestimmte Aufgaben mehr Nervenzellen
beansprucht.
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Kapitel 8
erfolgreiches Altern
durch
Selektion
Optimierung
Kompensation
Begrenzen von Beziehungen,
Aufgaben und Tätigkeiten,
Spezialisierung auf
„Weniger“
Verfeinern und Verbessern
von Ressourcen zum Erzielen
von Entwicklungsgewinnen
Ersetzen verloren gegangener Kräfte durch andere
Handlungsressourcen
„Bei knappen Ressourcen erfordert erfolgreiche Entwicklung die Auswahl von Zielbereichen
sowie die Anwendung optimierender und kompensierender Mittel innerhalb dieser Bereiche.
Der zusammengesetzte Begriff der ‚selektiven Optimierung mit Kompensation’ bringt diese
Koordination von Selektion, Optimierung und Kompensation zum Ausdruck.“
(Lindenberger/Schaefer, 20086, S. 372)
Quelle: Hobmair, 2012, S. 179 ff.
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Kapitel 9
Materialien Kapitel 9
1. Verfahren der Persönlichkeitserforschung
5
10
a) Der Erfassungsbogen für aggressives Verhalten (EAS)
Mit einem Erfassungsbogen von Petermann unten stehende Abbildung gibt ein Beispiel
und Petermann (19922) werden ausgewählte für eine solche Geschichte aus der FrageboAggressionsformen zwischen gleichaltrigen genversion für Mädchen. Das Bild illustriert
Kindern der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren den aggressiven Konflikt und hilft dem Kind,
näher bestimmt. Das Verfahren bezieht sich sich besser in die Situation des in der Geauf die Situationsbereiche „Schule“, „Eltern- schichte handelnden Interaktionspartners hinhaus“ und „Freizeitbereich außerhalb des einzuversetzen. Die Darstellung besitzt damit
Elternhauses“, in denen mithilfe illustrativer eine die Vorstellungsfähigkeit des Kindes
Situationsbeschreibungen das Kind konkrete, aktivierende Funktion.
realitätsnahe Konflikte einschätzen soll. Die
Beispielsituation aus dem EAS in der Fassung für Mädchen (EAS-M, Situation 5)
(Petermann, 19994, S. 270 f.)
15
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Kapitel 9
b)
Projektive Verfahren
Der Rorschach-Test
5
10
Einer der bekanntesten und auch ältesten
Projektionstests ist der Rorschach-Test von
dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach. Der Test besteht aus zehn Tintenklecksbildern, die schwarz-weiß, zum Teil aber
auch farbig sind. Der Proband wird bei jedem
Bild gebeten, zu beschreiben, was er auf diesem sieht. Die Antworten werden dann entsprechend ausgewertet.
Der thematische Apperzeptionstest (Thematic
Apperception Test – TAT)
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Der TAT geht auf den Amerikaner Henry Murray und seine Mitarbeiter zurück und besteht
aus 31 mehrdeutigen Bildern, auf denen Personen in verschiedenen Situationen dargestellt sind. Der Proband erzählt zu jedem Bild
eine Geschichte. Auch in diesem Verfahren
werden dann die Darlegungen entsprechend
ausgewertet.
55
Der Sceno-Test
Der Sceno-Test wurde von Gerdhild von Staabs
entwickelt und besteht aus Spielmaterial, mit
welchem der Proband eine Szene aufbauen
soll. Das Material besteht in der Regel aus
formbaren Puppen, Tieren, Pflanzen, Bäumen, Hausrat, Möbeln und Gegenständen,
mit denen die Testperson in einem Haushalt
in Verbindung kommt bzw. zu tun hat.
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Kapitel 9
Der Wartegg-Zeichentest (WZT)
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Der Wartegg-Zeichentest wurde in den 30erJahren des letzten Jahrhunderts von Ehrig
Wartegg (1897–1983) entwickelt und ist ein
projektiver Gestaltungstest im grafischen Aus-
drucksbereich. In acht Feldern sind bestimmte
Zeichen vorgegeben, die zeichnerisch vom
Probanden weitergeführt werden (vgl. AvéLallemant, 20104, S. 10).
Weitere Zeichentests sind der Baum-Test, bei
dem der Proband einen Baum zeichnet, und
der Sterne-Wellen-Test, bei dem er einen
Sternenhimmel über Meereswellen darstellt.
Quelle: eigener Text
Kapitel 9
57
2. Die Temperamentstypen nach Claudius Galen
5
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Die älteste Typologie stammt vermutlich von
dem römischen Arzt Claudius Galen von Pergamon, etwa um 150 v. Chr., auf der Grundlage der von Hippokrates1 aufgestellten
Annahme, die die Unterscheidung des Wesens
eines Menschen auf die individuelle Mischung
von Körpersäften – humores – zurückführt.
Entsprechend der vier Körpersäfte – Blut
(haima), Schleim (phlegma), schwarze Galle
(mélaina cholé) und gelbe Galle (cholé) – fand
Galen vier Charaktereigenschaften:
2
15
– Der Sanguiniker (haima) ist gekennzeichnet durch eine wechselnde und unbeständige Gefühlslage, Stimmungsschwankungen
und Unbeständigkeit.
– Der Phlegmatiker (phlegma) ist gekennzeichnet durch langsame, gleichgültige
Gefühlsabläufe, Unberührtheit und Gleichgültigkeit, er ist kaum aus der Ruhe zu
bringen.
20
– Der Choleriker (cholé) ist gekennzeichnet
durch starke Erregbarkeit, Reizbarkeit, Hitzigkeit und Impulsivität.
– Der Melancholiker (mélaina cholé) ist
gekennzeichnet durch Schwermut, Trübsinn, Grübeln, Pessimismus und herabgesetztes Lebensgefühl.
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3. Wie viel ist ein Mensch wert?
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Auf meine Umfrage zum Wert eines statistischen Lebens habe ich aus meinem Freundesund Familienkreis 24 Antworten erhalten. Im
Durchschnitt sind sie bereit, 8.043,75 Euro zu
bezahlen, um ein jährliches Todesrisiko von
1/1000 mit Sicherheit ausschließen zu können.
Die Bandbreite der Antworten ist groß. Zwei
würden 50.000 Euro zahlen, sechs überhaupt
nichts. Unter anderem, weil „es sich in meinem Alter nicht mehr lohnt“, „ich ein zu
guter Autofahrer bin“, „kein Geld übrig ist“
oder weil – buddhistisch und besonders beeindruckend – „meine Sichtweise auf dem karmischen Gedankengut beruht und somit solche
Wahrscheinlichkeitsrechnungen unerheblich
für mich sind. Bestimmt sollte jeder Mensch
sein kostbares menschliches Potenzial schützen und bewahren und nicht in Gefahr bringen. Wenn sich allerdings die karmischen
Winde erschöpfen, ist diese Art von Wahrscheinlichkeiten hinfällig.“
Ich weiß, dass nicht alle die Frage gleich interpretiert haben. Das ist kein Zufall, sondern einer
der schon erwähnten Schwachpunkte der
Methode. Weil aber der Wert eines statistischen
1
2
Lebens in meinem Umfeld erfreuliche und
rekordverdächtige 8.043.750,00 Euro beträgt,
bin ich geneigt, solche Zweifel für einen
Moment beiseitezuschieben. Also weg mit den
Bedenken und herzlichen Dank an alle Beteiligten für diese stolze Summe.
Da ich den Taschenrechner einmal in der Hand
habe, addiere ich die anderen ermittelten
Werte gleich noch dazu. Da wären die Durchschnittssumme aller Schmerzensgelder für
meinen Körper: 1,7 Millionen Euro, die neuerdings wieder zwei Millionen Euro von Spengler für „seinen“ Wert des statistischen Lebens,
die 1.022,43 Euro aus der Apotheke, mein
Humankapitalwert nach der Idee von von
Hagens: 1 250 000 Euro, mein Humankapitalwert nach der Saarbrücker Formel: 112.411
Euro, die 6 000 Euro, die eine künstliche
Befruchtung und somit ein Leben kostet, die
26.900 Euro nach dem Generationenkonto
von Raffelhüschen, die 600.000 Euro, für die
ich mich laut meines Freundes Mohsin in
Indien verkaufen könnte, die 1,2 Millionen
Euro von der Bundesanstalt für Straßenwesen,
die eine Million Euro vom Umweltbundesamt,
Hippokrates (460–377 vor Christus) war Arzt und gilt als Begründer der Schulmedizin.
sanquis (lat.): das Blut
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Kapitel 9
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mein Humankapitalmindestwert nach Nussbaumer auf Hartz-IV-Basis: 279.936 Euro, auf
„Weltminimumbasis“: 58.400 Euro und auf
„Weltarmutsbasis“: 11.680 Euro, die summierten QUALYs meiner statistischen Restlebenszeit von 1,6 Millionen Euro und der potenzielle
Wert meiner Leiche, der laut Martina Keller
bei umgerechnet 180.000 Euro liegen kann.
Ich verzichte dabei unter anderem auf meinen nicht vorhandenen Nachrichtenwert,
meinen nicht ermittelbaren Markenwert, den
Freiheitswert und den Urlaubswert meines
Restlebens und das Geld, das ich eventuell bei
einer Versteigerung meiner Organe bekommen könnte.
Trotzdem beziehungsweise gerade deswegen
komme ich auf eine Durchschnittssumme von
1.129.381,21 Euro
Das ist also „meine“ Zahl. Mein persönlicher
Preis. Mein monetärer Selbstwert.
Wirklich?
Nein ...
... oder doch?
Für jede Zahl gibt es mehr oder weniger fundierte Argumente. Hinter einigen Methoden,
ich denke vor allem an den Wert eines statistischen Lebens, etwa beim Umweltbundesamt,
die monetarisierten „qualitätskorrigierten“
Lebensjahre, aber auch an die Humankapitalansätze beziehungsweise die Produktionspotenzialrechnung der Bundesanstalt für
Straßenwesen, stehen angesehene Wissenschaftler mit ihren oftmals renommierten Instituten. Die innere Rechenlogik ihrer Formeln
kann ich nicht widerlegen. Ich bin kein Fachmann, kein Ökonom und kein Mathematiker,
gehe aber mal davon aus, dass alle richtig multipliziert haben. Die Methoden, so habe ich
gelernt, lassen sich nicht alle in einen Topf
werfen, und es kommt auch noch darauf an,
wo und wie und vor allem auch von wem sie
genutzt werden.
Eine Gemeinsamkeit aber ist, dass sie von
ihren Vertretern allesamt als best practice
oder state of the art bezeichnet werden. Sie
sind also „das Beste“, was gerade zur Verfügung steht. Das heißt jedoch nicht, dass sie
wirklich gut sind. Keiner sagt das. Keiner der
Experten, die ich getroffen habe, wollte
behaupten, die Modelle seien ausgereift.
Trotzdem wollen einige – und es werden
mehr – mit diesen Rechnungen Politik machen.
Im Zweifelsfall auch eine Politik, die über
meine Lebenschancen mitentscheidet. Das ist,
nun ja, bemerkenswert. Wer will schon mit
einem Auto fahren, von dem selbst der Ingenieur sagt, es sei noch längst nicht fertig?
Doch bei allem berechtigten Misstrauen
gegenüber den Methoden – entscheidend
bleibt das Misstrauen gegenüber den Prämissen, den Voraussetzungen, unter denen das
Leben eines Menschen bewertet werden soll.
Meine Zweifel habe ich dort, wo es mir angebracht schien, formuliert. Sie sind mit der Zeit
nicht kleiner geworden. Im Gegenteil.
In Bezug auf die Frage „Preis oder Würde“
schrieb Kant: „Was einen Preis hat, an dessen
Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent
gesetzt werden; was dagegen über allen Preis
erhaben ist, mithin kein Äquivalent1 verstattet, das hat eine Würde.“
Anders ausgedrückt: Was in Geld bewertet
wird, verliert seine Einmaligkeit und kann
verglichen werden. Und was sich vergleichen
lässt, das wissen wir von der Käsetheke im
Supermarkt, kann man gegeneinander aufrechnen und austauschen.
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Quelle: Klare, 2010, S. 263 ff.
4. Kritische Würdigung der personenzentrierten Theorie
Die personenzentrierte Theorie ist eine Theorie, die menschliches Erleben und Verhalten
nur begrenzt beschreiben und erklären kann.
Es liegt, wie August Flammer (20094, S. 125)
1
schreibt, eine Beschränkung auf emotionale
und motivationale Prozesse vor; motorische
und kognitive wie Wahrnehmung, Denken
und Sprache sind als solche weitestgehend
Äquivalent (lat.): gleicher Wert, gleichwertiger Ersatz
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Kapitel 9
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ausgeschlossen, sie interessieren nur in ihren
Auswirkungen aufgrund emotional-motivationaler Vorgänge. Zudem lassen sich nicht
alle seelischen Fehlentwicklungen auf eine
Diskrepanz von Aktualisierung und Selbstaktualisierung – also von biologischen Bedürfnissen und sozialen Forderungen – zurückführen.
Carl R. Rogers geht davon aus, dass der
Mensch seine Lebensbedingungen und seine
Umwelt aktiv selbst gestaltet und bewusst
über die Möglichkeiten seines Handelns
entscheidet. Kritiker wenden dabei – zum Teil
zu Unrecht – ein, dass das Individuum für
seine eigene Lebensgeschichte im Ganzen
selbst verantwortlich gemacht wird und sich
das eigene Schicksal selbst zurechnen muss –
gesellschaftliche Prozesse hinsichtlich des
Gelingens oder Scheiterns des eigenen Lebens
haben keine eigenständige Bedeutung und
werden vernachlässigt.
Sehr umstritten ist die Annahme, der Mensch
sei in seinem Kern „gut“ und es gäbe gesunde
Kräfte in der menschlichen Persönlichkeit, die
das natürliche Streben nach Wachstum und
Selbstverwirklichung ausmachen. Rogers geht
dabei von einer Annahme aus, die nicht überprüfbar ist; seine gesamte Theorie baut auf
einer nicht beweisbaren These auf. Kritiker
werfen aus diesem Grund der personenzentrierten Theorie „Unwissenschaftlichkeit“ auch
dahingehend vor, dass ihre Aussagen nicht
erschöpfend wissenschaftlich nachgewiesen
und überprüft sind. Viele Aussagen bleiben
nur Vermutungen, da sie nicht in die Forschung mit einbezogen wurden. Zu den nicht
überprüfbaren Aussagen gehört beispielsweise auch die Annahme, dass der menschliche
Organismus eine angeborene Aktualisierungstendenz besitze, die den Menschen in eine
konstruktive Richtung bewege. Es erscheint
fragwürdig, so schreibt der Professor für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Münster, Dr. Hanko Bommert
(19934, S. 44), konstruktive Verhaltensweisen
allein auf eine biologische Grundausstattung
des Organismus und destruktives Verhalten
dagegen auf ungünstige äußere Einflüsse
zurückzuführen.
Wissenschaftlich zweifelhaft ist auch das Postulat, dass Verhalten durch einen organismischen Bewertungsprozess reguliert werde.
Rogers Theorie entspringt deshalb oft mehr
einem Anliegen, welches auf sein philosophisches, möglicherweise sogar religiöses Menschenbild zurückzuführen ist, und weniger
einer wissenschaftlich untermauerten Theorie.
Hauptkritikpunkt ist, dass die Begriffe der
personenzentrierten Theorie unscharf und für
die Forschung schwer zu nutzen sind. Begriffe
wie Selbstaktualisierung, Selbst und Selbstkonzept, Kongruenz oder Inkongruenz,
Erfahrung oder Organismus werden von
Rogers selbst mehrdeutig, anders als in
anderen Wissenschaften üblich und sehr
uneinheitlich verwendet und dadurch leicht
missverstanden. Dies ist sicher einer der
Hauptgründe, warum so viel Falsches und
Missverständliches über die Theorie Rogers
geschrieben wurde und wird. Zudem tragen
viele Äußerungen Rogers zu Missverständnissen bei, wie zum Beispiel, dass der Mensch
sein Glück nur in sich selbst suchen müsse – es
wird übersehen, dass er ein primär soziales
Wesen ist, das sich nur über den anderen,
dem DU, seelisch gesund entwickeln kann.
Und so schreiben auch Rita L. Atkinson u. a.
(200113, S. 465): „Eine Psychologie, die individuelle Selbsterfüllung und Verwirklichung an
die Spitze der Wertehierarchie stellt, könnte
den Egoismus geradezu hoffähig machen.“
Quelle: Hobmair, 2012, S. 387 ff.
„Die humanistische Psychologie1 stellt eine bedeutsame Ergänzung zum übrigen Psychologieangebot dar, auch wenn die Ansprüche an Detailliertheit und Präzision oftmals nicht
eingehalten werden. Vielleicht wird die humanistische Psychologie nur als Haltung überleben und als humanistisches Anliegen – wie so oft in der abendländischen Geschichte –
immer wieder aufgenommen werden.“
(Flammer, 20094, S. 128)
1
Wenn Flammer in diesem Zusammenhang von humanistischer Psychologie spricht, so meint er
damit, wie aus dem gesamten Kontext hervorgeht, in erster Linie die personenzentrierte Theorie.
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Kapitel 10
Materialien Kapitel 10
1. Die Erforschung von Gruppenbeziehungen
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Die Gruppenforschung kennt bestimmte
Messverfahren, die bestimmte Aspekte der
Struktur von sozialen Beziehungen in Gruppen erforschen wollen. Diese Messverfahren
werden mit dem Begriff Soziometrie zusammengefasst. So können beispielsweise mithilfe der Soziometrie Gefühle der Zu- und
Abneigung der Mitglieder einer Gruppe
untereinander festgestellt werden. Das soziometrische Messverfahren geht auf den österreichischen Psychiater Jacob L. Moreno zurück
und wurde in der Zwischenzeit von einer Vielzahl von Sozialforschern weiterentwickelt. Es
findet überall dort Anwendung, wo Gruppenstrukturen und -beziehungen bedeutsam sind.
So wird Soziometrie u. a. in Betrieben, Werkstätten, Büros, Spielgruppen, Schulkassen und
Jugendgruppen durchgeführt, um dort die Art
und Weise der sozialen Interaktionen festzustellen. Auf diese Weise bekommt man Auskunft über das soziale Klima und es können
Möglichkeiten zur Änderung bzw. Verbesserung eines solchen und der Leistung der
Gruppe eingeleitet werden.
Mithilfe der Soziometrie werden zwischenmenschliche Präferenzen1 ermittelt. Dabei
kann es zum einen um die affektive Ebene
gehen, um Zuneigung bzw. Abneigung (Sympathie bzw. Antipathie) der Gruppenmitglieder untereinander (also ob sich die
Gruppenmitglieder untereinander „mögen“
oder „nicht mögen“), Freundschaften und
Feindschaften (wer mit wem am liebsten in
eine ganz bestimmte, inhaltlich definierte
Beziehung treten will oder nicht), Beliebtheit
bzw. Unbeliebtheit (Isoliertheit) einzelner
Mitglieder. Zum anderen kann es sich auf die
funktionale Ebene der Leistungsfähigkeit
oder Tüchtigkeit in einer Gruppe beziehen –
etwa wer mit wem am liebsten zusammenarbeiten, ein Projekt durchführen möchte
usw.
1
Präferenz (lat.): Vorrang, Vorzug
Durch entsprechende Fragen an die Mitglieder einer Gruppe können solche zwischenmenschlichen Präferenzen ermittelt werden.
Um beispielsweise die Zu- und Abneigung in
einer Werkgruppe eines Betriebes zu ermitteln, werden die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen schriftlich befragt, wen sie am
liebsten als Freund haben möchten, wen sie
am liebsten einladen oder mit wem sie am
liebsten in den Urlaub fahren würden. Hinsichtlich der Erforschung auf der funktionalen
Ebene könnte die Frage lauten: „Mit wem
möchten Sie bei dieser Aufgabe am liebsten
zusammenarbeiten? Mit wem auf keinen
Fall?“
Die Ergebnisse dieser Befragung werden in
einer Matrix, der Soziomatrix, oder in einem
Diagramm, dem Soziogramm, grafisch dargestellt, welche alle Informationen enthalten,
die durch die Befragung gewonnen wurden.
Ihre jeweilige Auswertung besteht darin,
bestimmte Beziehungsstrukturen zu erkennen und in ihrer Häufigkeit zu zählen, wobei
zu beachten ist, dass es sich bei den Ergebnissen um aktuelle Momentaufnahmen der
sozialen Beziehungen handelt.
Beispiel für eine Soziomatrix (siehe nächste
Seite) hinsichtlich der Zu- und Abneigung:
Die Häufigkeit, mit der einzelne Gruppenmitglieder „positive Wahlen“ (+) oder
„negative Wahlen“ bzw. Ablehnungen (–)
auf sich vereinigen, wird zunächst tabellarisch in eine Soziomatrix übertragen. Die
Symbole in den einzelnen Matrixzellen
informieren darüber, wer von wem gewählt
oder abgelehnt wurde und wer nicht.
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Kapitel 10
Anzahl der
abgegebenen
Wahlen
Wählende
Gewählte
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/
+
+
+
+
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+
/
+
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+
+
/
4
+
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+
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+
7
–
+
6
7
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9
/
+
/
+
8
+
/
+
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–
–
/
+
+
11
+
+
–
–
13
+
–
Ges.
–
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2
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–
3
1
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–
2
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–
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0
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–
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–
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–
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0
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/
+
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/
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+
+
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/
+
/
+
/
–
2
1
3
–
–
/
0
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+
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3
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0
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0
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–
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1
0
0
0
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1
0
0
0
1
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Ges.
7
3
4
3
3
0
7
3
2
0
0
1
9
Erhaltene Wahlen
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Beispiel für ein Soziogramm einer Jugendgruppe: In der qualitativen Interpretation
dieses Soziogramms erscheinen beispielsweise die Gruppenmitglieder 1 und 7 als
„beliebt“, doch beide „Stars“ lehnen sich
gegenseitig ab und bilden um sich herum
mit ihren „Verbündeten“ Subgruppen.
Gruppenmitglied 13 wird von den meisten
Gruppenmitgliedern offensichtlich abgelehnt und übernimmt wohl auch durch sein
eigenes Verhalten die Rolle des „Außenseiters“. Die Gruppenmitglieder 10 und
12 wollen sich anscheinend mit keiner Untergruppe überwerfen und sind sich darüber
hinaus mit den Anderen einig, den „Außenseiter“ 13 abzulehnen.
(Henecka, 20099, S. 237–241, verändert und gekürzt)
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Kapitel 10
2. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
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Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war
eine der schwersten von Menschen gemachten Umweltkatastrophen, deren Schäden für
Mensch und Umwelt noch lange andauern
werden. In der Folge wurde Tschernobyl ein
zentraler Gegenstand einer Fehlerforschung,
die nicht nur auf rein technische Sicherheitsvorkehrungen abzielt, sondern die zu klären
versucht, was eigentlich mit menschlichem
Versagen gemeint sein kann. Unterschiedliche
Sichtweisen auf die Teams der handelnden
Personen können wichtige Verstehenszugänge eröffnen, die ähnliche Ereignisse vielleicht zu verhindern helfen. Zentral dabei ist
die Überlegung, dass hier nicht einzelne Personen versagt haben, sondern Menschen in
miteinander konkurrierenden Teams, deren
Verhalten weitgehend durch die soziale Situation bestimmt wurde.
In der Unglücksnacht vor dem 26. April 1986
wurde im Reaktor Vier des Atomkraftwerkes
in Tschernobyl ein geheimes Experiment
durchgeführt, bei dem die Stromversorgung
der Kühlsysteme im Falle einer Abschaltung
des Reaktors getestet werden sollte. Für das
Experiment, das eigentlich vor der Inbetriebnahme des Reaktors hätte durchgeführt werden
müssen,
reiste
ein
zusätzliches
Ingenieurteam an, das den Versuch leitete. Sie
waren den beiden Reaktorfahrern, die den
normalen Schichtbetrieb leisteten und die
nicht besonders auf das Experiment vor-
bereitet waren, vorgesetzt. Die Bedienungsgruppe wollte schnell damit fertig werden,
weil die Maifeiertage bevorstanden und der
Reaktor zur Überholung abgeschaltet werden
sollte. Innerhalb eines Nachmittags wurden
alle Sicherheitssysteme, die die Katastrophe
hätten verhindern können, ausgeschaltet. Die
kritische Situation wurde somit von der Bedienungsmannschaft selbst herbeigeführt. Die
Mannschaft war (bis eine Minute vor dem
Unglück) davon überzeugt, sehr erfolgreich
und professionell mit der eigenen Aufgabe
umzugehen. Das Reaktorfahrerteam war mit
verschiedenen Preisen für seine Zuverlässigkeit ausgezeichnet worden, unter anderem
deswegen, weil es den Reaktor länger am
Netz halten konnte als andere Mannschaften.
Sie wollten sich gegenüber dem externen
Ingenieursteam keine Blöße geben und Kompetenz demonstrieren, indem sie Sicherheitsvorschriften übertraten und Warnungen der
Apparatur missachteten. Fehler zuzugeben
und die Folgen falscher Entscheidungen zu
diskutieren, hätte ihr Kompetenzgefühl weiter verringert, das durch die auftretenden
Schwierigkeiten ohnehin schon angegriffen
war. In der Unglücksnacht kam es nicht zum
ersten Mal zu Übertretungen dieser Art. Die
bisherigen guten Erfahrungen, die das Team
damit sammeln konnte, hatten alle mit einem
Gefühl der Unverwundbarkeit ausgestattet.
Quelle: Schattenhofer, 2009, S. 43 f.
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Kapitel 10
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3. Der gute Amerikaner. Wie ein Einwanderer die New Yorker
beschämte
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Hugo Alfredo Tale-Yax1 ging die 144. Straße
in Queens, New York, hinunter, die Hände in
den Hosentaschen, die Kapuze auf dem Kopf,
er hatte kein Ziel, er wartete ab, was der Tag
bringen würde. Auf dem Bürgersteig vor ihm
standen ein Mann und eine Frau. Sie stritten,
der Mann wurde lauter, dann holte er aus und
schlug die Frau. Es war ein heftiger Schlag, die
Frau war unvorbereitet, und Tale-Yax war es
auch. (…)
Es gab einen Tumult, und plötzlich hatte der
Schläger ein Messer in der Hand, stieß es dreimal in die Brust von Tale-Yax und rannte fort,
die Frau floh in die andere Richtung. Tale-Yax
rannte dem Mann hinterher, er schaffte fünf
Schritte, dann fiel er nach vorn, auf den
Bauch. Er stemmte sich kurz hoch, rollte ein
paar Zentimeter nach links, seine Beine zuckten in der Luft, dann fielen sie zu Boden, und
Tale-Yax lag regungslos auf dem Bürgersteig,
sein Kopf wies zu den Wohnungen, die Füße
zeigten zur Straße. Ein Fußgänger kam. Er sah
Tale-Yax und ging an ihm vorbei. (…)
Als Tale-Yax an diesem Sonntagmorgen auf
dem Bürgersteig in Queens verblutete, zeichnete eine Überwachungskamera sein Sterben
auf. Zu sehen sind mehr als 20 Menschen, die
meisten gehen vorbei, ein Mann bleibt stehen, holt sein Handy aus der Tasche, richtet es
auf Tale-Yax, macht ein Foto und geht weiter.
Ein zweiter beugt sich zu Tale-Yax hinunter,
fasst ihn an der Schulter, dreht ihn zur Seite.
Tale-Yax bewegt sich nicht, der Mann lässt ihn
fallen und läuft weiter.
1
Fast zwei Stunden lag Tale-Yax auf dem Bürgersteig, bis jemand die Polizei rief. Um 7:21
Uhr wurde Hugo Alfredo Tale-Yax für tot
erklärt.
Das Video aus der Überwachungskamera fand
seinen Weg ins Internet, eine New Yorker
Boulevardzeitung zeigte es auf ihrer Website,
sie nannte Tale-Yax einen Samariter und die
New Yorker kaltherzig, auf YouTube kursierte
das Video bald unter der Überschrift „Obdachloser Held stirbt“.
Die Totenwache für Hugo Alfredo Tale-Yax
fand anderthalb Wochen später in Brooklyn
statt, sechs Stunden dauerte sie. Tale-Yax lag
in einem offenen Sarg, er trug einen schicken
schwarzen Anzug, eine gelbe Krawatte, sein
Haar war nach hinten gekämmt, neben ihm
lag ein Zettel, „descanse en paz“, er ruhe in
Frieden.
Der Pfarrer hielt die Predigt auf Spanisch, er
nannte Tale-Yax einen Helden, 200 Menschen
hörten ihm zu. Tale-Yax‘ Bruder gab Interviews und sagte, sein Tod sei eine Botschaft
an die Menschheit. Nach der Feier kehrte
Tale-Yax nach Guatemala zurück, er wurde
auf dem Friedhof von La Esperanza beerdigt.
Die New Yorker Polizei sucht noch immer
nach dem Mörder von Hugo Alfredo Tale-Yax.
Identifizieren könnte ihn wohl nur die Frau,
der Tale-Yax im Streit zu Hilfe gekommen war.
Sie hat sich noch nicht gemeldet.
Quelle: Pham, 2010, S. 47, gekürzt
Hugo Alfredo Tale-Yax wurde in einem Bergdorf in Guatemala geboren und wanderte in die USA
ein, in der er bis zu seinem Tod über fünf Jahre lebte.
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Kapitel 10
4. Der Kater Oscar
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Der Kater Oscar blickt uns von einem Foto im
angesehenen New England Journal of Medicine an, begleitet von einer bewundernden
Beschreibung eines namhaften Kollegen. Der
Autor berichtet, wie Oscar in einer geriatrischen Klinik in Providence, Rhode Island, in
der Patienten mit Alzheimer, Parkinson und
anderen Erkrankungen behandelt werden,
täglich seine Runde macht. Aufmerksam
beschnüffelt und beobachtet der zweijährige
Kater jeden Patienten, während er von Zimmer zu Zimmer stromert. Wenn er zu dem
Schluss kommt, jemand liege im Sterben, rollt
er sich neben ihm zusammen, schnurrt und
reibt sich an ihm. Er verlässt das Zimmer erst,
wenn der Patient oder die Patientin den letzten Atemzug getan hat. Wie gelingt Oscar
das? Noch rätselhafter ist die Frage, welchen
Beweggrund der Kater hat. Manchmal war er
ganz allein bei dem Sterbenden, und die Mitarbeiter sehen darin den Wunsch, dem Patienten Beistand zu leisten. Ich sehe zwei mögliche
Gründe für sein Verhalten: Entweder ist es der
Versuch, sich selbst zu trösten, weil er ahnt,
was dem Patienten zustoßen wird und ihn das
bekümmert, oder der Versuch, den anderen
zu trösten. Beide Möglichkeiten sind aber verblüffend.
Quelle: de Waal, 2011
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Kapitel 11
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Materialien Kapitel 11
1. Ausdrucksverhalten
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Das kommunikative Verhalten eines Menschen wird in drei Bereiche eingeteilt, in den
verbalen, den paraverbalen und den nonverbalen Ausdruck. Körpersprache meint die
Mitteilung von Informationen bzw. deren
sprachliche Begleitung mithilfe des Blickkontaktes, der Mimik und Gestik sowie der körperlichen Haltung und der Bewegung.
Über den Blick werden Kontakte zum Gesprächsteilnehmer aufgenommen, Wert- bzw. Geringschätzung, persönliche Zu- bzw. Abneigung
und Feindseligkeit signalisiert. Mimik ist der
Gesichtsausdruck eines Menschen und setzt
sich zusammen aus den Signalen der Augen,
der Nase, des Mundes und der Haut. Gestik
meint Finger-, Hand- und Armbewegungen,
Bein- und Fußbewegungen sowie Kopfbewegungen. Laut Studien können Handbewegungen Sprachblockaden lösen – etwa, wenn uns
ein Begriff „auf der Zunge liegt“, wir aber
gerade nicht darauf kommen. Offenbar
unterstützen Gesten das Arbeitsgedächtnis,
das gesuchte Wort zu finden. „Gesten sind
mal Verstärker, mal Vermittler oder auch
Verräter unserer Gedanken.“ (Paschek, 2011,
S. 29)
Körperhaltung meint die Stellung und Bewegung des gesamten Körpers und verrät Sicherheit oder Unsicherheit, Abwehr und Ähnliches.
Herabgezogene Schultern oder eine gebeugte
Haltung sind Beispiele für Körperhaltung.
Zur Bewegung gehört auch, in welchem
Abstand der Kommunikator sich zu seinen
Zuhörern aufhält. Wir sprechen hier von
einem proxemischen1 Verhalten bzw. von
sozialer Distanz, die sich durch interpersonale
Nähe bzw. Abstand ausdrückt. Wer beispielsweise einem Menschen „zu nahe kommt“,
wird als Bedrohung empfunden.
In der Regel werden drei Distanzzonen unterschieden:
– Die Ansprachedistanz beträgt ca. 3 bis
4 Meter und ist beispielsweise bei Vorträgen vorherrschend. Mit ihr kann man alle
Zuhörer im Blickfeld haben.
1
proxemisch (lat.) hier: sich annähernd
– Die persönliche Distanz beträgt etwa
60 cm bis 1,50 m. Sie ist von Bedeutung,
wenn man einen persönlichen Kontakt
zum Gesprächspartner herstellen will.
– Die Intimdistanz beträgt etwa 50 bis 60 cm.
Ein Einbrechen in diese wird als aufdringlich empfunden und der andere weicht in
der Regel zurück.
Die Körpersprache vermittelt viele „Zusatzinformationen“ wie Sicherheit, Überlegenheit
oder Unsicherheit und Angst; Gelöstheit, Entspannung oder Anspannung und Verkrampfung; Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit oder
Misstrauen, Zurückhaltung und Unehrlichkeit;
Aufmerksamkeit oder Desinteresse usw.
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Knappe Kleidung wirkt wenig
kompetent
tmn – Frauen ziehen im Büro besser keine zu
kurze und knappe Kleidung an. Das rät die
Karriereexpertin Carolin Lüdemann. „Es gilt
für Frauen immer noch der Grundsatz: ‚Mehr
Stoff bedeutet mehr Autorität‘.“ Fällt die
Kleidung zu körperbetont aus, werde Frauen
weniger zugetraut. (…)
65
(Donaukurier Nr. 160, 14.07.2011, S. 11)
Neben dem verbalen, paraverbalen und nonverbalen Ausdruck spielen auch Aussehen,
Bekleidung und Ähnliches eine Rolle für eine
gelungene Kommunikation.
Das „Was“ einer Information – der verbale
Ausdruck – wird oft erst im Zusammenhang
mit dem paraverbalen und nonverbalen Ausdruck verständlich.
Para- und nonverbaler Ausdruck
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– ersetzen oder begleiten eine sprachliche
Äußerung und unterstützen sie,
– verstärken oder schwächen sie ab,
– können aktives Zuhören unterstützen oder
behindern,
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Kapitel 11
– drücken die Reaktion des Zuhörers aus,
– geben das Befinden der Kommunikationspartner wieder und
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– verdeutlichen die Beziehung zwischen den
Kommunikationspartnern (vgl. Allhoff/
Allhoff, 201015, S. 23 ff.).
Effektive Kommunikation ist dann zu erwarten, wenn die drei Ausdrucksebenen – verbaler,
paraverbaler und nonverbaler Ausdruck –
kongruent sind, also einander entsprechen,
miteinander übereinstimmen. Dies ist zum
Beispiel der Fall, wenn jemand sagt „Mich
ärgert das fürchterlich“ und die Art und
Weise, wie er das sagt, sowie sein Gesichtsausdruck und seine Gestik dazu passen.
Ist es nicht der Fall, dass verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ausdruck übereinstim-
men, spricht man von einer inkongruenten
Kommunikation, die wenig authentisch wirkt
und auch nicht effektiv ist. Dies ist etwa der
Fall, wenn ein Erzieher oder ein Lehrer ein
Kind zurechtweist, er dabei aber freundlich
lacht. Es kann sehr leicht möglich sein, dass
dieser nicht ernst genommen wird.
Die heutige Kommunikationsforschung hat
herausgefunden, dass der verbale Ausdruck
nur 7 Prozent der Wirkung ausmacht, während
der paraverbale Ausdruck mit 38 Prozent und
der nonverbale Ausdruck mit 55 Prozent zu
Buche schlagen (vgl. Dietrich, 2003, S. 11 f.).
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Entscheidender als der Inhalt ist, wie jemand
etwas sagt und mit welcher Körpersprache er
das Gesagte begleitet.
Quelle: Hobmair, 2010, S. 37 f.
2. Die Paradoxie und die Doppelbindung
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a) Paradoxien
Bei Paradoxien1 handelt es sich um Botschaften, die widersprüchlich sind und den Kommunikationspartner deshalb in eine Situation
bringen, die für ihn nicht lösbar ist. Innerhalb
einer Beziehung wird eine Handlungsaufforderung gegeben, die „befolgt werden muss,
aber nicht befolgt werden darf, um befolgt
zu werden“ (Watzlawick u. a., 201112, S. 214).
Die Eltern sagen zum Beispiel zu ihrem Kind:
„Du brauchst nicht alles befolgen, was andere
Menschen dir sagen!“ Kommt das Kind dieser
Aufforderung nach, so befolgt es ja doch, was
ihm Andere sagen, was aber der Aufforderung widerspricht.
In einer paradoxen Botschaft wird also etwas
gefordert, was aber in der gegebenen Situation nicht gezeigt werden darf, weil es dann
nicht mehr das ist, was gefordert wurde. Die
logische Sinnlosigkeit wird auch in Äußerungen
deutlich wie „Lach doch mal!“, „Sei lustig!“,
„Sei spontan!“, „Sei nicht so verkrampft!“.
Jedes halbe Jahr, wenn der Zeugnistermin naht
bzw. da ist, warnen sog. Berater, dass man das
Zeugnis bzw. die Zeugnisnoten nicht überbewerten oder zu Ernst nehmen sollte.
1
Eine Paradoxie ist eine Handlungsaufforderung, die befolgt werden muss, aber nicht
befolgt werden darf, um befolgt zu werden.
Paradoxien treten im menschlichen Leben
sehr häufig auf; eine Störung in der Kommunikation rufen sie jedoch nur dann hervor,
wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind –
Watzlawick u. a. nennen sie die wesentlichen
Bestandteile einer Paradoxie:
– Eine bindende Beziehung, in der ein Abhängigkeitsverhältnis herrscht – die also
pará (griech.): gegen, entgegen; dóxa (griech.): die Meinung
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Kapitel 11
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komplementär ist – und die nicht ohne
Weiteres verlassen werden kann. Eine solche
Beziehung kann zum Beispiel in der Schule,
im Beruf, in der Bundeswehr, in einer engen
Freundschaft bzw. Partnerschaft oder in der
Ehe und der Familie vorherrschen.
– Es wird eine Botschaft gegeben – in der
Regel handelt es sich um eine Handlungsaufforderung –, die befolgt werden muss,
aber nicht befolgt werden darf, um befolgt
zu werden. Die Mutter sagt beispielsweise
zu ihrem Sohn: „Du musst nicht immer
befolgen, was Andere dir sagen!“ Die
Freundin sagt zu ihrem Freund: „Sei doch
auch mal spontan!“
– Diese widersprüchliche Situation kann
nicht durch eine Kommunikation gelöst
werden. Dies ist beispielsweise der Fall,
wenn man mit demjenigen, der die Botschaft gibt, überhaupt nicht sprechen
kann, wenn dieser das Gespräch verweigert
bzw. nicht mit sich reden lässt oder wenn
ein Hinweis auf den Widerspruch negative
Konsequenzen nach sich ziehen würde –
etwa eine (Schul-) Strafe, ein Disziplinarverfahren oder eine Kündigung.
b) Doppelbindungen
Um Doppelbindungen im engeren Sinne handelt es sich, wenn eine Information gegeben
wird, die etwas Bestimmtes aussagt – etwa ein
gesprochener Satz – und die zusätzlich etwas
über diese Aussage mitteilt – zum Beispiel die
Haltung, die zu dieser Aussage eingenommen
wird –, sich aber diese beiden Aussagen nicht
miteinander vereinbaren lassen (vgl. Watzlawick u. a., 201112, S. 233 f.). Beispielsweise
kommt ein großer starker Junge auf einen
kleinen schmächtigen Jungen zu, pöbelt ihn
an, stellt sich in voller Größe mit angespannten Muskeln vor den kleinen Jungen und sagt:
„Du brauchst dich nur zu wehren!“
Im weiteren Sinne spricht man aber auch von
einer Doppelbindung, wenn ein Sender in
einer Kommunikation einem Empfänger
gegenüber zwei Aussagen tätigt, die sich miteinander nicht vereinbaren lassen. Eltern zum
Beispiel wollen erreichen, dass ihr Kind selbstständig wird; doch andererseits geben die
Eltern dem Kind in verschiedenster Weise mit
ihrem Verhalten zu verstehen, dass es unfähig
zu selbstständigen Entscheidungen sei, dass
es Eltern brauche, ohne die es nicht zurechtkomme.
Eine Doppelbindung liegt vor, wenn sich die
Aussagen, die ein Sender in einer bestimmten
Information bzw. in einer Kommunikation
gibt, nicht miteinander vereinbaren lassen.
Auch Doppelbindungen treten im menschlichen Leben häufig auf. Zu Störungen in der
Kommunikation kommt es jedoch nur dann,
wenn – wie bei der Paradoxie – eine bindende
und komplementäre Beziehung, die nicht
ohne Weiteres verlassen werden kann, vorliegt und die Situation durch Kommunikation
nicht beseitigt werden kann.
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Quelle: Hobmair, 2010, S. 283 ff.
3. Die Elemente einer Ich-Botschaft
5
10
In einer Ich-Botschaft sage ich etwas über
mich als Person aus. Durch diese Ich-Aussage
kann eine Vertrauensbasis geschaffen werden, die beiden Partnern erlaubt, offen und
klärend miteinander zu reden. Dabei soll es
dem Gesprächspartner selbst überlassen bleiben, ob und wie er reagiert; ob er sein Verhalten beibehalten oder ändern möchte.
Durch vier wesentliche Elemente kann eine
Ich-Botschaft näher charakterisiert werden:
1. Ich mache die Sachaussage.
Ich benenne die Sache, die Begebenheit, die
Situation, um die es geht; ich beschreibe, was
ich wahrnehme, was ich höre oder sehe –
ohne es zu bewerten.
15
„Ulrike, du hast dich auf der Party wieder
nur mit Herbert abgegeben und ich saß
alleine da.“
2. Ich mache eine Gefühlsaussage.
Ich sage, wie es mir mit der Sache, der Begebenheit oder Situation ergeht bzw. ergangen
ist.
„Das hat mich verletzt.“
20
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Kapitel 11
5
3. Ich sage, welche Auswirkungen es auf mich
hat.
Ich sage, was die Sache, die Begebenheit oder
die Situation für mich bedeutet, welche Folgen sich für mich ergeben, was für mich wichtig ist.
„Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich mit dir dran
bin, ob du mich eigentlich noch liebst. Doch
du bist mir sehr wichtig.“
4. Ich mache eine Wunschaussage.
Ich sage, was an der Sache, der Begebenheit
oder Situation geändert werden kann, damit
diese für beide akzeptabel wird. Ich richte
einen Wunsch oder Appell an den Anderen,
wie wir in Zukunft mit dieser Sache, Begebenheit oder Situation umgehen können.
10
15
„Ich möchte gerne mit dir darüber reden
und die Sache klären, damit ich weiß, woran
ich bin.“
Sachaussage
Gefühlsaussage
Ich-Botschaft
Auswirkungen
Wunschaussage
Quelle: Hobmair 2010, S. 35 f.
4. Konfliktmanagement
5
10
15
Damit Konflikte zu positiven funktionalen
Wirkungen führen, ist der erfolgreiche Umgang
mit diesen bedeutend. Dabei geht es einmal
um Konfliktprävention1, um dysfunktionale
Konflikte weitgehend zu vermeiden, und zum
anderen um Konfliktsteuerung als Handhabung, Austragung und Lösung von sozialen
Konflikten (vgl. von Rosenstiel u. a., 20059,
S. 241 ff.).
Bei der Konfliktprävention geht es um Möglichkeiten, wie das soziale Handeln und das
Zusammenwirken von Menschen in sozialen
Gebilden gestaltet werden können, um unproduktive und dysfunktionale Konflikte weitgehend zu vermeiden.
So können zum Beispiel in betrieblichen
Organisationen die Kommunikationsstrukturen derart gestaltet werden, dass alle Personen, die an einer gemeinsamen Aufgabe
beteiligt sind, Zugang zu den hierfür notwendigen Informationen haben. Eine Familie
20
1
Prävention (lat.): Vorbeugung
kann sich wöchentlich einmal zur sogenannten Familienkonferenz treffen, um dort über
das Wohlbefinden der einzelnen Familienmitglieder zu sprechen.
25
Hinsichtlich der Konfliktsteuerung gibt es verschiedene Lösungsmöglichkeiten:
– Hemmung: Die am Konflikt beteiligten Personen bzw. Personengruppen verhalten
sich zurückhaltend und tun gar nichts, sie
lassen den Konflikt einfach „stehen“. Diese
Aktionshemmung ist meist damit verbunden, dass man den Konflikt gar nicht wahrhaben will bzw. kann, ihm ausweicht, ihn
umgeht, bagatellisiert oder auch verschleiert.
Ein Ehepaar zum Beispiel kehrt alle seine
Konflikte, die im Laufe der Zeit auftreten,
unter den Teppich; es nimmt sie gar nicht
wahr, und wenn, dann redet es diese klein.
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Kapitel 11
5
10
– Hinter dieser Möglichkeit steht die Einstellung, dass es Konflikte nicht geben darf.
Doch Konflikte sind Realität und es geht
nicht darum, Konflikte nicht wahrhaben zu
wollen oder sie zu vermeiden, sondern
darum, wie mit Konflikten umgegangen
wird.
– Unterdrückung: Die eine Seite zwingt die
andere zur Unterwerfung, Macht oder Gewaltanwendung halten den „Gegner“ in Angst
und Abgängigkeit.
Ein Beispiel hierfür ist der Krieg, der den Verlierer zur Unterwerfung zwingt.
15
20
25
– Unterweisung: Aufgrund von Macht und/
oder Zwang ist es möglich, die eine Seite zu
zwingen, ihre Ansichten, Einstellungen und
dergleichen anzunehmen.
Ein Schüler, der regelmäßig zu spät zum
Unterricht kommt, wird aufgrund einer Schulstrafe dazu gezwungen, sich der Schulordnung anzupassen.
– Eliminierung: Der „Gegner“ wird ignoriert,
kaltgestellt oder auch gemobbt. Die Eliminierung kann bis zum Ausschluss von Betroffenen in einem sozialen Gebilde führen.
Der gute und fleißige Schüler wird von seinen Mitschülern als „Schleimer“ verschrieen
und von der Klasse isoliert.
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– Bündnis (Allianz): Personen oder Personengruppen in einem sozialen Gebilde suchen
andere Personen bzw. Personengruppen
und verbünden sich miteinander, um ihre
Ziele durchsetzen zu können.
Ärzte verschiedener Richtungen schließen
sich zusammen, um eine Gehaltserhöhung
zu erreichen.
– Abstimmung: Aufgrund eines höheren
Abstimmungsergebnisses siegt die Mehrheit und bestimmt – auch gegen die Einwände der Anderen –, was getan wird.
Die Klasse stimmt nach einer sehr engagierten Diskussion ab, wohin die Klassenfahrt
gehen soll.
– Kompromiss: Jede „Partei“ gibt etwas auf,
steckt ein wenig zurück und macht Zugeständnisse, so dass sich die Kontrahenten
„auf halbem Weg“ treffen.
Die Klasse will ein Treffen veranstalten. Die
eine Seite will dieses Treffen schon um 18:00
Uhr beginnen lassen, die andere erst um
20:00 Uhr. Als Kompromiss einigen sich beide
Seiten auf 19:00 Uhr.
– Konsens: Das soziale Gebilde als Ganzes
kommt zu einer Lösung, die für jeden am
Konflikt Beteiligten akzeptabel ist. Auf
diese Weise wirkt sie persönlich befriedigend, was sich positiv auf das soziale
Gebilde und seine Ziele auswirkt.
Otto will heute Abend ins Kino gehen, während Gertraud dazu keine Lust hat und lieber fernsehen will. Doch dazu hat Otto keine
Lust. Im Laufe des Gespräches finden sie eine
Lösung, die beide wollen: Sie gehen gemeinsam in ein Restaurant zum Essen.
Der Konsens stellt die reifste Art dar, einen
Konflikt zu lösen, da das Ergebnis immer für
alle am Konflikt Beteiligten akzeptiert werden kann. Die Unterschiede zwischen den
Konfliktparteien werden respektiert und es
wird versucht, den anderen zu verstehen.
Widersprechende Meinungen, Interessen und
dergleichen werden gemeinsam in gleichberechtigter Atmosphäre diskutiert und so lange
gegeneinander abgewogen, bis eine Lösung
erzielt wird, die für alle am Konflikt beteiligten Personen annehmbar ist und innerlich
befriedigend wirkt. Eine solche Art von Lösung
nimmt allerdings von allen Lösungsmöglichkeiten die meiste Zeit in Anspruch.
Bei einer effektiven Konfliktlösung geht es
also darum, eine Lösung zu finden, die den
Interessen aller am Konflikt Beteiligten möglichst gerecht wird und die zugleich zu einer
dauerhaft guten Beziehung zwischen diesen
führt. Dabei ist von Bedeutung, Menschen
und Probleme voneinander zu trennen, auf
Interessen zu achten und nicht auf Positionen
und eine Entwicklung von Lösungsalternativen zum Vorteil aller (vgl. von Rosenstiel u. a.,
20059, S. 246 f.).
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Kapitel 11
Hemmung
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Unterdrückung
Unterweisung
Eliminierung
Lösungsmöglichkeiten
von sozialen Konflikten
Bündnis (Allianz)
Abstimmung
Kompromiss
Konsens
Oft sind die an einem Konflikt beteiligten
Personen nicht imstande, diesen allein – ohne
Hilfestellung – zu lösen. Versuchen nun die
Konfliktparteien mithilfe eines Vermittlers
eine einvernehmliche Lösung zu finden, so
spricht man von Mediation; den Vermittler
selbst bezeichnet man als Mediator. Die
Mediation hat als Verfahren der Konfliktsteuerung in jüngster Zeit sehr an Bedeutung
gewonnen.
Quelle: Hobmair 2010, S. 288 ff.
10
Kapitel 12
71
Materialien Kapitel 12
1. Gesund oder krank ist immer der ganze Mensch
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Körperliche und seelische Vorgänge stehen
nicht nebeneinander, zwischen Körper und
Psyche1 besteht ein enger Zusammenhang; sie
stehen zueinander in einer engen Wechselwirkung. Leib und Seele sind also nicht zwei
voneinander getrennte Erscheinungen, sondern
bilden eine Einheit, die von vornherein zusammengehört. Veränderungen im Körper führen
auch zu Veränderungen des Erlebens und
Verhaltens und umgekehrt. So werden einerseits gefühlsmäßige Erregungen von körperlichen Vorgängen begleitet, andererseits
haben körperliche Vorgänge seelische Begleiterscheinungen. Diese Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche kann sowohl unter
psychosomatischen2 als auch unter dem
somatopsychischen3 Gesichtspunkt betrachtet
werden.
Die somatopsychische Betrachtungsweise
bringt zum Ausdruck, dass seelische Vorgänge
ihren Ursprung in körperlichen Zuständen
oder körperlichen Veränderungen haben
können. Eine Überproduktion des Schilddrüsenhormons Thyroxin hat zum Beispiel als
körperliche Folgen Nervosität, Konzentrationsstörungen, Überempfindlichkeit und Stimmungsschwankungen. Länger andauernde
körperliche Krankheiten oder Beeinträchtigungen können zu psychischer Verstimmung oder
zu Depression führen. Die Auswirkungen zeigen sich also zuerst im psychischen Bereich,
haben aber körperliche Ursachen. Insbesondere bei psychischen Störungen ist abzuklären,
ob das Erleben bzw. Verhalten durch körperliche Prozesse bedingt ist oder nicht.
Die psychosomatische Betrachtungsweise
bringt zum Ausdruck, dass die Psyche den
Körper beeinflusst. Starke Gefühlsregungen
wie beispielsweise Angst und Wut werden
von körperlichen Erregungen im Nervensystem begleitet. Angstzustände gehen zum
Beispiel einher mit erhöhter Puls- und Atemfrequenz, erhöhtem Blutdruck und Hautwiderstand, hormonellen Veränderungen und
erhöhtem Muskeltonus. Wenn solche Erregungszustände aufgrund äußerer Umstände
länger andauern, belasten sie den Organismus. Diese Dauerbelastung kann dann zu
Schäden bestimmter Körperorgane führen.
Die Krankheit zeigt sich hierbei am Körper,
hat aber psychische Ursachen. Psychosomatische Krankheiten können zum Beispiel Hautkrankheiten, Erkrankungen der Atemorgane,
des Herz- und Kreislauf-Systems, des Blutes
und des Lymphsystems, des Magen- und
Darmtraktes, Störungen der Sinnesorgane
oder der Skelettmuskulatur sein.
Sowohl aus medizinischer als auch aus psychologischer Sicht ist es deshalb wichtig, den
ganzen Menschen zu sehen und nicht nur
etwa den psychischen oder nur den körperlichen Aspekt. In der Regel ist es so, dass der
Schmerz beispielsweise am Körper wahrgenommen wird, die vom Arzt verordneten
Heilmaßnahmen wie Medikamente sich lediglich auf den Körper beziehen und am körperlichen
Wohlbefinden
die
Gesundheit
festgemacht wird. Aber es gibt praktisch
keine Krankheit, bei der die Psyche keine
Rolle spielt. Selbst bei einem Unfall oder
Knochenbruch hängt der Heilungsprozess in
einem nicht unerheblichen Maße davon ab,
welche „innere“ Einstellung der Patient zu
diesem Geschehnis hat. Krank ist immer der
ganze Mensch.
1
2
3
Körper (griech.: soma); Psyche (griech.): die Seele)
psychosomatisch: die Psyche beeinflusst den Körper
somatopsychisch: körperliche Zustände beeinflussen die Psyche
Quelle: Hermann Hobmair
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Kapitel 12
2. Die Problematik des Begriffs „Psychische Störung“
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Der Begriff „Psychische Störung” ist nicht
ganz unproblematisch: Normalität ist nicht
objektiv messbar und lässt sich auch nicht aufgrund objektiver Kriterien exakt bestimmen.
Aus diesem Grunde kann auch kaum mit
Sicherheit geklärt werden, wann eine Störung
vorliegt und wann nicht.
Ein statistisch berechneter Durchschnitt –
etwa „im Durchschnitt können Kinder Ende
des 15. Monats frei stehen und ohne Hilfe
gehen“ –, also die statistische Norm, besagt
lediglich, was die Mehrheit im Schnitt tut; sie
entspricht aber meist nicht der Realität und
trifft so gut wie nie auf den Einzelfall zu.
Dies wird deutlich an der Norm „Jeder Deutsche trinkt täglich 0,52 l Bier“: Kaum einer
trinkt genau diese Menge am Tag, er trinkt
entweder mehr oder weniger – Abweichungen sind das „Normale“.
15
20
25
Oft wird dabei übersehen, dass Verhalten
immer einen Spielraum hat. Gesellschaftliche
und individuelle Normalität – was die Gesellschaft bzw. eine ihrer Gruppen für wünschenswert hält oder welche Vorstellungen
der Einzelne hat – ist zudem immer subjektiv
und entzieht sich einer objektiven Messung.
Was für eine Person „normal“ ist, ist für eine
andere vielleicht „noch hinnehmbar“ für eine
dritte vielleicht schon „nicht mehr normal“.
So gibt es viele Personen, die sich als „zu
dick“ oder als „nicht gut aussehend“ empfinden und unter diesem Zustand sogar leiden,
obwohl ihre körperlichen Parameter weder
von Idealvorstellungen der Gesellschaft noch
vom Durchschnittswert abweichen.
30
35
Wert- und Normvorstellungen sind relativ und
weichen von Gruppe zu Gruppe bzw. von
Gesellschaft zu Gesellschaft voneinander ab.
Im Griechenland der Antike zum Beispiel
war Homosexualität unter Männern eine
selbstverständliche Lebensform, bis in die
40
1
1970er-Jahre war es in unserer Gesellschaft
eine behandlungsbedürftige Krankheit. Das
Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im Jahr 2001 ist Ausdruck
davon, dass Homosexualität zunehmend
wieder eine akzeptierte Form ist, die eigene
Sexualität zu leben.
Welches Erleben und Verhalten als psychische
Störung definiert wird, ist also abhängig von
kulturellen und sozialen Normen und damit
starken Zeitströmungen unterworfen.
Ebenso können Begriffe wie „über einen längeren Zeitraum“, „erheblich“, „Leidensdruck“, „dysfunktional“, „Beeinträchtigung“
usw. nicht genau und eindeutig bestimmt
werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die
betroffenen Menschen auf ihre psychische
Störung reduziert werden und ihre Fähigkeiten, Stärken und Möglichkeiten zu wenig
wahrgenommen und gestärkt werden.
Am deutlichsten wird Kritik von dem Psychiater Thomas Szasz geäußert. Ihm zufolge sind
es Etikettierungen, um Menschen zu kontrollieren und deren Änderung und Ausgrenzung
zu rechtfertigen, weil ihre ungewöhnlichen
Verhaltensmuster die gesellschaftliche Ordnung bedrohen. Thomas Szasz sieht abweichendes Verhalten nicht als Anzeichen einer
inneren Störung, sondern als Lebensproblem
(vgl. Comer, 20086, S. 3 f.).
Die Zuschreibung des Begriffs „gestört“ oder
„Gestörter“ zu einem Menschen ist fast immer
mit einer negativen Bewertung und Diskreditierung1 der betroffenen Person verbunden
und beeinflusst den Umgang mit ihr in negativer Weise. Selbst die Benennung einer psychischen Störung selbst wie etwa „Ich habe
eine Depression“ oder „Ich bin schizophren“
wird nicht bewertungsneutral wahrgenommen, sondern es fließt zugleich eine negative
Bewertung mit ein, die auf den „Träger“ übertragen wird und den Umgang mit diesem in
einem nicht unerheblichen Maße beeinflusst.
Die Zuschreibung negativer Eigenschaften und
Verhaltensweisen aufgrund eines bestimmten
Diskreditierung (discréditer, franz.): jemanden in Verruf bringen, jemanden verunglimpfen
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Kapitel 12
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Merkmals wird als Stigmatisierung1 bezeichnet (vgl. Goffman, 2008, S. 10 f.). Durch diese
Zuschreibung bilden sich negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber dem Träger
eines Stigmas aus. Sie weist den Betroffenen
automatisch einen Status außerhalb des Normbereichs zu, der sie in den Gedanken der „normalen“ Menschen zu Außenseitern stempelt
und ausschließt.
Gerade deshalb wenden sich viele der
Betroffenen dagegen, als „Gestörte“ oder
„psychisch Kranke“ bezeichnet zu werden,
insbesondere in einer Zeit, da „Gestörter“
bereits als Schimpfwort benutzt wird.
10
Die Stigmatisierung charakterisiert nicht nur
ein von der Norm abweichendes Verhalten,
sondern wertet die betroffene Person als
„fehlerhaft“ und „minderwertig“ ab und
grenzt sie von den gesellschaftlichen Bezügen
aus. Durch derartige Diskreditierungen wird
die Identität eines Menschen stark getroffen
und „beschädigt“. Stigmatisierung führt also
zwangsläufig zu einer massiven Beschädigung
der Identität von Betroffenen. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman spricht von
einer beschädigten Identität.
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Quelle: Hobmair, 2012, S. 444 ff.
„Die Identitätsentwicklung eines Menschen, der auf diese Weise stigmatisiert wird, ist gefährdet. Er kann zwischen seiner ursprünglichen persönlichen und der zugeschriebenen sozialen
Identität nur noch schwer oder nicht mehr ausbalancieren.“
(Klein u. a., 199910, S. 45)
3. Entstehung von psychischen Störungen aus der Sicht
verschiedener Theorien
5
– Rund 30 Prozent der Bevölkerung erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Den größten Anteil haben
Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Süchte.
– Jeder 5. Deutsche erkrankt im Laufe seines
Lebens an einer Depression.
10
– Eine Studie des Max-Planck-Institutes zeigt,
dass 13 bis 14 Prozent der deutschen Bevölkerung akut unter einer ernsthaften Angststörung leidet.
– Die häufigste Ursache, wenn Arbeitnehmer
krankheitsbedingt früher in den Ruhestand
gehen, sind psychische Störungen.
15
– Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020
Depressionen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigsten Erkrankungen sein
werden (vgl. Natter, 2011, S. 34).
1
2
Aus psychologischer Sicht sind tiefenpsychologische Theorien, Lerntheorien, kognitive
Theorien, humanistische Theorien sowie in
jüngerer Zeit auch systemische Theorien von
Bedeutung.
20
a) Psychoanalytische Theorie2
Psychische Störungen entstehen aus psychoanalytischer Sicht einmal dadurch, dass die
einzelnen Persönlichkeitsinstanzen nicht im
Gleichgewicht zueinander stehen, und zum
anderen durch Konflikte und Probleme, die
im Zusammenhang mit der frühkindlichen
Entwicklung der Libido stehen.
25
Nach Sigmund Freud handelt es sich zum
Beispiel bei einer Phobie um eine Abwehr
der Angst von verdrängten Es-Wünschen,
die das Ich nicht zulassen kann bzw. darf,
weil dieses entweder von den Forderungen
der Realität beherrscht wird oder das zu
stark ausgebildete Über-Ich den Es-Wunsch
Stigma (griech.): das „Brandmal“
Die Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie sind in Kapitel 1.4.1 und 9.2.3 dargestellt.
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74
Kapitel 12
„verbietet“. Das Ich muss deshalb den EsWunsch unterdrücken. Um die Abwehr zu
sichern, setzt das Individuum den Abwehrmechanismus der Verschiebung ein: Die
Angst vor der gefürchteten Triebregung
wird auf ein Objekt oder eine Situation verschoben, die mit der Triebregung in symbolischem Zusammenhang steht.
5
Psychische Störungen entstehen aus psychoanalytischer Sicht durch
10
15
20
25
das Bestehen eines Ungleichgewichtes zwischen
dem Verhältnis des ICHs, des ES, des ÜBER-ICHs
und der Realität zueinander.
Konflikte und Probleme, die im
Zusammenhang mit der frühkindlichen
Entwicklung der Libido stehen.
Ein Ungleichgewicht der einzelnen Persönlichkeitsinstanzen – dies ist der Fall, wenn das ES, das ÜBER-ICH
oder die Realität über das ICH siegen (Ich-Schwäche) –
bewirkt ein Auftreten von unangemessenen Ängsten und
einen übertriebenen Einsatz von Abwehrmechanismen,
die die bedrohlichen und angstauslösenden Erlebnisinhalte abwehren, unbewusst machen sollen. Ein fortwährendes Einsetzen von Abwehrmechanismen führt zur
Leugnung, Verzerrung und Verfälschung der Realität,
sodass es zu einem der Realität nicht angepassten
Verhalten kommt, was der Ausgangspunkt für seelische
Fehlentwicklung ist.
Werden die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes in den
jeweiligen Phasen – orale, anale, phallische Phase – nicht
oder nur unzureichend befriedigt, so kommt es zu Triebfrustrationen, was das Erleben einer Enttäuschung als
Folge einer fortwährenden Verhinderung der Befriedigung
wichtiger Bedürfnisse meint. Eine Triebfrustration bringt
es einmal mit sich, dass das Kind an entsprechenden
Verhaltensweisen einer Entwicklungsphase festhält
(= Fixierung), zum anderen, dass es eine bestimmte Phase
überwindet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder
auf die in dieser Phase vorherrschenden Erlebens- und
Verhaltensweisen zurückfällt (= Regression). Fixierung
und Regression können auch eintreten, wenn die Wünsche
und Bedürfnisse des Kindes über die Maßen hinaus befriedigt werden (= exzessive Befriedigung).
b) Individualpsychologische Theorie1
Aus individualpsychologischer Sicht ist das
Kriterium, ob sich ein Mensch gesund entwickelt oder Störungen zeigt, seine Fähigkeit
und Bereitschaft, den Anforderungen des
Zusammenlebens zu entsprechen. Ist diese
Fähigkeit zu wenig oder nicht entfaltet, so
wird der Mensch den Anforderungen des
Zusammenlebens nicht gerecht werden können. Das Individuum, das die Anforderungen
des Zusammenlebens nicht bewältigen kann,
baut sich seine eigene „Logik“, ein Phantasiegebilde auf, das nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern von ihr abweicht und weniger
dem Allgemeinwohl entspricht. Adler spricht
hier von „privater Logik“. Es ist dann bestrebt,
enorme Anstrengungen zu unternehmen, um
sein Selbstwertgefühl zu sichern und baut
Sicherungen auf, um das Ich vor Bedrohungen
von außen zu schützen und seine private
1
2
Logik zu bewahren und durchzusetzen. Das
Arrangieren von Sicherungen ist ihm weitgehend unbewusst. Der Aufbau und die Sicherung einer „privaten Logik“ führen jedoch
zur Leugnung und Verfälschung der Realität,
so dass es zu einem der Realität nicht angepassten Verhalten kommt, was der Ausgangspunkt für seelische Fehlentwicklungen ist.
c) Konditionierungstheorien
Eine psychische Störung aus der Sicht der klassischen Konditionierung2 wird erlernt, wenn
eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes
Objekt mit einem Reiz, der als Reaktion
bereits eine Störung hervorruft, mehrmals
zeitlich und räumlich gekoppelt wird. Dabei
stellt die Situation bzw. das Objekt den neutralen Reiz (NS) dar, der durch die Koppelung
mit dem unbedingten – störungsauslösenden – Reiz (UCS) und der darauf folgenden
Die Grundaussagen der individualpsychologischen Theorie sind in Kapitel 9.2.3 dargestellt.
siehe Materialien 3a) des Kapitels 6
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Kapitel 12
unbedingten Reaktion (UCR) – psychische Störung – zum bedingten Reiz (CS) wird, der die
gleiche bzw. eine ähnliche Reaktion –
bedingte Reaktion (CR) – auslöst wie der UCR.
Exemplarisch gilt das Beispiel des 11 Monate
alten Albert, der durch die klassische Konditionierung Angst vor Stofftierchen erlernte:
Immer, wenn Albert mit einem Stofftierchen
spielte, ertönte im Hintergrund ein
5
NS
Stofftier
UCS
Geräusch
NS
+ UCS
Stofftier + Geräusch
fürchterliches Geräusch, auf das Albert mit
Angst und Schrecken reagierte. Das Geräusch
wurde erzeugt, indem man mit einem Hammer auf eine hängende Eisenstange schlug.
Das Kind zuckte dabei immer heftig zusammen, fiel nach vorn und verbarg sein Gesicht
in der Matratze. Nach mehrmaligen solchen
Versuchen konnte man beobachten, dass
Albert sofort zu schreien begann, sobald das
Stofftierchen nur gezeigt wurde.
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keiner spezifischen Reaktion
führt zu
führt zu
führt zu
UCR
Angst, Schrecken
UCR
Angst, Schrecken
nach mehreren Wiederholungen der Koppelung von NS und UCS:
NS übernimmt Signalfunktion
CS
Stofftier
20
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führt zu
Aus der Sicht der operanten Konditionierung1
kann eine psychische Störung entstehen,
wenn ein Mensch mit dem Zeigen einer solchen angenehme Zustände herbeiführen bzw.
aufrechterhalten und unangenehme vermeiden, verringern oder beenden kann.
1
siehe Materialien 3b) des Kapitels 6
CR
Angst, Schrecken
Frau Delly zeigt Symptome der Depression,
weil sie durch diese beispielsweise den angenehmen Zustand, dass sie von ihrer Familie
Beachtung und Zuwendung bekommt, herbeiführen und aufrechterhalten kann. Sie
zeigt die Depression aber auch deshalb, weil
sie möglicherweise durch diese den unangenehmen Zustand der Einsamkeit und des
Alleinfühlens vermeiden bzw. beenden kann.
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76
Kapitel 12
Auch Lerndefizite – ein bestimmtes Verhalten
wurde nicht erlernt – können zu psychischen
Störungen führen.
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15
d) Kognitive Theorien
Die Entstehung und Aufrechterhaltung von
psychischen Störungen aus der Sicht von kognitiven Theorien1 hängen mit „falschen“ Gedanken und Bewertungsmustern zusammen, die
in den Kognitionstheorien im Gegensatz zu
den funktionalen dysfunktionale Kognitionen
genannt werden. Unter dysfunktionalen Kognitionen versteht man unangemessene, nicht
realitätsgerechte, selbstschädigende und nicht
zielführende Gedanken und Annahmen eines
Menschen.
Sichtweisen wie „Ich bin ein Versager“, „Niemand mag mich, alle sind gegen mich“ oder
„Es ist alles so hoffnungslos“ können aus der
Sicht kognitiver Theorien eine Depression
entstehen lassen und auch durch diese aufrechterhalten werden.
20
“Unser Leben ist das, was unsere Gedanken aus ihm machen.“
(Marc Aurel2)
Schon der Gedanke lässt die
Muskeln wachsen
Brighton (Reuters) Schon allein der Gedanke
an sportliche Aktivität zahlt sich nach Angaben von Wissenschaftlern für den Körper aus.
Das Gehirn verhalte sich sehr ähnlich, egal,
ob ein Mensch tatsächlich Sport treibe oder
es sich nur vorstelle, sagte der Sportpsychologe Dave Smith am Samstag. Er ließ Studenten Fingerübungen machen. Eine Gruppe
musste ihre Finger regelmäßig beugen, während die andere sich dies nur vorstellte. Bei
allen nahm die Muskelstärke zu.
25
30
e)
Humanistische Theorien: Die personenzentrierte Theorie
Aus der Sicht der personenzentrierten Theorie3 entsteht eine psychische Störung dann,
wenn die beiden Ebenen des Wertens – das
organismische Erleben als die Verkörperung
der Aktualisierungstendenz und das Selbstkonzept – zueinander in Widerspruch stehen,
also eine Inkongruenz vorherrscht, und das
Selbstkonzept so starr ist, dass es neue Erfahrungen nicht integrieren und so die Inkongruenz nicht auflösen kann, sondern das
Individuum mit Abwehr reagiert. Aus der
Unvereinbarkeit von organismischem Erleben
und Selbstkonzept ergeben sich innerpsychische Spannungen, die das Individuum als
einen quälenden Zustand erlebt.
Dies ist beispielsweise bei der Depression der
Fall: Einerseits sieht sich der Depressive aufgrund seines Selbstkonzeptes sehr stark vom
Zuspruch und von der Anerkennung seitens
seiner Mitmenschen abhängig. Um Bestätigung, Achtung und Bewunderung zu bekommen und einer befürchteten Missachtung und
Ablehnung zu entgehen, versucht sich das
Individuum ständig seiner Umwelt anzupassen und tut das, was seine Mitmenschen von
ihm erwarten. Dieses ständige Richten nach
den Anderen widerspricht aber andererseits
dem zu sich selbst führenden Streben nach
Autonomie und Ungebundenheit der Aktualisierungstendenz, so dass eine Inkongruenz
vorhanden ist. Ist nun das Selbstkonzept zu
starr und nicht imstande, diese Inkongruenz
aufzulösen, kommt es zu einem inneren Konflikt, welcher sich in einer Depression äußern
kann.
f) Systemische Theorien
Aus systemischer Sicht 4 wird das Individuum
nicht isoliert gesehen, sondern als Teil eines
Beziehungsfeldes: der Einzelne wird von seinen sozialen Beziehungen (Partner, Familie,
(Reuters, 1998, S. 16)
1
2
3
4
Die Grundannahmen kognitiver Theorien sind in Kapitel 1.4.3 und 9.2.4 dargestellt.
Marc Aurel (121–180) war von 161 bis 180 römischer Kaiser.
Die Grundannahmen der humanistischen Theorien sind in den Kapiteln 1.4.5 und 9.2.5 ausgeführt, die personenzentrierte Theorie ist in Kapitel 9.3 dargestellt.
Die Grundannahmen systemischer Theorien sind in Kapitel 1.4.6 dargestellt.
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Kapitel 12
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Freunde, Kollegen, Gesellschaft) beeinflusst
und wirkt zugleich durch sein Verhalten und
Handeln auf diese. Entsprechend dieser
Grundannahme gehen systemische Theorien
davon aus, dass psychische Störungen im
sozialen System entwickelt und aufrechterhalten werden.
Störungen wie Weglaufen von der Familie,
aus der Schule oder dem Heim, Stehlen,
Gewaltanwenden und dgl. können nur in Verbindung mit dem System wie beispielsweise
ein Schwanken in den Beziehungen zwischen Bindung und Ausstoßung, Fürsorge
und Ablehnung verstanden werden.
Stimmt im System bzw. in seinen Strukturen
etwas nicht – ist es also nicht mehr in der
„richtigen“ Art im Gleichgewicht –, so entsteht an einem Element in diesem System eine
Störung, die der Aufrechterhaltung eben dieses Systems dient.
Eine Magersucht – die rigide Einschränkung
der Nahrungsaufnahme mit dem Ziel, Körpergewicht zu verlieren - kann beispielsweise den Versuch darstellen, die Ehe der
Eltern zu retten, indem die Tochter durch
diese Störung die beiden Elternteile aneinander zu binden versucht.
77
25
„Nicht das einzelne Individuum, sondern
das System, in dem sich einer befindet, ist
‚gestört’.“
(Jaeggi, 2011, S. 186)
Sehr eng mit den systemischen Theorien
hängt der Konstruktivismus zusammen.
Aus der Sicht des Konstruktivismus entstehen
psychische Störungen aufgrund falscher
Bedeutungsgebung und werden auch dadurch
aufrechterhalten. Eine solche falsche Bedeutungsgebung ist beispielsweise „Die schlechten Eigenschaften unseres Sohnes hat er von
seinem Opa geerbt, der auch nicht gerade der
Beste war.“
Quelle: eigener Text
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Kapitel 12
4. Der Krieg in mir – die Geschichte einer Magersucht
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Anna war 12 Jahr alt, als sich ihr Körper merklich veränderte. „Meine Brüder waren die ersten, die mich auf meine Brüste angesprochen
haben. Daraufhin habe ich mich wütend auf
mein Zimmer verzogen“, erzählt sie. Dann
schildert sie, wie sie ihre weiblichen Formen
hasste, „den dicken Bauch und die fetten
Oberschenkel“.
Zuerst probierte Anna eine Trennkost aus.
Drei Monate später machte Anna aber keine
Trennkostdiät mehr, sie hungert, treibt täglich
bis zu zwei Stunden Sport und hat damit
einen Vernichtungskrieg gegen den eigenen
Körper begonnen.
„Ich bin hässlich!“
Sie schleicht sich mehrmals täglich ins elterliche Schlafzimmer, mustert im Spiegelschrank
ihren nackten Körper und findet ihn schrecklich. Schön und schlank will Anna sein – so wie
ein Model. Sie will hohle Wangen haben und
dünne Beine.
Annas Alltag dreht sich jetzt zwanghaft ums
Essen. Sie plant ihre Mahlzeiten immer detaillierter. Irgendwann funktioniert ihr Körper
nicht mehr wie gewohnt. Die Gymnasiastin
hat Konzentrationsprobleme, im Sportunterricht versagt sie aus Schwäche, ihre Periode
bleibt aus. Manchmal macht ihr das Angst,
aber die verdrängt Anna sofort. Die Sorge,
dick zu werden, ist übermächtig. Außerdem
empfindet sie tief drinnen ein gewisses Hochgefühl und so etwas wie Stärke: Toll, wie ich
meinen Körper beherrsche. Doch im Lauf der
Zeit schwinden – mit den Pfunden – auch
diese Gefühle. Anna fühlt sich schlecht und
merkt, wie sich allmählich alles verselbstständigt, wie sie die Befehlsgewalt über ihr
Handeln verliert. Nun will sie nicht mehr hungern, kann aber gar nichts mehr essen. Eine
Stimme in ihrem Kopf bremst konsequent
ihren Appetit: „Wenn du in dieses Brötchen
beißt, wirst du noch fetter.“
Eines Abends zieht ihr die Mutter das Schlafshirt hoch und schaut entsetzt auf den dürren
Körper ihrer Tochter: „Anna, du bist krank!“
Was jetzt? Die Eltern reagieren hilflos auf die
Forderungen ihrer Tochter. Sie verbietet ihnen
einfach, sie auf das Essen anzusprechen.
Wenn die beiden Anna trotzdem Vorhaltungen machen, isst sie aus Trotz gar nichts mehr.
Dann kippt Anna in der Schule im Unterricht
um – der Kreislauf versagt. Als sie ihre Eltern
nun ins Nürnberger Klinikum bringen, ist
Anna 13 Jahre alt und 1,68 Meter groß.
Gewicht: 38,5 Kilogramm. Die ärztliche Diagnose lautet: Anorexia nervosa – Magersucht.
Quelle: Beyer, in: Nürnberger Nachrichten,
25./26.05.2002
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Kapitel 13
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Materialien Kapitel 13
1. Beratungsstellen
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Das Beratungsproblem kann sehr unterschiedliche Bereiche betreffen. Dementsprechend
gibt es unterschiedliche Beratungsstellen.
Hauptanwendungsbereiche sind Telefonseelsorge, Schwangerschaftskonflikt-, Paar-, Familien-, Erziehungs-, Schulberatung, Drogen- und
Suchtberatung und Schuldnerberatung.
Die Telefonseelsorge will Menschen in Krisensituationen oder Problemen aller Art unter
Wahrung der Anonymität zu jeder Tages- und
Nachtzeit am Telefon die Möglichkeit bieten,
ein helfendes Gespräch zu führen und durch
Zuhören und Verweisen auf kompetente
Fachstellen unterstützen.
Die Schwangerschaftskonfliktberatung ist die
Voraussetzung für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch. Dabei handelt es sich um
ein gesetzliches Pflichtberatungsangebot für
Schwangere in einer Not- und Konfliktsituation innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen. Dessen Ziel ist es, der Frau
eine Perspektive für ein Leben mit dem heranwachsenden Kind zu eröffnen und diese dabei
zu unterstützen, eine persönliche und verantwortliche Entscheidung zu treffen.
Die Paarberatung will Beziehungsprobleme
zwischen Lebenspartnern klären und aufarbeiten.
Die Familienberatung bezieht sich im weitesten Sinne auf alle Probleme und Aufgaben,
die Familien zu bewältigen haben. Die Unterstützung kann von Einzelnen, Paaren, Familien oder Teilfamilien in Anspruch genommen
werden.
Die Erziehungsberatung hat die Klärung und
Bewältigung von individuellen und familienbezogenen Problemen, die Unterstützung
von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Erziehungsberechtigten bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie die Unterstützung der
1
Betroffenen bei Trennung oder Scheidung
zum Ziel. Ihr Gegenstand sind allgemeine Fragen zur Entwicklung und Erziehung des Kindes bzw. Jugendlichen sowie besondere
Probleme in der Entwicklung und/oder der
Erziehung dieser.
Die Schulberatung ist ein kostenfreies Beratungsangebot für Schüler und deren Eltern
sowie für Lehrer. Sie gliedert sich in drei
Bereiche:
– Die schulpsychologische Beratung bezieht
sich auf Krisenintervention, Lern- und Leistungsschwierigkeiten, Gewaltprävention,
Fortbildungen zu psychologischen Themen
und organisationspsychologische Beratung
wie etwa bei Fragen der Schulentwicklung,
Lehrergesundheit oder Mobbing1;
– Die Schullaufbahnberatung gibt Hilfe für
eine vorzeitige Einschulung oder Rückstufung und eine Prognose der Eignung für
weiterführende Schulen.
– Die Schulsozialarbeit ist ein Aufgabengebiet der sozialen Arbeit in der Schule und
widmet sich verhaltensgestörten Kindern
und Jugendlichen, welche aus diesem
Grund erhebliche Schulschwierigkeiten zeigen und/oder das Schulleben wesentlich
stören.
Drogen- und Suchtberatung ist ein Angebot
für suchtgefährdete und süchtige Menschen
sowie deren Angehörige von Einrichtungen
der Gesundheits- und Jugendpflege und
freien Trägern.
Schuldnerberatung will Hilfestellung geben
für Menschen mit Schuldenproblemen in psycho-sozialer, finanzieller und rechtlicher Hinsicht.
Der Begriff „Mobbing“ ist in Kapitel 5.4.1 geklärt.
Quelle: Hobmair, 2010, S. 46
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Kapitel 13
2. Die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieangebote
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Gerade die Klinische Psychologie ist sehr
anfällig für Heilverfahren und Therapieverfahren, die nicht wissenschaftlich abgesichert
sind und damit ihr Erfolg in Frage gestellt
werden muss. Ein großer Psychomarkt hat sich
entwickelt, der mit wissenschaftlich fundierten Therapieverfahren nichts oder sehr wenig
zu tun hat und den Leidensdruck und die
psychische Belastung von Menschen mehr
oder weniger ausnutzt. Es gibt mittlerweile
über 100 Therapieverfahren, von denen nur
sehr wenige anerkannt sind.
Die psychotherapeutische Praxis gilt als wissenschaftlich fundiert, wenn (vgl. Perrez,
20053, S. 81)
– die beabsichtigte Wirksamkeit therapeutischen Vorgehens nachgewiesen ist,
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– die Wirksamkeit nicht – ausschließlich – auf
die positive Erwartung, die Überzeugung
bzw. den Glauben des Klienten an das therapeutische Vorgehen zurückzuführen ist,
– die Maßnahmen und Möglichkeiten aus
bewährten psychologischen Gesetzmäßigkeiten, in der Regel aus einer Theorie,
abgeleitet sind. Therapeutisches Vorgehen
muss von einem wissenschaftlich abgesicherten Theoriegebäude her begründbar
sein, welches zumindest die Entstehung
und Aufrechterhaltung von psychischen
Störungen erklären kann (vgl. Jaeggi, 2011,
S. 67 f.). Die Basis wissenschaftlicher Fundierung bilden Theorien der Verhaltensänderung und Persönlichkeitstheorien, von
denen sich Maßnahmen und Möglichkeiten zur gezielten Veränderung von Erleben
und Verhalten „ableiten“ lassen.
Ein wissenschaftliches Gremium von Ärzten
und Psychotherapeuten prüft, ob für ein psychotherapeutisches Verfahren der wissenschaftliche Nachweis seiner Wirksamkeit
erbracht wurde und anerkannt wird oder
nicht. Zurzeit sind die analytische Psychotherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie,
1
2
die Verhaltenstherapie mit den kognitiven
Psychotherapien, die klientenzentrierte Psychotherapie und die systemische Therapie/
Familientherapie1 als wissenschaftliche Verfahren anerkannt, jedoch nur die ersten
drei genannten – analytische Psychotherapie,
tiefenpsychologische Psychotherapie und
Verhaltenstherapie mit kognitiven Psychotherapien – können mit den Krankenkassen
abgerechnet werden. Die klientenzentrierte
Psychotherapie ist nur für bestimmte Störungsbilder anerkannt (vgl. Renneberg u. a.,
2009, S. 25).
Forschungen haben gezeigt, dass Beratung
und Psychotherapie erfolgreich sind, wenn
folgende Merkmale verwirklicht werden. Wir
sprechen hier von Wirkfaktoren (vgl. Grawe,
2005, S. 4–11):
– Voraussetzung ist eine tragfähige Beziehung, in der der Klient Wertschätzung und
Akzeptanz erfährt. Der Klient muss sich
ernst genommen fühlen, mit dem was er
denkt, fühlt und sagt, er selbst muss offen
und bereit sein, sich auf eine Beratung
oder Psychotherapie einzulassen (Wirkfaktor „Tragfähige Beziehung“).
– Die Fähigkeiten, Ressourcen2 und die Motivation des Klienten werden erfragt,
anerkannt und genutzt (Wirkfaktor „Ressourcenaktivierung“).
– Probleme, die verändert werden sollen,
werden in der Therapie bzw. in der Beratung direkt erfahrbar und erlebbar
gemacht (Wirkfaktor „Problemaktualisierung“).
– Der Klient lernt zu verstehen, wie seine
Probleme entstanden sind, welchen Sinn
sie für ihn haben könnten und wie er sie
lösen kann (Wirkfaktor „Klärung“).
– Der Klient wird aktiv unterstützt, seine Probleme anzugehen und zu bewältigen
(Wirkfaktor „Problembewältigung“).
Diese therapeutischen Verfahren sind in Abschnitt 13.2 dargestellt.
Ressourcen bezeichnet Kräfte eines Individuums, die zur Bewältigung einer bestimmten Situation
zur Verfügung stehen (vgl. Kapitel 5.5.5).
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Wirkfaktoren
der Beratung und Psychotherapie
tragfähige
Beziehung
Ressourcenaktivierung
Problemaktualisierung
Klärung
Problembewältigung
Quelle: eigener Text
3. Weitere Techniken des verhaltensorientierten Handlungskonzeptes auf der Grundlage der operanten Konditionierung
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Eine weitere Methode zum Aufbau von komplexen Verhaltensmustern erfolgt durch die
Verkettung einzelner Verhaltensweisen, auch
chaining1 genannt. Komplexes Verhalten wird
systematisch in kleine Verhaltensschritte aufgeteilt. Es muss bestimmt werden, welche
Einzelreaktionen der Kette im Verhaltensrepertoire des Klienten bereits vorhanden sind
und welche bis hin zum Endziel erst aufgebaut
werden müssen. Bei der Einübung der
Verhaltenselemente wird mit dem letzten
Element der Kette begonnen. Danach erfolgt
ein stufenweiser Aufbau dieser Kette von
Verhaltensweisen bis hin zum Zielverhalten,
begleitet durch den Einsatz positiver Verstärker.
Chaining meint also den systematischen
Aufbau komplexer Verhaltensmuster, ausgehend vom letzten Glied der Verhaltenskette bis
hin zum erwünschten Zielverhalten.
Tobias ist Patient in einer Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Er leidet unter sozialen
Ängsten und soll lernen, allein mit Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen. Von der
Betreuerin unterstützt kann er mit einem
Kind ein Spiel spielen. Als nächste Schritte
wurden bestimmt:
1. Er übt, weiterzuspielen, auch wenn
Betreuerin weggeht.
2. Er fragt ein Kind, ob es mit ihm spielt.
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3. Er macht bei Gruppenspielen mit, die
betreut sind.
4. Er übt, zu einer frei spielenden Gruppe
dazuzukommen.
Ergänzende Methoden zur Verhaltensanbahnung und Erleichterung sind das Prompting
und das Fading.2 Zunächst wird beim Prompting das zu lernende Verhalten unter aktiver
Mitarbeit und verbaler Hilfestellung des Therapeuten ausgeführt. Allmählich wird beim
Fading die anfangs gegebene Hilfestellung
immer seltener. Ansätze von selbständiger
Ausführung des Verhaltens werden positiv
verstärkt. Bei völlig eigenständiger Ausführung unterbleibt schließlich auch die Verstärkung. Prompting meint also eine aktive und
verbale Hilfestellung bei der Ausführung eines
erwünschten Verhaltens, Fading bedeutet das
schrittweise Ausblenden dieser Hilfestellung.
Friedrich schafft es nie, einen Vortrag zu halten oder sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Da Friedrich deshalb nur noch ungern
zur Schule geht, begleiten ihn sein Vater
oder seine Mutter gelegentlich, insbesondere
dann, wenn er ein Referat halten muss. Sie
reden ihm gut zu, er kann auf dem Schulweg
die Inhalte nochmals durchsprechen. Hat er
bereits mehr Sicherheit gewonnen, ist diese
Form der Unterstützung nicht mehr nötig.
chaîne (franz.): die Kette
promptus (lat.): sofort, direkt, ohne Zeitverzug; to fade (engl.): verblassen, schwinden
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Eine in der Erziehungspraxis weit verbreitete
Methode ist das Münzverstärkungsprogramm,
Token Economy, genannt. Token können beispielsweise symbolische Münzen oder Punkte
sein, die von den Bezugspersonen des Klienten für das Zeigen des vorher bestimmten
Zielverhaltens im Sinne einer positiven Verstärkung gegeben werden. Denkbar ist auch
die Wegnahme bereits erhaltener Token als
Form einer Bestrafung, um unerwünschtes
Verhalten zu reduzieren. Ziel dabei ist, dass
die Fremdkontrolle durch eine Selbstkontrolle
abgelöst wird und der Klient sich selbst verstärkt oder bestraft. Voraussetzung für die
Anwendung dieser Technik ist allerdings die
Fähigkeit, etwas als verstärkend zu erkennen.
Der Wert dieser Methode besteht darin, dass
Token in jeder Situation anwendbar sind und
erst später gegen andere begehrte Verstärker
eingetauscht werden können, um individuelle
Bedürfnisse zu befriedigen.
Die Psychotherapeutin hat mit Georg, der
sehr schüchtern ist und sich niemanden
anzusprechen traut, das Token – Verstärkungsprogramm besprochen. Ziel ist der
Aufbau von Kontaktverhalten. Gelingt es
ihm, einen Mitschüler anzureden, fügt er als
Belohnung in der von ihm geführten Liste
einen Punkt hinzu, vermeidet er soziale Situationen oder flüchtet aus diesen, nimmt er
als Bestrafung einen Punkt weg. Hat er für
die Ausführung erwünschter, zielorientierter
Verhaltensweisen insgesamt 20 Punkte
gesammelt, darf er mit seinem Vater ins Fußballstadion gehen, das er gerne machen will.
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Eine in der Praxis beliebte Technik zum Abbau
eines problematischen Verhaltens ist das
Time-out (Auszeit). Zeigt ein Kind ein Fehlverhalten, werden ihm alle potentiellen Verstärker für dieses Verhalten entzogen, indem es
in eine Situation gebracht wird, die jede Form
der positiven Verstärkung ausschließt.
Nachdem Anton eine Krankenschwester in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätlich
angegriffen hat und laut tobt, wird er von
zwei Erziehern in den Time-out-Raum (reizarmer Raum) gebracht.
Wird in Folge eines unangemessenen Verhaltens ein bereits erworbener sekundärer Verstärker entzogen, spricht man von response
cost (Folgekosten). Der Einsatz dieser Technik
erfolgt häufig in Verbindung mit dem Tokensystem.
Weil Friedrich sein Referat nicht vorbereitet
hat, entzieht ihm die Mutter einen Token
oder das Taschengeld.
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Time–out und response cost führen durch den
Entzug eines positiven Verstärkers zur Löschung
des problematischen Verhaltens.
Quelle: Hobmair, 2012, S. 76 f.
4. Die Neuropsychotherapie
5
Wissenschaftliche Grundlagen der Neuropsychotherapie sind die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, wie der Neuropsychologie,
welche Zusammenhänge zwischen Erleben
und Verhalten eines Menschen und den diesem zugrunde liegenden neurobiologischen
Prozessen untersucht und erklärt. Im Gehirn
sind dysfunktionale1 neuronale Aktivitätsmus-
1
ter aktiv, die zu einem nicht angepassten Erleben und Verhalten führen können. Die
Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen hängt demnach mit „falschen“ neuronalen Verknüpfungen im Gehirn
zusammen.
Der bekannteste Vertreter dieser Therapieform ist Klaus Grawe, der in seinem 2004
dysfunktional (lat.): unangemessen, nicht realitätsgerecht, selbstschädigend
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erschienenen Buch „Neuropsychotherapie“
schildert, wie Erkenntnisse der Neurowissenschaften für die Psychotherapie nutzbar
gemacht werden können.
Klaus Grawe (1943–2006) war Professor für
Klinische Psychologie und Psychotherapie an
der Universität Bern. Bekannt geworden ist er
vor allem durch sein 1994 erschienenes Buch
„Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“, das er zusammen mit
Ruth Donati und Friederike Bernauer herausgegeben hat und in welchem er 900 Studien
zur Wirksamkeit von verschiedenen Therapieformen vorstellt. Er ist auch der Begründer
des Instituts für Psychologische Therapie in
Zürich, dessen Leiter er war.
Grawe versteht unter Neuropsychotherapie,
dass sich die Psychotherapie die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zunutze macht. Im
Gegensatz zur Verhaltenstherapie stellt das
Beseitigen von unangemessenen Erlebensund Verhaltensweisen nicht das Ende, sondern den Anfang der Therapie dar; es darf
nicht nur die Störung selbst bekämpft werden, sondern auch ihre Grundlagen, die
Grawe in der entsprechenden Aktivierung des
Gehirns sieht (vgl. Grawe, 2004, S. 36 ff.).
Grawe beschreibt in seinem Modell der
Neuropsychotherapie (2004), wie sich die
Erkenntnisse der Hirnforschung auf die Psychotherapie übertragen lassen. Dabei geht es
darum, durch psychologische Vorgehensweisen neuronale Strukturen zu verändern und
damit psychische Störungen abzubauen. Veränderung geschieht, indem Synapsen1, die
nicht so gut gebahnt sind, über möglichst
lange Zeit immer wieder und intensiv aktiviert werden. Notwendig ist die bewusste
und willentliche Mitwirkung des Patienten,
denn er muss sich mit Gefühlen und Verhalten
auseinandersetzen, die er sonst vermeidet.
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2
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„Diese Aktivierung der neuen neuronalen
Erregungsmuster muss möglichst oft wiederholt werden, sonst werden die neuen
neuronalen Verbindungen nicht fest
genug gebahnt. Wenn sich die Therapie
zu sehr oder zu lange mit der Feststellung
und Analyse von Problemen aufhält, werden keine neuen, positiveren neuronalen
Erregungsmuster ausgebildet.“
(Grawe, 2004, S. 55 f.)
Wesentlich ist bei der Neuropsychotherapie,
dass die gleichzeitig ablaufenden neuronalen2
Prozesse übereinstimmen, konsistent sind.
Hans sieht in der Diskothek eine junge Frau,
die er gern ansprechen möchte. Er sehnt sich
nach einer Beziehung. Gleichzeitig fürchtet
er abgelehnt zu werden. Er hat einerseits die
Sehnsucht nach Bindung, anderseits Angst
vor der Kränkung seines Selbstwertgefühls –
er erlebt Inkonsistenz. Würde er aber empfinden, dass die junge Frau ihm nicht gefällt,
äußert sich dieses Erleben in Entspannung
und Konsistenz.
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„Das Streben nach Konsistenz bzw. das
Verhindern oder die Reduktion von
Inkonsistenz wird nur ausnahmsweise als
bewusstes Ziel oder Motiv erlebt. Konsistenzregulation findet ganz überwiegend
unbewusst statt und durchzieht so sehr
das ganze psychische Geschehen, dass es
angemessen erscheint, von einem obersten (…) Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen.“
(Grawe, 2004, S. 191)
Hätte Hans in seinem Leben ganz überwiegend Bedürfnis befriedigende Erfahrungen
gemacht und die Sicherheit, dass ihm eine
Ablehnung weniger ausmacht, als es nicht
probiert zu haben, dann fällt es ihm leichter,
trotz Angst, die Frau anzusprechen.
vgl. Abschnitt 3.1.2
Neuronen (neuron, griech.: Nerv, Sehne), die Grundeinheiten unseres Nervensystems, dienen der
Informationsverarbeitung und -speicherung.
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Die Neuropsychotherapie ist in diesem Sinne
keine „neue“ Therapieform, sie lehnt sich
in ihrem Vorgehen sehr an der kognitiven
Psychotherapie1 an (vgl. Kasten, 2007,
S. 272 ff.). Dies ist nicht verwunderlich, da
neurowissenschaftliche Erkenntnisse lediglich
als Basisvorgänge gesehen werden, auf deren
Fundament das Verständnis menschlichen Erlebens und Verhaltens ergänzt wird (vgl. Schandry, 20113, S. 21).
Seit 2012 können Patienten, die etwa aufgrund eines Schlaganfalls oder Unfalls eine
Hirnschädigung haben, die ambulante Therapie – ein angeleitetes neuropsychologisches
Training und therapeutische Unterstützung –
über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen (vgl. o. A., Psychologie Heute, Nr. 03/2012,
S. 58).
Die Neuropsychotherapie
Wissenschaftliche Grundlage:
neuropsychologische Erkenntnisse
Grundannahme:
Im Gehirn sind neuronale Aktivitätsmuster aktiv,
die zu einem bestimmten Erleben und Verhalten
führen.
Zielsetzung:
Veränderung von neuronalen Strukturen durch
psychologische Mittel
Quelle: eigener Text
1
vgl. Abschnitt 13.2.3
15
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tmn ist das Kürzel des Themendienstes einer Nachrichtenagentur.
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