Sophia Altenthan, Sylvia Betscher-Ott, Wilfried Gotthardt, Hermann Hobmair, Reiner Höhlein, Wilhelm Ott, Rosemarie Pöll Herausgeber: Hermann Hobmair Psychologie Zusatzmaterial BuchPlusWeb 5. Auflage 2 Inhaltsverzeichnis Zu Kapitel 1: Grundfragen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wann ist eine Erklärung befriedigend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wir kaufen, was wir (nicht) sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beispiel für ein Anwendungsgebiet: die Werbepsychologie . . . . . . . . . 4. Der Hirnforscher und Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4 5 6 8 Zu Kapitel 2: Methoden der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beispiele für eine systematische Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . 2. Die Normierung von Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Erfassung manifester Angst (MAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beispiele für Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 9 11 13 14 Zu Kapitel 3: Wahrnehmung und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Über die Begegnung zweier Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geometrisch-optische Wahrnehmungstäuschungen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Figur-Grund-Prinzip: Umkehrbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 15 16 17 19 Zu Kapitel 4: Psychische Fähigkeiten und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hirnmythen und Hirnfakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regeln für die Vorbereitung auf eine Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intelligenzmodelle nach Spearman, Thurstone und Gardner . . . . . . . . 4. Theorien des Vergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 20 20 21 23 Zu Kapitel 5: Psychische Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Möglichkeiten der Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leistungsmotivation als Beispiel für Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Lebensereignisse als Beispiel für eine emotionale Belastung . 4. Das Stressmodell von Richard S. Lazarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 24 26 29 31 Zu Kapitel 6: Grundlagen der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hat der Mensch einen freien Willen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gedächtnis des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grundaussagen der Konditionierungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Grundaussagen der sozial-kognitiven Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 34 34 36 39 Zu Kapitel 7: Entwicklung auf verschiedenen Altersstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bewegung macht schlau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übersicht über die Entwicklung der Motorik (Richtwerte) . . . . . . . . . . 3. Frühförderung – wie, wann und warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übersicht über mögliche Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 42 43 45 47 Zu Kapitel 8: Von der Zeugung bis zum Alter: Aufgaben und Erziehung . . . . . . . . . . . . 1. Wehrlose Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritische Phasen in der vorgeburtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschlechtsspezifische Muster der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 48 50 50 51 Inhaltsverzeichnis 3 Zu Kapitel 9: Psychologie der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren der Persönlichkeitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Temperamentstypen nach Claudius Galen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie viel ist ein Mensch wert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritische Würdigung der personenzentrierten Theorie . . . . . . . . . . . . . 54 54 57 57 58 Zu Kapitel 10: Der Mensch im sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erforschung von Gruppenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der gute Amerikaner. Wie ein Einwanderer die New Yorker beschämte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Kater Oscar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 60 62 63 64 Zu Kapitel 11: Soziale Kommunikation und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdrucksverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Paradoxie und die Doppelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Elemente einer Ich-Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konfliktmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 65 66 67 68 Zu Kapitel 12: Klinische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesund oder krank ist immer der ganze Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Problematik des Begriffs „Psychische Störung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entstehung von psychischen Störungen aus der Sicht verschiedener Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Krieg in mir – die Geschichte einer Magersucht . . . . . . . . . . . . . . . 71 71 72 Zu Kapitel 13: Behandlung von psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beratungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieangebote . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Techniken des verhaltensorientierten Handlungskonzeptes auf der Grundlage der operanten Konditionierung. . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Neuropsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 79 80 81 82 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 73 78 Bildquellen: • • • • • • • • • Fotolia Deutschland GmbH, Berlin: S. 18.1 (iulias), 18.2 (SVLuma), 18.3 (kmiragaya) Bildungsverlag EINS/Angelika Brauner: S. 19.1, 50 Bildungsverlag EINS/Elisabeth Galas: S. 19.2 M. C. Escher’s „Circle Limit IV” © The M. C. Escher Company-Holland. 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Popper sagt dazu: „Eine Erklärung ist dann befriedigend, wenn sie mithilfe von prüfbaren allgemeinen Gesetzen ausgeführt wird.“ Es leuchtet unmittelbar ein, dass Erklärungen bzw. Vorhersagen, die auf Gesetzen oder Theorien fußen, die nicht erprobt wurden oder sich gar einer Erprobung entziehen, nicht zufriedenstellen. Nehmen wir an, wir kämen zu einem Arzt, der uns sagte, er habe da ein Medikament, das er uns verschreiben könne, es sei allerdings nicht erwiesen, dass es gegen die Krankheit, derentwegen wir kommen, helfe. Oder: Stellen wir uns vor, unser Arzt entpuppt sich sogar als eine Art Wunderdoktor, der uns zwar selbstsicher bestimmte Medikamente verschriebe, uns aber auf die Frage, ob und wie erwiesen sei, dass das Medikament wirksam sei, nur beleidigt anschaut und uns dann klarmacht, dass man nicht alles „naturwissenschaftlich“ zu begreifen versuchen solle, man solle ihm vertrauen und glauben. – Zwar mag selbst unser „Wunderdoktor“ kurieren (über die Wirksamkeit von Placebos werden wir später sprechen), doch sind wir sicher, dass uns in beiden genannten Fällen recht mulmig wäre. Berechtigter Grund dafür ist, dass die pharmakologischen Gesetze oder Theorien, die das ärztliche Handeln bestimmen, nicht überprüft bzw. nicht überprüfbar sind. Wir akzeptieren also, dass eine unabdingbare Voraussetzung für Zufriedenheit mit Erklärungen die Überprüfung der grundlegenden Gesetze ist. Unserem Arztbeispiel können wir ferner folgenden Gedanken entnehmen: Überprüfung setzt Überprüfbarkeit voraus. Da wir uns momentan mit den Zielen erfahrungswissenschaftlichen Tuns befassen, lautet unsere Frage: Wie muss man Gesetze oder Theorien konstruieren, damit sie überprüfbar sind (…)? Die Überprüfbarkeit eines Gesetzes/einer Theorie hängt von der konstruktiven Eigenart der verschiedenen Komponenten einer Theorie ab. Dabei sind einige konstruktive Überprüfungsvoraussetzungen von allen Psychologen als gültig anerkannt, andere sind umstritten. Die „Sachlogik“ des gewählten Nacheinanders bei der folgenden Behandlung prüfungsrelevanter Theorieteile ergibt sich aus einer Vorüberlegung und einer Metapher. Zum einen, Theorien werden stets dadurch überprüft, dass man ihre Bedingungsvariablen z. B. experimentell manipuliert und dann feststellt, ob die Folgevariablen in der gemäß der Theorie zu erwartenden Weise variieren. Gedankliche Voraussetzung für ein solches Überprüfungsunternehmen ist, dass eine Theorie spezifizierte/bestimmte/eindeutige Folgen auf Bedingungsänderungen vorherzusagen erlaubt. Zum anderen, d. h. zur Metapher: Blicken wir noch einmal zurück auf unser Schema! Wenn wir auf der Grundlage einer Theorie vorhersagen wollen, auf welche Bedingungskonstatierung welche Folge zu erwarten ist, dann „durchwandern“ wir gedanklich das Schema von links nach rechts. Bei dieser „Wanderung“ stoßen wir auf verschiedene Stationen, die so gebaut sein können, dass ein eindeutiges Vorhersagen (und damit Überprüfen) unmöglich ist. Wir brauchen bei unserem „Marsch“ freilich nur bis zur Hälfte laufen, da der Weg hinein dem Weg hinaus konstruktiv gleicht. Quelle: Laucken u. a., 19967, S. 43 f. 45 50 55 60 65 70 75 80 Kapitel 1 5 2. Wir kaufen, was wir (nicht) sehen 5 10 15 20 25 30 Werbung ist überall. Häufig sind es sogar immer die gleichen Plakate, die an den Wänden kleben. Man schaut eigentlich schon gar nicht mehr hin. Und nimmt sie also auch gar nicht mehr wahr? Dem ist nicht so: Unser Gehirn nutzt viele Informationen, die wir unbewusst – also quasi im „Vorbeigehen“ – aufnehmen. Je öfter wir dabei einem noch nicht bekannten Reiz begegnen, desto schneller können wir ihn später auch kognitiv verarbeiten. Aufgrund dieser Verarbeitungsschnelligkeit erscheint uns der entsprechende Reiz wiederum als vertraut und positiv. Inwieweit dieser „Effekt der bloßen Darbietung“ (mere exposure effect) auch unser tatsächliches Konsumverhalten beeinflusst, untersuchten Mitarbeiter der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihr Experiment war so einfach wie raffiniert: Die Forscher baten Besucher des Erlanger Schlossgartens, lokale Sehenswürdigkeiten zu benennen, die auf verschiedenen Fotografien in einer Mappe zu sehen waren. In zwei Experimentalgruppen waren auf einigen Fotos zusätzlich Werbeplakate abgebildet, die entweder eine Packung „pfeffi“- oder „zitro“-Lutschbonbons zeigten. Diese ehemaligen DDR-Produkte sind erst seit 2000 wieder (ausschließlich) im ostdeutschen Handel erhältlich und in den alten Bundesländern eher unbekannt. In einer Kontrollgruppe zeigten die Fotografien keine Produktplakate. Am Ende der Umfrage konnten die Befragten sich als Dankeschön eine Packung „pfeffi“ oder „zitro“ nehmen. Personen, die vorher auf den Fotos „zitro“-Plakate gesehen hatten, wählten überwiegend Zitronenbonbons aus – ebenso wie die Probanden der Kontrollgruppe. Diese allgemeine Vorliebe für Zitronenbonbons kehrte sich allerdings um, wenn den Teilnehmern zuvor „pfeffi“Plakate in den Fotografien präsentiert wurden – sie wählten anschließend überwiegend Pfefferminzbonbons. Wer sich dabei an die spezifischen Werbeplakate erinnern konnte, wurde von der Auswertung ausgeschlossen: Frühere Studien haben aufgedeckt, dass eine bewusste Erinnerung den „Effekt der bloßen Darbietung“ dämpft. Die mehrfache und beiläufige Präsenz eines unbekannten Produktes hat also tatsächlich einen Einfluss auf konkretes Verhalten. Die Studie zeigt, dass dies auch für Alltagssituationen gilt und nicht nur auf Experimente im Labor begrenzt ist. Wenn Sie also das nächste Mal im Supermarkt vor einem Einkaufsregal stehen, wird vielleicht genau dieser Effekt Ihre Kaufentscheidung beeinflussen: Sie greifen zu einem bestimmten Produkt, weil es ein positives Gefühl auslöst, ohne dass Sie spontan sagen könnten, warum … Quelle: Haupt, 2008, S. 12 35 40 45 50 55 60 6 Kapitel 1 3. Beispiel für ein Anwendungsgebiet: die Werbepsychologie 5 10 15 20 25 30 35 40 a) Was Werbung will Die kommerzielle Reklame als die eigentliche Werbung will den Verbraucher mit verschiedenen Methoden beeinflussen, seine Kaufentscheidung zugunsten des umworbenen Produkts zu treffen. Daneben wird unter dem Begriff „Werbepsychologie“ auch die Öffentlichkeitsarbeit zum Aufbau eines positiven Images einer Einrichtung – zum Beispiel eines Supermarkts, einer Automarke, einer Person (etwa eines Politikers), einer Partei oder eines Vereins – sowie politische Werbung (zum Beispiel politische Veranstaltungen) verstanden. So wird beispielsweise in der politischen Propaganda dem Einzelnen bewusst eine Rolle suggeriert, die vermeintliche Manipulation ausschließt wie die Rolle des Kritischen, des Informierten, des Entschlossenen, des Sicheren, des Klugen oder des Erfahrenen. Werbepsychologie bezeichnet also zum einen die Beeinflussung von Konsumenten und deren Kaufverhalten zugunsten eines bestimmten Produktes, zum anderen die Öffentlichkeitsarbeit zum Aufbau eines positiven Images einer bestimmten Einrichtung sowie schließlich politische Agitation zugunsten von bestimmten Politikern bzw. Parteien. Ausgangspunkt der Werbepsychologie war die Reklame, um Konsumenten und deren Kaufverhalten zugunsten eines bestimmten Produktes zu beeinflussen. Wie die Wissenschaft heute weiß, sind Menschen durch die Werbung in einem sehr großen Maß manipulierbar. Vor allem Werbekampagnen, die ihre Produkte sehr emotional anbieten, können den Menschen so stark beeinflussen, dass dessen Kritikfähigkeit gemindert wird; sie sind aufgrund gezielt eingesetzter emotionaler Reize ohne sachliche Informationsvermittlung steuerbar, indem zum Beispiel das umworbene Produkt mit angenehmen und begehrenswerten Reizen gekoppelt wird. Solche Emotionen können zum Beispiel Selbsterhaltung, Essen und Trinken, Freiheit, Erotik, Sexualität, Sicherheit, Anerkennung, Geborgenheit, Urlaubsstimmung, Freiheit, Abenteuer und gute Laune sein. 45 Bei austauschbaren Produkten entscheidet zunehmend der stärkere Werbereiz, der mit Emotionen arbeitet. 50 Oft ist sich der Konsument der von den Medien angewandten Werbestrategie nicht bewusst, sodass er die Manipulation gar nicht wahrnimmt und davon überzeugt ist, dass er selbst es ist, der das Produkt erwerben will. 55 Jede Erfahrung lässt im Gehirn bestimmte Spuren entstehen, die sich bei Wiederholung verfestigen. Auf all diese Prozesse trifft auch die Werbung mit vielen Werbespots an einem einzigen Tag zu, die uns, ohne wir es oft merken, beeinflussen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Musik, Gesang oder Sprüche der Werbung zum Bekanntesten gehören, was es in unserer westlichen Kultur gibt. Neben der Manipulation zugunsten der Kaufentscheidung eines Produktes vermittelt Werbung auch weniger erwünschte Werte, die vom zu Erziehenden übernommen werden können. Eine Modesendung oder ein Modejournal beispielsweise verkörpert oft ein bestimmtes Frauenbild, nachdem die Frau möglichst schlank und schön zu sein hat, den Haushalt gut führt und eine reichhaltige Garderobe besitzt. Quelle: eigener Text 60 65 70 75 Kapitel 1 b) Wie das Gehirn in Scanuntersuchungen auf Produkte anspricht Hot-Spots Wie das Gehirn in Scan-Untersuchungen auf Produkte anspricht Die Sammelleidenschaft RF TW U R Produkte, die hohes soziales Prestige versprechen, reizen besonders die sogenannte Brodmann-Region 10. Die Schwäche, bestimmte Produkte weit über den eigentlichen Bedarf hinaus zu erwerben und aufzuhäufen, ist offenbar im rechten medialen präfrontalen Kortex beheimatet. U Der Coolness-Faktor EN Quelle: Martin Lindstrom Das geheime Verlangen Werbung, die unsere unterschwelligen Sehnsüchte einfängt, spricht vor allem den Nucleus accumbens an. Der Angstkauf Ob Angst vor Übergewicht, vor zu viel Cholesterin oder fehlender sozialer Anerkennung: Werbung bedient sich menschlicher Instinkte. Eine entscheidende Rolle bei der Angst-Auslösung spielt die Amygdala. Quelle: Müller/Tuma, 2010, S. 58 7 8 Kapitel 1 4. Der Hirnforscher und Ich 5 10 15 20 25 30 35 40 Ich: „Aha, es geht also um die Abfolge der Ereignisse, mein Wille kommt immer zu spät. Das ist wie bei der Fabel mit dem Hasen und dem Igel.“ Hirnforscher: „Richtig! Sie haben erkannt, worum es geht. Ihr Wollen und Ihr damit verbundenes bewusstes Ich sind nicht die Ursachen für Ihre Handlung, sondern neuronale Prozesse tief im Innern Ihres Gehirns, die die Handlung von Anfang an schon geplant haben.“ Ich: „Das müssen Sie mir aber näher erläutern. Ich habe immer den Eindruck, dass mein Wille autonom ist und diese ganze wundersame Chemie und ‚Elektrik’ im Gehirn souverän steuert.“ Hirnforscher: „Befreien Sie sich von diesen vagen Illusionen. Die interessieren uns Naturwissenschaftler sowieso nicht. Uns geht es um Naturgesetze, die man auf objektive Weise beschreiben und erklären kann. Wie sollen wir Forscher Ihr immaterielles1 Ich und seinen Willen messen und beschreiben? Ihr immaterielles Ich muss über Energie verfügen, und zwar nicht über eine mystische spirituelle, sondern über eine ganz handfeste physikalische Energie.“ Ich: „Das ist aber doch Physikalismus in reinster Form! Sie streiten meinem Willen und Geist jegliche Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit ab. Dabei ist Ihre Disziplin doch noch gar nicht so weit! Sie können doch nicht in mein Gehirn gucken und Freiheit oder Willenlosigkeit sehen!“ sischen2 Sinne können wir fürs Erste mit dem nüchternen neurowissenschaftlichen Vokabular zu Grabe tragen. Es geht um jenen immateriellen Willen, der aus dem Reich der Naturgesetze herausgehoben und damit Symbol einer metaphysisch verankerten Freiheit zur vernünftigen Sittlichkeit ist. Diesen Willen mögen wir Naturwissenschaftler nicht, das ist idealistischer Humbug, und diesem Willen läuten wir Hirnforscher frohgemut das Sterbeglöcklein! Noch mal: Es gibt kein unverursachtes Wollen, kein immaterielles bewusstes Ich!“ Ich: „Ich soll also meine Intuition zerstören, mit der ich mir einbilde, ich hätte einen Willen. Aber, es gäbe dann nichts Unvorhersehbares in meinem Gehirn, keinen Zufall. Sie könnten mich als einen Bioautomaten beschreiben, der handelt wie ein Roboter. Und eine Frage müssen Sie mir noch beantworten: Wenn alles Handeln durch Neuronen gesteuert und verursacht wird, dann könnten Sie ja meine gesamten Entscheidungen und Handlungen voraussehen und mein komplexes Gehirn und alle seine Vorgänge vollständig analysieren.“ Hirnforscher: „Was ist so schlimm daran, wenn Sie ein Bioautomat sein sollten? Ihr Gehirn wird Sie schon sicher und gut durchs Leben führen, sonst gäbe es ja in und um uns herum nur Chaos und Wahnsinn. Das ist aber nicht der Fall, Ihre Neuronen sind ja hervorragende Piloten.“ Quelle: Caspary, 2010, S. 12–17, verändert Hirnforscher: „In Teilen mögen Sie recht haben, aber schon jetzt zeigen Experimente, wohin die Reise geht. Ihren freien Willen im starken metaphy- 1 2 immateriell (lat.): unkörperlich, unstofflich metaphysisch (griech.): das hinter der sinnlich erfahrbaren Welt Liegende 45 50 55 60 65 70 75 Kapitel 2 Materialien Kapitel 2 1. Beispiele für eine systematische Verhaltensbeobachtung a) Beobachtung von aggressivem Verhalten eines Kindes im Kindergarten (im Heim, in der Schule etc.) Name des Kindes: Beobachtungszeitraum: Schreien Trampeln Umsich- Attackie- Attackie- Attackieund schlagen ren der ren von ren von Herumeigenen anderen Gegenbrüllen Person Personen ständen 1. Tag Vormittag 1. Tag Nachmittag 2. Tag Vormittag 2. Tag Nachmittag 3. Tag Vormittag 3. Tag Nachmittag 4. Tag Vormittag 4. Tag Nachmittag etc. etc. usw. usw. usw. 9 10 Kapitel 2 b) Beobachtung von Verhaltensauffälligkeiten im körperlichen Bereich eines Kindes Name des Kindes: sehr häufig beobachtet Nägelkauen Daumenlutschen Einnässen Einkoten Zittern Zappeln Zuckungen Tics Stottern Haare ausreißen usw. Beobachtungszeitraum: häufig beobachtet öfter beobachtet selten beobachtet sehr selten beobachtet nie beobachtet Kapitel 2 c) 11 Beobachtung des Sprachverhaltens von Erziehern (Lehrern) und Kindern (Schülern) (herausgegeben vom Kultusministerium von Niedersachsen – etwas abgeändert) Einrichtung, Gruppe, Klasse: Datum: , Tag: , Uhrzeit: Machen Sie bitte in dem entsprechenden Kästchen Striche! 1. Äußerungen des(r) Erziehers(in) / des(r) Lehrers(in) – zu den Kindern /den Schülern(-innen): Aufforderungen, Befehle Tadel, geringschätzige Äußerungen Lob, Hilfen, Ermutigung sachliche Äußerungen 2. Äußerungen der Kinder/der Schüler(-innen) – gegenüber dem(r) Erzieher(in)/dem(r) Lehrer(in) Sachfragen Erbitten von Hilfe und Zuwendung Kritik aggressive Äußerungen Erzählen, Berichten 3. Äußerungen des Kindes/des(r) Schülers(in) – zu den Kindern/Schülern(-innen) Sachfragen Erbitten von Hilfe und Zuwendung Kritik aggressive Äußerungen Erzählen, Berichten 2. Die Normierung von Tests Um den Grad der individuellen Ausprägung eines bestimmten psychischen Merkmals feststellen zu können, braucht der Test eine Bezugsgröße, eine Norm. So genügt es – wie in Abschnitt 2.2.4 schon als Beispiel erwähnt – nicht, wenn ein Wissenschaftler sagt: „Sie haben 51 Aufgaben in dem Intelligenztest richtig gelöst.“ Es ist eine Bezugsgröße, eine Norm erforderlich, die besagt, ob man mit der richtigen Lösung von 51 Aufgaben über oder unter dem Durchschnitt liegt und damit über- oder unterdurchschnittlich intelligent ist. 5 10 1 vgl. Abschnitt 2.2.6 Jeder Test muss also, bevor er zum Einsatz kommt, normiert sein. Dabei können wir zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Normierung unterscheiden: – Die Bezugsgröße stellt eine statistische Norm dar, die durch Erprobung des Tests an einer genügend großen, repräsentativen Stichprobe gewonnen wird.1 Der Durchschnitt der Testergebnisse von dieser Stichprobe gilt dann als Norm. Ein Intelligenztest, der normiert werden soll, wird an einer Stichprobe durchgeführt und im Durchschnitt lösen die Personen dieser Stichprobe 43 Aufgaben richtig. Bei diesem Test liegt dann die Norm bei 43 richtig gelösten Aufgaben. 15 20 25 12 Kapitel 2 5 10 Werden – um bei obigem Beispiel zu bleiben – von einer Person nur 36 Aufgaben richtig gelöst, so ist sie unterdurchschnittlich intelligent, löst sie aber 51 Aufgaben richtig, so ist sie überdurchschnittlich intelligent. Mithilfe von Rechenverfahren können nun bestimmte „Werte“ angegeben werden, wie weit der Einzelne in seiner Merkmalsausprägung vom Durchschnitt abweicht. 20 25 30 Häufigkeitsdichte 15 So hat man sich beispielsweise bei allen Intelligenztests auf einen Intelligenzquotienten (IQ) von 100 geeinigt. Dies entspricht dem Durchschnitt. Im obigen Beispiel würde die richtige Lösung von 43 Aufgaben einen IQ von 100 bedeuten. Mit der Hilfe von Rechenverfahren können nun bestimmte „Werte“ festgelegt werden: Wer einen IQ von 85 bis 115 hat, ist durchschnittlich intelligent; wer einen IQ von 115 bis 130 hat, kann als überdurchschnittlich, wer einen IQ von 85 bis 70 hat, als unterdurchschnittlich gelten; ein IQ von über 130 wäre weit überdurchschnittlich, ein IQ von unter 70 weit unterdurchschnittlich intelligent. Abweichungen von dieser Norm geben dann den Grad der individuellen Ausprägung des psychischen Merkmals an: Liegt es über der Norm, so ist das gemessene Merkmal überdurchschnittlich, liegt es unter der Norm, so ist es unterdurchschnittlich ausgeprägt. 50 60 Schwachsinn 70 sehr niedrige Intelligenz 80 niedrige Intelligenz 90 100 110 durchschnittliche Intelligenz 120 130 140 150 hohe sehr hohe extrem hohe Intelligenz Intelli- Intelligenz genz Quelle: Stemmler u. a., 20117, S. 142 35 Tests, deren Bezugsgröße eine statistisch gewonnene Norm darstellt und als Vergleich dient, werden normorientierte Tests genannt. – Die Bezugsgröße stellt eine Idealnorm dar, die der Testkonstrukteur selbst entwirft. Er legt bestimmte inhaltlich definierte Ziele, Kriterien, fest, die dann als Norm gelten. 40 Die theoretische Prüfung zur Erlangung des Führerscheins ist hierfür ein Beispiel: Hier muss der Prüfling Aufgaben lösen, die Inhalte widerspiegeln, die ein Forscher für wichtig hält, wenn der Prüfling ohne Gefährdung für sich selbst oder andere ein Fahrzeug bewegen will. Diese Idealnorm erlaubt einen Vergleich der „Leistung“ einer Person mit den vom Test geforderten Kriterien. Tests, deren Bezugsgröße eine Idealnorm darstellt und als Vergleich dient, werden kriteriumsorientierte Tests genannt. 45 50 Kapitel 2 Möglichkeiten der Normierung eines Tests normorientierte Tests kriteriumsorientierte Tests Die Bezugsgröße stellt eine statistische Norm dar, die als Vergleich dient. Die Bezugsgröße stellt eine Idealnorm dar, die als Vergleich dient. Quelle: eigener Text 3. Die Erfassung manifester Angst (MAS) Anweisung Hier sind eine Anzahl von Behauptungen aufgeführt, die persönliche Eigenschaften und Einstellungen betreffen. Lesen Sie bitte jeden Satz und bestimmen Sie, ob die Behauptung in Bezug auf Sie selbst richtig oder falsch ist und machen Sie jeweils einen Kreis um „richtig“ oder „falsch“. MAS 1. Ich glaube, ich bin nicht nervöser als andere. 2. Ich arbeite unter großer innerer Spannung. 3. Ich erröte nicht öfter als andere. 4. Ich mache mir ziemlich viel Sorgen über ein mögliches Missgeschick. 5. Wenn ich verlegen bin, bricht mir manchmal der Schweiß aus, was mich sehr stört. 6. Ich bemerke nur selten Herzklopfen bei mir und komme nur selten außer Atem. 7. Ich habe Zeiten gehabt, wo ich vor Sorgen nicht genügend schlafen konnte. 8. Ich schlafe unruhig und werde oft wach. 9. Ich habe oft Träume, die ich am besten für mich behalte. 10. Meine Gefühle sind leichter verletzbar als die anderer Menschen. 11. Es passiert mir oft, dass ich mir um etwas Sorgen mache. 12. Ich wünschte, ich könnte so glücklich sein, wie andere Leute zu sein scheinen. 13. Ich habe fast immer Angst um irgendetwas oder um irgendjemanden. 14. Ich habe Zeiten, in denen ich so ruhelos bin, dass ich nicht lange auf einem Stuhl sitzen kann. 15. Ich habe manchmal das Gefühl, als häuften sich so viele Schwierigkeiten, dass ich sie nicht überwinden könnte. 16. Manchmal habe ich mir unsinnig viel Sorgen über etwas gemacht, was wirklich nicht wichtig war. 17. Im Vergleich zu meinen Bekannten habe ich sehr wenig Ängste. 18. Ich bin befangener als die meisten anderen Menschen. 19. Ich neige dazu, Dinge schwerzunehmen. 20. Ich bin ein sehr nervöser Mensch. 21. Das Leben ist oft eine Last für mich. 22. Ich scheue mich, einer Schwierigkeit ins Auge zu sehen oder eine wichtige Entscheidung zu treffen. 23. Ich habe volles Selbstvertrauen. richtig falsch Quelle: Lück/Timaeus, in: Diagnostica 15, 1969, S. 138 13 14 Kapitel 2 4. Beispiele für Korrelationen x 15 r = + 0,99 x x 9 x x x x 3 x 12 Schülermeldungen Schülermeldungen x x 12 6 x 15 x r = – 0,99 x x 9 x x 6 x x 3 x x 0 6 5 4 3 2 Noten der Schüler 1 Hier liegt eine hohe positive Korrelation vor, es besteht eine enge Beziehung zwischen den Merkmalen. x Schülermeldungen 5 4 3 2 Noten der Schüler x 9 x x 6 x 3 x x 6 5 x 4 3 2 Noten der Schüler 1 Hier liegt keine Korrelation vor, es besteht keine Beziehung zwischen den Merkmalen. 1 Hier liegt eine hohe negative Korrelation vor, es besteht eine „umgekehrte“ enge Beziehung zwischen den Merkmalen. x x 12 5 6 r = + 0,45 15 0 0 Quelle: Asendorpf, 20074, 53 Kapitel 3 15 Materialien Kapitel 3 1. Der Konstruktivismus 5 10 15 20 Im 20. Jahrhundert entwickelten sich mehrere Strömungen, die davon ausgehen, dass das, was wir wahrnehmen, eine Konstruktion unseres Gehirns ist und keine wirkliche Abbildung der Welt. Diese Strömungen werden mit dem Begriff Konstruktivismus zusammengefasst. Der Konstruktivismus ist eine Sammelbezeichnung für Positionen, die davon ausgehen, dass das menschliche Gehirn die Welt nicht so abbildet, wie sie wirklich ist, sondern sich der Mensch seine eigene Welt entwirft und formt. Nach dem Konstruktivismus ist die Lebenswelt eines Menschen seine eigene Konstruktion, er entwirft sich seine Wirklichkeit in seinem Kopf. Menschliche Wahrnehmung ist eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung eines Individuums. Damit ist der Mensch von Kindheit an aktiver Gestalter seiner Welt, der sein eigenes Leben selbst strukturiert. Der Konstruktivismus unterscheidet drei Perspektiven bzw. drei Denk- und Handlungsweisen: – Die Konstruktion: Der Mensch ist Erfinder – Konstrukteur – seiner Wirklichkeit. Die Konstruktion gilt als Basis allen pädagogischen und psychologischen Handelns. „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit.“ (Reich, 20106, S. 119) 25 – Die Rekonstruktion: Der Mensch erfindet nicht alles neu, er entdeckt auch die Erfindungen – Konstruktionen – anderer und übernimmt diese. „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit.“ (Reich, 20106, S. 119) 30 – Die Dekonstruktion: Der Mensch nimmt Erfindungen – Konstruktionen – nicht nur hin, er steht ihnen kritisch gegenüber – er enttarnt die Wirklichkeit, und als Enttarner ist er kritisch. Die Dekonstruktion stellt eine Möglichkeit zu kritischer Neuorientierung dar. „Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit.“ (Reich, 20106, S. 121) 35 40 Perspektiven des Konstruktivismus Konstruieren nder“ 45 50 Rekonstruieren der Mensch als „Entdecker“ Der Radikale Konstruktivismus bestreitet die Fähigkeit von Menschen, objektive Realität zu erfassen, und geht davon aus, dass es keine Objektivität gibt. Das Wissen eines Menschen, seine Sicht über andere Menschen und seiner Umwelt, ist grundsätzlich eine geistige Konstruktion. Die Wahrnehmung der konstruierten Welt kann niemals mit der Realität übereinstimmen – Wahrnehmung ist zu jedem Zeitpunkt subjektiv. Entsprechend lehnt er rein naturwissenschaftliche Methoden ab. „Wahrheit Lügners.“ Dekonstruieren der Mensch als „Enttarner“ ist die Erfindung eines (von Förster/Pörksen, 20088, S. 11) Der Konstruktivismus ist die Grundlage der systemischen Psychotherapie, die davon ausgeht, dass alle einzelnen Elemente eines Lebensbereiches, dem ein Mensch angehört, zueinander in einer wechselseitigen Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. In der systemischen Therapie geht es 55 60 16 Kapitel 3 5 deshalb um Veränderungen im System, dem der Betroffene angehört. Im Gespräch wird der Klient angeregt, seine Sicht der Welt, seine Konstruktionen, so zu verändern, dass sie für ihn weniger leidvoll ist (vgl. von Förster, 20105, S. 39–60). Entsprechend wird unterschieden zwischen Realität, wie die Welt „an sich“ ist, und Wirk- lichkeit, wie wir die Realität wahrnehmen und wie sie uns erscheint. Die Realität, das sind physikalische Reize wie elektromagnetische Wellen, mechanische Schwingungen, chemische Veränderungen, thermische Reize und dergleichen, die Wirklichkeit ist die von Menschen subjektiv wahrgenommene Welt. Realität Wirklichkeit wie die Welt „an sich“ beschaffen ist wie die Welt wahrgenommen wird und wie sie uns erscheint 10 15 Quelle: Hobmair, 2012, S. 183 f. 2. Über die Begegnung zweier Kulturen 5 10 15 20 25 Ein Indianer verließ die Reservation und besuchte einen weißen Freund in der Stadt. Es war das erste Mal, dass er eine Großstadt sah. Die Bilder, Farben und Geräusche waren neu für ihn, ebenso befremdet war er von der Luft, die er einatmete und von den Menschen, die an ihm vorüber hasteten. Der rote und der weiße Mann gingen die Straße entlang, als plötzlich der Indianer seinem Freund auf die Schulter tippte und sagte: „Bleib einmal stehen. Hörst du auch, was ich höre?“ Der weiße Mann antwortete: „Alles, was ich höre, ist das Hupen der Autos und das Rattern der Omnibusse. Und dann freilich auch die Stimmen und das Geräusch der Schritte vieler Menschen. Was hörst denn du?“ „Ich höre eine Grille zirpen.“ Der weiße Mann horchte. Dann schüttelte er den Kopf: „Du musst dich täuschen, Freund. Hier gibt es keine Grillen. Und selbst, wenn es hier irgendwo eine Grille gäbe, würde man doch ihr Zirpen bei dem Lärm nicht hören können.“ Der Indianer ging ein paar Schritte weiter. Vor einer Hauswand blieb er stehen. Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob die Blätter auseinander und da – sehr zum Erstaunen seines Freundes – saß eine Grille, die laut zirpte. Jetzt, da der weiße Städter die Grille sehen konnte, nahm er auch das Geräusch wahr, das sie von sich gab. Als die beiden Männer weitergegangen waren, sagte der Weiße nach einer Weile: „Freilich hast du die Grille hören können. Dein Gehör ist eben besser geschult als meines. Indianer hören zudem einfach besser als Weiße.“ Der Indianer lächelte, schüttelte den Kopf und sagte: „Du täuschst dich, mein Freund. Das Gehör eines Indianers ist nicht besser und nicht schlechter als das eines weißen Menschen. Pass auf ...“ Er griff in die Hosentasche, holte ein 50-CentStück heraus und warf es auf das Pflaster. Die Münze klimperte auf dem Asphalt. Leute wurden auf das Geräusch aufmerksam und sahen sich um. Einer bückte sich, hob das Geldstück auf, steckte es ein und ging weiter. „Siehst du“, sagte der Indianer, „das Geräusch der 50 Cents war nicht viel lauter als das der Grille, und doch hörten es viele der weißen Frauen und Männer und sie drehten sich um, während das Geräusch der Grille niemand hörte außer mir. Es stimmt nicht, dass das Gehör der Indianer besser ist als das der Weißen.“ Quelle: Verfasser unbekannt 30 35 40 45 50 Kapitel 3 3. Geometrisch-optische Wahrnehmungstäuschungen Hering’sche Täuschung Die waagerechten Parallelen erscheinen gekrümmt. Ehrenstein‘sche Täuschung Das Quadrat erscheint zum Trapez verzerrt. Müller-Lyer‘sche Täuschung Die Strecke mit den nach außen zeigenden Pfeilspitzen erscheint kürzer als die mit den nach innen weisenden Pfeilen. Sander‘sche Täuschung Die Diagonale im größeren Parallelogramm erscheint länger als die im kleineren. Das Mach’sche Buch Aufgeschlagenes Buch oder Buchrücken nach vorne? Konturen, wo keine sind: Dreieck EILT EILT Schräge Streifen bringen die – exakt senkrechten – Buchstaben ins Wanken. 17 18 Kapitel 3 Das gleichbleibende graue Quadrat wirkt umso heller, je dunkler seine Umgebung wird. Sind die Querlinien schräg oder parallel? Drehen Sie diese beiden Abbildungen einmal um 180°. Was passiert mit den Objekten und warum? Kapitel 3 Spiel mit der „Müller-Lyer-Täuschung“: Die beiden dicken Balken sind in Wirklichkeit gleich lang. 4. Figur-Grund-Prinzip: Umkehrbilder Oft ist es nicht leicht, eine Figur von ihrem Hintergrund eindeutig abzugrenzen, was viele Künstler dazu bewegt hat, Bilder so zu gestalten, dass sogenannte Umkehrbilder entstehen. Zwei Beispiele hierfür sind das Kippbild von Edwin Rubin und der Holzschnitt von Maurits Escher: Der Rubin‘sche Becher: Kelch oder zwei Gesichter? Holzschnitt von M. C. Escher: Engel oder Teufel? 19 20 Kapitel 4 Materialien Kapitel 4 1. Hirnmythen und Hirnfakten Thema Konzepte „hirngerechten Lernens“ Befunde der Neurowissenschaft Spezialisierung der Hirnhälften – Klar abgrenzbare Fähigkeiten der Hemisphären – Linke Hemisphäre: intellektuell, verbales, analytisches Denken – Rechte Hemisphäre: emotionale, nichtverbale, intuitive Denkprozesse – Es gibt zwar eine Arbeitsteilung zwischen den Hirnhälften, – doch beide Hemisphären können grundlegende Prozesse wie sensorische Analysen, Gedächtnis und Lernen durchführen. – Beide Hemisphären sind an der Kontrolle fast jeden Verhaltens beteiligt. „Dominanz“ der linken Hirnhälfte – Die Schule fördert die linke Hirnhälfte und vernachlässigt die rechte. – Daraus entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Hemisphären; die linke wird „dominant”. – Die gestörte Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften bewirkt Lernstörungen. – Ziel muss eine lntegration beider Hirnhälften sein. – lm Normalfall arbeiten beide Hemisphären eng vernetzt. – Die Wechselwirkungen zwischen beiden Hemisphären sind so stark, dass spezielle Funktionen nicht voneinander unterschieden werden können. – Der Ausdruck „Dominanz” bezieht sich auf sprachliche Fähigkeiten. Brachliegende Gehirnkapazitäten – Die Hirnkapazität wird nicht ausreichend genutzt. – Weite Hirnteile liegen brach. – Übung bewirkt verstärkte Aktivierung und optimale Ausnutzung des Gehirns. – Das Gehirn ist ein äußerst energieaufwendiges Organ. – Übung bewirkt, dass man zum Lösen von Aufgaben weniger Aktivität aufwendet und der Kortex „effektiver arbeitet”. Lerntypen – Es gibt verschiedene Lerntypen. – Auf diese Unterschiede muss die Schule eingehen. – Lerntypen ermittelt man durch spezielle Tests, die Auskunft über die individuell passende Lernform geben. – Zum Thema „Lerntypen” gibt es keine Forschung. – Lernen ist, ebenso wie die Wahrnehmung selbst, ein komplexer Prozess, der sich nicht auf ein Sinnesorgan reduzieren lässt. – Lerntypentests sind weder zuverlässig noch aussagekräftig. Quelle: Becker, 2009, S. 76 2. Regeln für die Vorbereitung auf eine Prüfung 1. Prüfungen akzeptieren (…) 2. Motivation erzeugen1 (…) 5 10 3. Spannung nutzen: Die Anspannung vor einer Prüfung kann helfen, aus dysfunktionalem Stress [Disstress] einen positiven Stress [Eustress] zu machen.2 (…) 4. Rituale entwickeln: Pünktliches Aufstehen, definierter Arbeitsbeginn, geplante Pausen, festgelegtes Arbeitsende und dergleichen sind für effektives Lernen notwendig. Eine deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit hilft bei der Vorbereitung auf Prüfungen. 1 2 siehe Abschnitt 4.6.1 vgl. Kapitel 5.5.2 5. Fachlich gut vorbereiten: (…) Eine langfristig geplante, fundierte Aneignung [und Auseinandersetzung mit dem] Prüfungsstoff vermittelt (…) Sicherheit und Selbstvertrauen. (…) 15 6. Prüfungen üben: Häufiges Üben erleichtert es, Prüfungen als alltägliche Aufgaben [anzusehen und] zu bewältigen. (…) 7. Störungen vermeiden (…): Eine Lernumgebung, in der man nicht gestört ist bzw. wird, ist für das Lernen sehr förderlich. (…) Quelle: Holm-Hadulla, 2008, S. 64 f., gekürzt und verändert 20 Kapitel 4 21 Wichtige ‚Lerngesetze‘: „Je länger und intensiver man sich in der Vorbereitungszeit mit seinem Prüfungsgebiet beschäftigt hat, je enger die Inhalte miteinander verknüpft worden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch in Belastungssituationen abrufbar sind.“ – Man lernt nur, was man lernen will. – Gut geplant ist halb gelernt. – Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen. Tue den 1. Schritt! – Nicht alles auf einmal, sondern gestaffelt wiederholen. ‚Nicht klotzen, sondern kleckern.’ – Nachhaltig lernt man nur, was man be- und verarbeitet. – Man behält nur, was man zur rechten Zeit wiederholt. – Am Tag vor der Prüfung muss die Arbeit ruhen. (Mietzel, 20016, S. 245) 5 10 Quelle: Raithel u. a., 20093, S. 356 3. Intelligenzmodelle nach Spearman, Thurstone und Gardner a) 5 10 Die Zweifaktorentheorie von Charles E. Spearman Charles E. Spearman1 kam aufgrund seiner Beobachtung, dass intelligente Menschen auf vielen Gebieten intelligentes Verhalten zeigen, zu dem Schluss, dass Intelligenz aus einer einheitlichen Grundfähigkeit, die er den allgemeinen Intelligenzfaktor g nennt, und aus speziellen Einzelfähigkeiten, die er als spezielle Faktoren s bezeichnet, besteht. Ist beispielsweise eine Rechenaufgabe zu lösen, so ermöglichen der allgemeine Faktor g und ein spezieller Faktor s – in diesem Beispiel der Faktor „Rechenfähigkeit – die Lösung der Aufgabe. Ist aber eine Leistung im sprachlichen Bereich gefordert, so werden wiederum der generelle Faktor g und der spezielle Faktor „Sprachbegabung“ aktiviert. Wirkungsweise des g-Faktors und der s-Faktoren g S1 rechnerische Fähigkeit S3 Sprachbegabung S2 spezielles Handgeschick T3 Fremdsprachentest T1 Rechentest T2 Test für Handgeschick 1 S1–S3 g T1–T3 = spezielle Faktoren = Generalfaktor = Testleistungen Charles Edward Spearman (1863–1945) war englischer Psychologe und wurde berühmt für seine Zweifaktorentheorie der Intelligenz. 15 22 Kapitel 4 b) 5 10 Die multiple Faktorentheorie von Louis L. Thurstone Nach Louis L. Thurstone1 gibt es keinen allgemeinen Faktor g, sondern nur mehrere voneinander unabhängige, gleichrangige Faktoren, die je nach gestellter Aufgabe zum Einsatz kommen. Diese Annahme ergibt sich aus der Beobachtung, dass Menschen, die in einem Bereich – zum Beispiel der Sprache – sehr begabt sind, in einem anderen Bereich – wie beispielsweise Mathematik – erhebliche Schwierigkeiten haben. Maßgeblich für die Intelligenzleistungen bei diesem Modell sind hauptsächlich sieben Primärfaktoren: – – – – Sprachverständnis/Sprachbeherrschung Wortflüssigkeit Rechengewandtheit/Rechenfähigkeit Raumvorstellung/räumliches Vorstellungsvermögen – Gedächtnis – Wahrnehmungsgeschwindigkeit/ Auffassungsgeschwindigkeit – schlussfolgerndes, logisches Denken Wirkungsweise der sieben Primärfaktoren Sprachverständnis Schlussfolgerndes Denken Wortflüssigkeit T2 T1 T3 Wahrnehmungsgeschwindigkeit Gedächtnis Rechengewandtheit Raumvorstellung T1–T3 = Testleistungen Das Konzept der multiplen2 Intelligenz nach Howard Gardner Howard Gardner3 geht davon aus, dass wir über mehrere „Intelligenzen“ verfügen, die jeweils relativ unabhängig voneinander sind. Entsprechend kam er auf verschiedene eigenständige Intelligenzen: c) 25 30 1 2 3 4 – die logisch-mathematische Intelligenz4, – die sprachliche Intelligenz4, – die räumliche Intelligenz, – die musikalische Intelligenz, Louis Leon Thurstone (1887–1955) war amerikanischer Psychologe. multus (lat.): viel, zahlreich Howard Gardner (* 1943) lehrt an der Harvard-Universität, an der Boston University School of Medicine und am Boston Veterans Administration Medical Center. Bekannt wurde er vor allem durch seine Bücher über Intelligenz und den menschlichen Geist. Die logisch-mathematische und die sprachliche Intelligenz sind diejenigen Fähigkeiten, die in der Regel von den üblichen Intelligenztests erfasst werden. 15 20 Kapitel 4 – die körperlich-kinästhetische1 Intelligenz, die in der Beherrschung und Koordination des Körpers und einzelner Körperteile, zum Beispiel beim Tanzen, besteht, 5 10 15 – die intrapersonale2 Intelligenz, die sich darin zeigt, sich selbst zu verstehen und mit sich selbst umgehen zu können, – die interpersonale3 Intelligenz, von anderen Autoren häufig soziale Intelligenz genannt, als die Fähigkeit, das soziale Leben in den verschiedenen Organisationsformen und Beziehungen, in denen ein Mensch lebt – zum Beispiel in der Familie, Schule und Arbeit, in der Ehe, im Bekannten- und Freundeskreis – zu bewältigen, sowie 23 – die naturalistische Intelligenz als die Fähigkeit, die Natur zu verstehen und verantwortungsbewusst mit ihr umgehen zu können. Kritiker wenden ein, ob diese Spezialfähigkeiten – logisch-mathematische, sprachliche, räumliche, musikalische, körperlich-kinästhetische, naturalistische, intrapersonale und interpersonale Intelligenz – tatsächlich den Begriff „Intelligenz“ verdienen oder ob es sich nicht vielmehr lediglich um „Begabungen“ oder „Talente“ handelt. Trotz dieser Kritik hat sich das Konzept der multiplen Intelligenz heute sehr stark durchgesetzt. 20 25 Quelle: Hobmair, 2012, S. 213 ff. 4. Theorien des Vergessens 5 Die Theorie des Spurenzerfalls (Fading-Theorie) Die Interferenztheorie Die vom Lernen hinterlassenen Spuren bzw. Veränderungen sind mit der Zeit nicht mehr klar erkennbar; sie „verludern“ im Laufe der Zeit, wenn der Lernstoff längere Zeit nicht mehr wiederholt und geübt wird. Vergessen wird hier als ein passiver Prozess verstanden, bei dem eine Gedächtnisspur entschwindet. Neues Lernen kann sich mit dem unmittelbar vorher Gelernten überlagern – interferieren –, sodass das vorher Gelernte oder auch das neu Gelernte blockiert und damit vergessen wird.4 Die Verzerrungstheorie (Distortions-Theorie) 10 15 Menschen erinnern sich bei der Suche in ihrem Gedächtnis an Hauptideen, an die Kernaussage, aber nicht an die Einzelheiten. Später bringen sie die Details hervor, wobei das Original häufig verzerrt wird. Die Versagenstheorie beim Abruf von Hinweisreizen Das Vergessen ist auf einen Mangel an angemessenen Hinweisreizen für das Abrufen beim Zeitpunkt des Erinnerns (nicht des Lernens) zurückzuführen, das Abrufen von Inhalten aus dem Gedächtnis misslingt. Quelle: Lefrançois, 20084, S. 275 ff. Die Verdrängungstheorie Erlebensinhalte, die der Mensch nicht wahrhaben will oder kann und die Angst auslösen, werden in das Unbewusste abgeschoben und so „vergessen“. 1 2 3 4 kinein (griech.): bewegen; aísthesis (griech.): die Sinneswahrnehmung; Kinästhetik: die Fähigkeit, Bewegungen der Körperteile kontrollieren und steuern zu können intra (lat.): innerhalb inter (lat.): zwischen vgl. die Ausführungen über die retro- und proaktive Hemmung in Abschnitt 4.5.7 20 25 30 24 Kapitel 5 Materialien Kapitel 5 1. Möglichkeiten der Entspannung 5 10 15 20 a) Atemübungen Mit den folgenden einfachen Atemübungen können Sie im Alltag Ihre Sauerstoffaufnahme verbessern und Ihre Konzentrationsfähigkeit steigern. Sie finden damit auch in Stresssituationen schnell zu einem harmonischen Atemrhythmus zurück. Mithilfe der Kraftlenkung (…) können Sie sich willentlich in einen Zustand der Ruhe, Harmonie und Stärke versetzen. Führen Sie die Übungen immer dann aus, wenn Sie abgespannt und müde, unkonzentriert oder nervös sind, egal ob im Büro, auf Reisen oder zu Hause. Achten Sie nur darauf, dass Sie ungestört sind und dass Ihre Kleidung Sie nicht beengt. Die Übungen eignen sich aber auch als Vorbereitung für die Atemübungen. Führen Sie die Übungen in einer aufrechten Sitzhaltung oder im aufrechten Stand aus. So kann der Atem ungehindert fließen. Gähnen So wirkt die Übung: Entspannt die Rachenmuskeln. Vertieft die Atmung. Hilft beim Ausscheiden von Giftstoffen. Löst Verspannungen. – Atmen Sie zunächst vorbereitend aus. – Atmen Sie langsam ein. – Öffnen Sie den Mund, weiten Sie den Rachenraum, lassen Sie den Unterkiefer entspannt sinken. – Atmen Sie langsam gähnend aus. Entspannen Sie dabei die Rachenmuskeln. – Schließen Sie danach weich den Mund. – Wiederholen Sie das Gähnen einige Male. Dehnen und recken Sie sich dabei von den Zehen bis zu den Fingerspitzen und geben Sie verschiedene Laute von sich. Quelle: Waesse, 19995, S. 28 b) Fang Song Gong – Die Drei-Wege-Entspannung 1. Teil Erster Weg Die Linie der Entspannung verläuft zu beiden Seiten Ihres Körpers. Beginnen Sie am Kopf. Zweiter Weg Die Linie der Entspannung verläuft entlang der Körpervorderseite. Beginnen Sie diesmal bei Ihrer Stirn. Dritter Weg Die Linie der Entspannung verläuft über die Körperrückseite. Beginnen Sie wieder bei Ihrem Kopf. Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung langsam von oben nach unten und entspannen Sie nach und nach die Körperteile, die auf der beschriebenen Linie liegen: – linke und rechte Kopfseite, – die beiden Seiten des Nackens, – die Schultern, – beide Oberarme, – beide Unterarme, – beide Hände, und dann – die Finger. Sind Sie bei Ihren Fingern angelangt, dann konzentrieren Sie sich 2 Minuten auf Ihre beiden Mittelfinger. Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung wieder langsam von oben nach unten und entspannen Sie nach und nach die Körperteile, die auf der beschriebenen Linie liegen: – Gesicht, – Hals, – Brustkorb, – Oberbauch, – Unterbauch, – Becken, – Vorderseite beider Oberschenkel, – beide Knie, – Vorderseite beider Unterschenkel, – die Mitte beider Füße und – die Zehen. Wandern Sie auch diesmal mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung langsam von oben nach unten und entspannen Sie nach und nach die Körperteile, die auf der beschriebenen Linie liegen: – Hinterkopf, – Hals und Nacken, – oberer Teil des Rückens, – mittlerer Teil des Rückens, – unterer Teil des Rückens, – Becken und Po, – Rückseite der Oberschenkel, – Kniekehlen, – Waden, – Fersen und – Fußsohlen. Atmen Sie ruhig und gleichmäßig ein und aus und versuchen Sie bei jedem Atemzug zu spüren, wie sich der betreffende Teil Ihres Körpers nach und nach leichter und entspannter anfühlt. Sind Sie bei den Zehen angelangt, konzentrieren Sie sich 2 Minuten auf Ihre großen Zehen. Sind Sie bei Ihren Fußsohlen angelangt, konzentrieren Sie sich 5 Minuten auf den Punkt Sprudelnde “ Quelle” [in der Fußmitte, unterhalb des Zehenballens]. 25 30 35 Kapitel 5 25 2. Teil Im zweiten Teil dieser Übung wandern Sie erneut mit Ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung von Kopf bis Fuß, doch diesmal entspannen Sie größere Areale als im ersten Teil. Entspannen Sie nach und nach – Kopf, – beide Arme, – Brustkorb, – Bauchregion, – Becken und Po und anschließend – beide Beine. Verharren Sie bei jedem dieser Abschnitte für die Dauer von 6 Atemzügen und wiederholen Sie bei jedem Atemzug innerlich die Worte „wohlig entspannt“. Wiederholen Sie den gesamten Ablauf 3-mal. Quelle: Engel, 20092, S. 60 f. 5 10 15 20 25 30 35 c) Entspannungstechniken Die progressive Muskelentspannung (PMR) stammt von Edmund Jacobson (1885–1976). Dieser ging davon aus, dass eine muskuläre Entspannung eine Herabsetzung der Aktivitäten des zentralen Nervensystems zur Folge hat und somit über eine systematische Kontrolle einzelner Muskelpartien ein Entspannungszustand erreicht werden kann (vgl. Kaluza, 20103, S. 81). Bei dieser Technik werden mehrmals hintereinander einzelne Muskeln des Körpers angespannt und dann wieder losgelassen. So wird zum Beispiel des Öfteren die Hand zu einer Faust geballt, diese etwas angehalten und dann wieder locker gelassen. Das autogene Training (AT), das auf den Berliner Nervenarzt Johannes H. Schultz (1884–1970) zurückgeht, beruht auf der Auffassung der „Beeinflussung des Körpers durch die Macht der Vorstellung“ (Lindemann, 2002, S. 10). Durch Wiederholung von formelhaften Sätzen wie „Ich bin ganz ruhig und gelassen“ überträgt sich diese Entspannung auf den gesamten Körper. Bei der Biofeedback-Methode werden Herzschlag oder Hautwiderstand gemessen und dem Anwender durch Ton- oder Lichtsignale rückgemeldet. Dadurch lernt er seine Atmung, seinen Herzschlag, seinen Blutdruck oder seine Muskelspannung positiv zu beeinflussen. Yoga ist eine Entspannungstechnik aus Indien, die auf der Annahme beruht, dass mithilfe gezielter Übungen Seele, Geist und Körper des Menschen in Einklang gebracht werden können. Im Mittelpunkt stehen Atem-, Meditations- und Konzentrationsübungen, die durch festgelegte Körperübungen verstärkt und auf den Punkt gebracht werden. „Yoga stabilisiert den ganzen Menschen. Das hat zur Folge, dass stressauslösende Situationen leich- ter gemeistert werden, Stressfolgen abgemildert werden oder verschwinden.“ (Waesse, 19995, S. 11) d) Qi Gong Die Wurzeln des Qi Gong liegen in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). „Gesundheit und Wohlbefinden sind nach Auffassung der TCM nur möglich, wenn Körper, Geist und Seele eine harmonische Einheit bilden.“ (Engel, 20092) e) Fantasiereise Fantasiereisen oder auch Imaginationen sind Übungen, die helfen sollen, sich bewusst auf eine Reise in eine Fantasiewelt einzulassen. Die folgende Übung stellt ein solches Beispiel dar: 40 45 50 Quelle: eigener Text „Und nun möchte ich Sie einladen, die Übung des inneren sicheren Ortes kennenzulernen ... Dieser Ort kann auf der Erde sein, er muss es aber durchaus nicht. Er kann auch außerhalb der Erde sein ... Lassen Sie Gedanken oder Vorstellungen oder Bilder aufsteigen von einem Ort, an dem Sie sich ganz wohl und geborgen fühlen. Und geben Sie diesem Ort eine Begrenzung Ihrer Wahl, die so beschaffen ist, dass nur Sie bestimmen können, welche Lebewesen an diesem Ort, Ihrem Ort, sein sollen, sein dürfen. Sie können natürlich Lebewesen, die Sie gerne an diesem Ort haben wollen, einladen. Wenn möglich, rate ich Ihnen, keine Menschen einzuladen, aber vielleicht liebevolle Begleiter oder Helfer, Wesen, die Ihnen Unterstützung und Liebe geben. Prüfen Sie, ob Sie sich dort mit allen Ihren Sinnen wohlfühlen. Prüfen Sie zuerst, ob das, was Ihre Augen wahrnehmen, angenehm ist 55 60 65 70 26 Kapitel 5 5 10 15 für die Augen. Wenn es noch etwas geben sollte, was Ihnen nicht gefällt, dann verändern Sie es ... Nun überprüfen Sie bitte, ob das, was Sie hören, für Ihre Ohren angenehm ist … Wenn nicht, verändern Sie es bitte so, dass alles, was Ihre Ohren wahrnehmen, angenehm ist … Ist die Temperatur angenehm? ... Wenn nicht, so können Sie sie jetzt verändern … Kann Ihr Körper sich so bewegen, dass Sie sich damit ganz wohlfühlen, und können Sie jede Haltung einnehmen, in der Sie sich wohlfühlen? … Wenn noch etwas fehlt, verändern Sie alles so, bis es ganz stimmig für Sie ist ... Sind die Gerüche, die Sie wahrnehmen, angenehm? … Auch die können Sie verändern, sodass Sie sich ganz wohl damit fühlen … Wenn Sie nun spüren können, dass Sie sich ganz und gar wohlfühlen an Ihrem inneren Ort, dann können Sie mit sich eine Körpergeste vereinbaren. Und diese kleine Geste können Sie in Zukunft ausführen und sie wird Ihnen helfen, dass Sie diesen Ort ganz rasch wieder in der Vorstellung haben. Und wenn Sie das möchten, können Sie diese Geste jetzt ausführen … Um die Übung zu beenden, können Sie wieder Ihre Körpergrenzen wahrnehmen und den Kontakt des Körpers mit dem Boden achtsam registrieren. Danach kommen Sie dann mit der Aufmerksamkeit zurück in den Raum.“ 20 25 30 15 Quelle: Reddemann, 2010 , S. 45 f. 2. Leistungsmotivation als Beispiel für Motivation 5 10 15 20 25 a) Der Begriff „Leistungsmotivation“ Leistung bezeichnet die Bewältigung einer Anforderung bzw. Aufgabe mit geistiger und/oder körperlicher Anstrengung. Leistungsmotivation bedeutet entsprechend das von bestimmten Motiven gesteuerte Bestreben, eine bestimmte Anforderung bzw. Aufgabe mit Anstrengung zu bewältigen bzw. zu vollbringen. Solche Motive können beispielsweise das Erzielen guter Noten und das Erhalten von Anerkennung, von Prämien oder von Auszeichnungen sein. Leistungsmotivation bezeichnet ein von bestimmten Motiven gesteuertes Bestreben, eine bestimmte Anforderung bzw. Aufgabe mit Anstrengung zu bewältigen bzw. zu vollbringen. Am Beispiel von Beobachtungen von kleinen Kindern kann man Leistungsmotivation gut veranschaulichen: Sie bauen mit großer Anstrengung und enormem Eifer einen Turm oder eine Burg und lassen sich durch nichts stören. Ist das Werk vollbracht, so verliert es seinen Reiz. Lernmotivation bezieht sich auf die Anstrengung eines Schülers in Lern- oder Prüfungssituationen, -aufgaben oder -anforderungen. Das Bedürfnis, Leistung zu erbringen, setzt einen persönlichen Maßstab, einen individuellen „Sollwert“ voraus, auf den die Leistung bezogen ist und wie diese bewertet wird (Selbstbewertung). Ludwig hat in der Prüfungsarbeit die Note 3 erhalten. Er ist darüber sehr enttäuscht und traurig, denn er hatte an seine Leistungen einen relativ hohen Maßstab angelegt. Maria hat in der gleichen Arbeit ebenfalls die Note 3 erreicht. Sie strahlt über das ganze Gesicht und freut sich über diese Note. Maria hatte einen niedrigeren Maßstab. Jeder Mensch stellt also an seine Leistung einen Gütemaßstab, der von Individuum zu Individuum unterschiedlich und der das Ergebnis von vorhergegangenen Lernprozessen ist. 30 35 40 45 Ludwig und Maria messen ihre Leistungen mit einem unterschiedlichen Gütemaßstab, beide haben in ihre Arbeit unterschiedliche Erwartungen gesetzt. Heinz Heckhausen (19876, S. 95) spricht in diesem Zusammenhang von einem Anspruchsniveau, was die Gesamtheit aller aufgrund vorausgegangener Erfahrungen bestehenden Erwartungen an die zukünftige eigene Leistung bedeutet. Dem individuellen Anspruchsniveau gemäß kann nun die erbrachte 50 55 Kapitel 5 5 Leistung der erwarteten entsprechen oder sie sogar übertreffen – also gelingen; sie kann die erwartete Leistung aber auch verfehlen – also misslingen. Übertrifft die erbrachte Leistung die erwartete oder entspricht sie ihr, so hat das Individuum Erfolg; verfehlt sie sie, so ist Misserfolg die Folge. Für Ludwig war das Ergebnis seiner Leistung ein Misserfolg, für Maria dagegen ein Erfolg. „Wird das Anspruchsniveau erreicht oder überschritten, erlebt man Erfolg; wird es nicht erreicht, erlebt man Misserfolg. Im ersten Falle wird das Anspruchsniveau in der Regel erhöht, im zweiten Falle gesenkt. Immer liegen dem persönliche und je nach dem erreichten Leistungsstand wandelbare persönliche Gütemaßstäbe zugrunde. Die Auseinandersetzung mit solchen Gütemaßstäben ist das Kennzeichen eines wichtigen Motivs, das nur dem Menschen eigen ist: der Leistungsmotivation.“ (Heckhausen, 19876, S. 95) 10 15 Solche vorausgegangenen Erfolgs- oder Misserfolgserfahrungen schlagen sich nun hinsichtlich der Erwartungen bei zukünftigen Aufgaben nieder: Sie sind entweder durch Hoffnung auf Erfolg oder durch Furcht vor Misserfolg charakterisiert. Es handelt sich also dabei um eine Vorwegnahme, um eine Antizipation1 des Handlungsausganges. Ludwig wird bei seinen künftigen Prüfungsarbeiten durch „Furcht vor Misserfolg“ motiviert sein: Er macht sich Sorgen, in der nächsten Arbeit wieder die Note 3 zu bekommen. Maria dagegen ist guter Dinge, dass sie auch in der kommenden Arbeit wieder eine 3 erreichen kann; sie ist durch „Hoffnung auf Erfolg“ motiviert. 20 25 1 2 Die individuelle Erwartungshaltung hinsichtlich einer Leistung ist nicht allein von Erfolgsund Misserfolgserfahrungen abhängig, sondern auch von der Selbstwirksamkeit2 eines Menschen, der bisherigen Erziehung, den Botschaften, die er im Laufe seines Lebens erhält („Das kannst du nicht“, „Dazu bist du zu dumm“) oder von dem, wovon er selbst überzeugt ist („Ich kann das“ oder „Ich kann das nicht!“). Auch der Vergleich mit anderen spielt eine große Rolle: Der Einzelne vergleicht sich mit anderen und dieser Vergleich beeinflusst den Lernenden, ob bzw. mit welcher Anstrengung er eine Aufgabe bewältigen will. 27 30 35 40 Die Erwartungen „Hoffung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“ bestimmen nach Heinz Heckhausen das künftige Leistungsverhalten, was die Leistungsmotivation ausmacht. Ludwig ist zum Lernen motiviert, weil er sich sorgt, wieder nur eine 3 in der Prüfungsarbeit zu bekommen; Maria dagegen ist motiviert, weil sie hofft, die 3 halten zu können. Wie intensiv und ausdauernd ein Mensch seine Leistungsmotivation entwickelt, hängt zum einen vom individuellen Anspruchsniveau ab. Jeder Mensch sucht nach Erfolg und versucht, Misserfolg zu vermeiden. Aus dem Spannungsverhältnis dieser beiden Tendenzen ergibt sich die Leistungsmotivation. Zum anderen liegen Aktivierung, Intensität und Ausdauer einer Leistungsmotivation auch an der Schwierigkeit der Aufgabe: Das Lösen einer Aufgabe, die man für sehr leicht hält, wird nicht als Erfolg erlebt, das Nichtbewältigen einer solchen, die man für zu schwer hält, nicht als Misserfolg. Dazwischen liegt ein mittlerer Schwierigkeitsbereich, innerhalb diesem die Tüchtigkeit des Einzelnen herausgefordert und ein Anspruch an die persönliche Tüchtigkeit erlebt wird. Antizipation (lat.): gedankliche Vorwegnahme Selbstwirksamkeit bedeutet die eigene subjektive Überzeugung, bestimmte Verhaltensweisen ausüben und Situationen bewältigen zu können, etwas bewirken und sein Leben selbst kontrollieren zu können. 45 50 55 60 65 28 Kapitel 5 Vorangegangene Lernprozesse bestimmen Anspruchsniveau die Gesamtheit aller aufgrund vorausgegangener Erfahrungen bestehenden Erwartungen an die zukünftige eigene Leistung Folge Erfolg Die erbrachte Leistung übertrifft die erwartete oder entspricht ihr. Misserfolg Die erbrachte Leistung verfehlt die erwartete. schlagen sich nieder in Erwartungen Hoffnung auf Erfolg Furcht vor Misserfolg bestimmen Leistungsmotivation 5 b) Förderung der Leistungsmotivation Manfred Holodynski und Rolf Oerter (20086, S. 553) heben zwei erzieherische Verhaltensweisen zur Förderung der Leistungsmotivation besonders hervor: – ein warmherziges und unterstützendes Verhalten der Eltern und anderer Erzieher gegenüber ihren Kindern und 10 15 20 – hohe, aber dennoch realistische Leistungserwartungen der Eltern und Lehrer mit einer „herausfordernden“ Atmosphäre. Dabei müssen die Kinder auf jeden Fall die Erwartungen auch erreichen können. Untersuchungen zeigen, dass intrinsische Motivierung ein wesentlich höheres Leistungsniveau sowie ein ausdauernderes Lernen bedingt als eine extrinsische Motivierung.1 Wer mit einer primären Motivation, aus Interesse an der Sache selbst, lernt, der lernt auch intensiver und empfindet eine tiefere Befriedigung über 1 vgl. Abschnitt 5.3.1 die geleistete Arbeit. Aus diesem Grund ist es erforderlich, Kinder bzw. Schüler primär für die verschiedenen Fachgebiete zu motivieren. Lob bzw. Belohnung, die den Zweck der erzieherischen Bemühungen ändern und eine Sekundärmotivation begünstigen, sind dann nicht mehr erforderlich. Alternativ zum Lob bzw. zur Belohnung ist es vorteilhafter, wenn Erzieher und Lehrer Erfolgserlebnisse für den zu Erziehenden arrangieren. Erfolg geht nicht unmittelbar von einer Person aus, sondern ergibt sich aus einer bestimmten Verhaltensweise, einer Handlung oder einem Sachverhalt, zieht aber ebenso wie das Lob bzw. die Belohnung eine angenehme Konsequenz nach sich. Dies kann beispielsweise, wie Wolfgang Metzger (19763, S. 57) ausführt, das Gelingen eines Unternehmens sein, das Zustandebringen eines Werkes, die unmittelbar als richtig erkannte Lösung einer Aufgabe oder die Überwindung einer Schwierigkeit. 25 30 35 40 Kapitel 5 5 10 Unter Erfolg als Erziehungsmaßnahme wird eine angenehme Konsequenz verstanden, die unmittelbar aus einer bestimmten Verhaltensweise bzw. Handlung oder einem Sachverhalt hervorgeht (Hobmair, 2010, S. 405). Der zu Erziehende handelt bei Erfolgserlebnissen nicht um der Belohnung bzw. des Lobes, sondern um der Sache willen und kann dadurch eine sachbezogene Motivation aufbauen. Er macht bzw. lernt etwas aus „Freude an der Sache“. Nach Heinz Heckhausen ist das Bestreben, gute Leistungen zu erbringen, am größten, wenn der Schüler selbst nicht beurteilen kann, wie er bei der Lösung der Aufgaben abschneiden wird. Dies ist der Fall, wenn sich „Hoffnung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“ die Waage halten. Bei zu leichten Aufgaben ist der Erfolg gewiss, und eine innere Befriedigung – ein Erfolgserlebnis, welches motiviert – bleibt aus. Bei zu schweren Aufgaben muss man von vornherein mit einem Misserfolg rechnen, der das Kind bzw. den Schüler nicht (mehr) motiviert, sondern resignieren lässt. 29 15 20 „Spaß stellt sich ein, wenn man etwas kann, und zwar ganz von allein. Das Lernen selbst ist keineswegs immer spaßig, sondern oft mühsam und anstrengend. Aber wenn ein Schüler aus Erfahrung weiß, dass er Spaß haben wird, wenn er etwas kann, dann hat er einen Anreiz, auch wenn der Weg dahin manchmal etwas schwierig ist.“ (Stern, in: Sonnenmoser, 2004, S. 31) warmherziges und unterstützendes Erzieherverhalten hohe, aber dennoch realistische Leistungserwartungen Förderung der Leistungsmotivation intrinsische Motivierung Arrangieren von Erfolgserlebnissen Ausgeglichenheit der beiden Erwartungen „Hoffnung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“ Quelle: Hobmair, 2012, S. 276–279 3. Kritische Lebensereignisse als Beispiel für eine emotionale Belastung 5 Kritische Lebensereignisse stellen eine emotionale Belastung im Leben eines Menschen dar mit kurz- oder langfristigen Auswirkungen. Die Erforschung der kritischen Lebensereignisse erscheint in der Literatur häufig auch unter den Begriffen „life-stress-Forschung“, „life-event-Forschung“, „(Lebens-) Krise“ oder „psychosozialer Stress“. Als kritisches Lebensereignis bezeichnet man eine Veränderung der bisherigen Lebenssituation einer Person, wobei diese Veränderung einen Zustand des Ungleichgewichts zwischen der Person und ihrer Umwelt verkörpert, von gefühlsmäßigen Reaktionen begleitet ist und eine Belastung darstellt sowie eine Neuanpassung der Person an die veränderte Lebenssituation erfordert. 10 15 30 Kapitel 5 Sitzenbleiben in der Schule, Trennung der Eltern, eine gerichtliche Bestrafung, ein Wohnortwechsel, eine schwere Erkrankung, der Tod eines Familienmitglieds, die Heirat, die Geburt des ersten Kindes, Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes, die Verwicklung in einen Verkehrsunfall, ein Erdbeben, eine kriegerische Auseinandersetzung, die Versetzung in den Ruhestand, die Einweisung ins Altersheim, die Konfrontation mit dem eigenen Tod usw. sind Beispiele für kritische Lebensereignisse. 5 10 15 20 25 Kritische Lebensereignisse können positiv sein, wie zum Beispiel die Heirat oder die Geburt des ersten Kindes, oder auch negativ, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Tod eines geliebten Menschen. Je nachdem, wie stark eine Belastung für den Menschen ist, wird sie zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Die Schwere des subjektiven Erlebens einer Belastung hängt in erster Linie von der Vorhersehbarkeit und von der Kontrollierbarkeit von solchen Ereignissen ab. Mit Kontrollierbarkeit ist die subjektive Überzeugung eines Menschen gemeint, ob und inwieweit er eine Situation beeinflussen und bewältigen kann. Erlebt sich zum Beispiel ein Mensch bei einem eingetretenen Ereignis als sehr hilflos und ist er davon überzeugt, dieses nicht beeinflussen zu können, so wird er die Situation als sehr belastend empfinden. Glaubt er jedoch, diese in Griff zu bekommen, so wird die Belastung sehr gering sein. 30 35 Dabei handelt es sich nicht um eine objektive Kontrollierbarkeit, sondern um eine subjektive, bei der das Individuum glaubt, dass dies so ist. So zum Beispiel ist die Bewältigung der Um siedlung von alten Menschen in ein Altenheim in einem sehr entscheidenden Maße von der Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit von Kontaktmöglichkeiten abhängig. 40 1 2 Kritische Lebensereignisse können altersabhängig oder altersunabhängig sein. Es gibt auch Ereignisse, die vom biologischen Alter bestimmt werden. Dazu gehören zum Beispiel die sexuelle Reife oder der Beginn der Menopause1. 45 50 Auch die Bedeutung, die einzelnen Ereignissen beigemessen wird, ist vom Alter abhängig. Die Schwangerschaft einer minderjährigen Schülerin hat eine andere Bedeutung für die Betroffene als die Schwangerschaft einer erwachsenen Frau in stabilen Beziehungen und mit gutem finanziellen Auskommen. Daneben gibt es Ereignisse, die nicht vom Alter abhängen, wie etwa einen Autounfall, den man erleidet. Zudem können kritische Lebensereignisse kulturabhängig oder kulturunabhängig sein. Schuleintritt oder Übertritt in das Rentenalter zum Beispiel sind durch die jeweilige Gesellschaft bestimmt, in der wir leben – sie sind kulturabhängig. Kulturunabhängige Ereignisse stehen in keinem direkten Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur. 55 60 65 70 Dies ist beispielsweise bei plötzlichem Verlust einer lieb gewonnenen Person der Fall. Alters- und kulturabhängige kritische Lebensereignisse haben gemeinsam, dass man sie relativ gut vorhersagen und sich auf sie einstellen kann; alters- und kulturunabhängige Ereignisse sind in der Regel unvorhersehbar. Kritische Lebensereignisse, die vorhersehbar sind, werden als normative Lebensereignisse oder Entwicklungsaufgaben2 gesehen; solche, die unvermittelt eintreten, bezeichnet man als nonnormative Lebensereignisse. Normative Lebensereignisse treten also beabsichtigt auf, sind vorhersehbar, alters- oder kulturabhängig; nonnormative Lebensereignisse treten unvermittelt auf und sind alters- oder kulturunabhängig. Die Menopause ist der Zeitraum nach der letzten Regelblutung. siehe Kapitel 8.1 75 80 85 Kapitel 5 31 Kritische Lebensereignisse Bezeichnung für Veränderungen der bisherigen Lebenssituation einer Person; diese Veränderungen sind durch einen Zustand des Ungleichgewichts zwischen dieser Person und der Umwelt gekennzeichnet, sind von gefühlsmäßigen Reaktionen begleitet und erfordern eine Neuanpassung der Person an die veränderte Lebenssituation können positiv negativ sein und sind alters- und/oder kulturabhängig alters- und/oder kulturunabhängig und damit und damit vorhersehbar nicht vorhersehbar normative Lebensereignisse treten beabsichtigt auf, sind vorhersehbar, alters- oder kulturabhängig; = Entwicklungsaufgaben nonnormative Lebensereignisse treten unvermittelt auf, sind nicht kulturabhängig oder vom Alter her bestimmt Quelle: eigener Text 4. Das Stressmodell von Richard S. Lazarus 5 10 15 Zur Beschreibung eines Stresszustandes gibt es verschiedene Modelle. Ein sehr bekanntes Stressmodell stammt von Richard S. Lazarus1. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt in der Betonung der kognitiven Prozesse im Menschen; die Einschätzung einer bestimmten Situation oder Anforderung als bedrohlich, schädlich oder auch als herausfordernd ist ein entscheidendes Merkmal des Stresses. Stress ist nach Lazarus durch die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und der daraus resultierenden gegenseitigen Beeinflussung gekennzeichnet. Aus der Umwelt wirken auf den Menschen bestimmte Reize ein. In einem ersten Einschätzungsprozess (primäre Einschätzung) werden diese Reize bewertet. 1 Um das Beispiel in Abschnitt 5.5.5 nochmals aufzugreifen: Ein Schüler hat in der schriftlichen Abschlussprüfung in Mathematik nicht die Note erhalten, die er gebraucht hätte, um im Zeugnis eine 4 zu erhalten. Er muss sich deshalb im Fach Mathematik der mündlichen Prüfung unterziehen. Der Schüler nimmt diese Situation wahr und leitet sie in sein Gedächtnis weiter. Dort versucht er, in einer ersten Überprüfungsphase (= primäre Einschätzung) herauszufinden, ob „Gefahren“ von der neuen Situation ausgehen: Könnte er Schaden nehmen oder einen Verlust erleiden – zum Beispiel keine bessere Note erzielen oder ein ganzes Schuljahr wiederholen müssen? Ist die neue Situation bedrohlich – beispielsweise Versagen in der Prüfung? Stellt die Sache eine Herausforderung dar – zum Beispiel kann er nicht nur die 4 erhalten, sondern sich möglicherweise sogar noch steigern? Richard S. Lazarus (1922–2002) war ein amerikanischer Psychologe. Nach einer Professur in Pittsburgh lehrte er an der University of California, Berkeley. 20 25 30 35 32 Kapitel 5 5 10 15 20 25 30 35 40 Werden nun diese Reize als angenehm bewertet, kommt es zu keiner stresshaften Situation (kein Stress); empfindet der Mensch die Reize jedoch als bedrohlich, schädlich oder zumindest als herausfordernd – also als unangenehm –, so erlebt er eine stressreiche Situation. Der Schüler stellt beispielsweise fest, dass Mathematik seine einzige schlechte Note im Zeugnis sein wird; er macht sich aus diesem Grund keine großen Sorgen um die mündliche Prüfung und erlebt deshalb die Situation nicht als krisenhaft. Gehen jedoch „Gefahren“ von der Situation aus – beispielsweise, wenn er hier versagt, ist er durch die Prüfung gefallen – dann wird er die Situation als stressreich erleben. Wird nun die Situation als stressreich wahrgenommen, werden in einem zweiten Einschätzungsprozess (= sekundäre Einschätzung) die Möglichkeiten der Bewältigung überprüft. Auch hier findet wiederum ein individueller Bewertungsprozess statt. Kommt nun das Individuum zu der Überzeugung, dass es ihm keine Probleme bereiten wird, die Krise zu meistern, dann entsteht in der Regel kein Stress. Glaubt es jedoch, die Situation nicht meistern zu können, so wird sie als stressreich erlebt. Nimmt der Schüler die Situation als unangenehm wahr, so überlegt er in einer zweiten Überprüfungsphase, in der sekundären Einschätzung, welche Bewältigungsmöglichkeiten ihm zur Verfügung stehen. Erkennt er, dass die Situation zwar bedrohlich ist, er sie aber mühelos bewältigen kann, wird kein Stress entstehen. Im anderen Fall wird von unserem Schüler Stress erlebt. Beide Einschätzungsprozesse – primäre und sekundäre Einschätzung – lassen sich in der Praxis jedoch nicht voneinander trennen. Erlebt der Mensch aufgrund der Einschätzungsprozesse Stress, dann beginnt die Planung und Durchführung von Bewältigungsversuchen. Nahezu alle Bewältigungsversuche – auch das Nichtstun – haben in der Regel bestimmte Wirkungen und verändern sowohl die Person als auch die sie umgebende Umwelt. Der Schüler schließt sich beispielsweise einer Lerngruppe an und nimmt Nachhilfestunden bei einem Klassenkameraden; er übt jeden Tag mindestens eine Stunde Mathematikaufgaben. Dadurch gewinnt er neue Zuversicht, die Auswirkung auf sein gesamtes Verhalten hat. Er erlebt die gesamte Situation nicht mehr so stark als Bedrohung, die ganze Atmosphäre vor der Prüfung wird entspannter, was positive Auswirkungen auf das häusliche Zusammenleben seiner Familie hat. Diese Veränderungen motivieren den Menschen zu einem erneuten Einschätzungsprozess (Neueinschätzung), durch den diese Veränderungen gedanklich überprüft werden. Wird die Situation nicht mehr als stressreich erlebt, kann zu neuen Handlungen übergegangen werden (kein Stress); bleibt das Stresserleben erhalten, wird das Individuum erneut Bewältigungsversuche unternehmen (neue Bewältigungsversuche). In der veränderten Situation beginnt der Schüler dann mit einer Neueinschätzung, die wiederum zwei Möglichkeiten eröffnet: Abbau des Stresses oder Fortdauer. Entsprechend dem Ergebnis der Neueinschätzung folgt das weitere Verhalten. Im Idealfall führen die Bewältigungsversuche zum Erfolg und der Stress wird abgebaut; andernfalls beginnen die Bewältigungsversuche von neuem. 45 50 55 60 65 70 75 Kapitel 5 Vereinfachtes Stressmodell nach Richard S. Lazarus Person Umwelt Reize oder Stressoren, je nach Einschätzung kognitive Einschätzung primäre Einschätzung Vorgang der Bewertung einer Situation für das eigene Wohlbefinden Bedrohung, Schaden, Verlust, Herausforderung = stressreich bedeutungslos angenehm kein Stress sekundäre Einschätzung Vorgang der Bewertung der Bewältigung einer Situation negativ = stressreich positiv kein Stress Bewältigungsversuche veränderte Umwelt veränderte Person Neueinschätzung negativ = stressreich positiv kein Stress neue Bewältigungsversuche Quelle: eigener Text 33 34 Kapitel 6 Materialien Kapitel 6 1. Hat der Mensch einen freien Willen? 5 10 15 20 25 30 Vorn am Rednerpult erklärt Professor Henning Scheich die Informationsverarbeitung im Langzeitgedächtnis von Rennmäusen. (…) Scheich erläutert gerade die Wirkung des Neurotransmitters Dopamin, und das interessiert Palmero, und überhaupt geht es um das spannendste Gebiet der Welt: um das Gehirn. Um dieses Organ, das im Schnitt 1300 Gramm schwer, seit 30.000 Jahren praktisch unverändert und immer noch ein Rätsel ist. (…) Palmeros Spezialität sind neue bildgebende Programme, die zeigen, was im Gehirn passiert. So erträgt er die Kleinstadt und den November, es ist sein freier Wille, seine Entscheidung. Was aber, wenn er sich irrt? Was, wenn es gar keinen „freien Willen“ gäbe? Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun, hat vorhin ein Neurologe süffisant gesagt. Weil das Gehirn uns dirigiert. Weil es nur neuronale Prozesse sind, die im Gehirn ablaufen und dort festlegen, was wir wollen, wo wir sind, auf welchem Kongress wir sitzen. Das Ich: eine Einbildung. Der freie Wille: ein romantisches Konzept. Es wird zurzeit heftig gestritten über diese These: Hirnforscher zanken sich mit Strafrechtlern, Neokantianer attackieren Neurodeterministen. Die Debatte wird geführt in Fachzeitschriften und Feuilletons (…). Der Streit um die Willensfreiheit passt da bestens. Provoziert wurde die Debatte von Deutschlands führenden Hirnforschern, die, nüchtern im Ton und basierend auf empirischen Ergebnissen, mal eben den freien Willen als Illusion definierten, nützlich, aber ein Gespinst, tut uns leid. Wie bitte? Ehrgeiz, Moral, Zärtlichkeit, Wut – alles nur Sache einiger Aminosäuren? Den Philosophen wurde mulmig. Und ein potenzieller Mörder hätte demnach gar keine Chance, nicht zu morden? Die Juristen waren empört. Palmero, der Mann aus Kuba, kennt diese These natürlich. Sie schmeichelt ihm, weil sie sein Forschungsgebiet aufwertet. Sie irritiert ihn aber auch, weil sein Gehirn ihn demnach offenbar nach Jülich geschickt hat, ohne ihn vorher zu fragen. Thema: „Der freie Mensch – nur eine Illusion?“ Im Großen Saal reden fünf Ichs aus fünf Fakultäten, fünf Neuronenbündel aus fünf Professionen elegant aneinander vorbei. (…) Palmero, als Physiker, ist sehr beeindruckt von Einsteins Leistung; ein Mann, der mit einer einzigen Formel das Universum, Raum, Zeit erklärt – ein Traum wäre das, so eine Formel, die diese Sache mit dem Hirn und den Neuronen und dem Willen endgültig sortiert. „Aber das Hirn“, sagt Palmero, „ist ungleich komplizierter.“ 35 40 45 50 55 Quelle: Hoppe, 2004, S. 83 2. Das Gedächtnis des Körpers 5 Sind Gelassenheit, Übergewicht, Intelligenz und Langlebigkeit angeboren? Genfunde nähren den Glauben an die Allmacht der Biologie. Doch nun zeigt sich, wie sehr Umwelteinflüsse die Erbanlagen verändern: Die Gene steuern uns – aber auch wir steuern die Gene, durch unseren Lebensstil. (…) Als Ausrede für störende Speckpolster taugen scheinbar allmächtige Gene also nicht, wie auch eine Studie unter 704 Frauen und Männern zeigt, die zur christlichen Religionsgemeinschaft der Amischen gehören und im US-Bundesstaat Pennsylvania leben. Einige von ihnen haben zwar ein bestimmtes Gen für Fettsucht (FTO) – und trotzdem sind sie nicht dicker als Vergleichspersonen mit unauffälligen Erbanlagen. 10 15 Kapitel 6 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Das haben die Amischen durch ihren Lebensstil geschafft, fanden Gesundheitsforscher heraus. Weil die Amischen aus religiösen Gründen Maschinen nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzen, sind sie körperliche Arbeit gewohnt und leben, wie es vor 200 Jahren auch noch in Deutschland üblich war. Jene Frauen und Männer, die während des Tagwerks 900 Kilokalorien verbrennen, können den Einfluss des vermeintlichen FettsuchtGens komplett ausschalten. Der Effekt setzt aber schon bei niedrigerem Energieverbrauch ein. Wer sich körperlich ertüchtigt, der verbrennt nicht nur Kalorien; er verringert auch die Wirkung des FettsuchtGens im Hypothalamus, der das Hungerzentrum beherbergt. Der Lebensstil verändert die Biologie. Leidenschaftlich haben Naturforscher und Philosophen gestritten, was den Menschen stärker prägt: seine biologische Natur – oder die äußeren Einflüsse? Nun versöhnen neue wissenschaftliche Befunde die beiden Lager: Gene und Umwelt stehen sich gar nicht alternativ gegenüber – sie wirken stets im Zusammenspiel. Denn äußere Einflüsse können Gene chemisch verändern und sie auf diese Weise an- und ausschalten. Körperliche Aktivität, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Faktoren prägen das Erbgut. Die Gene steuern uns – aber auch wir steuern sie. Neben dem Inhalt der Gene, der Abfolge der DNA-Bausteine, trägt das Erbgut eine übergeordnete Ebene von Informationen. Die epigenetischen (auf den Genen liegenden) Mechanismen steuern das Verhalten von Genen. Die Epigenetik stellt das lange gesuchte Scharnier dar, über das die Umwelt auf die Erbanlagen wirkt. (…) Die Gene sind kein Schicksal, sondern wunderbar wandelbar – diese bahnbrechende Erkenntnis der Epigenetiker räumt auf mit alten Vorstellungen. Lange hielten Biologen die Gene für fixiert: Nur durch Änderungen der Abfolge der DNA-Bausteine, durch Muta- tionen, könnten neue Eigenschaften entstehen – darunter Talente, Verhaltensweisen und Anfälligkeiten für Krankheiten. (…) Dabei haben Biologen lange kategorisch ausgeschlossen, dass Erfahrungen Spuren in den Erbanlagen hinterlassen können. Gene galten immer als starre Gebilde, kaum fähig, sensibel auf soziale Reize zu reagieren. Doch stimmt diese Vorstellung? Dem Neurowissenschaftler Michael Meaney von der McGill University im kanadischen Montreal kamen Zweifel (…). In einer Kneipe traf er den Pharmakologen Moshe Szyf, der an der McGill University eigentlich nach neuartigen Substanzen zur Behandlung von Krebs suchte. Szyf war ein biochemisches Detail aufgefallen, dem er größte Bedeutung beimaß: Manche Gene in Krebszellen trugen kleine chemische Markierungen, sogenannte Methylgruppen. Durch die Methylierung wird ein Gen selbst nicht verändert – jedoch wird es dadurch abgeschaltet. Das bedeutet: Die Methylierung kann die Wirkung eines Gens verändern, ohne dessen Inhalt zu verändern. (…) In Experimenten an Laborratten wiesen die Montrealer in der Folge tatsächlich nach, dass traumatische Erlebnisse das Erbgut chemisch markieren können. (…) „Das bedeutet“, sagt Michael Meaney, „diese Zellen können sich in einer Art und Weise verändern, die niemand vorhergesehen hat.“ Die Arbeit von Meaney und Szyf ist einer der am häufigsten zitierten Aufsätze, die das renommierte Fachblatt „Nature Neuroscience“ jemals veröffentlicht hat. Die Ergebnisse erklären erstmals, warum traumatische Erlebnisse in der Kindheit auch Jahrzehnte später mit einer erhöhten Anfälligkeit für seelische Leiden verbunden sein können. Und sie räumen mit liebgewordenen Vorstellungen auf: Es ist nicht nur wichtig, was in den Genen geschrieben steht. Es kommt ganz entscheidend darauf an, was die Gene erleben, wie sie geprägt werden. (…) Quelle: Blech, 2010, S. 110–116, gekürzt 35 50 55 60 65 70 75 80 85 90 36 Kapitel 6 3. Die Grundaussagen der Konditionierungstheorien 5 10 a) Das klassische Konditionieren Aus der Sicht des klassischen Konditionierens wird ein Verhalten erlernt, wenn ein Reiz, der noch keine bestimmte Reaktion auslöst, mehrmals zeitlich und räumlich gleichzeitig mit einem anderen Reiz auftritt, der schon ein bestimmtes Verhalten zur Folge hat. Dadurch entsteht zwischen den beiden Reizen eine Verknüpfung, und der Reiz, der zunächst zu keiner bestimmten Reaktion führte, löst dann die gleiche Reaktion aus wie der andere Stimulus. Die Befriedigung von Bedürfnissen löst beim Menschen angenehme Gefühle aus. „Befriedigung von Bedürfnissen“ ist also ein Reiz, der als Reaktion „angenehme Gefühle“ zur Folge hat. Beim Kind ist es seine Bezugsperson, die seine Bedürfnisse befriedigt. Die Bezugsperson, die zunächst beim Kind zu noch keiner Reaktion führt, löst, da sie immer dann auftritt, wenn Bedürfnisse befriedigt werden, allmählich die gleiche Reaktion aus wie die Befriedigung von Bedürfnissen, nämlich angenehme Gefühle. Schon beim Anblick der Bezugsperson werden angenehme Gefühle geweckt. Bezugsperson Befriedigung von Bedürfnissen keine bestimmte Reaktion angenehme Gefühle Bezugsperson + Befriedigung von Bedürfnissen angenehme Gefühle 15 20 25 nach mehreren Wiederholungen angenehme Gefühle Bezugsperson 30 Einen Reiz, der zu keiner bestimmten Reaktion führt, bezeichnen wir als neutralen Reiz (= neutral stimulus: NS). Einen Reiz, der ohne vorangegangenes Lernen eine Reaktion auslöst, bezeichnen wir als unbedingten Reiz (= unconditioned stimulus: UCS), die Reaktion, die auf diesen Reiz folgt, als unbedingte Reaktion (= unconditioned response: UCR). Einen Reiz, der aufgrund einer mehrmaligen Koppelung mit einem unbedingten Reiz die gleiche Reaktion auslöst wie dieser unbedingte Reiz, nennen wir bedingten Reiz (= conditioned stimulus: CS), die Reaktion auf den bedingten Reiz bedingte Reaktion (= conditioned response: CR). NS Bezugsperson führt zu keiner bestimmten Reaktion UCS Befriedigung von Bedürfnissen führt zu UCR angenehmen Gefühlen NS + UCS Bezugsperson + Befriedigung von Bedürfnissen führt zu UCR angenehmen Gefühlen führt zu CR angenehmen Gefühlen wird nach mehreren Wiederholungen zu CS Bezugsperson 35 40 Kapitel 6 5 Der neutrale Reiz (NS) verknüpft sich nur dann mit dem unbedingten Reiz (UCS), wenn beide Reize mehrmals miteinander oder in einem zeitlich kurzen Abstand nacheinander in der gleichen Situation auftreffen. Wir bezeichnen diese Voraussetzung als Gesetz der Kontiguität. 10 Das Gesetz der Kontiguität besagt, dass eine Konditionierung erst erfolgt, wenn der neutrale und der unbedingte Reiz mehrmals miteinander bzw. zeitlich kurz nacheinander auftreten und räumlich beieinander liegen. 15 Ein solcher Lernvorgang muss nicht unbedingt mithilfe eines angeborenen Reiz-ReaktionsSchemas stattfinden; es ist möglich, dass er auf eine bereits gelernte Reiz-ReaktionsVerbindung aufbaut. So hat zum Beispiel ein Schüler in seiner Schulzeit schon erfahren, dass das Geprüftwerden und das Benoten unangenehme Gefühle auslösen. „Geprüftwerden“ ist also ein bereits erlernter Reiz, der als Reaktion „unangenehme Gefühle“ zur Folge hat. Es ist grundsätzlich der Lehrer, der die Schüler prüft. Die Lehrkraft, die zunächst beim Schüler zu noch keiner Reaktion führt, löst, da sie immer dann auftritt, wenn geprüft wird, allmählich die gleiche Reaktion aus wie das Prüfen selbst, nämlich unangenehme Gefühle. Schon wenn man den Lehrer sieht, können unangenehme Gefühle geweckt werden. Die Konditionierung hat auf einen bereits gelernten Reiz, also auf einen bedingten Reiz, aufgebaut. NS Lehrkraft führt zu keiner bestimmten Reaktion CS1 Geprüftwerden führt zu CR1 unangenehmen Gefühlen NS + CS1 Lehrkraft + Geprüftwerden führt zu CR1 unangenehmen Gefühlen führt zu CR2 unangenehmen Gefühlen 37 20 25 30 nach mehreren Wiederholungen CS2 Lehrkraft 35 40 45 Einen Lernvorgang, der mithilfe eines unbedingten Reizes (UCS) stattfindet, bezeichnet man als Konditionierung 1. Ordnung; eine Konditionierung, die auf einen schon gelernten, also auf einen bedingten Reiz (CS) aufbaut, nennt man Konditionierung 2. Ordnung. Man kann beobachten, dass Kinder den gelernten Reiz zunächst auf andere Reize übertragen, die dem gelernten Reiz ähnlich sind. Diesen Vorgang bezeichnen wir als Reizgeneralisierung. Allmählich aber lernt das Kind je nach seinen Erfahrungen zu unterscheiden zwischen ähnlichen Reizen, die unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Wir sprechen hier von Reizdifferenzierung. Wird beispielsweise ein Kind von seinem Vater angebrüllt und geschlagen, so wird es zunächst in Zukunft nicht nur Angst vor dem eigenen Vater haben, sondern möglicherweise vor allen erwachsenen männlichen Personen (= Reizgeneralisierung). Erst allmählich wird es unterscheiden zwischen dem Vater, der brüllt und schlägt, und anderen erwachsenen Personen, die das nicht tun (= Reizdifferenzierung). Von Reizgeneralisierung spricht man, wenn ein Reiz, der mit dem bedingten Reiz Ähnlichkeit hat, ebenfalls die bedingte Reaktion auslöst, von Reizdifferenzierung, wenn der Organismus zwischen dem bedingten und einem ihm ähnlichen Reiz unterscheiden kann und nur auf den bedingten Reiz eine bedingte Reaktion zeigt. 50 55 60 65 38 Kapitel 6 5 Ein durch das klassische Konditionieren gelerntes Verhalten kann wieder verlernt werden, wenn der bedingte Reiz CS längere Zeit ohne den unbedingten Reiz UCS auftritt. Auf diese Weise wird aus dem gelernten Reiz wieder ein neutraler Reiz. Prüft der Lehrer nun längere Zeit nicht mehr, so wird er auch im Laufe der Zeit keine unangenehmen Gefühle mehr auslösen. 10 15 20 Diesen Vorgang nennt man Löschung bzw. Extinktion. Von Extinktion spricht man, wenn nach einer Konditionierung der bedingte Reiz längere Zeit nicht mehr mit dem unbedingten Reiz gekoppelt wird und daraufhin die bedingte Reaktion nicht mehr erfolgt. b) Das operante Konditionieren Bei der operanten Konditionierung spielen der Erfolg und die Verstärkung die entscheidende Rolle. Die wichtigsten Aussagen des operanten Konditionierens sind: Das Gesetz der Bereitschaft 25 30 35 Gelernt wird nur, wenn im Organismus eine Bereitschaft zum Lernen vorhanden ist. Diese ist vorhanden, wenn ein Bedürfnis vorliegt: wenn das Individuum einen angenehmen Zustand herstellen bzw. aufrechterhalten oder einen unangenehmen Zustand beseitigen, vermeiden bzw. beenden will. Ein Kind beispielsweise hat das Bedürfnis, von seiner Mutter Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen; es will den angenehmen Zustand der Aufmerksamkeit erreichen bzw. den unangenehmen Zustand des Alleinseins beseitigen. Prinzip des Versuchs und Irrtums Der Mensch probiert verschiedene Verhaltensweisen aus, um zum Ziel zu kommen. 40 45 Das Kind versucht nun, mit verschiedenen Verhaltensweisen – etwa durch Quengeln und Schreien, durch Anstellen von etwas Verbotenem, durch Anschmiegen an die Mutter oder durch das Äußern seines Bedürfnisses, dass es beispielsweise mit ihr spielen will – die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter zu erreichen. Das Effektgesetz Verhaltensweisen, die zum Erfolg führen, werden wieder gezeigt, Verhaltensweisen, die nicht zum Erfolg führen, werden nicht wieder gezeigt. Die Konsequenz einer Verhaltensweise bestimmt deren zukünftige Auftretenswahrscheinlichkeit. Die Mutter reagiert nicht, wenn das Kind quengelt oder schreit – das Kind wird diese Verhaltensweisen nicht mehr zeigen; die Mutter wendet sich ihm aber zu und spielt mit ihm, wenn es sein Bedürfnis äußert – es wird dieses Verhalten wieder zeigen. Das Prinzip der Verstärkung Verstärkung ist der Prozess, der dazu führt, dass ein Verhalten häufiger gezeigt wird. Mit Prinzip der Verstärkung ist der Vorgang gemeint, bei dem ein Verhalten, das angenehme Konsequenzen herbeiführt bzw. aufrechterhält oder unangenehme Konsequenzen verringert, vermeidet bzw. beendet, vermehrt auftritt. Das Kind kann durch sein Äußern den angenehmen Zustand der Aufmerksamkeit und Zuwendung herbeiführen und den unangenehmen Zustand des Alleinseins beseitigen – es wird deshalb zukünftig bestimmte Bedürfnisse wieder ansprechen. Dementsprechend kann unterschieden werden zwischen positiver und negativer Verstärkung: Positive Verstärkung ist der Prozess, der dazu führt, dass ein Verhalten häufiger gezeigt wird, weil durch dieses angenehme Konsequenzen herbeigeführt oder aufrechterhalten werden können; negative Verstärkung ist der Prozess, der dazu führt, dass ein Verhalten häufiger gezeigt wird, weil durch dieses unangenehme Konsequenzen verringert, vermieden oder beendet werden können. Bei dem Herbeiführen des angenehmen Zustands der Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Äußern des Bedürfnisses handelt es sich um eine positive Verstärkung, bei der Beseitigung des unangenehmen Zustand des Alleinseins um eine negative Verstärkung. 50 55 60 65 70 75 80 85 90 Kapitel 6 5 Der Prozess der Verstärkung benötigt bestimmte Reize, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöhen. Solche Konsequenzen eines Verhaltens, die dazu führen, dass dieses Verhalten wieder gezeigt wird, bezeichnet man als Verstärker. Verstärker sind somit nur ein Element im Gesamtprozess der Verstärkung, an dessen Anfang ein Verhalten steht. Im obigen Beispiel sind die Verstärker, die das Verhalten „Sich-Äußern” vermehrt auftreten lassen, die Zuwendung, das Schenken von Aufmerksamkeit und das Alleinsein. 10 haltens erhöhen, weil durch sie ein unangenehmer Zustand vermieden, verringert oder beendet werden kann. Die Zuwendung und das Schenken von Aufmerksamkeit sind positive Verstärker, da durch das Äußern des Bedürfnisses ein angenehmer Zustand herbeigeführt werden kann und so das Sich-Äußern wieder gezeigt wird; bei dem Alleinsein handelt es sich um einen negativen Verstärker, da es durch das Äußern diesen unangenehmen Zustand beseitigen kann. 39 25 30 35 Das Frequenzgesetz 15 20 Entsprechend der positiven und negativen Verstärkung kann unterschieden werden zwischen positiven und negativen Verstärkern: Positive Verstärker sind alle Verhaltenskonsequenzen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöhen, weil durch sie ein angenehmer Zustand herbeigeführt oder aufrechterhalten werden kann; negative Verstärker sind alle Verhaltenskonsequenzen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Ver- Eine zum Erfolg führende Verhaltensweise kann nur durch mehrere Wiederholungen (= Übung) aufgebaut und erhalten werden, durch mangelnde Wiederholung (= Nichtübung) wird sie abgebaut und verlernt. Effektgesetz und Frequenzgesetz sind nicht unabhängig voneinander: Weder Erfolg ohne Übung noch Übung ohne Erfolg führen zu einem dauerhaften Lernergebnis. 40 45 Quelle: eigener Text 4. Die Grundaussagen der sozial-kognitiven Theorie Albert Bandura1 hat die Tatsache, dass Menschen von anderen durch Beobachtung lernen, systematisch erforscht. Die wichtigsten Aussagen der sozial-kognitiven Theorie sind: 5 10 15 Phasen und Prozesse des Modelllernens Der Vorgang des Modelllernens besteht aus der Phase der Aneignung und der Ausführung. Die Aneignungsphase beinhaltet die Aufmerksamkeits- und die Gedächtnisprozesse, die Ausführungsphase die motorischen Reproduktions- sowie die Motivations- und Verstärkungsprozesse. – Aufmerksamkeitsprozesse Aus der Vielzahl von Informationen, die das Verhalten eines Vorbilds enthält, wählt der Lernende die für ihn wichtigen Bestandteile aus und beobachtet sie exakt. Ob ein Modell viel oder wenig Aufmerksamkeit 1 bekommt, hängt unter anderem ab von den Persönlichkeitsmerkmalen des Modells und des Beobachters, von der Art der Beziehung zwischen Modell und Beobachter sowie von den Situationsbedingungen. – Gedächtnisprozesse Ein Beobachter speichert das Gesehene mithilfe seines Gedächtnisses so lange, bis er sich einen Nutzen vom Zeigen der erlernten Verhaltensweise verspricht. Das Beobachtete wird in Form von bildlichen oder sprachlichen Symbolen im Gehirn gespeichert und ist somit vorstellungsmäßig dort vorhanden (= repräsentiert). – Motorische Reproduktionsprozesse Damit ein beobachtetes Verhalten gezeigt werden kann, bedarf es eines Umsetzens des Gespeicherten in angemessene Handlungen und Verhaltensweisen. Hierbei Albert Bandura (*1925) erforschte zunächst unter anderem mögliche Ursachen von Aggression, was ihn auf die zentrale Bedeutung des Lernens am Modell brachte. Er entwickelte zusammen mit Walter Mischel eine eigene Theorie des Nachahmungslernens, die er sozial-kognitive Theorie nannte. 20 25 30 35 40 Kapitel 6 5 10 15 20 25 30 35 40 45 werden aus einer Vielzahl der im Gedächtnis gespeicherten Kodierungen solche ausgewählt und organisiert, die für das beabsichtigte Verhalten relevant sind. Häufig muss der Betrachter seine motorischen Fähigkeiten erst üben, korrigieren und wiederholen, bis sich ein Erfolg einstellt. Beim Üben und Korrigieren vergleicht der Lernende immer wieder die Ergebnisse seiner Handlungen und Verhaltensweisen mit den gespeicherten Kodierungen. – Motivations- und Verstärkungsprozesse Ob ein Mensch ein bestimmtes Verhalten überhaupt beachtet, um es zu lernen, hängt von seiner Motivation ab. Nur wer sich vom Beachten und Durchführen einer Verhaltensweise einen Erfolg bzw. Vorteil verspricht oder einen Misserfolg bzw. Nachteil abzuwenden glaubt, wird entsprechende Aktivitäten entfalten. Motivation ist daher eng mit der Aussicht auf Bekräftigung verbunden. Bedingungen der Aufmerksamkeit Ob ein Modell viel oder wenig Aufmerksamkeit bekommt, hängt unter anderem von folgenden Faktoren ab: – Persönlichkeitsmerkmale des Modells Besonders beobachtet werden Menschen, die soziale Macht besitzen, also belohnen und bestrafen können, Menschen, die ein hohes Ansehen genießen sowie sympathisch und attraktiv sind (die Attraktivität kann zum Beispiel im Geschlecht, im Alter oder in der Herkunft begründet liegen), und Menschen, die die Bedürfnisse des Lernenden zufriedenstellen können. – Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters, wie fehlendes Selbstvertrauen und geringe Selbstachtung, begünstigen die Aufmerksamkeit einem Modell gegenüber. Zudem steuern eine Reihe von Faktoren die menschliche Wahrnehmung, wie zum Beispiel die Erfahrungen, die der Beobachter gemacht hat, seine Interessen und Wertvorstellungen, seine Bedürfnisse und Triebe, Gefühle und Stimmungen. – Beziehungen zwischen Modell und Beobachter Verständnis und Wertschätzung und eine positive emotionale Beziehung sowie Abhängigkeit des Beobachters vom Modell begünstigen die Nachahmungsbereitschaft. Zudem wirkt sich auch die Häufigkeit einer Beobachtung auf den Lernenden aus. – Gegebene Situationsbedingungen Die emotionalen Befindlichkeiten eines Beobachters wirken sich auf die Wahrnehmung aus: Befindet er sich in einem mittleren Erregungszustand, so beeinflusst dies seine Wahrnehmungsleistungen positiv. Fühlen sich Menschen von einer Situation bedroht, haben sie Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit auf die wichtigen Aspekte zu konzentrieren. Erzeugt das gesehene Verhalten Angst, so wenden sie sich sogar davon ab. Die Aufmerksamkeit wird auch erhöht, wenn sich der Beobachter Vorteile von der Nachahmung verspricht und er bereits nützliche Erfahrungen mit dem Modelllernen gemacht hat. Bedingungen der Motivation Auch für die sozial-kognitive Theorie gilt der Grundsatz, dass die Konsequenzen von Handlungen, die sowohl das Modell als auch der Beobachter selbst erfahren kann, mit bestimmen, ob ein beobachtetes Verhalten gezeigt wird oder nicht. Bekräftigungen fördern zwar das Lernen am Modell, aber sie sind keine notwendigen Bedingungen dafür. Bandura unterscheidet vier Arten von Bekräftigungen: 50 55 60 65 70 75 80 – Erfährt ein Mensch die angenehmen Folgen eines Verhaltens oder vermeidet unangenehme, so handelt es sich um eine externe Bekräftigung. 85 – Häufig beobachten Menschen andere Personen, die für ein bestimmtes Verhalten angenehme Konsequenzen – zum Beispiel Belohnungen – erfahren. Dies nennt man stellvertretende Bekräftigung. 90 – Manchmal belohnen Menschen sich selbst nach erfolgreichem Verhalten. Ein solcher Vorgang wird als direkte Selbstbekräftigung bezeichnet. Kapitel 6 – Eine stellvertretende Selbstbekräftigung liegt vor, wenn der Beobachter sieht, dass sich das Modell selbst für ein Verhalten belohnt. 5 10 Doch es sind vor allem die Erwartungshaltungen, die einen Menschen motivieren, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen oder nicht. – Ergebniserwartung: Darunter werden all jene Konsequenzen verstanden, die sich eine Person vom Nachahmen einer Verhaltensweise verspricht. 15 – Kompetenzerwartung meint die von einem Beobachter vorgenommene subjektive Einschätzung eigener Fähigkeiten, die er zum Nachahmen eines Verhaltens benötigt. 20 – Aussicht auf Selbstbekräftigung meint die Erwartung einer günstigen Selbstbewertung bei Zeigen eines nachzuahmenden Verhaltens, die zu Zufriedenheit, Wohlbefinden und Selbstbelohnung führt. Effekte des Modelllernens Sowohl natürliche als auch symbolische Modelle können eine Reihe von Effekten bewirken: Beobachten einer Verhaltensweise – Modellierender Effekt An Vorbildern lernen Menschen neue, ihnen bisher nicht bekannte Verhaltensweisen sowie Einstellungen gegenüber Personen, Objekten und Sachverhalten, Vorurteile, Verhaltensvorschriften, Gefühle, Bedürfnisse und vieles andere mehr. – Enthemmende und hemmende Effekte Bereits erlerntes Verhalten kann durch wahrgenommene Konsequenzen beeinflusst werden. Sehen Menschen, wie ein bestimmtes Verhalten anderer keine negativen Folgen oder sogar Belohnung nach sich zieht, so kann dies ihre bisherige Hemmschwelle, ein ähnliches Verhalten an den Tag zu legen, entscheidend herabsetzen. Hemmende Effekte entstehen in Fällen, in denen das Modellverhalten negative Konsequenzen nach sich zieht. Dabei sinkt die Bereitschaft, dem Vorbild nachzueifern. – Auslösender Effekt Das Verhalten eines Modells veranlasst andere Menschen, es unmittelbar nachzuahmen. Aneignung Ausführung Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse motorische Reproduktions-, Motivations- und Verstärkungsprozesse – Persönlichkeitsmerkmale des Modells – Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters – Art der Beziehung zwischen Modell und Beobachter – Situationsbedingungen Zeigen der Verhaltensweise – Bekräftigung: externe Bekräftigung stellvertretende Bekräftigung direkte Selbstbekräftigung stellvertretende Selbstbekräftigung – Erwartungshaltungen: Ergebniserwartungen Kompetenzerwartungen Aussicht auf Selbstbekräftigung Quelle: eigener Text 41 25 30 35 40 45 42 Kapitel 7 Materialien Kapitel 7 1. Bewegung macht schlau 5 10 15 20 25 30 35 40 Immer mehr Forschungsbefunde bestätigen: Bewegung bringt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist in Schwung. Fitnessübungen verbessern Konzentration, Lernen und Gedächtnis. Das Gehirn ist trainierbar wie ein Muskel. Schon eine tägliche Stunde Sport könnte womöglich vielen Schülerinnen und Schülern das Leben leichter machen. Bewegung, so zeichnet sich immer deutlicher ab, fördert kognitive Leistungen. Kurzfristig verbessert sich zum Beispiel die Konzentration. Doch Bewegung scheint auch überdauernde Effekte auf das Gehirn zu haben. (...) Neurobiologisch bedeutet Lernen eine Änderung der Funktionsabläufe im Gehirn. Solche Veränderungen vollziehen sich permanent. Sowohl beim Einprägen als auch beim Abrufen von Lerninhalten schalten sich sehr viele Neuronen1 ein, die im Gehirn mitunter weit verstreut liegen können. Es gilt als erwiesen, dass die Gedächtnisleistung steigt, je breiter eine Information im Gehirn verarbeitet wird. Besser wird die Leistung demnach, wenn verschiedene Gehirnareale zusammenarbeiten, darunter auch motorische und sensorische – eine Erkenntnis, die man sich unter anderem in der „Erlebnispädagogik“ zunutze macht. (...) „Wir nehmen an, dass körperliche Aktivität einen starken Regulator in der gesamten Gehirnphysiologie darstellt“, sagt Hollmann2. Sie scheint die Bildung neuer Nervenzellen sowie die Verstärkung und Neubildung von Synapsen3 hervorzurufen. Das gilt für (...) dynamische Ausdauerbelastung, bei Kindern allerdings eher für koordinative Übungen. (…) Im Verhaltensexperiment hat Hollmanns Team die kognitive Leistung älterer Versuchspersonen getestet. Nach 20 Wochen mit 30 bis 60 Minuten Walking, dreimal pro Woche, konnten sich die Teilnehmer Wortpaare wesentlich 1 2 3 besser merken als davor. Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers: Sport sei nicht nur zur Krankheitsvorbeugung und Stabilisierung von Stoffwechsel, Herz- und Lungenfunktion zu empfehlen, sondern auch zur Leistungssteigerung des Gehirns. „Motorische Funktionen“, sagt Hollmann, „sind mit planvollem Handeln gekoppelt.“ Das sei wohl ein Erbe der Evolution: Wer Beute fangen will, braucht nicht nur Muskeln, sondern auch Grips. Beim kindlichen Lernen scheinen vor allem koordinierte Bewegungen die Hirnentwicklung positiv zu beeinflussen. „Grundsätzlich ist Bewegung bei Kindern eine unerlässliche Form der Erkenntnisgewinnung über die Umwelt. Schaukeln, drehen, Schwung holen, das Gleichgewicht halten, das alles muss durch Ausprobieren gelernt werden“, sagt Renate Zimmer, Professorin für Sportpädagogik an der Universität Osnabrück. Ein Jahr lang förderte sie eine Kindergartengruppe mit einem täglichen Bewegungsprogramm. Diese Kinder erzielten in den Intelligenztests bessere Ergebnisse als die Kontrollgruppe. Zimmer nimmt an, dass ein Bewegungs- und Koordinationstraining in jungen Jahren dazu beiträgt, dass die anfangs noch relativ wahllos verschalteten Synapsen im Gehirn sich gezielter und umweltangepasst vernetzen. Gertraud Teuchert-Noodt, Professorin für Neuroanatomie in Bielefeld, weist darauf hin, dass solche Vernetzungen nicht unwiderruflich sind und sich das Gehirn im Prinzip in jedem Lebensalter reorganisieren könne. Allerdings gebe es in der Kindheit für bestimmte Fertigkeiten kritische Phasen, in denen das Nervensystem besonders empfindlich auf Umwelteinflüsse reagierte und seine Verknüpfungsstrukturen stark veränderte. Quelle: Kühner/Vaaler, 2004, S. 34 ff., gekürzt neuron (griech.): Nerv, Sehne Prof. Dr. Dr. Wildor Hollmann ist Internist, Kardiologe und Biochemiker an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Synapsen (griech. synapsis: Verbindung) bezeichnen die Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen bei der Informationsübertragung. 45 50 55 60 65 70 75 80 Kapitel 7 2. Übersicht über die Entwicklung der Motorik (Richtwerte) nach der Geburt: – – – – – dreht in Bauchlage von allein Kopf zur Seite (Halsmuskeln reifen zuerst) bewegt in Rückenlage Arme und Beine gleichmäßig „schreitet“, wenn Füße auf den Boden gestellt werden (Schreitreflex) Hände und Füße greifen bei Berührung (Greifreflex, Palmarreflex) Arme und Beine sind angezogen, Hände und Füße geballt, da die Beugemuskeln besser gereift sind als die Streckmuskeln bis Ende des 1. Monats: – hebt den Kopf in Bauchlage kurz – kann Kopf für einen Moment aufrecht halten – führt ergriffenen Finger sofort zum Mund bis Ende des 2. Monats: – – – – Kopf kann bis ca. fünf Sekunden aufrecht gehalten werden hebt Kopf in Bauchlage um ca. 45 Grad und hält ihn ca. 10 Sekunden zieht Knie nicht mehr an Bauch streckt sich mehr bis Ende des 3. Monats: – – – – – stützt sich in Bauchlage auf Unterarme hebt Kinn und Schultern von der Unterlage ab hält Kopf in Bauchlage ca. eine Minute hält Kopf sitzend ca. eine halbe Minute – rollt sich allein von Seite auf Rücken kann besser greifen bis Ende des 4. Monats: – – – – stützt sich in Bauchlage sicher auf Unterarme zieht den Kopf mit hoch, wenn es an den Händen zum Sitzen hochgezogen wird kann sich zur Seite drehen greift nach Gegenständen, die es sieht bis Ende des 5. Monats: – versucht, sich auf die Beine zu stellen, wenn es zum Sitzen hochgezogen wird, und stemmt sich mit den Zehen gegen die Unterlage – es „schwimmt“ in der Bauchlage – es stemmt sich mit den Zehen gegen die Unterlage, wenn es hingestellt wird – greift gezielter nach Spielsachen – steckt alles in den Mund bis Ende des 6. Monats: – – – – – – „Sphinxstellung”: stützt sich in der Bauchlage mit gestreckten Armen ab rollt sich in der Rückenlage von einer Seite auf die andere bringt den Kopf sofort hoch und hebt die Beine an, wenn es an den Händen hochgezogen wird stützt sich im Sitzen mit den Armen seitlich ab, hält Balance ergreift mit den Händen die eigenen Füße und steckt sie in den Mund hält das Fläschchen selbst 43 44 Kapitel 7 bis Ende des 7. Monats: – – – – dreht sich vom Rücken auf den Bauch kann mit einer Hand nach Spielzeug greifen und sich gleichzeitig mit der anderen Hand abstützen kann angelehnt allein sitzen beugt die Knie und stößt sich ab, sobald es hingestellt wird bis Ende des 8. Monats: – „Vierfüßlerstand“: stützt sich in Bauchlage mit gestreckten Armen ab und hebt das Gesäß leicht an – beginnt zu „robben” – zieht sich zum Knien hoch bis Ende des 9. Monats: – – – – kann frei sitzen und sich nach vorne beugen, ohne umzufallen ergreift Gegenstände mit Daumen und Zeigefinger im „Scherengriff“ steht, an den Händen gehalten, ca. eine halbe Minute hält die Tasse selbst bis Ende des 10. Monats: – – – – – – setzt sich aus der Bauchlage allein auf setzt sich aus der Rückenlage auf, wenn es sich irgendwo festhalten kann zieht sich vom Sitzen zum Stehen hoch kann kurzzeitig stehen, wenn es sich festhält beginnt zu krabbeln greift im „Pinzettengriff” bis Ende des 11. Monats: – krabbelt gut – zieht sich an Möbeln hoch – macht mit Hilfestellung die ersten Schritte bis Ende des 12. Monats: – läuft mit Hilfestellung – versucht die ersten freien Schritte, ohne sich festzuhalten – hält sich mit einer Hand im Stehen fest und hebt mit der anderen Gegenstände auf bis Ende des 15. Monats: – – – – kann frei stehen kann ohne Hilfe gehen fängt an Ball zu rollen beginnt Würfel aufeinanderzusetzen bis Ende des 18. Monats: – – – – – – – – – – steigt Treppen, wenn es sich festhalten kann setzt sich hin hüpft mit beiden Beinen bückt sich, ohne umzufallen klettert zieht beim Gehen einen Gegenstand hinter sich her oder schiebt etwas geht rückwärts baut Türme trinkt aus der Tasse isst mit dem Löffel Kapitel 7 45 bis Ende des 2. Lebensjahres: – steigt Treppen, auch ohne sich festzuhalten, zieht jedoch noch ein Bein nach – kann einen Gegenstand mit dem Fuß anstoßen, ohne umzufallen – kann rasch laufen, hüpfen und sich drehen zwischen 3 und 4 Jahren: – – – – – kann Treppensteigen ohne Festhalten und ohne Beinnachziehen kann auf Zehenspitzen gehen kann Bewegungen abrupt beenden, ohne umzufallen kann um die Ecke biegen, ohne vorher anhalten zu müssen kann Dreirad fahren 5 bis 6 Jahre: – – – – kann auf einem Bein stehen und hüpfen kann Fahrrad fahren kann Purzelbäume schlagen und einen Kopfstand machen kann schreiben lernen, da nun die Muskeln des Handgelenkes soweit gereift sind, dass das Kind derartige feinmotorische Leistungen erbringen kann Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2004; Schenk-Danzinger, 20062, S. 107 ff. 3. Frühförderung – wie, wann und warum? 5 10 15 20 25 Das Zauberwort seit PISA heißt „Frühförderung“. Doch ist zweifelhaft, ob sich mit abstrakten Denkspielen die kindliche Gehirnentwicklung stimulieren lässt. Als vielversprechender hat sich erwiesen, Kinder schon in frühem Alter gezielt mit dem Lehrstoff der Schule vertraut zu machen – denn nicht Intelligenz, sondern Wissen ist der Schlüssel zum Können. (...) Wir müssen eine anspruchsvollere Vor- und Grundschulerziehung etablieren, weil in dieser Zeit mit dem Aufbau von Wissen begonnen werden muss. Der Aufbau einer intelligenten Wissensbasis benötigt Zeit, weil eben intelligentes Wissen nicht einfach aufgesogen werden kann, sondern in einem mühsamen Prozess der inneren Umstrukturierung entsteht.1 Ein Grund, früh damit anzufangen, besteht darin, die mit dem Lernen einhergehende „Automatisierung“ von Wissen besser und sinnvoller auszuschöpfen. Dass wir in Sekundenschnelle das Wort „Mississippidampfschifffahrtsgesellschaftskapitän“ lesen können, verdanken wir der hochgradigen Automatisierung des Erkennens von Buchstaben sowie 1 vgl. Kapitel 4.4.3 dem Wissen darüber, welche Buchstabengruppen welchen Silben zugeordnet sind. (...) Die PISA-Studie zeigte, dass hier das Problem für viele Hauptschüler liegt: Der Leseprozess ist so wenig automatisiert, dass die gesamte Aufmerksamkeit absorbiert wird und für das Stiften von Sinnzusammenhängen nichts übrig bleibt. Automatisierung wird in allen Bereichen gefordert. Das Beherrschen des Einmaleins gehört ebenso dazu wie das Erkennen von Schaubildern oder das Vokabellernen in der Fremdsprache. Automatisierung ist die Folge von Übung in Teilschritten. Ein kapitaler Fehler der Bildungsreform der 1960er- und 1970er-Jahre bestand in der geringen Bedeutung, die dem Üben beigemessen wurde. Man solle Dinge verstehen und nicht auswendig lernen, hieß es. Damit wurden künstliche Widersprüche aufgebaut. Tatsächlich ist automatisiertes Wissen die Voraussetzung für Verstehensprozesse, eben weil man für Verstehensprozesse freie Kapazitäten (des Arbeitsspeichers im Gehirn) braucht. (...) Aber Automatisierung braucht Zeit. Je früher bestimmte Teilschritte automatisiert werden, 30 35 40 45 50 46 Kapitel 7 5 10 umso eher kann man sich auf Sinnstiftung konzentrieren. Ein Beispiel: Wir wissen inzwischen, dass die Voraussetzung für einen unproblematischen Schriftspracherwerb die sogenannte phonologische1 Bewusstheit ist. Darunter versteht man die Fähigkeit, die lautlichen Merkmale einer Sprache zu erkennen. Dies drückt sich in der Fähigkeit aus, im Rhythmus der Silben zu klatschen oder Reime zu erkennen. Phonologische Bewusstheit ist Voraussetzung für eine Automatisierung des Lesens. Mithilfe von Sprachspielen (...) lässt sich die phonologische Bewusstheit bereits im 1 phone (griech.): der Laut, der Ton, die Stimme Kindergarten trainieren. Kinder, die dieses Training durchlaufen haben, lernen in der Grundschule sehr viel unproblematischer Lesen und Schreiben. In den nächsten Jahren müssen Wissenschaftler und Lehrer enger zusammenarbeiten, um gemeinsam den langfristigen Aufbau einer intelligenten Wissensbasis in unterschiedlichen Fächern zu planen. Welche Übungen in Vor- und Grundschule den späteren Unterricht am besten unterstützen, muss in langfristig angelegten empirischen Studien untersucht werden. Quelle: Stern, 2007, S. 20 ff., gekürzt 15 20 25 Kapitel 7 4. Übersicht über mögliche Entwicklungsstörungen Entwicklungsbereich Störungsart Symptome Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen • körperliche Ungeschicklichkeit (fein- und grobmotorisch) • fehlende Raumorientierung • Rechts-links-Problematik Schwierigkeiten beim Laufen, Hüpfen, GIeichgewicht, Stifthalten, Ausschneiden usw. ungebremste, überschießende, ungeschickte Bewegungen EntwickIungsstörungen der geistigen Entwicklung • Lernstörungen • Lernbehinderungen • geistige Behinderung Schwierigkeiten beim Denken, Merken, Erfassen, Verstehen und Konzentrieren Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (bei gutem Intelligenzpotenzial) • Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) • Rechenstörung (Dyskalkulie, Zahlen-Mischmasch) • fein- und/oder grobmotorische Koordinationsstörungen Beeinträchtigung beim Erlernen des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens Schwierigkeiten in der Informationsverarbeitung Entwicklungsstörungen der Sinneswahrnehmung • ungebremste Aufnahme von Sinnesreizen (Wahrnehmungsstörungen) • Sinnesstörungen mit geschlossenen Augen Dinge nicht ertasten können; Töne nicht erkennen; oftmals zwischen verschiedenen Tätigkeiten wechseln; leichte Ablenkbarkeit über Sinne unzureichend/kaum wahrnehmen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache • Sprechstörungen (Artikulationsstörungen, Störungen des Redeflusses) • Sprachstörungen (Störungen des sprachlichen Ausdrucks, des Wortschatzes, des Sprachaufbaus) • geringe Kurzzeitgedächtniskapazität • langsame Informationsverarbeitung • erworbene Aphasie (Sprachverlust infolge einer Erkrankung) Schwierigkeiten im Sprachverständnis, in der Fähigkeit, sich verständlich zu machen; mit 2 Jahren keine ersten Worte; mit 3 Jahren keine 2-Wort-Sätze; geringer aktiver Wortschatz; das Kind spricht z. B. unvollständige Sätze, kann Geschichten schlecht nacherzählen Ein Kind mit zuvor normaler Sprachentwicklung verliert aktive und passive Sprachfertigkeiten. Störungen der sozialen Entwicklung • Normverletzungen • Mutismus (psychisch bedingtes Schweigen) • Bindungsstörung mit Enthemmung Schwierigkeiten, sich in eine Gruppe zu integrieren, Regeln einzuhalten Das Kind isoliert sich selbst, meidet den Umgang mit anderen Menschen oder zeigt Distanzlosigkeit. Distanzlosigkeit, Fremde wie Vertraute behandeln, sich an Fremde anklammern Störungen der emotionalen Entwicklung • • • • • Das Kind kann schlecht Gefühle ausdrücken und damit umgehen, reagiert schnell aggressiv oder übermäßig still und zurückgezogen. Autoaggressionen (Selbstverletzung) Angst Überempfindlichkeit hyperkinetische Störungen Einnässen und Einkoten Quelle: Neumann u. a., 2008, S. 178 47 48 Kapitel 8 Materialien Kapitel 8 1. Wehrlose Wesen a) 5 10 15 20 25 30 35 Der Contergan-Skandal Das Mittel versprach werdenden Müttern eine ruhige Nacht und wurde als garantiert ungiftig angepriesen. In aufwendig hergestellten Broschüren warb der Pharmahersteller Grünenthal Ende der Fünfzigerjahre [des letzten Jahrhunderts] für sein Schlafmittel Contergan – dessen Name heute mit einem der größten Medizinskandale des Jahrhunderts verbunden ist. Bis das Medikament 1961 schließlich vom Markt genommen wurde, kamen in Deutschland schätzungsweise 5 000 schwer missgebildete Kinder zur Welt. Als Folge des Skandals hat die Bundesrepublik heute eines der strengsten Arzneimittelgesetze der Welt. Contergan wurde ab Oktober 1957 verkauft; die 30er-Packung kostete 3,90 Mark. Das Mittel mit dem Wirkstoff Thalidomid wurde rezeptfrei abgegeben, und gerade deshalb glaubten viele Frauen, es sei harmlos. Bereits Anfang 1960 fiel Ärzten auf, dass immer häufiger Kinder mit missgebildeten inneren Organen sowie Gliedmaßen geboren wurden. Die betroffenen Eltern wurden befragt, Tests wurden unternommen, und langsam kristallisierte sich ein Zusammenhang zwischen der Contergan-Einnahme – vor allem in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft – und der Behinderung der Kinder heraus. Aber erst im November 1961 nahm Grünenthal das Medikament unter öffentlichem Druck vom Markt. Contergan war kaum getestet worden – damals gab es in Deutschland noch kein Arzneimittelgesetz. Später fanden Wissenschaftler heraus, das Thalidomid zu Missbildungen beim Fötus führt und außerdem schwerste Nervenschädigungen verursachen kann. Margit Hudelmeyer vom Bundesverband für Contergan-Geschädigte schätzt, dass in Deutschland etwa 5 000 missgebildete Kinder geboren wurden. Aber die Dunkelziffer sei hoch: Zahlreiche Neugeborene seien kurz nach der Geburt gestorben, ohne dass ihre Todesursache registriert worden sei. Heute leben in der Bundesrepublik noch etwa 2 600 Contergan-„Kinder“ – die inzwischen erwachsen sind und größtenteils eigene Familien haben. Ihre Behinderungen sind äußerst unterschiedlich: Sie sind blind oder taub, Arme oder Beine sind missgebildet, bei einigen sind innere Organe nicht komplett ausgebildet. Etwa 90 Prozent von ihnen, so schätzt Hudelmeyer, sind in einem der Landesverbände für Contergan-Geschädigte organisiert. Diese bieten nicht nur Hilfe bei Rechts- und Verwaltungsfragen, sondern auch bei ganz praktischen Problemen: Sie informieren zum Beispiel über Anbieter behindertengerechter Autos sowie über Computersysteme. Gegen den Contergan-Hersteller Grünenthal wurde Ende 1961 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Als im April 1967 endlich Anklage gegen mehrere Verantwortliche des Unternehmens erhoben wurde, waren die geschädigten Kinder bereits zwischen fünf und neun Jahre alt. Der Prozess zählt zu einem der längsten Verfahren Europas. Die Anklageschrift umfasste knapp 1 000 Seiten, mehr als 1 200 Zeugen wurden vernommen. Im Dezember 1970 endete der Prozess überraschend mit einem Vergleich. Das Verfahren gegen die Grünenthal-Angestellten wurde eingestellt, weil sich – so die damalige 40 45 50 55 60 65 70 Kapitel 8 5 10 Begründung – persönliches Verschulden nicht nachweisen lasse. Damals allerdings spekulierten Beobachter, dass die juristische Entscheidung eher politische Gründe habe: Denn eigentlich hätte auf die Anklagebank auch die staatlichen Aufsichtsbehörden gehört, die bei der Zulassung und Überwachung des Schlafmittels eine klägliche Rolle spielten. Grünenthal verpflichtete sich, gut 100 Millionen Mark zur Entschädigung der Contergan-Opfer bereitzustellen. Diese Zahlung löste sämtliche Ansprüche ab. Die Betroffenen wurden untersucht, der Schädigungsgrad wurde nach einem Punktesystem bewertet, und danach setzte man die Rente fest. Nach Angaben des Hilfswerks für behinderte Kinder – eine vom Staat eingerichtete Stiftung, die das Grünenthal-Geld sowie die staatlichen Zuschüsse verwaltet – erhielten die geschädigten Kinder eine einmalige Zahlung zwischen 5 000 und 25 000 Mark. Außerdem bekommen sie eine monatliche Rente auf Lebenszeit zwischen 400 und 1 000 Mark. „Ich fühle mich nicht unglücklich“, sagt Margit Hudelmeyer, die ohne Arme geboren wurde. „Aber in Situationen, in denen ich an meine Grenzen stoße, ärgere ich mich schon über die Behinderung.“ 49 15 20 25 Quelle: Gabriel, in: Main-Post, 08.12.1999 b) 30 Schadstoffe und deren Wirkung auf Ungeborene Wehrlose Wesen Ausgewählte Schadstoffe und deren mögliche Wirkung auf Ungeborene und Kleinkinder Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) – enthalten u. a. in Pkw- und Kraftwerksabgasen und Zigarettenrauch 35 – Aufnahme durch Einatmen; Beeinträchtigung der geistigen und motorischen Entwicklung, Entstehung von Asthma Flammschutzmittel – Brandhemmer, z. B. in elektronischen Geräten 40 – Aufnahme durch Einatmen, Verschlucken oder Hautkontakt; Störung der geistigen Entwicklung Phenole (z. B. Bisphenol A) – Verwendung u. a. bei der Kunststoffherstellung – Aufnahme u. a. durch Hautkontakt; Schädigung vor allem der Haut, der Schleimhäute und Augen; Hormonstörungen und Stoffwechselerkrankungen Phthalate (z. B. Phthalsäureester) – Kunststoffherstellung (Weichmacher) – Aufnahme u. a. durch Lebensmittel mit Kunststoffverpackung; allergische Reaktionen, Nervenschädigung, Hormonstörungen Quelle: Shafy, 2010, S. 160 45 50 50 Kapitel 8 2. Kritische Phasen1 in der vorgeburtlichen Entwicklung Quelle: Mietzel, 200613, S. 69 3. Geschlechtsspezifische Muster der Lebensführung 5 10 15 20 Die Shell Jugendstudie 2002 zeichnete eine starke Generation junger Frauen. Wurden bis dahin junge Männer insgesamt als konkurrenzorientierter und durchsetzungsstärker beschrieben, waren es nach den Ergebnissen der letzten Studie die jungen Frauen, die mindestens ebenso starken schulischen und beruflichen Ehrgeiz zeigten und durch erhöhten Einsatz auf größer werdende Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt reagierten. Diese Entwicklung zur „Umkehrung“ des traditionellen Geschlechterverhältnisses in den Leistungsbilanzen wird auch in anderen Ländern beobachtet. Sowohl in den alten als auch in den neuen EU-Ländern sind es inzwischen mehr junge Frauen, die einen hochwertigen schulischen und oft schon einen besseren universitären Abschluss vorweisen können als ihre gleichaltrigen männlichen Geschlechtsgenossen (...). Allerdings schlagen sich der hohe Ausbildungsgrad und die beträchtliche 1 Leistungsbereitschaft der jungen Frauen bislang nicht gleichermaßen in ihrem beruflichen Erfolg nieder. Die traditionelle Hausfrauenrolle wird von Mädchen zunehmend abgelehnt. Sie stellen heute oft ausgesprochen hohe Anforderungen an sich selbst: Sie wollen gut aussehen, aktiv sein, Freunde und einen Partner haben, gebildet sein, einen interessanten Beruf ergreifen, ein sicheres Zuhause haben, in einer harmonischen Beziehung leben und einmal Kinder bekommen. Fast alle sind daran interessiert, Karriere mit Familie zu verbinden. Für die jungen Männer bleibt hingegen nach wie vor insbesondere bei der Kindererziehung die traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter ein zentraler Orientierungspunkt. Neuere Erhebungen lassen vermuten, dass der Drang junger Frauen, auch als Mütter ihre beruflichen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, weiter steigt (...), und die jungen Frauen Der Begriff „kritische Phase“ ist in Kapitel 6.2.5 geklärt. 25 30 35 40 Kapitel 8 innovative Strategien entwickeln, wie sie Partnerschaft und Mobilität, Kinder und Karriere unter einen Hut bringen können. 5 10 15 20 25 30 35 Verunsicherte Jungen – selbstbewusste Mädchen? Die jungen Männer bleiben mehrheitlich dem traditionellen Männer- und Frauenbild verhaftet (...). Von vielen Jungen wird nach wie vor die Vorstellung vertreten, dass sich die Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert und der Mann um die Ernährerrolle. Offensichtlich wird die ehrgeizige Generation junger Frauen von einem Teil der jungen Männer als ernsthafte Gefährdung ihres Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen, wogegen sie sich mit Zuflucht in alte Muster mental „wehren“ wollen. Junge Frauen sind heute eine durchsetzungswillige und leistungsstarke Generation, die Gleichberechtigung fordert und sich – ganz pragmatisch – nicht mehr in lange Grundsatzdebatten verstrickt. Dass in letzter Zeit immer öfter Actionheldinnen wie Lara Croft, Catwoman oder Charlie‘s Angels auf den Leinwänden der großen Kinos die Welt retten, ist ein weiterer Hinweis auf den Anspruch dieser neuen Generation von Frauen, sich weder mit den Zuschauerplätzen noch mit der Rolle der romantischen Heldin zufriedenzugeben. Es ist eine Generation, über die wir – eben weil sie sich von den vorherigen Frauengenerationen unterscheidet – bisher noch wenig wissen. Deswegen werden wir sie in dieser Studie sowohl in der repräsentativen Erhebung als auch in ausführlichen Interviews zu Wort kommen lassen. Neben den leistungsstarken Mädchen und jungen Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren möchten und diesen Wunsch selbstbewusst vertreten, fallen viele Jungen auf, die noch unsicher dabei sind, ihre Rolle in der Gesellschaft zu suchen und sich neu zu definieren. Jungen sind heute widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt. Sie erfahren völlig neue Herausforderungen an ihre Geschlechtsrolle, denn die Erwartungen junger Frauen an das Zusammenleben und eine gemeinsame Erziehung der Kinder weichen von traditionellen Mustern radikal ab. Alte und vertraute Rollenverteilungen sind nicht mehr so ohne Weiteres möglich. Die Beziehungen müssen in ständigen Aushandlungsprozessen neu justiert werden (...). Unverkennbar fühlen sich viele junge Männer hierdurch überfordert. Helfen würde ihnen dabei ein enges soziales Netzwerk der Unterstützung. Aber auch hier besteht ein Problem: Sie verfügen zwar über viele soziale Kontakte, doch über wenige enge Bindungen zu Eltern und Freunden. Hierdurch sinkt ihre Chance, Probleme emotional zu verarbeiten (...). Im Gegensatz zu Mädchen reagieren Jungen bei Alltagsbelastungen deshalb häufig mit externalisierenden Verhaltensweisen. Sie tragen ihre Überforderung aus sich heraus und signalisieren durch Unruhe, Aktivismus, Aggressivität und erhöhten Drogenkonsum innere Spannungen. Die traditionelle Männerrolle „verbietet“ Jungen, ihre Überforderung, Unsicherheit und Hilflosigkeit nach außen zu zeigen und sich – wie die Mädchen – Hilfe von Freunden und Familie zu holen. Quelle: Hurrelmann u. a., 2006, S. 36 f. 4. Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell) 5 Erfolgreiches Altern hängt nach Paul und Margret Baltes1 von dem Zusammenspiel dreier übergeordneter Entwicklungsprozesse ab, die sie in dem Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell) zusammen1 gefasst haben. Dieses Modell geht von der Annahme aus, dass erfolgreiche Entwicklung durch das Zusammenspiel von Selektion, Optimierung und Kompensation verläuft. Paul B. Baltes (1939–2006) war deutscher Psychologe und einer der führenden Gerontologen. Bekannt wurde er mit seiner Theorie zur erfolgreichen Entwicklung des Alterns, die er zusammen mit seiner ersten Frau Margret (1939–1999), Professorin für Gerontologie am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, entwarf. 51 40 45 50 55 60 65 70 52 Kapitel 8 5 Selektion bedeutet dabei das Begrenzen von Beziehungen, Aufgaben und Tätigkeiten im höheren Erwachsenenalter, auf die sich die geringer werdenden Kräfte eines Menschen konzentrieren; sie ermöglicht die Spezialisierung auf „Weniger“. So ziehen sich beispielsweise ältere Menschen aus bestimmten Bereichen des Lebens wie Beruf oder Sport zurück, sind nicht mehr in (so vielen) Vereinen tätig und unternehmen nicht mehr so viel. 10 „Selektion bedeutet nicht nur Reduzierung der Lebensbereiche (…), sondern kann auch Erschließung geänderter oder neuer Lebensbereiche beinhalten.“ (Kühn, 20065, S. 149) 15 20 Dabei konzentrieren sich alternde Menschen auf dieses „Weniger“, bauen dies aus, verfeinern und verbessern es mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte, sogenannte Ressourcen1. Die Möglichkeit, auf eigene Kräfte zurückgreifen zu können, trägt zur Zufriedenheit und zum Wohlbefinden bei. Der Vorgang des Verfeinerns und Verbesserns von Ressourcen zum Erzielen von Entwicklungsgewinnen wird als Optimierung bezeichnet (vgl. Lindenberger/Schaefer, 20086, S. 372). „Optimierung stellt auf die Möglichkeiten Älterer ab, ihr Anspruchs- und Lebensniveau stabil zu halten und eventuell sogar weiterzuentwickeln.“ (Kühn, 20065, S. 149) 1 vgl. Abschnitt 8.8.4 Im Laufe des Alterns verschwinden zwangsläufig bestimmte Ressourcen und die persönlichen Kräfte lassen nach. Dies muss jedoch nicht unbedingt eine Einschränkung der Lebensqualität bedeuten; verloren gegangene Fähigkeiten und Fertigkeiten können durch andere Handlungsressourcen ersetzt werden, um die Lebensziele aufrechtzuerhalten. So wird die sehr aktive sportliche Tätigkeit vernachlässigt zugunsten von Spaziergängen oder Radfahren. Die berufliche Tätigkeit wird ersetzt durch Unternehmungen, ehrenamtlichen Tätigkeiten oder vermehrtes Reisen. 25 30 35 Dieses Ersetzen verloren gegangener Kräfte durch andere Handlungsressourcen bezeichnet man als Kompensation. Ein Beispiel, welches das SOK-Modell treffend veranschaulicht, gab der Pianist Artur Rubinstein, der erzählte, dass er deshalb auch mit 90 Jahren vor seinem Publikum noch glänzende Leistungen auf dem Klavier vollbringen konnte, weil er sein Repertoire verringert und weniger Stücke gespielt habe (= Selektion). Diese habe er aber länger geübt als in jungen Jahren (= Optimierung). Zugleich verringerte er vor schnell zu spielenden Passagen das Tempo, um das Nachfolgende dann schneller erscheinen zu lassen (= Kompensation) (vgl. Mietzel, 1992, S. 17). Diese Kompensation trifft auch für das menschliche Nervensystem zu, indem es für bestimmte Aufgaben mehr Nervenzellen beansprucht. 40 45 50 55 Kapitel 8 erfolgreiches Altern durch Selektion Optimierung Kompensation Begrenzen von Beziehungen, Aufgaben und Tätigkeiten, Spezialisierung auf „Weniger“ Verfeinern und Verbessern von Ressourcen zum Erzielen von Entwicklungsgewinnen Ersetzen verloren gegangener Kräfte durch andere Handlungsressourcen „Bei knappen Ressourcen erfordert erfolgreiche Entwicklung die Auswahl von Zielbereichen sowie die Anwendung optimierender und kompensierender Mittel innerhalb dieser Bereiche. Der zusammengesetzte Begriff der ‚selektiven Optimierung mit Kompensation’ bringt diese Koordination von Selektion, Optimierung und Kompensation zum Ausdruck.“ (Lindenberger/Schaefer, 20086, S. 372) Quelle: Hobmair, 2012, S. 179 ff. 53 54 Kapitel 9 Materialien Kapitel 9 1. Verfahren der Persönlichkeitserforschung 5 10 a) Der Erfassungsbogen für aggressives Verhalten (EAS) Mit einem Erfassungsbogen von Petermann unten stehende Abbildung gibt ein Beispiel und Petermann (19922) werden ausgewählte für eine solche Geschichte aus der FrageboAggressionsformen zwischen gleichaltrigen genversion für Mädchen. Das Bild illustriert Kindern der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren den aggressiven Konflikt und hilft dem Kind, näher bestimmt. Das Verfahren bezieht sich sich besser in die Situation des in der Geauf die Situationsbereiche „Schule“, „Eltern- schichte handelnden Interaktionspartners hinhaus“ und „Freizeitbereich außerhalb des einzuversetzen. Die Darstellung besitzt damit Elternhauses“, in denen mithilfe illustrativer eine die Vorstellungsfähigkeit des Kindes Situationsbeschreibungen das Kind konkrete, aktivierende Funktion. realitätsnahe Konflikte einschätzen soll. Die Beispielsituation aus dem EAS in der Fassung für Mädchen (EAS-M, Situation 5) (Petermann, 19994, S. 270 f.) 15 20 Kapitel 9 b) Projektive Verfahren Der Rorschach-Test 5 10 Einer der bekanntesten und auch ältesten Projektionstests ist der Rorschach-Test von dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach. Der Test besteht aus zehn Tintenklecksbildern, die schwarz-weiß, zum Teil aber auch farbig sind. Der Proband wird bei jedem Bild gebeten, zu beschreiben, was er auf diesem sieht. Die Antworten werden dann entsprechend ausgewertet. Der thematische Apperzeptionstest (Thematic Apperception Test – TAT) 15 20 Der TAT geht auf den Amerikaner Henry Murray und seine Mitarbeiter zurück und besteht aus 31 mehrdeutigen Bildern, auf denen Personen in verschiedenen Situationen dargestellt sind. Der Proband erzählt zu jedem Bild eine Geschichte. Auch in diesem Verfahren werden dann die Darlegungen entsprechend ausgewertet. 55 Der Sceno-Test Der Sceno-Test wurde von Gerdhild von Staabs entwickelt und besteht aus Spielmaterial, mit welchem der Proband eine Szene aufbauen soll. Das Material besteht in der Regel aus formbaren Puppen, Tieren, Pflanzen, Bäumen, Hausrat, Möbeln und Gegenständen, mit denen die Testperson in einem Haushalt in Verbindung kommt bzw. zu tun hat. 25 30 56 Kapitel 9 Der Wartegg-Zeichentest (WZT) 5 10 Der Wartegg-Zeichentest wurde in den 30erJahren des letzten Jahrhunderts von Ehrig Wartegg (1897–1983) entwickelt und ist ein projektiver Gestaltungstest im grafischen Aus- drucksbereich. In acht Feldern sind bestimmte Zeichen vorgegeben, die zeichnerisch vom Probanden weitergeführt werden (vgl. AvéLallemant, 20104, S. 10). Weitere Zeichentests sind der Baum-Test, bei dem der Proband einen Baum zeichnet, und der Sterne-Wellen-Test, bei dem er einen Sternenhimmel über Meereswellen darstellt. Quelle: eigener Text Kapitel 9 57 2. Die Temperamentstypen nach Claudius Galen 5 10 Die älteste Typologie stammt vermutlich von dem römischen Arzt Claudius Galen von Pergamon, etwa um 150 v. Chr., auf der Grundlage der von Hippokrates1 aufgestellten Annahme, die die Unterscheidung des Wesens eines Menschen auf die individuelle Mischung von Körpersäften – humores – zurückführt. Entsprechend der vier Körpersäfte – Blut (haima), Schleim (phlegma), schwarze Galle (mélaina cholé) und gelbe Galle (cholé) – fand Galen vier Charaktereigenschaften: 2 15 – Der Sanguiniker (haima) ist gekennzeichnet durch eine wechselnde und unbeständige Gefühlslage, Stimmungsschwankungen und Unbeständigkeit. – Der Phlegmatiker (phlegma) ist gekennzeichnet durch langsame, gleichgültige Gefühlsabläufe, Unberührtheit und Gleichgültigkeit, er ist kaum aus der Ruhe zu bringen. 20 – Der Choleriker (cholé) ist gekennzeichnet durch starke Erregbarkeit, Reizbarkeit, Hitzigkeit und Impulsivität. – Der Melancholiker (mélaina cholé) ist gekennzeichnet durch Schwermut, Trübsinn, Grübeln, Pessimismus und herabgesetztes Lebensgefühl. 25 3. Wie viel ist ein Mensch wert? 5 10 15 20 25 Auf meine Umfrage zum Wert eines statistischen Lebens habe ich aus meinem Freundesund Familienkreis 24 Antworten erhalten. Im Durchschnitt sind sie bereit, 8.043,75 Euro zu bezahlen, um ein jährliches Todesrisiko von 1/1000 mit Sicherheit ausschließen zu können. Die Bandbreite der Antworten ist groß. Zwei würden 50.000 Euro zahlen, sechs überhaupt nichts. Unter anderem, weil „es sich in meinem Alter nicht mehr lohnt“, „ich ein zu guter Autofahrer bin“, „kein Geld übrig ist“ oder weil – buddhistisch und besonders beeindruckend – „meine Sichtweise auf dem karmischen Gedankengut beruht und somit solche Wahrscheinlichkeitsrechnungen unerheblich für mich sind. Bestimmt sollte jeder Mensch sein kostbares menschliches Potenzial schützen und bewahren und nicht in Gefahr bringen. Wenn sich allerdings die karmischen Winde erschöpfen, ist diese Art von Wahrscheinlichkeiten hinfällig.“ Ich weiß, dass nicht alle die Frage gleich interpretiert haben. Das ist kein Zufall, sondern einer der schon erwähnten Schwachpunkte der Methode. Weil aber der Wert eines statistischen 1 2 Lebens in meinem Umfeld erfreuliche und rekordverdächtige 8.043.750,00 Euro beträgt, bin ich geneigt, solche Zweifel für einen Moment beiseitezuschieben. Also weg mit den Bedenken und herzlichen Dank an alle Beteiligten für diese stolze Summe. Da ich den Taschenrechner einmal in der Hand habe, addiere ich die anderen ermittelten Werte gleich noch dazu. Da wären die Durchschnittssumme aller Schmerzensgelder für meinen Körper: 1,7 Millionen Euro, die neuerdings wieder zwei Millionen Euro von Spengler für „seinen“ Wert des statistischen Lebens, die 1.022,43 Euro aus der Apotheke, mein Humankapitalwert nach der Idee von von Hagens: 1 250 000 Euro, mein Humankapitalwert nach der Saarbrücker Formel: 112.411 Euro, die 6 000 Euro, die eine künstliche Befruchtung und somit ein Leben kostet, die 26.900 Euro nach dem Generationenkonto von Raffelhüschen, die 600.000 Euro, für die ich mich laut meines Freundes Mohsin in Indien verkaufen könnte, die 1,2 Millionen Euro von der Bundesanstalt für Straßenwesen, die eine Million Euro vom Umweltbundesamt, Hippokrates (460–377 vor Christus) war Arzt und gilt als Begründer der Schulmedizin. sanquis (lat.): das Blut 30 35 40 45 50 58 Kapitel 9 5 10 15 20 25 30 35 mein Humankapitalmindestwert nach Nussbaumer auf Hartz-IV-Basis: 279.936 Euro, auf „Weltminimumbasis“: 58.400 Euro und auf „Weltarmutsbasis“: 11.680 Euro, die summierten QUALYs meiner statistischen Restlebenszeit von 1,6 Millionen Euro und der potenzielle Wert meiner Leiche, der laut Martina Keller bei umgerechnet 180.000 Euro liegen kann. Ich verzichte dabei unter anderem auf meinen nicht vorhandenen Nachrichtenwert, meinen nicht ermittelbaren Markenwert, den Freiheitswert und den Urlaubswert meines Restlebens und das Geld, das ich eventuell bei einer Versteigerung meiner Organe bekommen könnte. Trotzdem beziehungsweise gerade deswegen komme ich auf eine Durchschnittssumme von 1.129.381,21 Euro Das ist also „meine“ Zahl. Mein persönlicher Preis. Mein monetärer Selbstwert. Wirklich? Nein ... ... oder doch? Für jede Zahl gibt es mehr oder weniger fundierte Argumente. Hinter einigen Methoden, ich denke vor allem an den Wert eines statistischen Lebens, etwa beim Umweltbundesamt, die monetarisierten „qualitätskorrigierten“ Lebensjahre, aber auch an die Humankapitalansätze beziehungsweise die Produktionspotenzialrechnung der Bundesanstalt für Straßenwesen, stehen angesehene Wissenschaftler mit ihren oftmals renommierten Instituten. Die innere Rechenlogik ihrer Formeln kann ich nicht widerlegen. Ich bin kein Fachmann, kein Ökonom und kein Mathematiker, gehe aber mal davon aus, dass alle richtig multipliziert haben. Die Methoden, so habe ich gelernt, lassen sich nicht alle in einen Topf werfen, und es kommt auch noch darauf an, wo und wie und vor allem auch von wem sie genutzt werden. Eine Gemeinsamkeit aber ist, dass sie von ihren Vertretern allesamt als best practice oder state of the art bezeichnet werden. Sie sind also „das Beste“, was gerade zur Verfügung steht. Das heißt jedoch nicht, dass sie wirklich gut sind. Keiner sagt das. Keiner der Experten, die ich getroffen habe, wollte behaupten, die Modelle seien ausgereift. Trotzdem wollen einige – und es werden mehr – mit diesen Rechnungen Politik machen. Im Zweifelsfall auch eine Politik, die über meine Lebenschancen mitentscheidet. Das ist, nun ja, bemerkenswert. Wer will schon mit einem Auto fahren, von dem selbst der Ingenieur sagt, es sei noch längst nicht fertig? Doch bei allem berechtigten Misstrauen gegenüber den Methoden – entscheidend bleibt das Misstrauen gegenüber den Prämissen, den Voraussetzungen, unter denen das Leben eines Menschen bewertet werden soll. Meine Zweifel habe ich dort, wo es mir angebracht schien, formuliert. Sie sind mit der Zeit nicht kleiner geworden. Im Gegenteil. In Bezug auf die Frage „Preis oder Würde“ schrieb Kant: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent1 verstattet, das hat eine Würde.“ Anders ausgedrückt: Was in Geld bewertet wird, verliert seine Einmaligkeit und kann verglichen werden. Und was sich vergleichen lässt, das wissen wir von der Käsetheke im Supermarkt, kann man gegeneinander aufrechnen und austauschen. 40 45 50 55 60 65 70 75 Quelle: Klare, 2010, S. 263 ff. 4. Kritische Würdigung der personenzentrierten Theorie Die personenzentrierte Theorie ist eine Theorie, die menschliches Erleben und Verhalten nur begrenzt beschreiben und erklären kann. Es liegt, wie August Flammer (20094, S. 125) 1 schreibt, eine Beschränkung auf emotionale und motivationale Prozesse vor; motorische und kognitive wie Wahrnehmung, Denken und Sprache sind als solche weitestgehend Äquivalent (lat.): gleicher Wert, gleichwertiger Ersatz 5 Kapitel 9 5 10 15 20 25 30 35 40 ausgeschlossen, sie interessieren nur in ihren Auswirkungen aufgrund emotional-motivationaler Vorgänge. Zudem lassen sich nicht alle seelischen Fehlentwicklungen auf eine Diskrepanz von Aktualisierung und Selbstaktualisierung – also von biologischen Bedürfnissen und sozialen Forderungen – zurückführen. Carl R. Rogers geht davon aus, dass der Mensch seine Lebensbedingungen und seine Umwelt aktiv selbst gestaltet und bewusst über die Möglichkeiten seines Handelns entscheidet. Kritiker wenden dabei – zum Teil zu Unrecht – ein, dass das Individuum für seine eigene Lebensgeschichte im Ganzen selbst verantwortlich gemacht wird und sich das eigene Schicksal selbst zurechnen muss – gesellschaftliche Prozesse hinsichtlich des Gelingens oder Scheiterns des eigenen Lebens haben keine eigenständige Bedeutung und werden vernachlässigt. Sehr umstritten ist die Annahme, der Mensch sei in seinem Kern „gut“ und es gäbe gesunde Kräfte in der menschlichen Persönlichkeit, die das natürliche Streben nach Wachstum und Selbstverwirklichung ausmachen. Rogers geht dabei von einer Annahme aus, die nicht überprüfbar ist; seine gesamte Theorie baut auf einer nicht beweisbaren These auf. Kritiker werfen aus diesem Grund der personenzentrierten Theorie „Unwissenschaftlichkeit“ auch dahingehend vor, dass ihre Aussagen nicht erschöpfend wissenschaftlich nachgewiesen und überprüft sind. Viele Aussagen bleiben nur Vermutungen, da sie nicht in die Forschung mit einbezogen wurden. Zu den nicht überprüfbaren Aussagen gehört beispielsweise auch die Annahme, dass der menschliche Organismus eine angeborene Aktualisierungstendenz besitze, die den Menschen in eine konstruktive Richtung bewege. Es erscheint fragwürdig, so schreibt der Professor für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Münster, Dr. Hanko Bommert (19934, S. 44), konstruktive Verhaltensweisen allein auf eine biologische Grundausstattung des Organismus und destruktives Verhalten dagegen auf ungünstige äußere Einflüsse zurückzuführen. Wissenschaftlich zweifelhaft ist auch das Postulat, dass Verhalten durch einen organismischen Bewertungsprozess reguliert werde. Rogers Theorie entspringt deshalb oft mehr einem Anliegen, welches auf sein philosophisches, möglicherweise sogar religiöses Menschenbild zurückzuführen ist, und weniger einer wissenschaftlich untermauerten Theorie. Hauptkritikpunkt ist, dass die Begriffe der personenzentrierten Theorie unscharf und für die Forschung schwer zu nutzen sind. Begriffe wie Selbstaktualisierung, Selbst und Selbstkonzept, Kongruenz oder Inkongruenz, Erfahrung oder Organismus werden von Rogers selbst mehrdeutig, anders als in anderen Wissenschaften üblich und sehr uneinheitlich verwendet und dadurch leicht missverstanden. Dies ist sicher einer der Hauptgründe, warum so viel Falsches und Missverständliches über die Theorie Rogers geschrieben wurde und wird. Zudem tragen viele Äußerungen Rogers zu Missverständnissen bei, wie zum Beispiel, dass der Mensch sein Glück nur in sich selbst suchen müsse – es wird übersehen, dass er ein primär soziales Wesen ist, das sich nur über den anderen, dem DU, seelisch gesund entwickeln kann. Und so schreiben auch Rita L. Atkinson u. a. (200113, S. 465): „Eine Psychologie, die individuelle Selbsterfüllung und Verwirklichung an die Spitze der Wertehierarchie stellt, könnte den Egoismus geradezu hoffähig machen.“ Quelle: Hobmair, 2012, S. 387 ff. „Die humanistische Psychologie1 stellt eine bedeutsame Ergänzung zum übrigen Psychologieangebot dar, auch wenn die Ansprüche an Detailliertheit und Präzision oftmals nicht eingehalten werden. Vielleicht wird die humanistische Psychologie nur als Haltung überleben und als humanistisches Anliegen – wie so oft in der abendländischen Geschichte – immer wieder aufgenommen werden.“ (Flammer, 20094, S. 128) 1 Wenn Flammer in diesem Zusammenhang von humanistischer Psychologie spricht, so meint er damit, wie aus dem gesamten Kontext hervorgeht, in erster Linie die personenzentrierte Theorie. 59 45 50 55 60 65 70 75 80 60 Kapitel 10 Materialien Kapitel 10 1. Die Erforschung von Gruppenbeziehungen 5 10 15 20 25 30 35 40 Die Gruppenforschung kennt bestimmte Messverfahren, die bestimmte Aspekte der Struktur von sozialen Beziehungen in Gruppen erforschen wollen. Diese Messverfahren werden mit dem Begriff Soziometrie zusammengefasst. So können beispielsweise mithilfe der Soziometrie Gefühle der Zu- und Abneigung der Mitglieder einer Gruppe untereinander festgestellt werden. Das soziometrische Messverfahren geht auf den österreichischen Psychiater Jacob L. Moreno zurück und wurde in der Zwischenzeit von einer Vielzahl von Sozialforschern weiterentwickelt. Es findet überall dort Anwendung, wo Gruppenstrukturen und -beziehungen bedeutsam sind. So wird Soziometrie u. a. in Betrieben, Werkstätten, Büros, Spielgruppen, Schulkassen und Jugendgruppen durchgeführt, um dort die Art und Weise der sozialen Interaktionen festzustellen. Auf diese Weise bekommt man Auskunft über das soziale Klima und es können Möglichkeiten zur Änderung bzw. Verbesserung eines solchen und der Leistung der Gruppe eingeleitet werden. Mithilfe der Soziometrie werden zwischenmenschliche Präferenzen1 ermittelt. Dabei kann es zum einen um die affektive Ebene gehen, um Zuneigung bzw. Abneigung (Sympathie bzw. Antipathie) der Gruppenmitglieder untereinander (also ob sich die Gruppenmitglieder untereinander „mögen“ oder „nicht mögen“), Freundschaften und Feindschaften (wer mit wem am liebsten in eine ganz bestimmte, inhaltlich definierte Beziehung treten will oder nicht), Beliebtheit bzw. Unbeliebtheit (Isoliertheit) einzelner Mitglieder. Zum anderen kann es sich auf die funktionale Ebene der Leistungsfähigkeit oder Tüchtigkeit in einer Gruppe beziehen – etwa wer mit wem am liebsten zusammenarbeiten, ein Projekt durchführen möchte usw. 1 Präferenz (lat.): Vorrang, Vorzug Durch entsprechende Fragen an die Mitglieder einer Gruppe können solche zwischenmenschlichen Präferenzen ermittelt werden. Um beispielsweise die Zu- und Abneigung in einer Werkgruppe eines Betriebes zu ermitteln, werden die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen schriftlich befragt, wen sie am liebsten als Freund haben möchten, wen sie am liebsten einladen oder mit wem sie am liebsten in den Urlaub fahren würden. Hinsichtlich der Erforschung auf der funktionalen Ebene könnte die Frage lauten: „Mit wem möchten Sie bei dieser Aufgabe am liebsten zusammenarbeiten? Mit wem auf keinen Fall?“ Die Ergebnisse dieser Befragung werden in einer Matrix, der Soziomatrix, oder in einem Diagramm, dem Soziogramm, grafisch dargestellt, welche alle Informationen enthalten, die durch die Befragung gewonnen wurden. Ihre jeweilige Auswertung besteht darin, bestimmte Beziehungsstrukturen zu erkennen und in ihrer Häufigkeit zu zählen, wobei zu beachten ist, dass es sich bei den Ergebnissen um aktuelle Momentaufnahmen der sozialen Beziehungen handelt. Beispiel für eine Soziomatrix (siehe nächste Seite) hinsichtlich der Zu- und Abneigung: Die Häufigkeit, mit der einzelne Gruppenmitglieder „positive Wahlen“ (+) oder „negative Wahlen“ bzw. Ablehnungen (–) auf sich vereinigen, wird zunächst tabellarisch in eine Soziomatrix übertragen. Die Symbole in den einzelnen Matrixzellen informieren darüber, wer von wem gewählt oder abgelehnt wurde und wer nicht. 45 50 55 60 65 70 75 Kapitel 10 Anzahl der abgegebenen Wahlen Wählende Gewählte 1 2 3 4 5 1 / + + + + 2 + / + 3 + + / 4 + 5 + 6 + 7 – + 6 7 8 9 / + / + 8 + / + 9 – – / + + 11 + + – – 13 + – Ges. – 4 2 6 – 3 1 4 – 2 1 3 – 2 1 3 2 0 2 – 2 1 3 – 2 2 4 2 0 2 – 0 3 3 – 2 1 3 2 0 2 / + 13 12 – / 12 11 + + 10 10 / + / + / – 2 1 3 – – / 0 4 4 + 6 2 3 3 3 0 4 2 2 0 0 0 0 – 1 1 1 0 0 0 3 1 0 0 0 1 9 Ges. 7 3 4 3 3 0 7 3 2 0 0 1 9 Erhaltene Wahlen 5 10 15 Beispiel für ein Soziogramm einer Jugendgruppe: In der qualitativen Interpretation dieses Soziogramms erscheinen beispielsweise die Gruppenmitglieder 1 und 7 als „beliebt“, doch beide „Stars“ lehnen sich gegenseitig ab und bilden um sich herum mit ihren „Verbündeten“ Subgruppen. Gruppenmitglied 13 wird von den meisten Gruppenmitgliedern offensichtlich abgelehnt und übernimmt wohl auch durch sein eigenes Verhalten die Rolle des „Außenseiters“. Die Gruppenmitglieder 10 und 12 wollen sich anscheinend mit keiner Untergruppe überwerfen und sind sich darüber hinaus mit den Anderen einig, den „Außenseiter“ 13 abzulehnen. (Henecka, 20099, S. 237–241, verändert und gekürzt) 61 62 Kapitel 10 2. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 5 10 15 20 25 30 Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war eine der schwersten von Menschen gemachten Umweltkatastrophen, deren Schäden für Mensch und Umwelt noch lange andauern werden. In der Folge wurde Tschernobyl ein zentraler Gegenstand einer Fehlerforschung, die nicht nur auf rein technische Sicherheitsvorkehrungen abzielt, sondern die zu klären versucht, was eigentlich mit menschlichem Versagen gemeint sein kann. Unterschiedliche Sichtweisen auf die Teams der handelnden Personen können wichtige Verstehenszugänge eröffnen, die ähnliche Ereignisse vielleicht zu verhindern helfen. Zentral dabei ist die Überlegung, dass hier nicht einzelne Personen versagt haben, sondern Menschen in miteinander konkurrierenden Teams, deren Verhalten weitgehend durch die soziale Situation bestimmt wurde. In der Unglücksnacht vor dem 26. April 1986 wurde im Reaktor Vier des Atomkraftwerkes in Tschernobyl ein geheimes Experiment durchgeführt, bei dem die Stromversorgung der Kühlsysteme im Falle einer Abschaltung des Reaktors getestet werden sollte. Für das Experiment, das eigentlich vor der Inbetriebnahme des Reaktors hätte durchgeführt werden müssen, reiste ein zusätzliches Ingenieurteam an, das den Versuch leitete. Sie waren den beiden Reaktorfahrern, die den normalen Schichtbetrieb leisteten und die nicht besonders auf das Experiment vor- bereitet waren, vorgesetzt. Die Bedienungsgruppe wollte schnell damit fertig werden, weil die Maifeiertage bevorstanden und der Reaktor zur Überholung abgeschaltet werden sollte. Innerhalb eines Nachmittags wurden alle Sicherheitssysteme, die die Katastrophe hätten verhindern können, ausgeschaltet. Die kritische Situation wurde somit von der Bedienungsmannschaft selbst herbeigeführt. Die Mannschaft war (bis eine Minute vor dem Unglück) davon überzeugt, sehr erfolgreich und professionell mit der eigenen Aufgabe umzugehen. Das Reaktorfahrerteam war mit verschiedenen Preisen für seine Zuverlässigkeit ausgezeichnet worden, unter anderem deswegen, weil es den Reaktor länger am Netz halten konnte als andere Mannschaften. Sie wollten sich gegenüber dem externen Ingenieursteam keine Blöße geben und Kompetenz demonstrieren, indem sie Sicherheitsvorschriften übertraten und Warnungen der Apparatur missachteten. Fehler zuzugeben und die Folgen falscher Entscheidungen zu diskutieren, hätte ihr Kompetenzgefühl weiter verringert, das durch die auftretenden Schwierigkeiten ohnehin schon angegriffen war. In der Unglücksnacht kam es nicht zum ersten Mal zu Übertretungen dieser Art. Die bisherigen guten Erfahrungen, die das Team damit sammeln konnte, hatten alle mit einem Gefühl der Unverwundbarkeit ausgestattet. Quelle: Schattenhofer, 2009, S. 43 f. 35 40 45 50 55 60 Kapitel 10 63 3. Der gute Amerikaner. Wie ein Einwanderer die New Yorker beschämte 5 10 15 20 25 30 Hugo Alfredo Tale-Yax1 ging die 144. Straße in Queens, New York, hinunter, die Hände in den Hosentaschen, die Kapuze auf dem Kopf, er hatte kein Ziel, er wartete ab, was der Tag bringen würde. Auf dem Bürgersteig vor ihm standen ein Mann und eine Frau. Sie stritten, der Mann wurde lauter, dann holte er aus und schlug die Frau. Es war ein heftiger Schlag, die Frau war unvorbereitet, und Tale-Yax war es auch. (…) Es gab einen Tumult, und plötzlich hatte der Schläger ein Messer in der Hand, stieß es dreimal in die Brust von Tale-Yax und rannte fort, die Frau floh in die andere Richtung. Tale-Yax rannte dem Mann hinterher, er schaffte fünf Schritte, dann fiel er nach vorn, auf den Bauch. Er stemmte sich kurz hoch, rollte ein paar Zentimeter nach links, seine Beine zuckten in der Luft, dann fielen sie zu Boden, und Tale-Yax lag regungslos auf dem Bürgersteig, sein Kopf wies zu den Wohnungen, die Füße zeigten zur Straße. Ein Fußgänger kam. Er sah Tale-Yax und ging an ihm vorbei. (…) Als Tale-Yax an diesem Sonntagmorgen auf dem Bürgersteig in Queens verblutete, zeichnete eine Überwachungskamera sein Sterben auf. Zu sehen sind mehr als 20 Menschen, die meisten gehen vorbei, ein Mann bleibt stehen, holt sein Handy aus der Tasche, richtet es auf Tale-Yax, macht ein Foto und geht weiter. Ein zweiter beugt sich zu Tale-Yax hinunter, fasst ihn an der Schulter, dreht ihn zur Seite. Tale-Yax bewegt sich nicht, der Mann lässt ihn fallen und läuft weiter. 1 Fast zwei Stunden lag Tale-Yax auf dem Bürgersteig, bis jemand die Polizei rief. Um 7:21 Uhr wurde Hugo Alfredo Tale-Yax für tot erklärt. Das Video aus der Überwachungskamera fand seinen Weg ins Internet, eine New Yorker Boulevardzeitung zeigte es auf ihrer Website, sie nannte Tale-Yax einen Samariter und die New Yorker kaltherzig, auf YouTube kursierte das Video bald unter der Überschrift „Obdachloser Held stirbt“. Die Totenwache für Hugo Alfredo Tale-Yax fand anderthalb Wochen später in Brooklyn statt, sechs Stunden dauerte sie. Tale-Yax lag in einem offenen Sarg, er trug einen schicken schwarzen Anzug, eine gelbe Krawatte, sein Haar war nach hinten gekämmt, neben ihm lag ein Zettel, „descanse en paz“, er ruhe in Frieden. Der Pfarrer hielt die Predigt auf Spanisch, er nannte Tale-Yax einen Helden, 200 Menschen hörten ihm zu. Tale-Yax‘ Bruder gab Interviews und sagte, sein Tod sei eine Botschaft an die Menschheit. Nach der Feier kehrte Tale-Yax nach Guatemala zurück, er wurde auf dem Friedhof von La Esperanza beerdigt. Die New Yorker Polizei sucht noch immer nach dem Mörder von Hugo Alfredo Tale-Yax. Identifizieren könnte ihn wohl nur die Frau, der Tale-Yax im Streit zu Hilfe gekommen war. Sie hat sich noch nicht gemeldet. Quelle: Pham, 2010, S. 47, gekürzt Hugo Alfredo Tale-Yax wurde in einem Bergdorf in Guatemala geboren und wanderte in die USA ein, in der er bis zu seinem Tod über fünf Jahre lebte. 35 40 45 50 55 60 65 64 Kapitel 10 4. Der Kater Oscar 5 10 15 Der Kater Oscar blickt uns von einem Foto im angesehenen New England Journal of Medicine an, begleitet von einer bewundernden Beschreibung eines namhaften Kollegen. Der Autor berichtet, wie Oscar in einer geriatrischen Klinik in Providence, Rhode Island, in der Patienten mit Alzheimer, Parkinson und anderen Erkrankungen behandelt werden, täglich seine Runde macht. Aufmerksam beschnüffelt und beobachtet der zweijährige Kater jeden Patienten, während er von Zimmer zu Zimmer stromert. Wenn er zu dem Schluss kommt, jemand liege im Sterben, rollt er sich neben ihm zusammen, schnurrt und reibt sich an ihm. Er verlässt das Zimmer erst, wenn der Patient oder die Patientin den letzten Atemzug getan hat. Wie gelingt Oscar das? Noch rätselhafter ist die Frage, welchen Beweggrund der Kater hat. Manchmal war er ganz allein bei dem Sterbenden, und die Mitarbeiter sehen darin den Wunsch, dem Patienten Beistand zu leisten. Ich sehe zwei mögliche Gründe für sein Verhalten: Entweder ist es der Versuch, sich selbst zu trösten, weil er ahnt, was dem Patienten zustoßen wird und ihn das bekümmert, oder der Versuch, den anderen zu trösten. Beide Möglichkeiten sind aber verblüffend. Quelle: de Waal, 2011 20 25 Kapitel 11 65 Materialien Kapitel 11 1. Ausdrucksverhalten 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Das kommunikative Verhalten eines Menschen wird in drei Bereiche eingeteilt, in den verbalen, den paraverbalen und den nonverbalen Ausdruck. Körpersprache meint die Mitteilung von Informationen bzw. deren sprachliche Begleitung mithilfe des Blickkontaktes, der Mimik und Gestik sowie der körperlichen Haltung und der Bewegung. Über den Blick werden Kontakte zum Gesprächsteilnehmer aufgenommen, Wert- bzw. Geringschätzung, persönliche Zu- bzw. Abneigung und Feindseligkeit signalisiert. Mimik ist der Gesichtsausdruck eines Menschen und setzt sich zusammen aus den Signalen der Augen, der Nase, des Mundes und der Haut. Gestik meint Finger-, Hand- und Armbewegungen, Bein- und Fußbewegungen sowie Kopfbewegungen. Laut Studien können Handbewegungen Sprachblockaden lösen – etwa, wenn uns ein Begriff „auf der Zunge liegt“, wir aber gerade nicht darauf kommen. Offenbar unterstützen Gesten das Arbeitsgedächtnis, das gesuchte Wort zu finden. „Gesten sind mal Verstärker, mal Vermittler oder auch Verräter unserer Gedanken.“ (Paschek, 2011, S. 29) Körperhaltung meint die Stellung und Bewegung des gesamten Körpers und verrät Sicherheit oder Unsicherheit, Abwehr und Ähnliches. Herabgezogene Schultern oder eine gebeugte Haltung sind Beispiele für Körperhaltung. Zur Bewegung gehört auch, in welchem Abstand der Kommunikator sich zu seinen Zuhörern aufhält. Wir sprechen hier von einem proxemischen1 Verhalten bzw. von sozialer Distanz, die sich durch interpersonale Nähe bzw. Abstand ausdrückt. Wer beispielsweise einem Menschen „zu nahe kommt“, wird als Bedrohung empfunden. In der Regel werden drei Distanzzonen unterschieden: – Die Ansprachedistanz beträgt ca. 3 bis 4 Meter und ist beispielsweise bei Vorträgen vorherrschend. Mit ihr kann man alle Zuhörer im Blickfeld haben. 1 proxemisch (lat.) hier: sich annähernd – Die persönliche Distanz beträgt etwa 60 cm bis 1,50 m. Sie ist von Bedeutung, wenn man einen persönlichen Kontakt zum Gesprächspartner herstellen will. – Die Intimdistanz beträgt etwa 50 bis 60 cm. Ein Einbrechen in diese wird als aufdringlich empfunden und der andere weicht in der Regel zurück. Die Körpersprache vermittelt viele „Zusatzinformationen“ wie Sicherheit, Überlegenheit oder Unsicherheit und Angst; Gelöstheit, Entspannung oder Anspannung und Verkrampfung; Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit oder Misstrauen, Zurückhaltung und Unehrlichkeit; Aufmerksamkeit oder Desinteresse usw. 50 55 60 Knappe Kleidung wirkt wenig kompetent tmn – Frauen ziehen im Büro besser keine zu kurze und knappe Kleidung an. Das rät die Karriereexpertin Carolin Lüdemann. „Es gilt für Frauen immer noch der Grundsatz: ‚Mehr Stoff bedeutet mehr Autorität‘.“ Fällt die Kleidung zu körperbetont aus, werde Frauen weniger zugetraut. (…) 65 (Donaukurier Nr. 160, 14.07.2011, S. 11) Neben dem verbalen, paraverbalen und nonverbalen Ausdruck spielen auch Aussehen, Bekleidung und Ähnliches eine Rolle für eine gelungene Kommunikation. Das „Was“ einer Information – der verbale Ausdruck – wird oft erst im Zusammenhang mit dem paraverbalen und nonverbalen Ausdruck verständlich. Para- und nonverbaler Ausdruck 70 75 – ersetzen oder begleiten eine sprachliche Äußerung und unterstützen sie, – verstärken oder schwächen sie ab, – können aktives Zuhören unterstützen oder behindern, 80 66 Kapitel 11 – drücken die Reaktion des Zuhörers aus, – geben das Befinden der Kommunikationspartner wieder und 5 10 15 – verdeutlichen die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern (vgl. Allhoff/ Allhoff, 201015, S. 23 ff.). Effektive Kommunikation ist dann zu erwarten, wenn die drei Ausdrucksebenen – verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ausdruck – kongruent sind, also einander entsprechen, miteinander übereinstimmen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand sagt „Mich ärgert das fürchterlich“ und die Art und Weise, wie er das sagt, sowie sein Gesichtsausdruck und seine Gestik dazu passen. Ist es nicht der Fall, dass verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ausdruck übereinstim- men, spricht man von einer inkongruenten Kommunikation, die wenig authentisch wirkt und auch nicht effektiv ist. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Erzieher oder ein Lehrer ein Kind zurechtweist, er dabei aber freundlich lacht. Es kann sehr leicht möglich sein, dass dieser nicht ernst genommen wird. Die heutige Kommunikationsforschung hat herausgefunden, dass der verbale Ausdruck nur 7 Prozent der Wirkung ausmacht, während der paraverbale Ausdruck mit 38 Prozent und der nonverbale Ausdruck mit 55 Prozent zu Buche schlagen (vgl. Dietrich, 2003, S. 11 f.). 20 25 30 Entscheidender als der Inhalt ist, wie jemand etwas sagt und mit welcher Körpersprache er das Gesagte begleitet. Quelle: Hobmair, 2010, S. 37 f. 2. Die Paradoxie und die Doppelbindung 5 10 15 20 25 a) Paradoxien Bei Paradoxien1 handelt es sich um Botschaften, die widersprüchlich sind und den Kommunikationspartner deshalb in eine Situation bringen, die für ihn nicht lösbar ist. Innerhalb einer Beziehung wird eine Handlungsaufforderung gegeben, die „befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden“ (Watzlawick u. a., 201112, S. 214). Die Eltern sagen zum Beispiel zu ihrem Kind: „Du brauchst nicht alles befolgen, was andere Menschen dir sagen!“ Kommt das Kind dieser Aufforderung nach, so befolgt es ja doch, was ihm Andere sagen, was aber der Aufforderung widerspricht. In einer paradoxen Botschaft wird also etwas gefordert, was aber in der gegebenen Situation nicht gezeigt werden darf, weil es dann nicht mehr das ist, was gefordert wurde. Die logische Sinnlosigkeit wird auch in Äußerungen deutlich wie „Lach doch mal!“, „Sei lustig!“, „Sei spontan!“, „Sei nicht so verkrampft!“. Jedes halbe Jahr, wenn der Zeugnistermin naht bzw. da ist, warnen sog. Berater, dass man das Zeugnis bzw. die Zeugnisnoten nicht überbewerten oder zu Ernst nehmen sollte. 1 Eine Paradoxie ist eine Handlungsaufforderung, die befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden. Paradoxien treten im menschlichen Leben sehr häufig auf; eine Störung in der Kommunikation rufen sie jedoch nur dann hervor, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind – Watzlawick u. a. nennen sie die wesentlichen Bestandteile einer Paradoxie: – Eine bindende Beziehung, in der ein Abhängigkeitsverhältnis herrscht – die also pará (griech.): gegen, entgegen; dóxa (griech.): die Meinung 30 35 Kapitel 11 5 10 15 20 25 30 komplementär ist – und die nicht ohne Weiteres verlassen werden kann. Eine solche Beziehung kann zum Beispiel in der Schule, im Beruf, in der Bundeswehr, in einer engen Freundschaft bzw. Partnerschaft oder in der Ehe und der Familie vorherrschen. – Es wird eine Botschaft gegeben – in der Regel handelt es sich um eine Handlungsaufforderung –, die befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden. Die Mutter sagt beispielsweise zu ihrem Sohn: „Du musst nicht immer befolgen, was Andere dir sagen!“ Die Freundin sagt zu ihrem Freund: „Sei doch auch mal spontan!“ – Diese widersprüchliche Situation kann nicht durch eine Kommunikation gelöst werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man mit demjenigen, der die Botschaft gibt, überhaupt nicht sprechen kann, wenn dieser das Gespräch verweigert bzw. nicht mit sich reden lässt oder wenn ein Hinweis auf den Widerspruch negative Konsequenzen nach sich ziehen würde – etwa eine (Schul-) Strafe, ein Disziplinarverfahren oder eine Kündigung. b) Doppelbindungen Um Doppelbindungen im engeren Sinne handelt es sich, wenn eine Information gegeben wird, die etwas Bestimmtes aussagt – etwa ein gesprochener Satz – und die zusätzlich etwas über diese Aussage mitteilt – zum Beispiel die Haltung, die zu dieser Aussage eingenommen wird –, sich aber diese beiden Aussagen nicht miteinander vereinbaren lassen (vgl. Watzlawick u. a., 201112, S. 233 f.). Beispielsweise kommt ein großer starker Junge auf einen kleinen schmächtigen Jungen zu, pöbelt ihn an, stellt sich in voller Größe mit angespannten Muskeln vor den kleinen Jungen und sagt: „Du brauchst dich nur zu wehren!“ Im weiteren Sinne spricht man aber auch von einer Doppelbindung, wenn ein Sender in einer Kommunikation einem Empfänger gegenüber zwei Aussagen tätigt, die sich miteinander nicht vereinbaren lassen. Eltern zum Beispiel wollen erreichen, dass ihr Kind selbstständig wird; doch andererseits geben die Eltern dem Kind in verschiedenster Weise mit ihrem Verhalten zu verstehen, dass es unfähig zu selbstständigen Entscheidungen sei, dass es Eltern brauche, ohne die es nicht zurechtkomme. Eine Doppelbindung liegt vor, wenn sich die Aussagen, die ein Sender in einer bestimmten Information bzw. in einer Kommunikation gibt, nicht miteinander vereinbaren lassen. Auch Doppelbindungen treten im menschlichen Leben häufig auf. Zu Störungen in der Kommunikation kommt es jedoch nur dann, wenn – wie bei der Paradoxie – eine bindende und komplementäre Beziehung, die nicht ohne Weiteres verlassen werden kann, vorliegt und die Situation durch Kommunikation nicht beseitigt werden kann. 67 35 40 45 50 55 60 65 Quelle: Hobmair, 2010, S. 283 ff. 3. Die Elemente einer Ich-Botschaft 5 10 In einer Ich-Botschaft sage ich etwas über mich als Person aus. Durch diese Ich-Aussage kann eine Vertrauensbasis geschaffen werden, die beiden Partnern erlaubt, offen und klärend miteinander zu reden. Dabei soll es dem Gesprächspartner selbst überlassen bleiben, ob und wie er reagiert; ob er sein Verhalten beibehalten oder ändern möchte. Durch vier wesentliche Elemente kann eine Ich-Botschaft näher charakterisiert werden: 1. Ich mache die Sachaussage. Ich benenne die Sache, die Begebenheit, die Situation, um die es geht; ich beschreibe, was ich wahrnehme, was ich höre oder sehe – ohne es zu bewerten. 15 „Ulrike, du hast dich auf der Party wieder nur mit Herbert abgegeben und ich saß alleine da.“ 2. Ich mache eine Gefühlsaussage. Ich sage, wie es mir mit der Sache, der Begebenheit oder Situation ergeht bzw. ergangen ist. „Das hat mich verletzt.“ 20 68 Kapitel 11 5 3. Ich sage, welche Auswirkungen es auf mich hat. Ich sage, was die Sache, die Begebenheit oder die Situation für mich bedeutet, welche Folgen sich für mich ergeben, was für mich wichtig ist. „Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich mit dir dran bin, ob du mich eigentlich noch liebst. Doch du bist mir sehr wichtig.“ 4. Ich mache eine Wunschaussage. Ich sage, was an der Sache, der Begebenheit oder Situation geändert werden kann, damit diese für beide akzeptabel wird. Ich richte einen Wunsch oder Appell an den Anderen, wie wir in Zukunft mit dieser Sache, Begebenheit oder Situation umgehen können. 10 15 „Ich möchte gerne mit dir darüber reden und die Sache klären, damit ich weiß, woran ich bin.“ Sachaussage Gefühlsaussage Ich-Botschaft Auswirkungen Wunschaussage Quelle: Hobmair 2010, S. 35 f. 4. Konfliktmanagement 5 10 15 Damit Konflikte zu positiven funktionalen Wirkungen führen, ist der erfolgreiche Umgang mit diesen bedeutend. Dabei geht es einmal um Konfliktprävention1, um dysfunktionale Konflikte weitgehend zu vermeiden, und zum anderen um Konfliktsteuerung als Handhabung, Austragung und Lösung von sozialen Konflikten (vgl. von Rosenstiel u. a., 20059, S. 241 ff.). Bei der Konfliktprävention geht es um Möglichkeiten, wie das soziale Handeln und das Zusammenwirken von Menschen in sozialen Gebilden gestaltet werden können, um unproduktive und dysfunktionale Konflikte weitgehend zu vermeiden. So können zum Beispiel in betrieblichen Organisationen die Kommunikationsstrukturen derart gestaltet werden, dass alle Personen, die an einer gemeinsamen Aufgabe beteiligt sind, Zugang zu den hierfür notwendigen Informationen haben. Eine Familie 20 1 Prävention (lat.): Vorbeugung kann sich wöchentlich einmal zur sogenannten Familienkonferenz treffen, um dort über das Wohlbefinden der einzelnen Familienmitglieder zu sprechen. 25 Hinsichtlich der Konfliktsteuerung gibt es verschiedene Lösungsmöglichkeiten: – Hemmung: Die am Konflikt beteiligten Personen bzw. Personengruppen verhalten sich zurückhaltend und tun gar nichts, sie lassen den Konflikt einfach „stehen“. Diese Aktionshemmung ist meist damit verbunden, dass man den Konflikt gar nicht wahrhaben will bzw. kann, ihm ausweicht, ihn umgeht, bagatellisiert oder auch verschleiert. Ein Ehepaar zum Beispiel kehrt alle seine Konflikte, die im Laufe der Zeit auftreten, unter den Teppich; es nimmt sie gar nicht wahr, und wenn, dann redet es diese klein. 30 35 40 Kapitel 11 5 10 – Hinter dieser Möglichkeit steht die Einstellung, dass es Konflikte nicht geben darf. Doch Konflikte sind Realität und es geht nicht darum, Konflikte nicht wahrhaben zu wollen oder sie zu vermeiden, sondern darum, wie mit Konflikten umgegangen wird. – Unterdrückung: Die eine Seite zwingt die andere zur Unterwerfung, Macht oder Gewaltanwendung halten den „Gegner“ in Angst und Abgängigkeit. Ein Beispiel hierfür ist der Krieg, der den Verlierer zur Unterwerfung zwingt. 15 20 25 – Unterweisung: Aufgrund von Macht und/ oder Zwang ist es möglich, die eine Seite zu zwingen, ihre Ansichten, Einstellungen und dergleichen anzunehmen. Ein Schüler, der regelmäßig zu spät zum Unterricht kommt, wird aufgrund einer Schulstrafe dazu gezwungen, sich der Schulordnung anzupassen. – Eliminierung: Der „Gegner“ wird ignoriert, kaltgestellt oder auch gemobbt. Die Eliminierung kann bis zum Ausschluss von Betroffenen in einem sozialen Gebilde führen. Der gute und fleißige Schüler wird von seinen Mitschülern als „Schleimer“ verschrieen und von der Klasse isoliert. 30 35 40 – Bündnis (Allianz): Personen oder Personengruppen in einem sozialen Gebilde suchen andere Personen bzw. Personengruppen und verbünden sich miteinander, um ihre Ziele durchsetzen zu können. Ärzte verschiedener Richtungen schließen sich zusammen, um eine Gehaltserhöhung zu erreichen. – Abstimmung: Aufgrund eines höheren Abstimmungsergebnisses siegt die Mehrheit und bestimmt – auch gegen die Einwände der Anderen –, was getan wird. Die Klasse stimmt nach einer sehr engagierten Diskussion ab, wohin die Klassenfahrt gehen soll. – Kompromiss: Jede „Partei“ gibt etwas auf, steckt ein wenig zurück und macht Zugeständnisse, so dass sich die Kontrahenten „auf halbem Weg“ treffen. Die Klasse will ein Treffen veranstalten. Die eine Seite will dieses Treffen schon um 18:00 Uhr beginnen lassen, die andere erst um 20:00 Uhr. Als Kompromiss einigen sich beide Seiten auf 19:00 Uhr. – Konsens: Das soziale Gebilde als Ganzes kommt zu einer Lösung, die für jeden am Konflikt Beteiligten akzeptabel ist. Auf diese Weise wirkt sie persönlich befriedigend, was sich positiv auf das soziale Gebilde und seine Ziele auswirkt. Otto will heute Abend ins Kino gehen, während Gertraud dazu keine Lust hat und lieber fernsehen will. Doch dazu hat Otto keine Lust. Im Laufe des Gespräches finden sie eine Lösung, die beide wollen: Sie gehen gemeinsam in ein Restaurant zum Essen. Der Konsens stellt die reifste Art dar, einen Konflikt zu lösen, da das Ergebnis immer für alle am Konflikt Beteiligten akzeptiert werden kann. Die Unterschiede zwischen den Konfliktparteien werden respektiert und es wird versucht, den anderen zu verstehen. Widersprechende Meinungen, Interessen und dergleichen werden gemeinsam in gleichberechtigter Atmosphäre diskutiert und so lange gegeneinander abgewogen, bis eine Lösung erzielt wird, die für alle am Konflikt beteiligten Personen annehmbar ist und innerlich befriedigend wirkt. Eine solche Art von Lösung nimmt allerdings von allen Lösungsmöglichkeiten die meiste Zeit in Anspruch. Bei einer effektiven Konfliktlösung geht es also darum, eine Lösung zu finden, die den Interessen aller am Konflikt Beteiligten möglichst gerecht wird und die zugleich zu einer dauerhaft guten Beziehung zwischen diesen führt. Dabei ist von Bedeutung, Menschen und Probleme voneinander zu trennen, auf Interessen zu achten und nicht auf Positionen und eine Entwicklung von Lösungsalternativen zum Vorteil aller (vgl. von Rosenstiel u. a., 20059, S. 246 f.). 69 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 70 Kapitel 11 Hemmung 5 Unterdrückung Unterweisung Eliminierung Lösungsmöglichkeiten von sozialen Konflikten Bündnis (Allianz) Abstimmung Kompromiss Konsens Oft sind die an einem Konflikt beteiligten Personen nicht imstande, diesen allein – ohne Hilfestellung – zu lösen. Versuchen nun die Konfliktparteien mithilfe eines Vermittlers eine einvernehmliche Lösung zu finden, so spricht man von Mediation; den Vermittler selbst bezeichnet man als Mediator. Die Mediation hat als Verfahren der Konfliktsteuerung in jüngster Zeit sehr an Bedeutung gewonnen. Quelle: Hobmair 2010, S. 288 ff. 10 Kapitel 12 71 Materialien Kapitel 12 1. Gesund oder krank ist immer der ganze Mensch 5 10 15 20 25 30 35 40 Körperliche und seelische Vorgänge stehen nicht nebeneinander, zwischen Körper und Psyche1 besteht ein enger Zusammenhang; sie stehen zueinander in einer engen Wechselwirkung. Leib und Seele sind also nicht zwei voneinander getrennte Erscheinungen, sondern bilden eine Einheit, die von vornherein zusammengehört. Veränderungen im Körper führen auch zu Veränderungen des Erlebens und Verhaltens und umgekehrt. So werden einerseits gefühlsmäßige Erregungen von körperlichen Vorgängen begleitet, andererseits haben körperliche Vorgänge seelische Begleiterscheinungen. Diese Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche kann sowohl unter psychosomatischen2 als auch unter dem somatopsychischen3 Gesichtspunkt betrachtet werden. Die somatopsychische Betrachtungsweise bringt zum Ausdruck, dass seelische Vorgänge ihren Ursprung in körperlichen Zuständen oder körperlichen Veränderungen haben können. Eine Überproduktion des Schilddrüsenhormons Thyroxin hat zum Beispiel als körperliche Folgen Nervosität, Konzentrationsstörungen, Überempfindlichkeit und Stimmungsschwankungen. Länger andauernde körperliche Krankheiten oder Beeinträchtigungen können zu psychischer Verstimmung oder zu Depression führen. Die Auswirkungen zeigen sich also zuerst im psychischen Bereich, haben aber körperliche Ursachen. Insbesondere bei psychischen Störungen ist abzuklären, ob das Erleben bzw. Verhalten durch körperliche Prozesse bedingt ist oder nicht. Die psychosomatische Betrachtungsweise bringt zum Ausdruck, dass die Psyche den Körper beeinflusst. Starke Gefühlsregungen wie beispielsweise Angst und Wut werden von körperlichen Erregungen im Nervensystem begleitet. Angstzustände gehen zum Beispiel einher mit erhöhter Puls- und Atemfrequenz, erhöhtem Blutdruck und Hautwiderstand, hormonellen Veränderungen und erhöhtem Muskeltonus. Wenn solche Erregungszustände aufgrund äußerer Umstände länger andauern, belasten sie den Organismus. Diese Dauerbelastung kann dann zu Schäden bestimmter Körperorgane führen. Die Krankheit zeigt sich hierbei am Körper, hat aber psychische Ursachen. Psychosomatische Krankheiten können zum Beispiel Hautkrankheiten, Erkrankungen der Atemorgane, des Herz- und Kreislauf-Systems, des Blutes und des Lymphsystems, des Magen- und Darmtraktes, Störungen der Sinnesorgane oder der Skelettmuskulatur sein. Sowohl aus medizinischer als auch aus psychologischer Sicht ist es deshalb wichtig, den ganzen Menschen zu sehen und nicht nur etwa den psychischen oder nur den körperlichen Aspekt. In der Regel ist es so, dass der Schmerz beispielsweise am Körper wahrgenommen wird, die vom Arzt verordneten Heilmaßnahmen wie Medikamente sich lediglich auf den Körper beziehen und am körperlichen Wohlbefinden die Gesundheit festgemacht wird. Aber es gibt praktisch keine Krankheit, bei der die Psyche keine Rolle spielt. Selbst bei einem Unfall oder Knochenbruch hängt der Heilungsprozess in einem nicht unerheblichen Maße davon ab, welche „innere“ Einstellung der Patient zu diesem Geschehnis hat. Krank ist immer der ganze Mensch. 1 2 3 Körper (griech.: soma); Psyche (griech.): die Seele) psychosomatisch: die Psyche beeinflusst den Körper somatopsychisch: körperliche Zustände beeinflussen die Psyche Quelle: Hermann Hobmair 45 50 55 60 65 70 75 72 Kapitel 12 2. Die Problematik des Begriffs „Psychische Störung“ 5 10 Der Begriff „Psychische Störung” ist nicht ganz unproblematisch: Normalität ist nicht objektiv messbar und lässt sich auch nicht aufgrund objektiver Kriterien exakt bestimmen. Aus diesem Grunde kann auch kaum mit Sicherheit geklärt werden, wann eine Störung vorliegt und wann nicht. Ein statistisch berechneter Durchschnitt – etwa „im Durchschnitt können Kinder Ende des 15. Monats frei stehen und ohne Hilfe gehen“ –, also die statistische Norm, besagt lediglich, was die Mehrheit im Schnitt tut; sie entspricht aber meist nicht der Realität und trifft so gut wie nie auf den Einzelfall zu. Dies wird deutlich an der Norm „Jeder Deutsche trinkt täglich 0,52 l Bier“: Kaum einer trinkt genau diese Menge am Tag, er trinkt entweder mehr oder weniger – Abweichungen sind das „Normale“. 15 20 25 Oft wird dabei übersehen, dass Verhalten immer einen Spielraum hat. Gesellschaftliche und individuelle Normalität – was die Gesellschaft bzw. eine ihrer Gruppen für wünschenswert hält oder welche Vorstellungen der Einzelne hat – ist zudem immer subjektiv und entzieht sich einer objektiven Messung. Was für eine Person „normal“ ist, ist für eine andere vielleicht „noch hinnehmbar“ für eine dritte vielleicht schon „nicht mehr normal“. So gibt es viele Personen, die sich als „zu dick“ oder als „nicht gut aussehend“ empfinden und unter diesem Zustand sogar leiden, obwohl ihre körperlichen Parameter weder von Idealvorstellungen der Gesellschaft noch vom Durchschnittswert abweichen. 30 35 Wert- und Normvorstellungen sind relativ und weichen von Gruppe zu Gruppe bzw. von Gesellschaft zu Gesellschaft voneinander ab. Im Griechenland der Antike zum Beispiel war Homosexualität unter Männern eine selbstverständliche Lebensform, bis in die 40 1 1970er-Jahre war es in unserer Gesellschaft eine behandlungsbedürftige Krankheit. Das Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im Jahr 2001 ist Ausdruck davon, dass Homosexualität zunehmend wieder eine akzeptierte Form ist, die eigene Sexualität zu leben. Welches Erleben und Verhalten als psychische Störung definiert wird, ist also abhängig von kulturellen und sozialen Normen und damit starken Zeitströmungen unterworfen. Ebenso können Begriffe wie „über einen längeren Zeitraum“, „erheblich“, „Leidensdruck“, „dysfunktional“, „Beeinträchtigung“ usw. nicht genau und eindeutig bestimmt werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die betroffenen Menschen auf ihre psychische Störung reduziert werden und ihre Fähigkeiten, Stärken und Möglichkeiten zu wenig wahrgenommen und gestärkt werden. Am deutlichsten wird Kritik von dem Psychiater Thomas Szasz geäußert. Ihm zufolge sind es Etikettierungen, um Menschen zu kontrollieren und deren Änderung und Ausgrenzung zu rechtfertigen, weil ihre ungewöhnlichen Verhaltensmuster die gesellschaftliche Ordnung bedrohen. Thomas Szasz sieht abweichendes Verhalten nicht als Anzeichen einer inneren Störung, sondern als Lebensproblem (vgl. Comer, 20086, S. 3 f.). Die Zuschreibung des Begriffs „gestört“ oder „Gestörter“ zu einem Menschen ist fast immer mit einer negativen Bewertung und Diskreditierung1 der betroffenen Person verbunden und beeinflusst den Umgang mit ihr in negativer Weise. Selbst die Benennung einer psychischen Störung selbst wie etwa „Ich habe eine Depression“ oder „Ich bin schizophren“ wird nicht bewertungsneutral wahrgenommen, sondern es fließt zugleich eine negative Bewertung mit ein, die auf den „Träger“ übertragen wird und den Umgang mit diesem in einem nicht unerheblichen Maße beeinflusst. Die Zuschreibung negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen aufgrund eines bestimmten Diskreditierung (discréditer, franz.): jemanden in Verruf bringen, jemanden verunglimpfen 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Kapitel 12 5 Merkmals wird als Stigmatisierung1 bezeichnet (vgl. Goffman, 2008, S. 10 f.). Durch diese Zuschreibung bilden sich negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber dem Träger eines Stigmas aus. Sie weist den Betroffenen automatisch einen Status außerhalb des Normbereichs zu, der sie in den Gedanken der „normalen“ Menschen zu Außenseitern stempelt und ausschließt. Gerade deshalb wenden sich viele der Betroffenen dagegen, als „Gestörte“ oder „psychisch Kranke“ bezeichnet zu werden, insbesondere in einer Zeit, da „Gestörter“ bereits als Schimpfwort benutzt wird. 10 Die Stigmatisierung charakterisiert nicht nur ein von der Norm abweichendes Verhalten, sondern wertet die betroffene Person als „fehlerhaft“ und „minderwertig“ ab und grenzt sie von den gesellschaftlichen Bezügen aus. Durch derartige Diskreditierungen wird die Identität eines Menschen stark getroffen und „beschädigt“. Stigmatisierung führt also zwangsläufig zu einer massiven Beschädigung der Identität von Betroffenen. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman spricht von einer beschädigten Identität. 73 15 20 25 Quelle: Hobmair, 2012, S. 444 ff. „Die Identitätsentwicklung eines Menschen, der auf diese Weise stigmatisiert wird, ist gefährdet. Er kann zwischen seiner ursprünglichen persönlichen und der zugeschriebenen sozialen Identität nur noch schwer oder nicht mehr ausbalancieren.“ (Klein u. a., 199910, S. 45) 3. Entstehung von psychischen Störungen aus der Sicht verschiedener Theorien 5 – Rund 30 Prozent der Bevölkerung erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Den größten Anteil haben Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Süchte. – Jeder 5. Deutsche erkrankt im Laufe seines Lebens an einer Depression. 10 – Eine Studie des Max-Planck-Institutes zeigt, dass 13 bis 14 Prozent der deutschen Bevölkerung akut unter einer ernsthaften Angststörung leidet. – Die häufigste Ursache, wenn Arbeitnehmer krankheitsbedingt früher in den Ruhestand gehen, sind psychische Störungen. 15 – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020 Depressionen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigsten Erkrankungen sein werden (vgl. Natter, 2011, S. 34). 1 2 Aus psychologischer Sicht sind tiefenpsychologische Theorien, Lerntheorien, kognitive Theorien, humanistische Theorien sowie in jüngerer Zeit auch systemische Theorien von Bedeutung. 20 a) Psychoanalytische Theorie2 Psychische Störungen entstehen aus psychoanalytischer Sicht einmal dadurch, dass die einzelnen Persönlichkeitsinstanzen nicht im Gleichgewicht zueinander stehen, und zum anderen durch Konflikte und Probleme, die im Zusammenhang mit der frühkindlichen Entwicklung der Libido stehen. 25 Nach Sigmund Freud handelt es sich zum Beispiel bei einer Phobie um eine Abwehr der Angst von verdrängten Es-Wünschen, die das Ich nicht zulassen kann bzw. darf, weil dieses entweder von den Forderungen der Realität beherrscht wird oder das zu stark ausgebildete Über-Ich den Es-Wunsch Stigma (griech.): das „Brandmal“ Die Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie sind in Kapitel 1.4.1 und 9.2.3 dargestellt. 30 35 74 Kapitel 12 „verbietet“. Das Ich muss deshalb den EsWunsch unterdrücken. Um die Abwehr zu sichern, setzt das Individuum den Abwehrmechanismus der Verschiebung ein: Die Angst vor der gefürchteten Triebregung wird auf ein Objekt oder eine Situation verschoben, die mit der Triebregung in symbolischem Zusammenhang steht. 5 Psychische Störungen entstehen aus psychoanalytischer Sicht durch 10 15 20 25 das Bestehen eines Ungleichgewichtes zwischen dem Verhältnis des ICHs, des ES, des ÜBER-ICHs und der Realität zueinander. Konflikte und Probleme, die im Zusammenhang mit der frühkindlichen Entwicklung der Libido stehen. Ein Ungleichgewicht der einzelnen Persönlichkeitsinstanzen – dies ist der Fall, wenn das ES, das ÜBER-ICH oder die Realität über das ICH siegen (Ich-Schwäche) – bewirkt ein Auftreten von unangemessenen Ängsten und einen übertriebenen Einsatz von Abwehrmechanismen, die die bedrohlichen und angstauslösenden Erlebnisinhalte abwehren, unbewusst machen sollen. Ein fortwährendes Einsetzen von Abwehrmechanismen führt zur Leugnung, Verzerrung und Verfälschung der Realität, sodass es zu einem der Realität nicht angepassten Verhalten kommt, was der Ausgangspunkt für seelische Fehlentwicklung ist. Werden die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes in den jeweiligen Phasen – orale, anale, phallische Phase – nicht oder nur unzureichend befriedigt, so kommt es zu Triebfrustrationen, was das Erleben einer Enttäuschung als Folge einer fortwährenden Verhinderung der Befriedigung wichtiger Bedürfnisse meint. Eine Triebfrustration bringt es einmal mit sich, dass das Kind an entsprechenden Verhaltensweisen einer Entwicklungsphase festhält (= Fixierung), zum anderen, dass es eine bestimmte Phase überwindet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf die in dieser Phase vorherrschenden Erlebens- und Verhaltensweisen zurückfällt (= Regression). Fixierung und Regression können auch eintreten, wenn die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes über die Maßen hinaus befriedigt werden (= exzessive Befriedigung). b) Individualpsychologische Theorie1 Aus individualpsychologischer Sicht ist das Kriterium, ob sich ein Mensch gesund entwickelt oder Störungen zeigt, seine Fähigkeit und Bereitschaft, den Anforderungen des Zusammenlebens zu entsprechen. Ist diese Fähigkeit zu wenig oder nicht entfaltet, so wird der Mensch den Anforderungen des Zusammenlebens nicht gerecht werden können. Das Individuum, das die Anforderungen des Zusammenlebens nicht bewältigen kann, baut sich seine eigene „Logik“, ein Phantasiegebilde auf, das nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern von ihr abweicht und weniger dem Allgemeinwohl entspricht. Adler spricht hier von „privater Logik“. Es ist dann bestrebt, enorme Anstrengungen zu unternehmen, um sein Selbstwertgefühl zu sichern und baut Sicherungen auf, um das Ich vor Bedrohungen von außen zu schützen und seine private 1 2 Logik zu bewahren und durchzusetzen. Das Arrangieren von Sicherungen ist ihm weitgehend unbewusst. Der Aufbau und die Sicherung einer „privaten Logik“ führen jedoch zur Leugnung und Verfälschung der Realität, so dass es zu einem der Realität nicht angepassten Verhalten kommt, was der Ausgangspunkt für seelische Fehlentwicklungen ist. c) Konditionierungstheorien Eine psychische Störung aus der Sicht der klassischen Konditionierung2 wird erlernt, wenn eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Objekt mit einem Reiz, der als Reaktion bereits eine Störung hervorruft, mehrmals zeitlich und räumlich gekoppelt wird. Dabei stellt die Situation bzw. das Objekt den neutralen Reiz (NS) dar, der durch die Koppelung mit dem unbedingten – störungsauslösenden – Reiz (UCS) und der darauf folgenden Die Grundaussagen der individualpsychologischen Theorie sind in Kapitel 9.2.3 dargestellt. siehe Materialien 3a) des Kapitels 6 30 35 40 45 Kapitel 12 unbedingten Reaktion (UCR) – psychische Störung – zum bedingten Reiz (CS) wird, der die gleiche bzw. eine ähnliche Reaktion – bedingte Reaktion (CR) – auslöst wie der UCR. Exemplarisch gilt das Beispiel des 11 Monate alten Albert, der durch die klassische Konditionierung Angst vor Stofftierchen erlernte: Immer, wenn Albert mit einem Stofftierchen spielte, ertönte im Hintergrund ein 5 NS Stofftier UCS Geräusch NS + UCS Stofftier + Geräusch fürchterliches Geräusch, auf das Albert mit Angst und Schrecken reagierte. Das Geräusch wurde erzeugt, indem man mit einem Hammer auf eine hängende Eisenstange schlug. Das Kind zuckte dabei immer heftig zusammen, fiel nach vorn und verbarg sein Gesicht in der Matratze. Nach mehrmaligen solchen Versuchen konnte man beobachten, dass Albert sofort zu schreien begann, sobald das Stofftierchen nur gezeigt wurde. 75 10 15 keiner spezifischen Reaktion führt zu führt zu führt zu UCR Angst, Schrecken UCR Angst, Schrecken nach mehreren Wiederholungen der Koppelung von NS und UCS: NS übernimmt Signalfunktion CS Stofftier 20 25 führt zu Aus der Sicht der operanten Konditionierung1 kann eine psychische Störung entstehen, wenn ein Mensch mit dem Zeigen einer solchen angenehme Zustände herbeiführen bzw. aufrechterhalten und unangenehme vermeiden, verringern oder beenden kann. 1 siehe Materialien 3b) des Kapitels 6 CR Angst, Schrecken Frau Delly zeigt Symptome der Depression, weil sie durch diese beispielsweise den angenehmen Zustand, dass sie von ihrer Familie Beachtung und Zuwendung bekommt, herbeiführen und aufrechterhalten kann. Sie zeigt die Depression aber auch deshalb, weil sie möglicherweise durch diese den unangenehmen Zustand der Einsamkeit und des Alleinfühlens vermeiden bzw. beenden kann. 30 76 Kapitel 12 Auch Lerndefizite – ein bestimmtes Verhalten wurde nicht erlernt – können zu psychischen Störungen führen. 5 10 15 d) Kognitive Theorien Die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen aus der Sicht von kognitiven Theorien1 hängen mit „falschen“ Gedanken und Bewertungsmustern zusammen, die in den Kognitionstheorien im Gegensatz zu den funktionalen dysfunktionale Kognitionen genannt werden. Unter dysfunktionalen Kognitionen versteht man unangemessene, nicht realitätsgerechte, selbstschädigende und nicht zielführende Gedanken und Annahmen eines Menschen. Sichtweisen wie „Ich bin ein Versager“, „Niemand mag mich, alle sind gegen mich“ oder „Es ist alles so hoffnungslos“ können aus der Sicht kognitiver Theorien eine Depression entstehen lassen und auch durch diese aufrechterhalten werden. 20 “Unser Leben ist das, was unsere Gedanken aus ihm machen.“ (Marc Aurel2) Schon der Gedanke lässt die Muskeln wachsen Brighton (Reuters) Schon allein der Gedanke an sportliche Aktivität zahlt sich nach Angaben von Wissenschaftlern für den Körper aus. Das Gehirn verhalte sich sehr ähnlich, egal, ob ein Mensch tatsächlich Sport treibe oder es sich nur vorstelle, sagte der Sportpsychologe Dave Smith am Samstag. Er ließ Studenten Fingerübungen machen. Eine Gruppe musste ihre Finger regelmäßig beugen, während die andere sich dies nur vorstellte. Bei allen nahm die Muskelstärke zu. 25 30 e) Humanistische Theorien: Die personenzentrierte Theorie Aus der Sicht der personenzentrierten Theorie3 entsteht eine psychische Störung dann, wenn die beiden Ebenen des Wertens – das organismische Erleben als die Verkörperung der Aktualisierungstendenz und das Selbstkonzept – zueinander in Widerspruch stehen, also eine Inkongruenz vorherrscht, und das Selbstkonzept so starr ist, dass es neue Erfahrungen nicht integrieren und so die Inkongruenz nicht auflösen kann, sondern das Individuum mit Abwehr reagiert. Aus der Unvereinbarkeit von organismischem Erleben und Selbstkonzept ergeben sich innerpsychische Spannungen, die das Individuum als einen quälenden Zustand erlebt. Dies ist beispielsweise bei der Depression der Fall: Einerseits sieht sich der Depressive aufgrund seines Selbstkonzeptes sehr stark vom Zuspruch und von der Anerkennung seitens seiner Mitmenschen abhängig. Um Bestätigung, Achtung und Bewunderung zu bekommen und einer befürchteten Missachtung und Ablehnung zu entgehen, versucht sich das Individuum ständig seiner Umwelt anzupassen und tut das, was seine Mitmenschen von ihm erwarten. Dieses ständige Richten nach den Anderen widerspricht aber andererseits dem zu sich selbst führenden Streben nach Autonomie und Ungebundenheit der Aktualisierungstendenz, so dass eine Inkongruenz vorhanden ist. Ist nun das Selbstkonzept zu starr und nicht imstande, diese Inkongruenz aufzulösen, kommt es zu einem inneren Konflikt, welcher sich in einer Depression äußern kann. f) Systemische Theorien Aus systemischer Sicht 4 wird das Individuum nicht isoliert gesehen, sondern als Teil eines Beziehungsfeldes: der Einzelne wird von seinen sozialen Beziehungen (Partner, Familie, (Reuters, 1998, S. 16) 1 2 3 4 Die Grundannahmen kognitiver Theorien sind in Kapitel 1.4.3 und 9.2.4 dargestellt. Marc Aurel (121–180) war von 161 bis 180 römischer Kaiser. Die Grundannahmen der humanistischen Theorien sind in den Kapiteln 1.4.5 und 9.2.5 ausgeführt, die personenzentrierte Theorie ist in Kapitel 9.3 dargestellt. Die Grundannahmen systemischer Theorien sind in Kapitel 1.4.6 dargestellt. 35 40 45 50 55 60 65 70 75 Kapitel 12 5 10 15 20 Freunde, Kollegen, Gesellschaft) beeinflusst und wirkt zugleich durch sein Verhalten und Handeln auf diese. Entsprechend dieser Grundannahme gehen systemische Theorien davon aus, dass psychische Störungen im sozialen System entwickelt und aufrechterhalten werden. Störungen wie Weglaufen von der Familie, aus der Schule oder dem Heim, Stehlen, Gewaltanwenden und dgl. können nur in Verbindung mit dem System wie beispielsweise ein Schwanken in den Beziehungen zwischen Bindung und Ausstoßung, Fürsorge und Ablehnung verstanden werden. Stimmt im System bzw. in seinen Strukturen etwas nicht – ist es also nicht mehr in der „richtigen“ Art im Gleichgewicht –, so entsteht an einem Element in diesem System eine Störung, die der Aufrechterhaltung eben dieses Systems dient. Eine Magersucht – die rigide Einschränkung der Nahrungsaufnahme mit dem Ziel, Körpergewicht zu verlieren - kann beispielsweise den Versuch darstellen, die Ehe der Eltern zu retten, indem die Tochter durch diese Störung die beiden Elternteile aneinander zu binden versucht. 77 25 „Nicht das einzelne Individuum, sondern das System, in dem sich einer befindet, ist ‚gestört’.“ (Jaeggi, 2011, S. 186) Sehr eng mit den systemischen Theorien hängt der Konstruktivismus zusammen. Aus der Sicht des Konstruktivismus entstehen psychische Störungen aufgrund falscher Bedeutungsgebung und werden auch dadurch aufrechterhalten. Eine solche falsche Bedeutungsgebung ist beispielsweise „Die schlechten Eigenschaften unseres Sohnes hat er von seinem Opa geerbt, der auch nicht gerade der Beste war.“ Quelle: eigener Text 30 35 78 Kapitel 12 4. Der Krieg in mir – die Geschichte einer Magersucht 5 10 15 20 25 Anna war 12 Jahr alt, als sich ihr Körper merklich veränderte. „Meine Brüder waren die ersten, die mich auf meine Brüste angesprochen haben. Daraufhin habe ich mich wütend auf mein Zimmer verzogen“, erzählt sie. Dann schildert sie, wie sie ihre weiblichen Formen hasste, „den dicken Bauch und die fetten Oberschenkel“. Zuerst probierte Anna eine Trennkost aus. Drei Monate später machte Anna aber keine Trennkostdiät mehr, sie hungert, treibt täglich bis zu zwei Stunden Sport und hat damit einen Vernichtungskrieg gegen den eigenen Körper begonnen. „Ich bin hässlich!“ Sie schleicht sich mehrmals täglich ins elterliche Schlafzimmer, mustert im Spiegelschrank ihren nackten Körper und findet ihn schrecklich. Schön und schlank will Anna sein – so wie ein Model. Sie will hohle Wangen haben und dünne Beine. Annas Alltag dreht sich jetzt zwanghaft ums Essen. Sie plant ihre Mahlzeiten immer detaillierter. Irgendwann funktioniert ihr Körper nicht mehr wie gewohnt. Die Gymnasiastin hat Konzentrationsprobleme, im Sportunterricht versagt sie aus Schwäche, ihre Periode bleibt aus. Manchmal macht ihr das Angst, aber die verdrängt Anna sofort. Die Sorge, dick zu werden, ist übermächtig. Außerdem empfindet sie tief drinnen ein gewisses Hochgefühl und so etwas wie Stärke: Toll, wie ich meinen Körper beherrsche. Doch im Lauf der Zeit schwinden – mit den Pfunden – auch diese Gefühle. Anna fühlt sich schlecht und merkt, wie sich allmählich alles verselbstständigt, wie sie die Befehlsgewalt über ihr Handeln verliert. Nun will sie nicht mehr hungern, kann aber gar nichts mehr essen. Eine Stimme in ihrem Kopf bremst konsequent ihren Appetit: „Wenn du in dieses Brötchen beißt, wirst du noch fetter.“ Eines Abends zieht ihr die Mutter das Schlafshirt hoch und schaut entsetzt auf den dürren Körper ihrer Tochter: „Anna, du bist krank!“ Was jetzt? Die Eltern reagieren hilflos auf die Forderungen ihrer Tochter. Sie verbietet ihnen einfach, sie auf das Essen anzusprechen. Wenn die beiden Anna trotzdem Vorhaltungen machen, isst sie aus Trotz gar nichts mehr. Dann kippt Anna in der Schule im Unterricht um – der Kreislauf versagt. Als sie ihre Eltern nun ins Nürnberger Klinikum bringen, ist Anna 13 Jahre alt und 1,68 Meter groß. Gewicht: 38,5 Kilogramm. Die ärztliche Diagnose lautet: Anorexia nervosa – Magersucht. Quelle: Beyer, in: Nürnberger Nachrichten, 25./26.05.2002 30 35 40 45 50 55 Kapitel 13 79 Materialien Kapitel 13 1. Beratungsstellen 5 10 15 20 25 30 35 40 Das Beratungsproblem kann sehr unterschiedliche Bereiche betreffen. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Beratungsstellen. Hauptanwendungsbereiche sind Telefonseelsorge, Schwangerschaftskonflikt-, Paar-, Familien-, Erziehungs-, Schulberatung, Drogen- und Suchtberatung und Schuldnerberatung. Die Telefonseelsorge will Menschen in Krisensituationen oder Problemen aller Art unter Wahrung der Anonymität zu jeder Tages- und Nachtzeit am Telefon die Möglichkeit bieten, ein helfendes Gespräch zu führen und durch Zuhören und Verweisen auf kompetente Fachstellen unterstützen. Die Schwangerschaftskonfliktberatung ist die Voraussetzung für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch. Dabei handelt es sich um ein gesetzliches Pflichtberatungsangebot für Schwangere in einer Not- und Konfliktsituation innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen. Dessen Ziel ist es, der Frau eine Perspektive für ein Leben mit dem heranwachsenden Kind zu eröffnen und diese dabei zu unterstützen, eine persönliche und verantwortliche Entscheidung zu treffen. Die Paarberatung will Beziehungsprobleme zwischen Lebenspartnern klären und aufarbeiten. Die Familienberatung bezieht sich im weitesten Sinne auf alle Probleme und Aufgaben, die Familien zu bewältigen haben. Die Unterstützung kann von Einzelnen, Paaren, Familien oder Teilfamilien in Anspruch genommen werden. Die Erziehungsberatung hat die Klärung und Bewältigung von individuellen und familienbezogenen Problemen, die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Erziehungsberechtigten bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie die Unterstützung der 1 Betroffenen bei Trennung oder Scheidung zum Ziel. Ihr Gegenstand sind allgemeine Fragen zur Entwicklung und Erziehung des Kindes bzw. Jugendlichen sowie besondere Probleme in der Entwicklung und/oder der Erziehung dieser. Die Schulberatung ist ein kostenfreies Beratungsangebot für Schüler und deren Eltern sowie für Lehrer. Sie gliedert sich in drei Bereiche: – Die schulpsychologische Beratung bezieht sich auf Krisenintervention, Lern- und Leistungsschwierigkeiten, Gewaltprävention, Fortbildungen zu psychologischen Themen und organisationspsychologische Beratung wie etwa bei Fragen der Schulentwicklung, Lehrergesundheit oder Mobbing1; – Die Schullaufbahnberatung gibt Hilfe für eine vorzeitige Einschulung oder Rückstufung und eine Prognose der Eignung für weiterführende Schulen. – Die Schulsozialarbeit ist ein Aufgabengebiet der sozialen Arbeit in der Schule und widmet sich verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen, welche aus diesem Grund erhebliche Schulschwierigkeiten zeigen und/oder das Schulleben wesentlich stören. Drogen- und Suchtberatung ist ein Angebot für suchtgefährdete und süchtige Menschen sowie deren Angehörige von Einrichtungen der Gesundheits- und Jugendpflege und freien Trägern. Schuldnerberatung will Hilfestellung geben für Menschen mit Schuldenproblemen in psycho-sozialer, finanzieller und rechtlicher Hinsicht. Der Begriff „Mobbing“ ist in Kapitel 5.4.1 geklärt. Quelle: Hobmair, 2010, S. 46 45 50 55 60 65 70 75 80 Kapitel 13 2. Die Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieangebote 5 10 15 Gerade die Klinische Psychologie ist sehr anfällig für Heilverfahren und Therapieverfahren, die nicht wissenschaftlich abgesichert sind und damit ihr Erfolg in Frage gestellt werden muss. Ein großer Psychomarkt hat sich entwickelt, der mit wissenschaftlich fundierten Therapieverfahren nichts oder sehr wenig zu tun hat und den Leidensdruck und die psychische Belastung von Menschen mehr oder weniger ausnutzt. Es gibt mittlerweile über 100 Therapieverfahren, von denen nur sehr wenige anerkannt sind. Die psychotherapeutische Praxis gilt als wissenschaftlich fundiert, wenn (vgl. Perrez, 20053, S. 81) – die beabsichtigte Wirksamkeit therapeutischen Vorgehens nachgewiesen ist, 20 25 30 35 40 – die Wirksamkeit nicht – ausschließlich – auf die positive Erwartung, die Überzeugung bzw. den Glauben des Klienten an das therapeutische Vorgehen zurückzuführen ist, – die Maßnahmen und Möglichkeiten aus bewährten psychologischen Gesetzmäßigkeiten, in der Regel aus einer Theorie, abgeleitet sind. Therapeutisches Vorgehen muss von einem wissenschaftlich abgesicherten Theoriegebäude her begründbar sein, welches zumindest die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen erklären kann (vgl. Jaeggi, 2011, S. 67 f.). Die Basis wissenschaftlicher Fundierung bilden Theorien der Verhaltensänderung und Persönlichkeitstheorien, von denen sich Maßnahmen und Möglichkeiten zur gezielten Veränderung von Erleben und Verhalten „ableiten“ lassen. Ein wissenschaftliches Gremium von Ärzten und Psychotherapeuten prüft, ob für ein psychotherapeutisches Verfahren der wissenschaftliche Nachweis seiner Wirksamkeit erbracht wurde und anerkannt wird oder nicht. Zurzeit sind die analytische Psychotherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie, 1 2 die Verhaltenstherapie mit den kognitiven Psychotherapien, die klientenzentrierte Psychotherapie und die systemische Therapie/ Familientherapie1 als wissenschaftliche Verfahren anerkannt, jedoch nur die ersten drei genannten – analytische Psychotherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie und Verhaltenstherapie mit kognitiven Psychotherapien – können mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Die klientenzentrierte Psychotherapie ist nur für bestimmte Störungsbilder anerkannt (vgl. Renneberg u. a., 2009, S. 25). Forschungen haben gezeigt, dass Beratung und Psychotherapie erfolgreich sind, wenn folgende Merkmale verwirklicht werden. Wir sprechen hier von Wirkfaktoren (vgl. Grawe, 2005, S. 4–11): – Voraussetzung ist eine tragfähige Beziehung, in der der Klient Wertschätzung und Akzeptanz erfährt. Der Klient muss sich ernst genommen fühlen, mit dem was er denkt, fühlt und sagt, er selbst muss offen und bereit sein, sich auf eine Beratung oder Psychotherapie einzulassen (Wirkfaktor „Tragfähige Beziehung“). – Die Fähigkeiten, Ressourcen2 und die Motivation des Klienten werden erfragt, anerkannt und genutzt (Wirkfaktor „Ressourcenaktivierung“). – Probleme, die verändert werden sollen, werden in der Therapie bzw. in der Beratung direkt erfahrbar und erlebbar gemacht (Wirkfaktor „Problemaktualisierung“). – Der Klient lernt zu verstehen, wie seine Probleme entstanden sind, welchen Sinn sie für ihn haben könnten und wie er sie lösen kann (Wirkfaktor „Klärung“). – Der Klient wird aktiv unterstützt, seine Probleme anzugehen und zu bewältigen (Wirkfaktor „Problembewältigung“). Diese therapeutischen Verfahren sind in Abschnitt 13.2 dargestellt. Ressourcen bezeichnet Kräfte eines Individuums, die zur Bewältigung einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen (vgl. Kapitel 5.5.5). 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Kapitel 13 81 Wirkfaktoren der Beratung und Psychotherapie tragfähige Beziehung Ressourcenaktivierung Problemaktualisierung Klärung Problembewältigung Quelle: eigener Text 3. Weitere Techniken des verhaltensorientierten Handlungskonzeptes auf der Grundlage der operanten Konditionierung 5 10 15 Eine weitere Methode zum Aufbau von komplexen Verhaltensmustern erfolgt durch die Verkettung einzelner Verhaltensweisen, auch chaining1 genannt. Komplexes Verhalten wird systematisch in kleine Verhaltensschritte aufgeteilt. Es muss bestimmt werden, welche Einzelreaktionen der Kette im Verhaltensrepertoire des Klienten bereits vorhanden sind und welche bis hin zum Endziel erst aufgebaut werden müssen. Bei der Einübung der Verhaltenselemente wird mit dem letzten Element der Kette begonnen. Danach erfolgt ein stufenweiser Aufbau dieser Kette von Verhaltensweisen bis hin zum Zielverhalten, begleitet durch den Einsatz positiver Verstärker. Chaining meint also den systematischen Aufbau komplexer Verhaltensmuster, ausgehend vom letzten Glied der Verhaltenskette bis hin zum erwünschten Zielverhalten. Tobias ist Patient in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er leidet unter sozialen Ängsten und soll lernen, allein mit Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen. Von der Betreuerin unterstützt kann er mit einem Kind ein Spiel spielen. Als nächste Schritte wurden bestimmt: 1. Er übt, weiterzuspielen, auch wenn Betreuerin weggeht. 2. Er fragt ein Kind, ob es mit ihm spielt. 20 25 1 2 3. Er macht bei Gruppenspielen mit, die betreut sind. 4. Er übt, zu einer frei spielenden Gruppe dazuzukommen. Ergänzende Methoden zur Verhaltensanbahnung und Erleichterung sind das Prompting und das Fading.2 Zunächst wird beim Prompting das zu lernende Verhalten unter aktiver Mitarbeit und verbaler Hilfestellung des Therapeuten ausgeführt. Allmählich wird beim Fading die anfangs gegebene Hilfestellung immer seltener. Ansätze von selbständiger Ausführung des Verhaltens werden positiv verstärkt. Bei völlig eigenständiger Ausführung unterbleibt schließlich auch die Verstärkung. Prompting meint also eine aktive und verbale Hilfestellung bei der Ausführung eines erwünschten Verhaltens, Fading bedeutet das schrittweise Ausblenden dieser Hilfestellung. Friedrich schafft es nie, einen Vortrag zu halten oder sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Da Friedrich deshalb nur noch ungern zur Schule geht, begleiten ihn sein Vater oder seine Mutter gelegentlich, insbesondere dann, wenn er ein Referat halten muss. Sie reden ihm gut zu, er kann auf dem Schulweg die Inhalte nochmals durchsprechen. Hat er bereits mehr Sicherheit gewonnen, ist diese Form der Unterstützung nicht mehr nötig. chaîne (franz.): die Kette promptus (lat.): sofort, direkt, ohne Zeitverzug; to fade (engl.): verblassen, schwinden 30 35 40 45 50 55 82 Kapitel 13 5 10 15 20 Eine in der Erziehungspraxis weit verbreitete Methode ist das Münzverstärkungsprogramm, Token Economy, genannt. Token können beispielsweise symbolische Münzen oder Punkte sein, die von den Bezugspersonen des Klienten für das Zeigen des vorher bestimmten Zielverhaltens im Sinne einer positiven Verstärkung gegeben werden. Denkbar ist auch die Wegnahme bereits erhaltener Token als Form einer Bestrafung, um unerwünschtes Verhalten zu reduzieren. Ziel dabei ist, dass die Fremdkontrolle durch eine Selbstkontrolle abgelöst wird und der Klient sich selbst verstärkt oder bestraft. Voraussetzung für die Anwendung dieser Technik ist allerdings die Fähigkeit, etwas als verstärkend zu erkennen. Der Wert dieser Methode besteht darin, dass Token in jeder Situation anwendbar sind und erst später gegen andere begehrte Verstärker eingetauscht werden können, um individuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Die Psychotherapeutin hat mit Georg, der sehr schüchtern ist und sich niemanden anzusprechen traut, das Token – Verstärkungsprogramm besprochen. Ziel ist der Aufbau von Kontaktverhalten. Gelingt es ihm, einen Mitschüler anzureden, fügt er als Belohnung in der von ihm geführten Liste einen Punkt hinzu, vermeidet er soziale Situationen oder flüchtet aus diesen, nimmt er als Bestrafung einen Punkt weg. Hat er für die Ausführung erwünschter, zielorientierter Verhaltensweisen insgesamt 20 Punkte gesammelt, darf er mit seinem Vater ins Fußballstadion gehen, das er gerne machen will. 25 30 35 Eine in der Praxis beliebte Technik zum Abbau eines problematischen Verhaltens ist das Time-out (Auszeit). Zeigt ein Kind ein Fehlverhalten, werden ihm alle potentiellen Verstärker für dieses Verhalten entzogen, indem es in eine Situation gebracht wird, die jede Form der positiven Verstärkung ausschließt. Nachdem Anton eine Krankenschwester in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätlich angegriffen hat und laut tobt, wird er von zwei Erziehern in den Time-out-Raum (reizarmer Raum) gebracht. Wird in Folge eines unangemessenen Verhaltens ein bereits erworbener sekundärer Verstärker entzogen, spricht man von response cost (Folgekosten). Der Einsatz dieser Technik erfolgt häufig in Verbindung mit dem Tokensystem. Weil Friedrich sein Referat nicht vorbereitet hat, entzieht ihm die Mutter einen Token oder das Taschengeld. 40 45 50 55 Time–out und response cost führen durch den Entzug eines positiven Verstärkers zur Löschung des problematischen Verhaltens. Quelle: Hobmair, 2012, S. 76 f. 4. Die Neuropsychotherapie 5 Wissenschaftliche Grundlagen der Neuropsychotherapie sind die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, wie der Neuropsychologie, welche Zusammenhänge zwischen Erleben und Verhalten eines Menschen und den diesem zugrunde liegenden neurobiologischen Prozessen untersucht und erklärt. Im Gehirn sind dysfunktionale1 neuronale Aktivitätsmus- 1 ter aktiv, die zu einem nicht angepassten Erleben und Verhalten führen können. Die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen hängt demnach mit „falschen“ neuronalen Verknüpfungen im Gehirn zusammen. Der bekannteste Vertreter dieser Therapieform ist Klaus Grawe, der in seinem 2004 dysfunktional (lat.): unangemessen, nicht realitätsgerecht, selbstschädigend 10 15 Kapitel 13 5 10 15 20 25 30 35 40 erschienenen Buch „Neuropsychotherapie“ schildert, wie Erkenntnisse der Neurowissenschaften für die Psychotherapie nutzbar gemacht werden können. Klaus Grawe (1943–2006) war Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern. Bekannt geworden ist er vor allem durch sein 1994 erschienenes Buch „Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“, das er zusammen mit Ruth Donati und Friederike Bernauer herausgegeben hat und in welchem er 900 Studien zur Wirksamkeit von verschiedenen Therapieformen vorstellt. Er ist auch der Begründer des Instituts für Psychologische Therapie in Zürich, dessen Leiter er war. Grawe versteht unter Neuropsychotherapie, dass sich die Psychotherapie die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zunutze macht. Im Gegensatz zur Verhaltenstherapie stellt das Beseitigen von unangemessenen Erlebensund Verhaltensweisen nicht das Ende, sondern den Anfang der Therapie dar; es darf nicht nur die Störung selbst bekämpft werden, sondern auch ihre Grundlagen, die Grawe in der entsprechenden Aktivierung des Gehirns sieht (vgl. Grawe, 2004, S. 36 ff.). Grawe beschreibt in seinem Modell der Neuropsychotherapie (2004), wie sich die Erkenntnisse der Hirnforschung auf die Psychotherapie übertragen lassen. Dabei geht es darum, durch psychologische Vorgehensweisen neuronale Strukturen zu verändern und damit psychische Störungen abzubauen. Veränderung geschieht, indem Synapsen1, die nicht so gut gebahnt sind, über möglichst lange Zeit immer wieder und intensiv aktiviert werden. Notwendig ist die bewusste und willentliche Mitwirkung des Patienten, denn er muss sich mit Gefühlen und Verhalten auseinandersetzen, die er sonst vermeidet. 1 2 83 „Diese Aktivierung der neuen neuronalen Erregungsmuster muss möglichst oft wiederholt werden, sonst werden die neuen neuronalen Verbindungen nicht fest genug gebahnt. Wenn sich die Therapie zu sehr oder zu lange mit der Feststellung und Analyse von Problemen aufhält, werden keine neuen, positiveren neuronalen Erregungsmuster ausgebildet.“ (Grawe, 2004, S. 55 f.) Wesentlich ist bei der Neuropsychotherapie, dass die gleichzeitig ablaufenden neuronalen2 Prozesse übereinstimmen, konsistent sind. Hans sieht in der Diskothek eine junge Frau, die er gern ansprechen möchte. Er sehnt sich nach einer Beziehung. Gleichzeitig fürchtet er abgelehnt zu werden. Er hat einerseits die Sehnsucht nach Bindung, anderseits Angst vor der Kränkung seines Selbstwertgefühls – er erlebt Inkonsistenz. Würde er aber empfinden, dass die junge Frau ihm nicht gefällt, äußert sich dieses Erleben in Entspannung und Konsistenz. 45 50 „Das Streben nach Konsistenz bzw. das Verhindern oder die Reduktion von Inkonsistenz wird nur ausnahmsweise als bewusstes Ziel oder Motiv erlebt. Konsistenzregulation findet ganz überwiegend unbewusst statt und durchzieht so sehr das ganze psychische Geschehen, dass es angemessen erscheint, von einem obersten (…) Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen.“ (Grawe, 2004, S. 191) Hätte Hans in seinem Leben ganz überwiegend Bedürfnis befriedigende Erfahrungen gemacht und die Sicherheit, dass ihm eine Ablehnung weniger ausmacht, als es nicht probiert zu haben, dann fällt es ihm leichter, trotz Angst, die Frau anzusprechen. vgl. Abschnitt 3.1.2 Neuronen (neuron, griech.: Nerv, Sehne), die Grundeinheiten unseres Nervensystems, dienen der Informationsverarbeitung und -speicherung. 55 60 84 Kapitel 13 5 10 Die Neuropsychotherapie ist in diesem Sinne keine „neue“ Therapieform, sie lehnt sich in ihrem Vorgehen sehr an der kognitiven Psychotherapie1 an (vgl. Kasten, 2007, S. 272 ff.). Dies ist nicht verwunderlich, da neurowissenschaftliche Erkenntnisse lediglich als Basisvorgänge gesehen werden, auf deren Fundament das Verständnis menschlichen Erlebens und Verhaltens ergänzt wird (vgl. Schandry, 20113, S. 21). Seit 2012 können Patienten, die etwa aufgrund eines Schlaganfalls oder Unfalls eine Hirnschädigung haben, die ambulante Therapie – ein angeleitetes neuropsychologisches Training und therapeutische Unterstützung – über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen (vgl. o. A., Psychologie Heute, Nr. 03/2012, S. 58). Die Neuropsychotherapie Wissenschaftliche Grundlage: neuropsychologische Erkenntnisse Grundannahme: Im Gehirn sind neuronale Aktivitätsmuster aktiv, die zu einem bestimmten Erleben und Verhalten führen. Zielsetzung: Veränderung von neuronalen Strukturen durch psychologische Mittel Quelle: eigener Text 1 vgl. Abschnitt 13.2.3 15 85 Literaturverzeichnis Allhoff, Dieter W./Allhoff, Waltraud: Rhetorik & Kommunikation. Ein Lehr- und Übungsbuch, 15. 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