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Schizophrenie... „bedeutet für
mich gespaltene Persönlichkeit“:
Ein Programm gegen Stigmatisierung
von Schizophrenie in Schulen
H. Sulzenbacher, R. Schmid,
G. Kemmler, Ch. De Col, U. Meise 93
Jahrgang 16
Nummer 1 + 2 – 2002
1. + 2. Quartal
Behandlungsvorstellungen der
Bevölkerung zu Depression und
Schizophrenie
Ch. Lauber, C. Nordt, L. Falcato,
W. Rössler
Editorial
„Es ist leichter, ein Atom zu
zerstören, als ein Vorurteil“
U. Meise, W.W. Fleischhacker,
W. Schöny
1
Übersichtsarbeiten
Eines der letzten Hindernisse einer verbesserten psychiatrischen Versorgung:
Das Stigma psychischer Erkrankungen
N. Sartorius
5
Stigmarelevante historische Wurzeln
des Schizophreniekonzepts in Kraepelins, Bleulers und Schneiders Werk
H. Katschnig
11
Organ der
Österreichischen Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie
99
Die Bewertung von Depression
und Schizophrenie als psychische
Krankheit und deren Einfluss auf die
Hilfeempfehlung
C. Nordt, L. Falcato, Ch. Lauber,
W. Rössler
103
Ist das www für die Anti-StigmaKampagne nutzbar?
H. Sulzenbacher, Ch. De Col,
K. Lugger, U. Meise
Kommentare
Stigma-Erfahrungen aus erster Hand
Ch. Horvath
26
Stigmatisierung als Folge intrapsychischer Abwehrprozesse – der psychotherapeutische Gesichtspunkt
H. Meller
35
22
Angehörige – Parias am Rande
der Psychiatrie ?
I. Rath
„Die Psychiatrie braucht Menschen,
keine Leute“
W. Kantschieder
109
29
Interventionen zur Reduzierung
des Stigmas der Schizophrenie:
Konzeptuelle Überlegungen
M. C. Angermeyer, B. Schulze
Stigma – ein Kommentar aus gerontopsychiatrischer Perspektive
J. Wancata
115
39
Originalarbeiten
Einstellungen der österreichischen
Bevölkerung zu Schizophrenie
A. Grausgruber, H. Katschnig,
U. Meise, W. Schöny
54
Das Image der Psychopharmaka in der
österreichischen Bevölkerung
U. Meise, A. Grausgruber,
H. Katschnig, W. Schöny
68
Perspektivenwechsel: Stigma aus der
Sicht schizophren Erkrankter, ihrer
Angehörigen und Mitarbeitern in der
psychiatrischen Versorgung
B. Schulze, M.C. Angermeyer
78
Soziale Distanz von an Schizophrenie
Erkrankten gegenüber psychisch Kranken
Ch. De Col, P. Gurka,
E. Madlung-Kratzer, G. Kemmler,
H. Meller, U. Meise
89
1+2
02
110
Rechtliche Benachteiligung
psychisch Kranker in Österreich
K. Gutiérrez-Lobos
Schizophrenie hat viele Gesichter:
Die österreichische Kampagne
zur Reduktion des Stigmas und der
Diskriminierung wegen Schizophrenie
W. Schöny
48
Klinik, Diagnostik, Therapie und
Rehabilitation
Schriftleitung
F. Gerstenbrand, Wien
H. Hinterhuber, Innsbruck
K. Jellinger, Wien
Stigma hat Tradition: Zum historischen
Hintergrund der Stigmatisierung
H. Hinterhuber
117
Rezensionen
Katschnig H., Donat H., Fleischhacker
W. W., Meise U.: 4 x 8 Empfehlungen
zur Behandlung von Schizophrenie
J. Wancata
21
A. Finzen: Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit
Vorurteilen und Schuldzuweisungen
R. Schmid
37
U. Hoffman-Richter: Psychiatrie in der
Zeitung. Urteile und Vorurteile
A. Grausgruber
47
J. Guimón, W. Fischer, N. Sartorius:
The Image of Madness – the public
facing mental illness and psychiatric
treatment
U. Meise
88
Laudatio
Hans Georg Zapotoczky
121
In Memoriam
Univ.-Prof. Dr. W. Pöldinger
123
Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle
http://www.dustri.de
(1)
Verantwortliche
Herausgeber
L. Deecke, Wien
F. Gerstenbrand, Wien/Innsbruck
H. Hinterhuber, Innsbruck
K. Jellinger, Wien
W. Poewe, Innsbruck
H. G.Zapotoczky, Graz
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F. Gerstenbrand, Wien
(Neurologie)
H. Hinterhuber, Innsbruck
(Psychiatrie)
K. Jellinger, Wien
(Grundlagenforschung)
Redaktionsdirektorin
F. S.Tschabitscher,Wien
Redaktionssekretäre
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P. König, Rankweil
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E. Rumpl, Klagenfurt
B. Saletu, Wien
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W .Schöny, Linz
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Internationaler
Wissenschaftlicher
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Y. Agid, Paris
J. Angst, Zürich
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P. Berner, Wien
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Th. Brandt, München
G. B. Cassano, Pisa
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K. Einhäupl, Berlin
P.-A. Fischer, Frankfurt
H. J. Freund, Düsseldorf
B. Gallhofer, Gießen
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W. Hacke, Heidelberg
D. Hadjiev, Sofia
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S. R. Hirsch, London
G. E. Hogarty, Pittsburgh
D. Kömpf, Lübeck
W. Koos, Wien
A. Korczyn, Tel Aviv
H. P. Ludin, St.Gallen
C. H. Lücking, Freiburg
W. Maier, Bonn
J. M. Martinez-Lage, Pamplona
K. Maurer, Frankfurt
H. J. Möller, München
B. Müller-Örlinghausen, Berlin
F. Müller-Spahn, Basel
J. Olesen, Kopenhagen
G. Pendl, Graz
F. Poustka, Frankfurt
H. Reichmann, Dresden
F. Resch, Heidelberg
B. Richling, Salzburg
P. Riederer, Würzburg
N. Sartorius, Genf
W. Spiel, Wien
G. Stern, London
E. Tolosa, Barcelona
J. Toole, Winston-Salem
K. Twerdy, Innsbruck
N. V. Vereshchagin, Moskau
M. Yahr, New York
Österreichische
Gesellschaft für
Psychiatrie und
Psychotherapie
Präsident: W. Schöny, Linz
(2)
»Neuropsychiatrie« veröffentlicht Übersichten,
Originalarbeiten, Kasuistiken, aktuelle, kurze
wissenschaftliche Mitteilungen, Fragen aus der
Praxis, Briefe an die Herausgeber, Leseranfragen
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(3)
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eingeschlossen.Abbildungen, Legenden, Tabellen
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Seiten eingereicht werden.
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in deutscher und englischer Sprache (ausführlicher) einschließlich der Titelzeile (möglichst kurz
und prägnant, eventuell mit Untertitel) sowie die
Schlüsselwörter bzw. Key words. Diese Zusammenfassung sollte vor allem auf die Ergebnisse
eingehen. Die wesentliche Aussage einer Arbeitsollte in einem abschließenden Satz (EssentialSentence) zusammengefaßt werden. Verlag und
Schriftleitung bemühen sich umderen Anpassung
an die gängigen Datenbanken. Abkürzungen und
hochspezialisierte Begriffe sollen möglichst vermieden und müssen in jedem Falle auf gesondertem Blatt aufgelistet und erklärt werden. Die Erklärungen werden als Fußnote der Arbeit vorangestellt.
Arzneimittel müssen mit ihren internationalen
Freinamen angegeben werden. Eingetragene
Handelsnamen werden als solche nicht besonders
kenntlich gemacht.
Zu jeder Arbeit benötigen wir Namen und Ort der
Institution, in welcher der Autor während der Erarbeitung der Untersuchungsergebnisse tätig war.
Am Schluß der Veröffentlichung soll die vollständige Anschrift des Verfasser,evtl.auch seine
Telefonnummer, stehen.
Methoden
Die angewendeten Methoden sollen mit den relevanten Literaturbelegen präzise beschrieben werden.
Schreibweise
Es wird die eingedeutschte Orthographie verwendet. Soweit es sich um Spezialnamen, Arzneibezeichnungen,Termini technici und Nomina anatomica handelt, werden diese nicht eingedeutscht.
Abbildungen und
Tabellen
Abbildungen und Tabellen bitten wir in reproduktionsfähigem Zustand gesondert und durchgehend numeriert dem Manuskript beizulegen. Farbige Abbildungen (am besten von Farbfotos) gehen zu Kosten des Autors. Der Kostenvoranschlag ist auf Wunsch vom Verlag erhältlich. Legenden zu Abbildungen und Tabellen werden auf
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entsprechenden Textstellen erleichtern die Arbeit
der Schriftleitung.
Zitate
Namen von Autoren sollen im Text nicht aufgeführt werden; es genügt als Zitat die entsprechende Ziffer des Literaturverzeichnisses.
Literaturverzeichnis
Literaturangaben sollen auf etwa 20 grundlegende Werke und Übersichtsarbeiten beschränkt
werden. Das Literaturverzeichnis soll alphabetisch geordnet und fortlaufend numeriert sein.
Arbeiten, die in Zeitschriften erschienen sind:
[1] Rittmannsberger H., W. Sonnleitner, J.
Kölbl, W. Schöny: Plan und Wirklichkeit in
der psychiatrischen Versorgung.Ergebnisse der Linzer Wohnplatzerhebung. Neuropsychiatrie 15, 5-9 (2001).
Bücher:
[2] Hinterhuber H., W. Fleischhacker: Lehrbuch der Psychiatrie. Thieme, Stuttgart
1997.
Beiträge in Büchern:
[3] Albers M.: Kosten und Nutzen der tagesklinischen Behandlung. In: Eikelmann B., T.
Reker, M. Albers: Die psychiatrische
Tagesklinik. Thieme, Stuttgart 1999.
Korrekturabzüge
Nach Anfertigung des Satzes erhält der verantwortliche Autor einen Fahnenabzug des Textes,
der Tabellen und Abbildungen. Die Korrekturfahnen sind auf Druckfehler und sachliche Fehler
durchzusehen.Abbildungen sowie Tabellen sind
auf richtige Numerierung, Stellung und Legenden
zu überprüfen. Die Rücksendung der Korrekturfahnen in der vom Verlag gegebenen Frist ist notwendig, ansonsten wird die Zustimmung des Autors zur Druckfreigabe vorausgesetzt.
(4)
EDITORIAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, Seite 1 – 4
„Es ist leichter, ein Atom
zu zerstören, als ein Vorurteil“*
Ullrich Meise1, W. Wolfgang Fleischhacker1 und Werner Schöny2
1Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
2Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Bereits eine Ausgabe der „Psychiatrischen Praxis“ (Oktober 2000)
wurde der Stigmathematik gewidmet
[2, 4, 7, 12, 17, 18, 23, 32]. Dieses
Themenheft der „Neuropsychiatrie“
beinhaltet in erster Linie jene Referate, die anlässlich des Workshops „Es
ist leichter, ein Atom zu zerstören, als
ein Vorurteil – Schizophrenie und
Stigma“ am 19. Donausymposium
für Psychiatrie (Linz, 15–17 Juni
2000) präsentiert wurden. Mit diesem
Workshop wurde die österreichische
Anti-Stigma-Kampagne „Schizophrenie hat viele Gesichter“ eingeläutet
[30]. Da das Stigma zu einem wesentlichen Anteil die Behandlung und
Genesung von psychisch Kranken
behindern kann, wurden seitens verschiedener NGO’s und großer Organisationen, wie der WHO oder der
Weltpsychiatrischen
Vereinigung
(WPA),
Anti-Stigma-Kampagnen
initiiert. Österreich gehört zu den
ersten Ländern, die sich dem weltweiten WPA-Programm „Against
Stigma and Discrimination because
of Schizophrenia“ [29] angeschlossen haben. Auf Grundlage der WPARichtlinien [17, 35] und den Erfahrungen, die in der Provinz Alberta
(Kanada) mit der Anti-Stigma-Kampagne gemacht wurden, fanden bis
Ende letzten Jahres entsprechende
Aktivitäten im gesamten Bundesgebiet statt**[28].
Wären Anti-Stigma-Kampagnen
so angelegt, dass sie allein durch breite Aufklärung meinen, festgelegte
Überzeugungen der Gesellschaft verändern zu können, hätten jene recht,
die dies als utopisch erachten und diesen Aktivitäten kritisch gegenüberstehen [8]. Würde sich die Anti-Stigma-Arbeit ausschließlich auf den Zeitraum der Kampagne begrenzen, werden jene Skeptiker bestätigt, die
meinen, dass auch dieser wichtigen
Thematik das Schicksal kurzlebiger
und luftiger Zeitgeistigkeit beschieden sei. Befasst man sich mit dieser
Materie, so wird relativ rasch deutlich, dass diese Aktivitäten über viele
Jahre fortgeführt werden müssen und
es in erster Linie notwendig ist, ausreichend Mitstreiter zu gewinnen.
Daher richtet sich die Anti-StigmaKampagne nicht nur an die Allgemeinbevölkerung, sondern vor allem
an Gruppen, die als Schlüsselpersonen für die angestrebten Einstellungsänderungen wichtig sind [10, 13].
Durch die Vermittlung von Techniken
zum „Stigma-Management“ sind
auch Patientinnen und Patienten Zielgruppe dieser Aktivitäten [7, 8, 9].
Die „Kampagne“ [30] dient dazu,
Aufmerksamkeit zu wecken. Sie ist
ein erster Schritt, dem langfristig
angelegte Aktivitäten folgen müssen.
Ein Schwerpunkt der Österreichischen Kampagne wurde auf die Prävention des Stigmas gelegt. Dabei
wurden im Rahmen der Gesundheitserziehung Schülerinnen und Schüler
mit einer von schizophrener Erkrankung Betroffenen konfrontiert. In diesem Unterricht wurde Information
durch Patienten und Experten gemeinsam vermittelt [23, 33]. Insgesamt erfreuten sich diese Schulprogramme einer hohen Akzeptanz und
haben zu weiteren Projekten im
Schulbereich geführt.
Repräsentative Bevölkerungsumfragen verdeutlichen, dass es sich bei
den Bemühungen zur „Entstigmatisierung“ psychischen Krankseins um
ein langfristiges Projekt handelt. Die
Einstellung der Bevölkerung gegenüber psychisch Kranken, ist nach wie
vor von mangelndem Wissen, Irrationalität und Emotionalität geprägt. Vor
dem Beginn der Anti-Stigma-Kampagne führten wir eine Untersuchung zu den Einstellungen der österreichischen Bevölkerung gegenüber
Schizophrenie und Psychopharmaka
durch [11]. Ein Ergebnis dieser
Befragung war, dass immerhin ein
Fünftel der Bevölkerung mit dem
Begriff „Schizophrenie“ nichts anzu-
* Das dem Titel zugrundeliegende Zitat – „It is harder to crack a prejudice than an atom“ – wird Albert Einstein zugeschrieben.
** Die Organisatoren der Österreichischen Anti-Stigma-Kampagne sind die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie
(ÖGPP), die Österreichische Schizophreniegesellschaft (ÖSG) sowie pro mente austria. Dem Steering Comittee gehören an: M. Chmela,
H. Fabisch, W. W. Fleischhacker, Ch. Horvath, H. Katschnig, B. Kofler, H. Kuna, M. Lehofer, U. Meise, I. Rath, B. Rupp, F. Schleicher,
W. Schöny (Koordinator).
2
Meise, Fleischhacker und Schöny
fangen weiss. Überraschenderweise
werden in dieser Umfrage an Schizophrenie leidende Personen einigermaßen akzeptiert. Dieses erfreuliche
Ergebnis steht jedoch im Widerspruch zu einer hohen sozialen
Distanz gegenüber diesen Menschen.
Zudem sind etwa die Hälfte der
Befragten der Meinung, dass von an
Schizophrenie Erkrankten eine
Gefahr ausgehe. Obwohl der Wissensstand über Schizophrenie in der
Bevölkerung gering ist, (nur wenige
gaben an, mit an Schizophrenie
Erkrankten in Kontakt gekommen zu
sein) sind 86 %!! der Interviewten an
Informationen über diese Erkrankung
nicht interessiert. Auch Behandlungsverfahren wie die Psychopharmakotherapie haben ein schlechtes Image
[14, 24]. Zwischen der Sicht der Psychiatrie und jener der Bevölkerung
besteht offensichtlich auch hierzulande eine hohe Diskrepanz. Solche
Unterschiede der Sichtweisen werden
von der Arbeitsgruppe aus Zürich in
Hinblick auf Hilfe- und Behandlungsempfehlungen der Schweizer
Bevölkerung bestätigt [19, 27].
Das Stigma psychischer Erkrankungen ist ein soziokulturell tief
verwurzeltes Phänomen [6]. Es
durchdringt alles, was im „Halo“ psychischen Krankseins anzutreffen ist.
PatientInnen, Angehörige, BehandlerInnen, Behandlungsmethoden und
Institutionen sind davon betroffen.
Das Stigma führt, wie Christian
Horvath aus eigenen Anschauungen
beschreibt [15], zu einem „Teufelskreis“ der in Rückkoppelungsprozessen mit der Erkrankung „seelische
Wunden“ verstärkt. Das Stigma erzeugt eine Spirale der Benachteiligung [29], die es zu durchbrechen gilt.
Direkte Diskriminierungen, strukturelle Diskriminierungen, aber auch
„Selbststigmatisierung“ von Patientinnen und Patienten wirken sich
negativ auf die Qualität der Behandlung, den Krankheitsverlauf, die Integration und Lebensqualität von
Betroffenen aus [3, 17]. Verspätete
Behandlung, Behandlungsabbrüche
wie auch Mängel in der psychiatri-
schen Versorgung tragen zu schlechten Behandlungsergebnissen bei. So
wird der Mythos der Unheilbarkeit,
der an manchen psychischen Erkrankungen klebt, immer wieder bestätigt.
Dabei könnte dem Stigma psychischer Erkrankungen am raschesten
begegnet werden, wenn die Behandlung von der Bevölkerung als effektiv
angesehen würde. Heute verfügt die
Psychiatrie über wirksame psychopharmakologische, psycho- und
soziotherapeutische Behandlungsund Rehabilitationsverfahren, durch
die – somatischen Erkrankungen vergleichbar – der Großteil psychisch
Kranker genesen könnte [16a]. In der
alltäglichen Behandlungspraxis wird
(oder kann) jedoch nur ein Teil der
verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten genutzt (werden) [21, 22].
Menschen mit einer psychischen
Erkrankung – oder einer solchen in
ihrem Curriculum – neigen dazu, sich
selbst auszugrenzen; dabei internalisieren sie die mit der Stigmatisierung
vergesellschaftete Geringschätzung
[3, 15], da sie u.a. aus ihrem „gesunden Vorleben“ die abwertenden Einstellungen in ihre Erkrankung mitnehmen [5]. Dies kann zu unzureichender Behandlung oder zu
Erkrankungsrezidiven führen. Das
Stigma beschädigt die Identität der
von psychischer Erkrankung Betroffenen [9]. Entmutigung, Selbstentwertung, sozialer Rückzug können
eine „zweite Erkrankung“ bewirken,
die mit der ursprünglichen Erkrankung nichts zu tun hat, jedoch die
soziale Integration und die Lebensqualität der Betroffenen negativ
beeinflusst [8]. Bereits vor etwa
einem halben Jahrhundert hat der
Soziologe Goffman darauf hingewiesen, dass dem „Stigma-Managment“,
d.h. der individuellen Bewältigung
des Stigmas eine große Bedeutung
zukommt [7, 9]. Die „Behandlung“
des Stigmas und seiner persönlichen
Folgen muss – als eine wichtige AntiStigma-Strategie – in der Therapie
berücksichtigt werden [5].
Anti-Stigma-Aktivitäten müssen
auch „zu Hause“, d.h. in der Psychia-
trie gesetzt werden [28]. Ein Teil der
von Patienten und Angehörigen
berichteten Stigmaerfahrungen geht
zurück auf das Verhalten des in der
Psychiatrie tätigen Personals sowie
auf strukturelle Mängel in der Versorgung. [28, 31]. Wir müssen uns
ehrlich eingestehen: Am Stigma psychischer Erkrankungen hat die Psychiatrie selbst mitgewirkt. So ist der
Mythos der Unheilbarkeit der Schizophrenie auch auf die Beschreibungen von Emil Kraepelin zurückzuführen. „Die Vorurteile von heute
waren die Lehrmeinungen von
gestern oder vorgestern“ [16]. Es
wird notwendig sein, in der Psychiatrie Tätige von der Bedeutung dieses
Anliegens zu überzeugen. Zusätzlich
wird eine veränderte Kommunikation erforderlich sein, damit alle von
psychischer Erkrankung „Betroffenen“, d.h. PatientInnen, Angehörige
und Behandler trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Standpunkte in der
Lage sind, in der Begegnung des
Stigmas „an einem Strang zu ziehen“
[1]. Auch sollten wir uns mit den theoretischen Hintergründen von Stigma und Diskriminierung, wie sie seitens der Soziologie und Psychologie
erarbeitet wurden, vertraut machen
[3, 20]. Dies könnte dazu beitragen,
negativen Stereotypen, Vorurteile,
Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die mit psychischem Kranksein
vergesellschaftet sind, gezielter zu
begegnen. Stigmabewältigung sollte
sich nicht nur darauf beschränken,
Medien oder die Bevölkerung zu
überzeugen, dass sie ihre Einstellungen und Haltungen gegenüber psychisch Kranken verändern sollten.
Auch die Therapeutinnen und Therapeuten müssen einen Perspektivenwechsel vollziehen [28, 31], wollen
sie einem professionellen Anspruch
gerecht werden; denn – und das sollte noch einmal ausdrücklich hervorgehoben werden – Patienten und
Angehörige geben an, dass sie einen
Teil der zwischenmenschlichen Diskriminierung durch Personen, die für
ihre Behandlung zuständig sind
erfahren.
3
Editorial
Das Stigma ist von einer gesundheitspolitischen Perspektive aus gesehen mitverantwortlich, dass innerhalb
der Gesundheitsversorgung psychische Erkrankungen nach wie vor ein
Randthema darstellen. Während reiche Staaten ihre Prioritäten auf die
Prävention und Behandlung somatischer Erkrankungen, wie Herzkreislauf-Erkrankungen oder Malignome
setzen, konzentrieren sich arme Staaten auf die Bekämpfung von Unterernährung oder AIDS. Während bei uns
die Psychiatrie, in den letzten Jahrzehnten doch einen gewissen Aufschwung erlebt hat, sind in den armen
Staaten für psychisch Kranke nach
wie vor kaum Behandlungsmöglichkeiten existent [26]. Jedoch hier wie
dort stehen psychisch Kranke sozial
im Abseits; Stigma und Diskriminierung wegen psychischer Erkrankung
sind ein an jedem Ort unserer Erde
anzutreffendes Phänomen. Diese
Randposition des psychisch Kranken
und der Psychiatrie steht im Widerspruch zu den Ergebnissen der „Global-Burden-Forschung“ [25, 34].
Demnach werden weltweit 11,5 % der
erkrankungsbedingten Belastungen
(Mortalität plus Behinderung) durch
psychische Erkrankungen verursacht.
28 % aller Lebensjahre, die Menschen
mit einer Behinderung leben müssen,
sind auf psychische Erkrankungen
zurückzuführen. Eine der Ursachen,
warum diesen auch sozioökonomisch
relevanten Erkrankungen so wenig
Aufmerksamkeit geschenkt wird,
liegt im Stigma. Somit gewinnt die
Meinung von Norman Sartorius an
Gewicht, wenn er im Stigma ein
bedeutendes Hindernis für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung sieht [29].
Stigma-Kampagne erstellt, die im
Kontext des seitens der WPA weltweit initiierten Programmes „Against
Stigma and Discrimination because
of Schizophrenia“ durchgeführt wird.
Weitere Informationen finden Sie im
Internet unter www.openthedoors.com.
Für das Sponsering sei dem
Konsortium nachfolgender in alphabetischer Reihenfolge angeführten
Firmen gedankt:
• ASTRAZENECA Österreich GmbH
• ELI LILLY GmbH
• JANSSEN-CILAG Pharma GmbH
• LUNDBECK Arzneimittel GmbH
• NOVARTIS Pharma GmbH
Literatur
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
Hinweis
Dieses Themenheft wurde im
Rahmen der Österreichischen Anti-
[9]
Amering M., H. Hofer, I. Rath: Trialog –
Ein Erfahrungsbericht nach 2 Jahren
„Erster Wiener Trialog“. In: Meise U.,
F. Hafner, H. Hinterhuber (Hrsg):
Gemeindepsychiatrie in Österreich.
VIP-Verlag Integrative Psychiatrie,
Innsbruck (1998).
Angermeyer MC.: Das Bild von der
Psychiatrie in der Bevölkerung. Psychiat Prax 7, 327-329 (2000).
Angermeyer MC., B. Schulze: Interventionen zur Reduzierung des Stigmas der
Schizophrenie: Konzeptuelle Überlegungen. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 3945 (2002).
Carius D., Steinberg H.: Allgemeinsprachliche Bezeichnungen für psychisch Kranke und Auffällige im Deutschen. Psychiat Prax 7, 321-326 (2000).
De Col C., P. Gurka, E. Madlung-Kratzer, G. Kemmler, H. Meller, U. Meise:
Soziale Distanz schizophren Erkrankter
gegenüber psychisch Kranken. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 89-92 (2002).
Fabrega H.: Psychiatric stigma in the
classical and medieval period: a review
of the literature. Comprehensive Psych
31, 289-306 (1990).
Finzen A.: Stigma, Stigmabewältigung,
Entstigmatisierung. Psychiat Prax 7:
316-320 (2000).
Finzen A.: Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit
Vorurteilen und Schuldzuweisung.
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000.
Goffman E.: Über Techniken der
Bewältigung beschädigter Identität
(Englisch: Stigma Notes on the
Management of Spoiled Identity. Prentice-Hall: Englewood Cliffs JJ, 1963).
Suhrkamp Wissenschaftsverlag, Frankfurt/Main 1975.
[10] Grausgruber A., W. Schöny: Einstellung zu psychisch Kranken. Neuropsychiatrie 9, 123-129 (1995).
[11] Grausgruber A., H. Katschnig, U.
Meise, W. Schöny: Einstellung der
österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie. Neuropsychiatrie 3/4, Neuropsychiatrie 16, 1/2: 54-67 (2002).
[12] Gutiérrez-Lobos K, A. Holzinger:
Psychisch krank und gefährlich?
Psychiat Prax 27: 336-339 (2000).
[13] Gutiérrez-Lobos K: Rechtliche Benachteiligung psychisch Kranker in Österreich. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 22-26
(2002).
[14] Hoffmann-Richter U.: Psychiatrie in
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4
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Übersetzung: pro-mente-Oberösterreich, Linz 1999.
A. Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise
Arbeitsgemeinschaft „Stigma“
der ÖGPP
Univ.-Klinik für Psychiatrie
Anichstraße 3, A-6020 Innsbruck
e-mail: [email protected]
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 5 – 10
Eines der letzen Hindernisse einer
verbesserten psychiatrischen Versorgung:
Das Stigma psychischer Erkrankung*
Norman Sartorius
Hôpitaux Universitaires de Genève
Schlüsselwörter
Schizophrenie – Stigma – Diskriminierung
– Anti-Stigma-Programm – World Psychiatric Association
Key words
schizophrenia – stigma – discrimination,
anti-stigma-program – Word Psychiatric
Association
Eines der letzen Hindernisse
einer verbesserten psychiatrischen Versorgung: Das Stigma
psychischer Erkrankung
Das psychischen Erkrankungen
anhaftende Stigma und die negative
Diskriminierung, die gewöhnlich mit
der Stigmatisierung vergesellschaftet
ist, sind bedeutende Hemmfaktoren
für die Entwicklungen der psychiatrischen Versorgung. Sie könnten
gemindert oder gar vermieden werden. Sowohl für Programme im
Bereich der psychischen Gesundheit
wie auch für das Fach Psychiatrie ist
die Bearbeitung des Stigma von vorrangiger Bedeutung. Gezielte Aktivitäten müssen aber „zu Hause“ – in
der Psychiatrie – gesetzt werden; sie
sollten dann in andere medizinischen
Bereiche Eingang finden, damit
schließlich breitere Bevölkerungsschichten erreicht werden können.
Wenn der Befreiung vom Stigma psychischer Erkrankungen jene notwendige Priorität eingeräumt wird, erfordert dies für die psychiatrische Praxis
konzeptuelle Änderungen. Für die
Entwicklung entsprechender AntiStigma-Programme ist die internatio*
nale Zusammenarbeit sinnvoll. Das
Programm „Gegen Stigma wegen
Schizophrenie“, das kürzlich von der
World
Psychiatric Association
(WPA) initiiert wurde, zielt auch auf
die Entwicklung von Arbeitsgrundlagen ab, die im Rahmen nationaler
Aktivitäten verwendet werden können. Darüber hinaus soll mit diesem
Programm ein gemeinsames Vorgehen und gegenseitiges Lernen gefördert werden.
One oft the Last Obstacles to
Better Mental Health Care: The
Stigma of Mental Illness
Stigma attached to mental illness
and the negative discrimination that
is usually associated with stigmatization are significant obstacles to the
development of mental health programs. They can be diminished and
perhaps even avoided. Work in this
field is of primary importance for
mental health programs and for psychiatry as a discipline. Relevant activities have to start ’at home’ within
the psychiatric profession, and continue through the mobilization of other
branches of medicine to finally
encompass the broader structure of
society. Conceptual modifications
and changes in the practice of psychiatry will be necessary if the fight
against the stigma of mental disorders
is given the priority that it deserves.
International collaboration is likely to
be useful in the development of relevant programs. The program against
stigma and discrimination resulting
from schizophrenia launched recently
by the (World Psychiatric Association) aims to develop material for use
in national programs and thus facilitate joint action and learning from
each other.
Die Qualität der psychiatrischen
Versorgung läßt sich anhand verschiedener Kriterien bewerten. Aus der
Sicht der Patienten ist die Behandlung
oder Rehabilitation dann gut,
• wenn der Zugang zur Behandlung
nicht begrenzt ist,
• wenn sie mit Respekt behandelt
werden,
• wenn sie unvoreingenomme,
belegbare und verständliche Aufklärung über die in ihrem Fall
angebrachten Behandlungsmöglichkeiten erhalten,
• wenn ihnen Mitsprache und eine
Wahlmöglichkeit in der Behandlung eingeräumt wird,
• wenn die Behandlung fachgerecht
erfolgt, wodurch möglicher Schaden vermieden und der maximale
Nutzen gefördert wird,
• wenn Informationen über sie und
ihre Erkrankung vertraulich behandelt werden,
• wenn sie sich die Kosten der Behandlung leisten können, ohne
Modifizierte Fassung des Artikels von Norman Sartorius „One of the Last Obstacles to Better Mental Helath Care: The Stigma of Mental Illness“
Erschienen in J. Guimón, W. Fischer, N. Sartorius, Hrsg (1999) The Image of Madness.
Mit freundlicher Genehmigung des Karger-Verlages, Basel.
Übersetzung: Rosi Schmid und Ullrich Meise, Gesellschaft für Psychische Gesundheit Tirol
6
Sartorius
•
andere Bedürfnisse wesentlich
einschränken zu müssen und
wenn die Menschenrechte über
die Behandlungsdauer hinweg
gewährleistet sind.
Vom Standpunkt der in der Medizin tätigen ist die Behandlung dann
gut,
• wenn sie durch eine qualifizierte
Person erfolgt,
• wenn sie in geeignete Rahmenbedingungen eingebettet ist,
• wenn ausreichende Belege und
Erfahrungen über die Wirksamkeit und Sicherheit der vorgeschlagenen Behandlungsverfahren vorliegen,
• wenn sich eine vom Vertrauen
und Respekt getragene Beziehung
zwischen Patient und den
Behandlern entwickeln kann,
• wenn die Rechte und Forderungen des Personal in psychiatrischen Einrichtungen beachtet
werden und
• wenn die Evaluation der Qualität
der Behandlung auf eine transparente und gut dokumentierte
Weise erfolgt.
Die Behörden, die für die psychiatrische Versorgung zuständig sind,
beurteilen die Qualität der Behandlung, indem sie vergleichen inwieweit die auf Evidenz und praktischer
Erfahrung basierenden Regeln und
Standards in der Alltagspraxis Eingang finden konnten. Um dies beurteilen zu können müssen Qualitätsmerkmale definiert werden.
Diese beinhalten
• Input-Indikatoren in Hinblick auf
Investitionen in diesem Bereich
der Gesundheitsversorgung,
• Prozess-Indikatoren, die den Ablauf der Behandlung bestimmen,
• Output-Indikatoren, die die
Anzahl der durchgeführten Interventionen erfassen,
• Ergebnis-Indikatoren, die Änderungen des Gesundheitszustandes
von Einzelnen oder von Bevölkerungsgruppen erheben bzw. die
Auswirkungen dieser Interventio-
nen auf die Gesundheitsversorgung und die Gesellschaft belegen.
Für jeden dieser Indikatoren gibt
es eine qualitative (wie gut?) und eine
quantitative (wieviel?) Antwortmöglichkeit.
Das Stigma, das mit psychischen
Erkrankungen einhergeht, berührt
jede der oben genannten Forderungen
nach einer qualitativ hochstehenden
Versorgung. Der Zugang zur Behandlung hängt davon ab, wie sehr die
Erkrankung von den Behörden und
von der Öffentlichkeit als solche
akzeptiert wird. Wenn Menschen mit
psychischen Erkrankungen für
gefährlich, faul, unzuverlässig und
arbeitsunfähig gehalten werden oder
nicht anzunehmen ist, dass sie sich
jemals von ihrer Erkrankung erholen,
dann wird es Widerstände, z.B. bei
der Errichtung psychiatrischer Einrichtungen in guten Wohnbezirken
geben.
Die Zugänglichkeit von Behandlung hängt auch von der Zahlungsfähigkeit ab: Das Stigma psychischer
Erkrankung verringert die Bereitschaft der Behörden, finanzielle
Ressourcen in jenem Ausmaß bereitzustellen, die allen Betroffenen eine
entsprechende Qualität der Behandlung gewährleisten würde. Den
Betroffenen selbst fehlen häufig die
entsprechenden Mittel, sich eine gute
Behandlung leisten zu können. Die
Folge ist, dass ihnen der Zugang zur
bestmöglichen Behandlung verwehrt
wird und stattdessen Behandlungsalternativen von geringerer Qualität
angeboten werden, was zudem häufig
mit einem erheblich administrativen
Aufwand verbunden ist. Eine suboptimale Versorgung führt jedoch
zwangsläufig
zu
schlechteren
Behandlungsergebnissen, was wiederum den Mythos der Unheilbarkeit
psychischer Erkrankungen verfestigt.
Darüber hinaus verstärkt sich sowohl
bei den Patienten als auch bei den
Professionellen, die für die Behandlung verantwortlich sind, das Gefühl,
keine Wahlmöglichkeit zu haben.
Ebenso beeinträchtigen schlechte
Arbeitsbedingungen die Qualität der
Bewerber für diverse Stellen im psychiatrischen
Versorgungssystem.
Obwohl solche Bedingungen zweifellos als lohnende Herausforderung
angesehen werden, zögern manche
Kandidaten, die in diesen Beruf einsteigen wollen, und wählen schlussendlich ein anderes Betätigungsfeld
innerhalb der Medizin. Unzureichende Ressourcen verringern das Spektrum der angebotenen Behandlungsmethoden (was wiederum die Wahlmöglichkeit der Patienten einschränkt)
und erschweren es Fachkräften, ihr
Wissen durch zusätzliche Fortbildung
zu vertiefen und auf dem neuesten
Stand zu halten.
Paradoxerweise trägt das Stigma,
das zur schlechteren Qualität psychiatrischer Dienste führt auch dazu bei,
dass Informationen über Patienten
und ihre Erkrankungen keinem ausreichenden Schutz unterliegen.
Das Stigma psychischer
Erkrankung ist allgegenwärtig und nimmt zu
In allen Kulturen haftet psychischen Erkrankungen ein Stigma an.
Manchmal führt dies zu einer positiven Diskriminierung, z. B. wenn
Symptome einer psychischen Erkrankung als Zeugnis göttlicher Besessenheit gedeutet werden. Meistens
jedoch führt das Stigma zu einer
negativen Diskriminierung der
Erkrankten, mehr noch; auch ihre
Familien sind sowohl in der gegenwärtigen wie auch in den nachfolgenden Generationen von Benachteiligungen und Stigmatisierung betroffen. Das mit psychischer Erkrankung
einhergehende Stigma und die negative Diskriminierung betreffen auch
das psychiatrische Versorgungssystem, psychiatrische Krankenhäuser, Psychopharmaka, Psychiater
Das Stigma psychiatrischer Erkrankungen
und andere in der Psychiatrie Tätige.
Grundsätzlich durchdringt das Stigma alles und wirkt schädigend.
Das Stigma und die Intoleranz
gegenüber dem „Anderssein“ (im
speziellen jenem, das im Gefolge
einer psychischen Erkrankung auftreten kann) haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Dafür sind
mehrere Faktoren verantwortlich:
Eine zunehmende Verstädterung und
die steigende Bevölkerungsdichte in
den Städten erhöhen beispielsweise
die Bereitschaft, dass Menschen nicht
mehr fähig (oder bereit) sind, in ihrer
unmittelbaren Nachbarschaft jemanden zu tolerieren, der fallweise oder
öfters ein störendes Verhalten an den
Tag legt. Die steigende Komplexität
der Arbeitswelt senkt die Chance,
dass Menschen, die schlechter qualifiziert sind, eine Anstellung finden.
Dies gilt auch für jene, bei denen eine
Erkrankung den Verlust bestimmter
Fähigkeiten oder bleibende Beeinträchtigungen nach sich zieht.
Arbeitslosigkeit wirkt sich auf die
psychische Gesundheit negativ aus
und führt zu einem zusätzlichen Stigma. Die Medien haben seit langem
(auf Grund ihres wachsenden Einflusses in den letzten Jahren verstärkt) ein negatives Bild psychisch
erkrankter Menschen gezeichnet.
Bösewichte in Fernsehfilmen werden
sehr oft als geistig abnorm oder psychisch krank dargestellt. Gewalttätigkeit gilt als beinahe sicherer Hinweis
für eine psychische Erkrankung
(obwohl die meisten Gewalttaten von
Personen begangen werden, die nie
an einer nachweisbaren psychischen
Störung erkrankt waren). Mit Vorliebe werden in Zeitungsberichten und
auch in Spielfilmen dunkle und negative Eigenschaften psychiatrischer
Institutionen gezeigt. Im Gegensatz
dazu wird über andere medizinische
Bereiche positiv berichtet und ihre
Leistungen werden gewürdigt. Natürlich gibt es in der Geschichte der Psychiatrie viele Gründe für eine negative Einstellung gegenüber jenen
Systemen, die psychisch erkrankte
Menschen häufig nur verwahrten.
Obwohl viele dieser Ursachen nicht
mehr existent sind – heute gibt es beispielsweise effiziente Behandlungsmöglichkeiten, der Schutz psychisch
erkrankter Menschen ist hinsichtlich
der Menschenrechte so gut wie noch
nie – haftet den psychiatrischen Institutionen immer noch ein negatives
Image an. Seitens antipsychiatrischer
Gruppierungen wird dies immer wieder in Form von Medienberichten, in
Bildern oder Schriften verstärkt. Das
Anwachsen der Mittelschicht in vielen Ländern trägt zur Gleichschaltung
eines bestimmten Verhaltens bei und
fördert die Abneigung, Ausnahmen
zu machen und Unterschiede zu tolerieren. Das Ineinandergreifen der
Kulturen – nämlich weltweit – zeigt
sich auch an einer bemerkenswert
zunehmenden Angleichung in Bekleidung, musikalischen Vorlieben,
Ernährungsgewohnheiten sowie in
den Unterhaltungs- und Freizeitaktivitäten. So wird das Leben für jene,
die in irgendeiner Weise anders sind,
immer schwerer.
Die Spirale der Benachteiligung durchbrechen
Es ist ein vordringliches Ziel, die
Spirale der Benachteiligung, die auf
Grund eines Stigmas entsteht, zu
unterbrechen. Kürzlich erschienene
Berichte [1] belegen, dass weltweit
psychische Störungen für eine Großteil der Behinderungen verantwortlich sind. Es gibt Hinweise dafür, dass
sich in Zukunft diese Situation verschärft. Anhand einer Vielzahl von
Untersuchungen kann eindeutig
nachgewiesen werden [2], dass die
Behandlung psychischer Störungen
erfolgreich, effektiv und kostengünstig ist. Differenzierte Behandlungsprogramme können psychisch erkrankte Menschen und ihren Familien helfen: Für den Großteil der Personen, die davon profitieren könnten,
stehen jedoch derzeit weder die
7
gesamten
Behandlungsoptionen,
noch ein ausreichendes Versorgungssystem zur Verfügung. In Entwikklungsländern (aber auch in anderen
Ländern) sind die Mittel, die für psychische Gesundheit zur Verfügung
gestellt werden, äußerst gering. Die
zuvor beschriebene Situation wird
nicht unbedingt dazu beitragen, dass
psychiatrischen
Diensten
und
Behandlungsprogrammen in Zukunft
eine höhere Priorität eingeräumt
wird. Aus diesem Grund müssen entschlossen Gegenmaßnahmen getroffen werden. Tabelle 1 gibt die Abfolge in der Spirale der Benachteiligungen wider: An jeder Stelle können
entsprechende Gegenmaßnahmen
wirksam sein und sie sollten auch
ergriffen werden. In der Psychiatrie
empfiehlt sich eine primäre Prävention für jene Störungen, die sich auf
eine bekannte Pathogenese zurükkführen lassen. Ein eindrucksvolles
Beispiel für die Möglichkeit der primären Prävention ist der Kretinismus, der auf einen Jodmangel
beruht: Die Korrektur dieses Mangels
würde das Auftreten schwerer geistiger Behinderungen verringern. Die
Rolle der Psychiater i. R. dieser Intervention liegt darin, Maßnahmen im
öffentlichen Gesundheitswesen einzufordern, die dann von anderen
Bereichen des Gesundheitssystems
implementiert werden sollten; eine
Rolle, die ebenso für andere primäre
Präventionsmaßnahmen gilt [3].
Für eine Reihe psychischer Störungen sind die Möglichkeiten der
primären Prävention beschränkt oder
gar nicht vorhanden. Eine erfolgreiche Behandlung kann in diesem Fall
die Dauer einer psychischen Störung
verkürzen, bleibende Behinderungen
vermindert und die Gleichstellung
psychischer Erkrankungen mit
anderen Erkrankungen fördern. Wo
die Behandlung nicht so erfolgreich
ist und dadurch Behinderungen nicht
vermieden werden können oder wenn
die Erkrankung über einen längeren
Zeitraum andauert, sollten die Interventionen auf eine Reduzierung des
an die Krankheit gebunden Stigmas
8
Sartorius
•
Tab. 1.
Schritte, die zur
Benachteiligung führen
Erkankung
Interventionen
Prävention oder Gesundung
durch Behandlung
Behinderung
Verminderung von Behinderung
An Erkrankung oder Behinderung gekoppeltes Stigma
Trennung von Stigma und
Erkrankung bzw. Behinderung
An Stigma gekoppelte
Diskriminierung
Abbau von Diskriminierung,
auch wenn Stigma fortbesteht
Reduktion der Rehabilitationsmöglichkeiten
zusätzliche Optionen für Berufstätigkeit und neue soziale Rollen
•
•
•
Versagen in sozialen Rollen
verschlechtert Erkrankung
und Behinderung
hinzielen; durch Gesundheitserziehung, Medienberichte, geeigneter
Weiterbildung von im Gesundheitswesen Tätigen und ähnlichen Maßnahmen. Manchmal wird es dennoch
nicht möglich sein, die Krankheit von
ihrem Stigma zu trennen: Wenn dies
der Fall ist, sind Interventionen im
öffentlichen Gesundheitswesen mit
gesetzlichen Interventionen zu koppeln um die negative Diskriminierung zu verringern oder gar zu eliminieren. Stigma und Diskriminierung
erschweren die Möglichkeit der
Rehabilitation und den normalen
Zugang zu verschieden sozialen und
individuellen Rollen: Dazu wäre die
Entwicklung von alternativen und
zusätzlichen Arbeitsmöglichkeiten
unter Einbeziehung jener, die an psychischen Störungen leiden, eine
wichtige Maßnahme. Letztlich wird
in manchen Fällen eine Behandlung
nicht erfolgreich sein und die Erkrankung wird zu Behinderung und zu
Fähigkeitsstörungen führen, von der
Arbeit angefangen bis hin zur Fähigkeit sich selbst zu versorgen. In diesem Fall müssen die Interventionen
darauf abzielen, das Fehlverhalten
und die Diskriminierung zu entkop-
Entstigmatisierung des Versagens
in sozialen Rollen
peln, da letzere sich im Gefolge eines
abweichenden Verhaltens entwickeln
kann.
Die Entscheidung, die oben
beschriebene Benachteiligungs-Spirale durch mehr Engagement zu
durchbrechen, ist sowohl vor einem
konzeptuellen als auch praktischen
Hintergrund zu befürworten. Die Vorstellung, dass eine psychische Störung ein dauerhafter Zustand ist, sie
immer mit ausgeprägten Beeinträchtigungen individueller und sozialer
Fertigkeiten vergesellschaftet ist,
muss korrigiert werden. So müssen
im Gesundheitswesen Tätige wie
auch die Bevölkerung, psychisch
Erkrankte inbegriffen, akzeptieren,
dass
• psychische Erkrankungen nicht
immer langandauernd sind,
• eine Erkrankungsepisode nicht
bedeutet, dass die betroffene
Person von nun an für immer als
psychisch krank gelten kann,
• die meisten psychischen Erkrankungen zu keinen wesentlichen
Störungen im sozialen Verhalten
führen und selbst wenn es so ist,
diese Störungen zumeist reversibel sind,
auch das Sozialverhalten der meisten Menschen nicht immer vollkommen ist, und es daher richtig
und gerechtfertigt ist, gegenüber
abweichendem Verhalten und
nonkonformistischer Lebensgestaltung toleranter zu sein,
die Tatsache, einen Arbeitsplatz
zu haben oder aus ökonomischer
Sicht produktiv zu sein nicht das
einzige oder wichtigste Kennzeichen für psychische Gesundheit
darstellt,
im Falle einer Komorbidität von
psychischen und körperlichen
Erkrankungen eine Behandlung
auf beiden Ebenen ansetzen muss
und
die Behandlung einer psychischen
Erkrankung die Prognose einer
körperlichen Erkrankung signifikant verbessert, was vice versa
ebenso zutrifft.
In Übereinstimmung mit konzeptuellen Veränderungen müssen auch
die Planung und Praxis der psychiatrischen Behandlung neu überdacht
werden. Neben dem notwendigen
Respekt gegenüber den Patienten und
dem Schutz ihrer Rechte sollte jene
Behandlung bevorzugt werden, die
eine Stigmatisierung nicht noch
zusätzlich fördert. So sollte der
Patient beispielsweise eher im Rahmen allgemeiner Gesundheitseinrichtungen behandelt werden als in psychiatrischen Institutionen, denen ein
zweifelhafter Ruf anhaftet. Behandlungen, die keine Nebenwirkungen
nach sich ziehen, sind zu bevorzugen
(oder Dosierungen sollten so angepasst werden, dass Nebenwirkungen
gering gehalten werden, selbst wenn
dadurch Erkrankungssymptome langsamer oder unvollständig remitieren).
Auch die Beziehung zwischen Arzt
und Patient muss beachtet werden:
Dazu gehören das sich Zeit-nehmen
und das aufmerksame Hinhören auf
die Ausführungen der Patienten, wie
sie mit der Erkrankung ihr Leben
bewältigen. So kann der Behandler
wertvolle und neue Erkenntnisse
Das Stigma psychiatrischer Erkrankungen
gewinnen, von denen auch andere
Patienten profitieren und die für die
Ausbildung von Psychiatern, Allgemeinärzten oder anderen Gesundheitsberufen wichtig sind.
Programme, die zum Ziel
haben Stigma und Diskriminierung psychisch
erkrankter Menschen zu
verringern
Der Umstand, dass eine psychische Erkrankung gleichzeitig zum
Stigma und zur Diskriminierung
führt, behindert sehr wesentlich eine
qualitativ angemessene psychiatrische Versorgung. Dies wurde in einigen Ländern, wie Schweden oder
Australien erkannt. Hier wurden von
der Regierung oder von NGO’s AntiStigma-Kampagnen durchgeführt.
Auch die Word Psychiatric Association (WPA) hat ein internationales
Programm, das sich gegen das Stigma
und die Diskriminierung wegen Schizophrenie richtet, ins Leben gerufen.
Aus mehreren Gründen wurde dieses
Programm auf die Schizophrenie
fokusiert. Es handelt sich dabei um
schwere psychische Erkrankungen
mit Symptomen, die die Öffentlichkeit üblicherweise mit psychischen
Störungen in Verbindung bringt, wie
z.B. Halluzinationen, Wahnvorstellungen (die häufig bizarr und unverständlich erscheinen), psychomotorischen Auffälligkeiten oder Inkohärenz. Diese Störungen sind oft langwierig und führen oft zu psychischen
Behinderungen. Eine Rehabilitation
kann aufwendig und langwierig sein.
Ihr Erfolg hängt in hohem Maße von
der Einstellung und dem Verhalten
der Umgebung und nicht zuletzt von
dem Patienten selbst ab. Ein Abbau
des Stigmas, das die Schizophrenie
1
umgibt, ist eine besonders hohe Herausforderung. Es ist zu hoffen, dass,
wenn dieses Programm erfolgreich
ist, sich die Lebensqualität der Betroffenen (und ihrer Angehörigen)
deutlich verbessert, und in der Folge
ähnliche Programme für andere
Erkrankungen entwickelt werden.
Das Programm der WPA unterscheidet sich in vieler Hinsicht von
anderen Initiativen. Zunächst ist es
international und es wird weltweit
durchgeführt. Weiters ist es in akkumulativer Art und Weise organisiert:
Erfahrungen, die im ersten Land mit
diesem Programm gemacht wurden,
werden Jenen, die in einem zweiten
Land damit beginnen, zur Verfügung
gestellt. Die Erfahrungen beider Länder dienen wiederum dem dritten
Land als Quelle der Inspiration und
so weiter. Mit dem Programm gegen
Stigma wegen Schizophrenie wurde
in der Provinz Alberta in Kanada
begonnen: In der Folge wurde das
Programm 1999 in Spanien – zuerst
in einem Bezirk von Madrid und in
der Folge im gesamten Land – sowie
in Österreich [4] eingeführt. Nachdem die Kampagne in diesen drei
Ländern in Gang gesetzt wurde, wurden sie von anderen europäischen
Ländern – Griechenland, Deutschland und Italien – sowie von zwei
Entwicklungsländern – Ägypten und
Indien – übernommen. In Deutschland und in Indien werden die Programme an verschiedenen Orten
durchgeführt: In Indien benützen alle
Zentren dasselbe Programm, während in Deutschland von jedem Zentrum unterschiedliche Schwerpunkte
wahrgenommen werden, die natürlich untereinander kompatibel sind.
Kürzlich traten dem Programm zwei
Länder in Lateinamerika – Brasilien
und Chile – andere europäische Länder – Polen, Rumänien, Slowakei –
wie auch Marokko bei. Das Programm wird durch eine Steuerungsgruppe1 geleitet, die eng mit jenen
9
Gruppen zusammenarbeitet, die in
den teilnehmenden Staaten dafür verantwortlich sind.
Das WPA-Programm geht die
Probleme mit dem Stigma und der
Diskriminierung nicht lautstark an –
indem etwa alle Menschen gleichzeitig mit Botschaften beschallt werden.
Es ist selektiv und richtet seine Aktivitäten auf Gruppen, die für den Prozess der gewünschten Verhaltensmodifikation wichtig sind. Das Programm geht primär nicht von der
Theorie aus, vielmehr basiert es auf
den Erfahrungen von Betroffenen
und zielt auf die Beseitigung jener
Probleme ab, die diese am meisten
belasten. Die Leitung des Programmes obliegt nicht Psychiatern, vielmehr versuchen diese, nützliche Partner in einem Team zu sein, das aus
Personen unterschiedlicher kommunaler Organisationen, Fachleuten aus
unterschiedlichen Disziplinen, Vertretern von Patienten- und Angehörigenorganisationen, Journalisten, Politikern etc. zusammengesetzt ist. Das
Programm ist vom Grundsatz geleitet, dass das Erreichbare umzusetzen besser ist, als einen Idealzustand
herstellen zu wollen. Dort wo das
Stigma beispielsweise nicht rasch
veränderbar ist, versucht das Programm zuerst die Diskriminierung zu
verringern. Wo Diskriminierung
schwer zu verändern ist, versucht es,
Alternativen für jene Situationen zu
eröffnen, in welchen diese besonders
schädigend und schmerzvoll ist.
Dieses Anti-Stigma-Programm
wird von unterschiedlichen Organisationen gefördert.
Eine großzügige Unterstützung
durch die Firma Eli Lilly half besonders am Anfang und ermöglicht nachwievor die Entwicklung von Arbeitsunterlagen. Lokale Förderungen werden durch staatliche und nicht-staatliche Organisationen, Zuschüssen
seitens der Industrie und Spenden
geleistet. Keiner, der am Programm
Die Mitglieder des Steering-Comitees sind Professor J. Lopez-Ibor, Präsident des WPA (Vorsitzender), J. Arbuleda-Flores, N. Sartorius (Wissenschaftlicher Direktor des Programms), N. Stefanis und N. N. Wig. Die Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, die sich mit spezifischen Aspekten des
Programmes beschäftigten, sind Professor W. W. Fleischhacker, Professor H. Häfner, Professor J. Leff und Professor R. Warner.
10
Satorius
mitarbeitet, erhält ein Honorar. Die
Belohnung soll durch das Gefühl
erfolgen, an einem wichtigen und
sinnvollen Projekt mitzuarbeiten.
Die bisher vorliegenden Arbeitsunterlagen beinhalten die Beschreibung des Ablaufes jener Maßnahmen,
die in jedem am Programm teilnehmenden Land gesetzt werden
sollten. Für jeden dieser Schritte wird
der dafür erforderliche Zeitrahmen
angegeben. Natürlich können die einzelnen Länder die veranschlagte Zeit
variieren, die sie für die einzelnen
Umsetzungsschritte benötigen. Die
Unterlagen beinhalten den gegenwärtigen Stand des Wissens über
schizophrene Störungen und jene
Fakten, die für das Anti-StigmaProgramm von besonderer Bedeutung sind. Diese zwei Publikationen –
die Richtlinien für die Programmentwicklung und die Zusammenfassung
des Wissens über Schizophrenie – die
für das WPA-Programm entwickelt
wurden [5] erstellten Arbeitsgruppen,
an denen Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten und Ländern
teilnahmen. Drei weitere Arbeitsunterlagen sind in Vorbereitung: Eine
Beschreibung wie jene Orte, die in
der ersten Phase am Programm teilgenommen haben dieses weiterenwickelten (Band 3), sowie die Darstellung ähnlicher oder verwandter
Programme, die bereits in der Vergangenheit durchgeführt wurden (Band
4). Weiters wird ein „Baukasten“
erarbeitet, der Unterlagen wie
Videos, Poster, Filme und Bücher
enthält, die jenen die Programme
ausführen, nützlich sein können
(Band 5). Alle Unterlagen, die im
Band 5 enthalten sind, wurden durch
eine eigene Arbeitsgruppe geprüft. Es
wird auch darauf verwiesen, für welchen Anlass, und in welcher Weise
diese Arbeitsunterlagen verwendet
werden können.
Die Erfahrungen, mit dem bisherigen Verlauf des Anti-StigmaProgrammes, sind bereits sehr reichhaltig und die Fülle der Arbeitsunterlagen, die von den Arbeitsgruppen
der teilnehmenden Ländern erstellt
wurden, ist eindrucksvoll. Mitglieder
dieser Arbeitsgruppen beraten jene,
die in anderen Ländern neu beginnen.
Es ist zu erwarten, dass dieses System
der kaskadenartigen Weitergabe von
Wissen nicht nur jenen nützt, die neu
beginnen, sondern auch die ermutigt,
welche in ihrer Arbeit bereits fortgeschritten sind. Die Auswirkungen der
Programme werden evaluiert, wobei
sowohl Veränderungen in der Wahrnehmung sowie den Einstellungen
und Verhalten, sowie Änderungen der
gesetzlichen Bestimmungen in einzelnen Ländern erhoben werden. Die
Richtlinien des Programmes und die
dazugehörigen
Arbeitsunterlagen
werden laufend überarbeitet. Dies
unterstreicht das wichtigste Merkmal
dieses Programmes: Es soll sich nicht
um eine kurzfristige Kampagne handeln sondern das Programm soll
Flexibilität aufweisen und über einen
längeren
werden.
Zeitraum
durchgeführt
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[4]
Schöny W.: Schizophrenie hat viele Gesichter: Die Österreichische Kampagne
zur Reduktion des Stigmas und der
Diskriminierung wegen Schizophrenie.
Neuropsychiatrie. Neuropsychiatrie 16,
1/2: 48-53 (2002).
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Psychiatric Association. Vol 1 and 2
(1998).
Univ.-Prof. Dr. Norman Sartorius
Hôpitaux Universitaires de Genève
Belle-Idée, Bâtiment Saleve 4,
chemin du petit-Bel-Air
CH-1225 Chêne-Bourg
www.openthedoors.com
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 11 – 19
Stigmarelevante historische Wurzeln
des Schizophreniekonzepts in Kraepelins,
Bleulers und Schneiders Werk*
Heinz Katschnig
Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien
Schlüsselwörter
Bleuer – Kraepelin – Schneider – Stigma –
Schizophrenie – Dementia praecox – Entstigmatisierung – Syptome ersten Ranges
Key words
Bleuer – Kraepelin – Schneider – stigma –
Schizophrenia – Dementia praecox –
diminishing stigma – first rank symptoms
Stigmarelevante historische
Wurzeln des Schizophreniekonzepts in Kraepelins, Bleulers und
Schneiders Werk
Die in der Öffentlichkeit bestehenden falschen Vorstellungen über
psychische Krankheiten werden im
Fall der Schizophrenien durch spezifische Inhalte verschlimmert: durch
die Ideen der „Unheilbarkeit“, der
„gespaltenen Persönlichkeit“ und der
„Verrücktheit“, deren Wurzeln in diesem Beitrag bei Emil Kraepelin,
Eugen Bleuler und Kurt Schneider
aufgespürt werden. Emil Kraepelins
Konzept der „Dementia praecox“ als
unweigerlich zu seelischem Siechtum
führende Geisteskrankheit entstand
auf der Basis einer auf psychiatrische
Anstalten eingeschränkten Erfahrungsbasis. Zwar gibt es derartige
„chronische“ Verläufe, sie stellen
aber keineswegs die häufigste Form
der Krankheit dar, die ausserdem
heute gut behandelbar geworden ist.
Eugen Bleulers Terminus technicus
„Schizophrenie“ hat durch falsche
Rückübersetzung als „gespaltene
Persönlichkeit“ ein Eigenleben entwickelt, das weder Bleulers Intentionen entsprach (er stellte kognitive
und affektive Störungen in den
Vordergrund), noch mit der Krank-
*
Erscheint auch in Psychiatria danubina
heitsrealität etwas zu tun hat.
Schliesslich hat Kurt Schneider mit
seinen „Symptomen 1. Ranges“
Wahnideen und Halluzinationen als
für die Schizophreniediagnostik zentral dargestellt, ausschliesslich mit
der Absicht, Symptome, die auch von
Nicht-Fachleuten (wie praktischen
Ärzten und Amtsärzten) leicht
erkannt werden können, in den
Vordergrund zu rücken, und nicht mit
einer theoretischen Begründung.
Gerade Schneiders „Symptomen 1.
Ranges“, die allesamt „Verrücktheit“
signalisieren, wird in den modernen
psychiatrischen Diagnoseschemata –
im Vergleich zu kognitiven und affektiven Störungen – ein überdimensionaler Stellenwert zugeschrieben, und
die Laienkonzepte spiegeln dies
wider. Was ist angesichts dieser
Inhalte im Sinne der Stigmareduktion
zu tun? Zum ersten müssen offenkundig falsche „Wissensbestände“ in der
Allgemeinbevölkerung („Unheilbarkeit“, „gespaltene Persönlichkeit“)
durch entsprechende Kampagnen,
nicht zuletzt auch bei psychiatrisch
nicht ausgebildeten Ärzten, korrigiert
werden. Zusätzlich gilt es, innerhalb
der Psychiatrie die Diagnosedefinitionen zu revidieren und allzu leichtfertig „vereinbarte“ Kriterien theoretisch zu hinterfragen. Dabei könnte
das Abgehen von Halluzinationen
und Wahnideen und die Rückbesinnung auf Bleulers Assoziations- und
Affektstörungen sowie die Berücksichtigung des Vulnerabilitäts-StressCoping-Modells nützlich sein. Dies
könnte zu einer prinzipiellen Neuorientierungen führen, zum Abgehen
von kategorialen und zur Hinwen-
dung zu dimensionalen Einteilungen
und zur Hervorhebung von dysfunktionalen Prozessen im Gegensatz zu
starren Krankheitsentitäten. Eine solche Entwicklung wäre einer Entstigmatisierung förderlich.
Kraepelin’s, Bleuler’s and
Schneider’s concepts of Schizophrenia – their relevance for the
stigma process
In the case of schizophrenia the
negative public stereotype of mental
illness is aggravated by the more
specific preconceptions of „chronicity“, „split personality“ and „madness“ (in the sense of hallucinations
and delusions). These elements of the
public stereotype of schizophrenia
can be traced back to Emil Kraepelin,
Eugen Bleuler and Kurt Schneider
respectively. „Chronicity“ and „deterioration“ were the essence of Kraepelins concept of „dementia praecox“, which, as can be shown today,
was biased due to the more severely
ill patients Kraepelin saw in the mental hospitals of his time. While Bleuler corrected this concept of chronicity by pointing out that several subtypes exist and that the defining criterion should be psychopathology and
not the course, he unwittingly created
another misunderstanding by introducing the term of „schizophrenia“.
This term served for capturing the
basic symptomatolgy – the dissociation of the different psychological
functions (cognitive, affective) –, but
was wrongly re-translated as „split
personality“, as which it is used in the
public domain. Kurt Schneider, final-
12
Katschnig
ly, insisted on delusions and hallucinations as diagnostically leading
symptoms, which he therefore called
„first rank symptoms“. While Schneider pointed out that he had not intended to relate this proposal to any theory of schizophrenia, but that he had
mainly chosen these symptoms because of their easiness of recollection
(his first publication on the „first rank
symptoms“ addressed itself to general practitioners and public health
physicians), his followers raised them
to the leading diagnostic criterion, as
which they figure in all newer DSM
and ICD revisions. It is suggested that
the wrong content of the public stereotype of schizophrenia justifies antistigma campaigns as far as „chronicity/untreatabiltiy“ and „split personality“ are concerned, but that in the
case of the „madness“ symptoms of
hallucination and delusions a revision
of the psychiatric diagnostic definitions themselves might be more
appropriate. Newer conceptions of
schizophrenia put more emphasis on
cognitive and affective processes and
on a dimensional vulnerability rather
than a categorical disease concept. It
is suggested that such a change in
orientation will probably also contribute to diminishing the stigma of
schizophrenia.
Dass sich Menschen auch schon
vor der “Schizophrenie-Ära” geweigert haben, in ein psychiatrisches
Krankenhaus zu gehen, ist in einem
„Fragebogen für die Aufnahme in die
psychiatrische Klinik zu Dorpat“ aus
dem Jahre 1890 ersichtlich. Dort
heisst es gleich zu Beginn, bevor
noch die Angehörigen nach Personalien und Lebensumständen des Aufzunehmenden gefragt werden: „Es
wird gerathen bei der Ueberführung
des Kranken in die Anstalt keine List
anzuwenden, sondern ihm einfach zu
erklären, dass eine Behandlung für
ihn jetzt nöthig sei“. Wie erfolgreich
diese Strategie war, wissen wir nicht.
1
Auf jeden Fall ist deutlich, dass die
Betroffenen, ihre Angehörigen und
die Fachleute schon damals mit vorhersehbaren negativen Folgen rechnen mussten, wenn jemand in die
Psychiatrie aufgenommen werden
sollte.
Die psychiatrische Klinik in Dorpat war nicht irgendeine Klinik. Dorpat heissst heute Tartu und ist die einzige Universitätsstadt Estlands. Das
schöne Holzgebäude der Klinik aus
dem Jahre 1880 steht noch heute. Von
1886 bis 1891 leitete sie der deutsche
Psychiater Emil Kraepelin (18561926), der bekanntlich 1899 – inzwischen war er nach Heidelberg übersiedelt – die Krankheitsdefinition der
späteren „Schizophrenie“ grundgelegt hat (Kraepelin, 1899). Dass er die
Krankheit damals noch „Dementia
praecox“ genannt hat, wird uns gleich
noch beschäftigen. Auf jeden Fall
geht die Unterteilung der „grossen
Psychosen“ in das „Manisch-depressive Irresein“ (heute Manisch-depressive Krankheit = MDK oder Bipolare
Störung) und die „Dementia praecox“
(heute Schizophrenie) auf Kraepelin
zurück.
Seit damals sind über 100 Jahre
vergangen. Obwohl sich die Kraepelinsche Zweiteilung der großen
Psychosen als konstanter roter Faden
durch das 20. Jahrhundert bis heute in
den psychiatrischen Klassifikationsschemata erhalten hat, hat sich das
Konzept der Dementia praecox selbst
inhaltlich verändert. Wie man jedem
Psychiatrielehrbuch entnehmen kann,
waren die diesbezüglich einflussreichsten Personen Eugen Bleuler
(1857–1939) und Kurt Schneider
(1887–1967)1.
Alle heute in den relevanten internationalen Klassifikationsschemata
enthaltenen Schizophreniedefinitionen gehen auf Elemente zurück, die
Emil Kraepelin, Eugen Bleuler oder
Kurt Schneider eingeführt haben.
Ihre Leistung kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden, haben sie doch
auf einem Gebiet, das gedanklich
äußerst schwierig zu fassen ist, Ordnungsversuche unternommen, die aus
der allgemeinen Irrationalität, die das
Thema der Geisteskrankheiten kennzeichnet, zu einer Wissenschaftlichkeit geführt haben, die zwar manchen
als distanziert erscheint, insgesamt
aber zu einer Humanisierung dieses
Gebietes beigetragen haben.
Unabhängig davon ist die Tatsache zu sehen, dass ihre Konzepte zu
einigen heute als falsch einzustufenden Inhalten des öffentlichen Vorurteils über die Schizophrenie beigetragen haben, was aber eher damit
zusammenhängt, dass die Nachfolger
und die Laien einzelne Aspekte über
Gebühr in den Vordergrund gerückt
haben. Kraepelin hat die Idee der
Unheilbarkeit eingeführt, auf Bleuler
geht das meist als „gespaltene Persönlichkeit“ missverstandene Wort
„Schizophrenie“ zurück, und Kurt
Schneider hat mit seiner Hervorhebung von Halluzinationen und Wahnideen als „erstrangig“ die Idee der
Verrücktheit (im Sinne von Wahnideen und Halluzinationen) in den
Vordergrund gestellt. Das allen psychisch Kranken gemeinsame Stigma
– das offensichtlich schon vor der
Schizophrenie-Ära vorhanden war –
wird durch diese drei spezifischen
Elemente der Diagnose „Schizophrenie“ de facto potenziert.
Dabei hat sich heute ergeben –
und darauf werden wir am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen – , dass
es wissenschaftlich nicht gerechtfertigt ist, auch nur eines der genannten
Kriterien – „unheilbar“, „gespaltene
Persönlichkeit“, „verrückt“ – als konstituierend für das anzusehen, was
man seit Bleuler Schizophrenie
nennt. Im Gegenteil: Etwas völlig
anderes, nämlich Bleulers vergleichsweise vernachlässigtes Konzept der
„Assoziationsstörungen“ und der
„Affektstörungen“, die er als „Grund-
Dies gilt für Europa; in den USA war bis zum Erscheinen des DSM-III im Jahre 1980 der emigrierte Schweizer Psychiater Adolf Meyer (18661950) mit seinem „biopsychosozialen Konzept“ am einflussreichsten; dann schwenkte die amerikanische Psychiatrie auf die hier dargestellte
europäische Linie ein, und nannte ihren Ansatz sogar „neo-kraepelinianisch“.
Stigmarelevante historische Wurzeln des Schizophreniekonzepts ...
symptome“ der Schizophrenie ansah,
erfährt offensichtlich eine wissenschaftliche Wiederbelebung (Sachs
und Katschnig, 2001).
Emil Kraepelins Beobachtungen in einem fernen
Land und die Idee der
Unheilbarkeit der
„Dementia praecox“
Es war schon seltsam. Da wurde
im Jahre 1886 – die universitäre Psychiatrie war kaum zwanzig Jahre alt ein aufstrebender junger Psychiater
aus Deutschland auf den Psychiatrielehrstuhl eines Ortes berufen, an dem
die meisten Menschen im Alltag
Sprachen verwendeten, die er nicht
verstand und sich auch nicht rasch
aneignen konnte – nämlich estnisch,
russisch und lettisch. Während in
Wien der gleichaltrige Sigmund
Freud (1856–1939) im selben Jahr
seine Praxis eröffnete und seine
Methode auf das „Verstehen“ dessen
aufbaute, was ihm seine Patienten
über ihr Innenleben mitteilten, musste sich Kraepelin in Estland (das
damals Teil des zaristischen Russland
war) von seinen Assistenzärzten dolmetschen lassen, was die Kranken
sprachen. Er machte aus der Not eine
Tugend und wurde ein präziser Beobachter des äusseren Krankheitsverlaufes (Katschnig, 1998 und 2001).
Manche von Kraepelins Patienten
– sie litten entweder an schweren
depressiven oder schweren manischen Verstimmungszuständen –
konnten nach mehreren Monaten Klinikaufenthalt wieder gesund entlassen werden (wobei es ja damals die
heute verfügbaren Therapiemethoden
noch nicht gab), kamen aber im Laufe Ihres Lebens immer wieder, wobei
sie nach den Entlassungen oft viele
2
Jahre gesund waren. Die Krankheit
dieser Patienten nannte Kraepelin
„Manisch-depressives Irresein“. Eine
andere Gruppe von Patienten wurde
überwiegend im jugendlichen Alter
erstmals krank und in der Psychiatrie
aufgenommen; die Betroffenen litten
an einem eigenartigen geistigen
Schwächezustand, an Wahnideen und
Halluzinationen und wurden nicht
mehr gesund. Da Kraepelin hier eine
Analogie zu der unheilbaren senilen
Demenz und zu der ebenfalls irreversiblen Demenz der progressiven
Paralyse gegeben schien, nannte er
diese Krankheit „Dementia praecox“,
die im Gegensatz zu den anderen
Demenzformen eben „vorzeitig“ im
Leben auftrat, aber für Kraepelin
genauso unheilbar war wie diese
(Kraepelin, 1899)2.
Es ist heute klar – und Eugen
Bleuler hat schon wenige Jahre nach
Kraepelins Publikation darauf hingewiesen –, dass Kraepelin aus dem
gesamten Spektrum des Krankheitsbildes der Schizophrenie gleichsam
nur einen „Zipfel“ gesehen und beschrieben hat: die Patienten – und sie
gibt es bei vielen, auch körperlichen
Krankheiten – , deren Krankheit sich
nicht mehr bessert oder sogar einen
progredienten Verlauf aufweist. Nach
heutigen Erkenntnissen sind dies
etwa 15 – 20 % aller an Schizophrenie erkrankten Personen.
Kraepelin sah vermutlich deshalb
vorwiegend diese Gruppe von Kranken, weil es damals noch sehr wenig
psychiatrische Betten gab und folglich nur die am schwersten gestörten
und am meisten störenden Patienten
überhaupt in eine Anstalt kamen und
dort blieben. Dies war schon in Dorpat so, besonders aber dann in Heidelberg, wo Kraepelin von 1891 bis
1904 wirkte und in seiner Klinik nur
zwangseingewiesene Patienten aufnehmen konnte, also eine noch selektiertere Patientengruppe.
Ein zweiter Grund für diese „Einschränkung“ der Erfahrungsbasis
13
Kraepelins war wohl, dass sich die
träge Anstaltsatmosphäre gerade auf
Patienten mit einer Schizophrenie
negativ auswirkt und „Hospitalismusphänomene“ erzeugte, die eine
Entlassung unwahrscheinlich machten (Wing und Brown, 1970). Somit
blieben gerade Patienten mit Schizophrenie im Krankenhaus – oft für
den Rest ihres Lebens – und wiesen
somit einen „chronischen“ Verlauf
auf und erschienen als „unheilbar“.
Auch wenn Kraepelins Begriff
der „Dementia praecox“ obsolet ist,
auch wenn durch Forschung klar
belegt ist, dass nur ein Bruchteil der
Patienten „chronisch“ wird – die Idee
„einmal schizophren, immer schizophren“, also Kraepelins Idee der
Chronizität und Progredienz, ist noch
weit verbreitet. Und die Eigenschaft
der Unheilbarkeit haftet dann jedem
an, der einmal die Diagnose „Schizophrenie“ erhalten hat. Damit zieht
dann gleich Hoffnungslosigkeit und
mangelnde Initiative auf Seiten der
professionellen Helfer ein, so dass die
Diagnose im Sinne einer sich selbst
erfüllenden Prophezeiung wirkt. Das
reicht bis in die Versorgungsstrukturen, wenn etwa an Schizophrenie
erkrankte Personen von den Leistungen der sozialen Krankenversicherung ausgeschlossen und „asyliert“
werden.
Kraepelin hat zwar nicht nur den
Verlauf beschrieben sondern auch die
Symptome, die er bei der Dementia
praecox beobachtet hat. Er hat diese
allerdings nur unsystematisch dargestellt (Berner et al, 1992), was mit seinem Ansatz der Beobachtung des
Längsschnittverlaufes (gleichsam aus
der Ferne mit einem Teleskop)
zusammenhängt, der bei ihm gegenüber einer detaillierteren „mikroskopartigen“ Beschreibung der
psychopathologischen Erlebnisse und
Auffälligkeiten des Patienten dominiert. Mayer-Gross (1932) hat Kraepelin gerade deshalb kritisiert und
ihm schlichtweg die Vernachlässi-
„Dementia praecox“ wurde als Begriff allerdings schon 40 Jahre vor Kraepelin von der französischen Psychiatrie als „demence precoce“
eingeführt.
14
Katschnig
gung der psychopathologischen
Theorienbildung vorgeworfen: Kraepelin biete nur ein „unstrukturiertes
Mosaik von Symptomen“ dar.
Eugen Bleulers Terminus
technicus „Schizophrenie“
und das Missverständnis
von der „Gespaltenen
Persönlichkeit“
Der von Kraepelin vernachlässigten Aufgabe der systematischen
Beschreibung der psychopathologischen Erscheinungen des Krankheitsbildes widmetet sich der gleichaltrige
Schweizer Psychiater Eugen Bleuler
(1857–1939) umso intensiver. Er
bearbeitete diese Aufgabe so gründlich, dass er gleich einen neuen Terminus technicus für die Krankheit
prägte, der sich ausdrücklich auf die
psychopathologischen Erscheinungen und nicht auf den Verlauf bezog
(Bleuler 1911). Ja, es war ihm geradezu ein Anliegen, die Kraepelinsche
Idee der Chronizität durch seine Idee
der Definition mittels psychopathologischer Symptome zu ersetzen. Vielleicht kam es deshalb dazu, weil er in
der Großstadt Zürich (wo Bleuler von
1898 bis 1927 die Psychiatrische
Universitätsklinik, das sogenannte
„Burghölzli“ leitete) auch viele
Patienten sah, die wieder gesund wurden oder an leichteren Ausprägungsformen der Krankheit litten.
Schon der Titel von Eugen Bleulers (1911) berühmter Monographie
„Dementia praecox oder Gruppe der
Schizophrenien“ bringt zwei Neuerungen deutlich zum Ausdruck.
Erstens: Es handelt sich um eine
„Gruppe“ von Krankheiten, die
unterschiedliche Verläufe haben können. Zweitens: Der Begriff „Dementia praecox“ soll durch den neuen
Begriff der „Schizophrenie“ ersetzt
werden, was auch prompt geschah;
3
der Begriff der Schizophrenie hat sich
dauerhaft durchgesetzt.
Mit „Schizophrenie“ meinte
Bleuler nicht „gespaltene Persönlichkeit“ – das ist eine spätere falsche
Rückübersetzung des Wortes – sondern das Gemeinsame der zentralen
psychopathologischen Phänomen der
Schizophrenie, nämlich die Auflockerung der inneren Zusammenhänge
der seelischen Vorgänge. Was das genau heisst, ist nicht kurz zu sagen und
wird uns gleich noch beschäftigen.
Leider hat der Begriff „Schizophrenie“ ein Eigenleben entwickelt und
in der Öffentlichkeit eine andere
Bedeutung erhalten als die, die ihm
Bleuler gab. Bleuler konnte das nicht
vorhersehen. Im Gegenteil: Er meinte
sogar, durch die Wahl dieses ganz
besonderen Begriffes Missverständnissen vorbeugen zu können. In der
Einleitung zur genannten Monographie aus dem Jahre 1911 schreibt er
(S. 5): „So blieb nichts anderes übrig,
als hier die Krankheit mit einem
Namen zu bezeichnen, der weniger
missverständlich ist.“ Leider weit
gefehlt, wie wir heute wissen! Und
gleich darauf verwirft er den Vorschlag eines anderen Psychiaters, die
Krankheit mit dem Begriff „Dysphrenie“ zu bezeichnen, mit der Begründung, „dass die Versuchung, ihm
einen unpassenden Sinn unterzuschieben, zu gross wird“.
Genau das ist aber das Schicksal
des Wortes „Schizophrenie“ geworden. Zumindest seit den 50er Jahren
des vorigen Jahrhunderts hat das
Wort einen „einen unpassenden
Sinn“, in Form einer zweitem Bedeutungen erhalten (Pfeifer, 1995):
neben der genannten fachlichen Definition der „Auflockerung der seelischen Zusammenhänge“ nämlich die
Laienbedeutung der „Zwiespältigkeit“ und „Widersprüchlichkeit“, die
man gut dokumentiert in der Zeitung
findet (Hoffmann-Richter 2001). Seit
damals wirkt diese bildungssprachliche Alltagsverwendung unbarmherzig auf die Kranken zurück, denen
man unterstellt, sie hätten zwei oder
auch mehr Persönlichkeiten. Robert
Louis Stevensons Roman „Dr. Jekyll
und Mr. Hyde“ ist der allgemein
bekannte Prototyp für diese „gespaltene Persönlichkeit“ – in diesem Fall
einmal Helfer der Menschheit, dann
wieder mordende Bestie.
Vor jemandem, der unvorhersehbar und plötzlich jemand anderer
wird, muss man sich nicht nur fürchten, er stellt auch die Grundregeln
menschlichen Zusammenlebens prinzipiell in Frage, die ja auf dem Vertrauen in die Kontinuität des Verhaltens anderer beruhen. Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit, Eigenschaften, die „Geisteskranken“ in der
Öffentlichkeit ohnehin unterstellt
werden, gelten im besonderen Masse
für jemanden, der plötzlich wer anderer ist.
In einer Umfrage in Österreich
(Grausgruber et al in diesem Heft)
gab es übrigens einen klaren Bildungsgradienten: je höher der Schulabschluss war, desto eher assoziierte
die befragte Person mit dem Wort
Schizophrenie eine „gespaltene Persönlichkeit“. Dieser Befund ist politisch nicht irrelevant – Regelungen
und Gesetze, die Diskriminierung
psychisch Kranker beinhalten können, werden ja gerade von Personen
mit höherer Schulbildung erstellt.
Nun ist es nicht ganz unverständlich, dass der Begriff von Laien so
verwendet wird: auf Griechisch
heisst „schizein“ immerhin “spalten”.
Und der Begriff „phrene“, auf Griechisch eigentlich „Zwerchfell“3, wird
schon seit Homers Zeiten auch als
Bezeichnung für die „Seele“ bzw. den
„Geist“ verwendet. So rückübersetzt
heisst dann „Schizophrenie“ tatsächlich „gespaltene Seele“. „Schizein“
heisst aber nicht nur „spalten“, sondern auch „in mehrere Teile zerfallen“, und zwar auch in dem Sinn, dass
die Teile eines ursprünglich Ganzen
nicht mehr zusammenhängen.
Und das ist der Kern von Bleulers
psychopathologischer Schizophre-
Im „Nervus phrenicus“ ist diese Bedeutung in die medizinische Terminologie übernommen werden.
Stigmarelevante historische Wurzeln des Schizophreniekonzepts ...
niedefinition: Die verschiedenen seelischen Funktionsbereiche (wie etwa
Denken, Fühlen, Wahrnehmen) arbeiten nicht mehr harmonisch zusammen und sind auch in sich zusammenhanglos (ohne dass eine hirnorganische Störung dafür verantwortlich gemacht werden kann). Im Detail
äußerst sich diese Zusammenhanglosigkeit in formalen Denkstörungen
(wie Inkohärenz, Gedankenabreissen,
Sperrung, Entgleisung, Faseln), in
Affektstörungen (Affektdissoziation,
Parathymie), und auch in anderen als
kognitiv einzustufenden Störungen
(etwa der Aufmerksamkeit; der Körperwahrnehmung; der Handlungsroutinen – auch als Automatismenverlust
bezeichnet; der Fähigkeit, den Kontext für die Interpretation einer Wahrnehmung zu nutzen). Der Wiener
Psychiater Stransky (1903) hat – in
Analogie zu dem in der Neurologie
für einen unkoordinierten Gang verwendeten Begriff „Ataxie“ – für diese seelische Zusammenhanglosigkeit
damals den treffenden Begriff „intrapsychische Ataxie“ vorgeschlagen,
der aber von der Fachwelt nicht aufgegriffen wurde.
Der gesamte Komplex der kognitiven und affektiven Störungen wurde
– entsprechend der ihm zugeschriebenen zentralen Rolle für die Diagnose
der Krankheit – von Bleuler als
„Grundstörungen“ bezeichnet. Halluzinationen und Wahnideen waren für
Bleuler hingegen nur „akzessorische“, also randständige Symptome
der Schizophrenie, die zwar nicht selten sind, aber diagnostisch keine
Relevanz besitzen. Wie wir gleich
sehen werden, hat sich diese Auffassung in den Algorithmen der modernen Diagnosesysteme DSM-IV
(American Psychiatric Association,
1994) und ICD-10 (World Health
Organization, 1992) nicht niedergeschlagen. Denkstörungen kommen
dort zwar vor, spielen aber für die
Diagnose der Schizophrenie nur eine
marginale Rolle und sind dort den
Halluzinationen und Wahnideen
untergeordnet. Die „Gespaltenheit“ –
als reines Laienkonzept – findet sich
in keinem der offiziellen Klassifikationssysteme.
Kurt Schneiders
„Symptome 1. Ranges“:
„Verrücktheit“ als leicht zu
erkennende Auffälligkeit
Eine völlige Kehrtwendung – mit
beträchtlichen Folgen, wie wir gleich
sehen werden – vollzog Ende der
30er Jahre der deutsche Psychiater
Kurt Schneider (1887–1967). Bei
ihm stehen plötzlich Halluzinationen
und Wahnideen, also „psychotisch“
genannte Symptome, im Zentrum der
Schizophrenie-Diagnostik, die er in
eine Liste von acht „Symptomen
1. Ranges“ zusammenfasste.
„Unter den zahlreichen bei der
Schizophrenie vorkommenden abnormen Erlebnisweisen“, so schreibt
er in seinem berühmt gewordenen
Aufsatz ‚Schizophrenie und Zyklothymie‘, „gibt es einige, die wir
Symptome 1. Ranges heißen, nicht
weil wir sie für die „Grundstörungen“
hielten, sondern weil sie für die Diagnose sowohl gegenüber nichtpsychotisch seelisch Abnormem, wie
gegenüber der Zyklothymie ein ganz
besonderes Gewicht haben. Diese
Wertung bezieht sich also nur auf die
Diagnose. Nicht aber ist damit etwas
zur Theorie der Schizophrenie gesagt,
wie das Bleulers „Grundsymptome“
und „akzessorische“ Symptome meinen ...“ (K. Schneider 1959, S. 129).
Und gleich darauf heisst es: „Man
könnte vielleicht noch andere schizophrene Symptome 1. Ranges anerkennen. Wir beschränken uns aber
auf solche, die begrifflich und bei der
Untersuchung ohne allzu große
Schwierigkeit zu fassen sind“.
„... ohne allzu grosse Schwierigkeit zu fassen ...“ ist die Schlüsselwendung zum Verständnis von
Schneiders Überlegungen. Kurt
Schneider ging es darum, dem Prakti-
15
ker im Alltag ein einfach anzuwendendes diagnostisches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen. Und
die Symptome, die am einfachsten zu
erfassen sind – vorausgesetzt natürlich, dass der Betroffene über diese
Erlebnisse offen berichtet – sind eben
Halluzinationen und Wahnideen. Mit
einem Mal war es anscheinend nicht
mehr notwendig, ganze Lehrbücher
und Monographien zu studieren und
über jahrelange Erfahrung zu verfügen, wenn man die Diagnose einer
Schizophrenie stellen wollte. Berichtete ein Patient über seine Erlebnisse,
dann musste der Psychiater „nur
mehr“ eine Liste von acht Symptomen durchgehen. Lag mindestens
eines dieser Symptome vor, dann, so
meinte Kurt Schneider, spreche er „in
aller Bescheidenheit“ von Schizophrenie. Für den Alltag war dies recht
praktisch, besonders dann, wenn man
noch nicht sehr erfahren war.
Als Symptome ersten Ranges
führt Kurt Schneider an:
• Gedankenlautwerden
• Hören von Stimmen in Form von
Rede und Gegenrede
• Hören von Stimmen, die das eigene Tun mit Bemerkungen begleiten
• leibliche Beeinflussungserlebnisse
• Gedankenentzug und andere
Gedankenbeeinflussungen
• Gedankenausbreitung
• Wahnwahrnehmung
• alles von anderen Gemachte und
Beeinflusste auf dem Gebiet des
Fühlens, Strebens (der Triebe)
und des Willens
Die Mehrzahl dieser Phänomene
wird wohl von jedem Laien sofort als
„verrückt“ eingestuft; es sind allesamt „psychotische“ Symptome, wie
man sagt (oder auch „Plus-“, „positive“ oder „produktive“ Symptome).
Von den Assoziations- und Affektstörungen, wie sie Eugen Bleuler in den
Vordergrund gestellt hatte, ist hier
nichts mehr zu sehen.
Kurt Schneider leitete seit 1931
das Klinische Institut der Deutschen
Forschungsanstalt für Psychiatrie in
16
Katschnig
München (das spätere Max-PlanckInstitut) und war gleichzeitig Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung
des Städtischen Krankenhauses
München-Schwabing. Die „Symptome ersten Ranges“ hat er 1938 im
Nervenarzt publiziert, dann 1939 in
einer 27 Seiten langen Broschüre
„Psychischer Befund und psychiatrische Diagnose“, schließlich fanden
sie in sein Buch „Klinische Psychopathologie“ Eingang (5. Auflage
1959).4 1959 erschien dieses Buch
auch auf Englisch, wodurch Symptome ersten Ranges weltweit Verbreitung fanden.
Es ist bemerkenswert, dass alle
genannten Schriften wenig umfangreich sind, aber grossen Einfluß
gewannen. So sind einzelne „Symptome 1. Ranges“ zum Teil wörtlich in
die Schizophreniedefinitionen der
sogenannten operationalen Diagnosesysteme übernommen worden.5 Man
geht vermutlich nicht sehr fehl, wenn
man annimmt, dass gerade die von
Kurt Schneider betonte Theorielosigkeit und der Listencharakter die
„Symptome 1. Ranges“ für die Autoren dieser operationalen Diagnosesystem so attraktiv machten. In gewisser Weise ist Schneiders Liste der
Wegbereiter von ihnen allen.
Schneider betont, wie wir gesehen
haben, dass er den genannten Symptome den 1.Rang nur bezüglich der
Diagnose, nicht aber bezüglich der
Theorie zugesteht. Was er mit dieser
Formulierung wirklich gemeint hat,
bleibt dunkel – ähnliches gilt für analoge Äusserungen der Autoren der
operationalen Diagnosesysteme. Genau so wie diese, strebt Schneider nur
eine Verlässlichkeit der Diagnose –
heute Reliabilität genannt – an;
eigentlich handelt es sich um nicht
viel mehr als eine Sprachregelung.
Ob diese Sprachregelung im Hinblick
auf verstehbare Mechanismen der
Krankheitsentstehung und der Behandlung einen Sinn machen und
eine Bedeutung haben, bleibt offen.
4
5
In diesem Zusammenhang ist das
wenig bekannte Faktum erwähnenswert, dass Kurt Schneiders frühe
Publikation der Symptome ersten
Ranges (K. Schneider, 1939) nicht für
Psychiater sondern für praktische
Ärzte und Amtsärzte gedacht war
(Peters, 1991), also notgedrungen
eine Vereinfachung darstellte. Wie
hätten praktische Ärzte und Amtsärzte Denk- und Affektstörungen erfassen sollen, benötigt man doch für
die Feststellung des Vorliegens dieser
„Beobachtungssymptome“ grosse
klinische Erfahrung, während es im
Vergleich dazu wesentlich einfacher
ist, die von einem Patienten berichteten Wahnideen und Halluzinationen
zu erfassen.
Für unser Thema der stigmarelevanten Inhalte des Schizophreniekonzeptes ist festzuhalten: Dass von den
modernen Diagnosesystemen gerade
die von Laien am ehesten als „verrkckt“ eingestuften Wahnideen und
Halluzinationen als essentiell angesehen werden – obwohl es dafür keine
Begründung außer der einfacheren
diagnostischen Handhabbarkeit gibt
– , ist aus der Perspektive der Stigmavermeidung genauso verhängnisvoll
wie Kraepelins Unheilbarkeitsspostulat und Bleulers von den Laien falsch
verstandener Schizophreniebegriff.
Welche Möglichkeiten gibt
es, vom Schizophreniekonzept her einen Beitrag
zur Entstigmatisierung zu
leisten?
Im Hinblick auf mögliche Aktivitäten zur Reduktion des Stigmas,
das psychisch Kranke und speziell an
Schizophrenie leidende Personen im
Alltag erfahren, ist es nützlich, vier
Stufen bzw. Ebenen des Stigmatisie-
rungsprozesses zu unterscheiden: (1)
die Ebene des Inhaltes des Vorurteils;
(2) die Ebene der Identifizierung
einer konkreten Person, auf die das
Vorurteil angewandt wird; (3) die
Ebene der tatsächlich stattfindenden
Diskriminierung und Benachteiligung der betroffenen Person; und (4),
die Ebene der psychologischen Internalisierung des Vorurteils durch die
betroffene Person.
Der vorliegende Beitrag befasst
sich mit der ersten Ebene, also mit
den Inhalten des öffentlichen Vorurteils über die Schizophrenie und seiner möglichen Veränderung. Diese
Inhalte hängen aber mit den anderen
drei Ebenen eng zusammen, so dass
diese hier kurz angesprochen werden
müssen.
Der zweite und für einen Betroffenen persönlich entscheidende
Schritt ist der seiner Identifikation als
zu diesem Stereotyp passend – häufig
geschieht dies dadurch, dass bekannt
wird, dass jemand in psychiatrischer
Behandlung war oder ist. In diesem
Moment wird seine Individualität
vergessen und es werden ihm vorwiegend die negativen Eigenschaften
des Stereotyps zugeschrieben. Die
Diskussion darüber, wie die potentiell
und tatsächlich Betroffenen damit
umgehen, ob psychiatrische Hilfe gar
nicht oder zu spät aufgesucht oder
vorzeitig abgebrochen wird, welche
Techniken der Verheimlichung oder
der Bewältigung verwendet werden
(z.B. Aufklärung anderer über die falschen Vorstellungen), ist nicht
Gegenstand dieses Beitrages.
Ebenfalls nicht diskutiert wird
hier die dritte Ebene, auf der es darum
geht, welchen Diskriminierungen
psychisch Kranke durch gesetzliche
oder andere offizielle und halboffizielle Regelungen ausgesetzt sind,
und wie diese Diskriminierungen verringert oder abgeschafft werden können. Zweifellos hängen viele gesetzlich begründete Diskriminierungen
mit falschen Vorstellungen bei den
Kurt Schneider war nach dem 2.Weltkrieg noch einige Jahre Leiter der Heidelberger Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik .
Z.B das Present State Examination (PSE)–CATEGO-System (Wing et al, 1974), die Research Diagnostic Criteria (RDC) (Spitzer et al, 1978) und
das DSM-III (American Psychiatric Association, 1980) etc., sowie auch die ICD-10 (World Health Organization, 1992)
Stigmarelevante historische Wurzeln des Schizophreniekonzepts ...
Personen, die diese Regelungen produzieren, zusammen. Das falsche
öffentliche Stereotyp hat sehr viel mit
diesen Diskriminierungen zu tun, so
daß sich für Aktivitäten auf dieser
dritten Ebene aus den Diskussionen
über das öffentliche Stereotyp ein
gewisser Nutzen ziehen lässt.
Die vierte Ebene ist die der Internalisierung des Stereotyps durch den
Betroffenen. Besonders bei langen
Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen kann es dazu kommen,
wobei sich das Phänomen des
„Hospitalismus“ damit zum Teil
überschneidet. Ähnliches geschieht
heute auch bei Langzeitpatienten
ausserhalb des Krankenhauses.
Manchmal wird – im Unterschied zur
de-facto
Diskriminierung
und
Benachteiligung im Alltag – der
psychologische Vorgang der Identifizierung mit dem Stereotyp als „Stigmatisierung“ im engeren Sinn
bezeichnet. Es gibt Ansätze zur Antistigmatherapie, in denen versucht
wird, den Patienten zu einer realistischen und lebbaren Selbstdefinition
zu verhelfen, anstatt die negative Rolle des psychisch Kranken anzunehmen. Das Konzept des Empoverment
ist dabei zentral.
Kehren wir zur ersten Ebene
zurück und zum öffentlichen Stereotyp der Schizophrenie.
Nach dem bisher Gesagten könnte man überspitzt formulieren, dass
das öffentliche Stereotyp einer an
Schizophrenie erkrankten Person darin besteht, dass angenommen wird,
dass die Krankheit unheilbar ist
(Kraepelin); dass der Betroffene
plötzlich jemand ganz anderer (vielleicht gefährlicher) sein kann, weil er
an einer „Persönlichkeitsspaltung“
leidet (falsch verstandenes Schizophreniekonzept Bleulers); und dass er
ein „Verrückter“ mit Wahnideen und
Halluzinationen ist (K. Schneider).6
Für die meisten unserer Patienten
stimmt das so nicht und niemand
6
kann wollen, dass Laien so über Personen denken, die an Schizophrenie
leiden. Der Großteil der Patienten mit
der Diagnose Schizophrenie hat keinen chronischen und progredienten
Krankheitsverlauf (natürlich gibt es
auch ungünstige Verläufe); die gespaltene Persönlichkeit ist überhaupt
eine Erfindung; und die zentrale Stellung von Halluzinationen und Wahnideen für die Diagnose einer Schizophrenie wird heute stark in Zweifel
gezogen, worauf wir gleich noch
zurückkommen werden.
Wie steht es nun mit der Möglichkeit, diese Inhalte im öffentlichen
Stereotyp der Schizophrenie zu korrigieren, was ja – neben dem Abbau der
Diskriminierung im Alltag – der
Hauptzweck der heute in vielen Ländern stattfindenden Antistigmakampagnen ist.
Als erstes stellt sich die Frage,
wie man mit dem Kraepelinsche Erbe
der Chronizität, damit auch der Idee
der Unheilbarkeit, umgehen soll, mit
Konzepten, die auch bei psychiatrisch nicht ausgebildeten Ärzten weit
verbreitet sind. Im DSM-IV (American Psychiatric Association, 1994) ist
für die Diagnose „Schizophrenie“
eine Mindestdauer der Symptomatik
von 6 Monaten vorgeschrieben,
womit schon einmal in Richtung
einer längeren Krankheitsdauer vorselektiert wird. Dauert ein den aufgezählten Symptomen entsprechendes
Syndrom kürzer, dann wird von
„schizophreniformer Störung“ gesprochen. Während hier also eine
gewisse Betonung einer längeren
Krankheitsdauer für die „echte“ Schizophrenie zu finden ist, so ist doch
auch die ganze Palette der Subtypen
der Schizophrenie zu finden, auch
derer mit guter Prognose. In der ICD10 (World Health Organization,
1992) sind ebenfalls alle Subtypen zu
finden, darüber hinaus fehlt in der
ICD-10 das 6-Monats-Kriterium.
Fazit: Die modernen psychiatrischen
17
Diagnoseschemata reflektieren heute
nicht mehr die Idee der Chronizität
und Unheilbarkeit. Sie ist vielmehr in
den Köpfen der Menschen, auch vieler nicht-psychiatrischer Ärzte, wie
die schon genannte Umfrage in
Österreich gezeigt hat. Hier sollte tatsächlich Aufklärung helfen; Antistigmakampagen können hier zurecht
Informationen über die Erfolge der
Kombination von neuen pharmakotherapeutischen, psychotherapeutischen und sozialpsychiatrischen
Massnahmen verbreiten. Dies kann
nicht oft genug geschehen. „Einmal
schizophren“ heisst keinesfalls
„immer schizophren“.
Was tun mit der „gespaltenen Persönlichkeit“, dem von Eugen Bleuler
nicht beabsichtigten Erbe seiner
Wortschöpfung „Schizophrenie“?
Sie kommt ja in keiner der existierenden Schizophreniedefinitionen
vor, ist aber im Alltag um so unausrottbarer (Finzen, 2000). Ob es
gelingt, die metaphorische Bedeutung der „Gespaltenheit“ aus der Alltagssprache zum Verschwinden zu
bringen, bezweifle ich. Besonders
Journalisten finden die Schizophrenie-Metapher offenbar sehr nützlich,
ja sie lieben sie geradezu, wenn sie
Politiker der Widersprüchlichkeit und
Inkonsistenz in ihren Äusserungen
„überführen“ (Hoffmann-Richter,
2000). Ob der Vorschlag, die Schizophrenie mit einem völlig neuen
Namen zu versehen, zielführend ist,
ist schwer zu beurteilen (z.B. mit dem
von Bleuler verworfenen Begriff
„Dysphrenie“?). Diesbezüglich soll
es ja schon Preisausschreiben gegeben haben und die Frage verträgt
sicher noch die eine oder andere
Diskussion, in der auch zu erörtern
wäre, ob die zunehmende Verbreitung
des neuen Terminus technicus „Bipolare Störung“ für die Manischdepressive Krankheit im Hinblick
auf die Entstigmatisierung etwas
gebracht hat - weil sie ja für Laien
Andere Aspekte des Vorurteils, die vorwiegend von außerhalb der Psychiatrie stammen, wie etwa der in manchen Untersuchungen aufscheinende Faktor der Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen für ihr Schicksal oder der Aspekt der Gefährlichkeit, werden hier nicht weiter diskutiert,
da der Focus der Überlegungen dieses Beitrages auf der Beeinflussung des Vorurteils durch Konzepte, die aus der Psychiatrie stammen, liegt.
18
Katschnig
undurchschaubarer ist als die
alte Diagnose „manisch-depressiv“.
Außer in dem Fall, dass „Gebildetete“ einen Terminus technicus falsch
rückübersetzen (wie dies bei der
Schizophrenie geschehen ist), hat
dieser ja die Eigenschaft, dass sich
niemand ausser den Fachleuten darunter etwas vorstellen kann, so dass
der Begriff auch nicht falsch verwendet werden kann – etwa wie der
Krankheitsbegiff „Lupus erythematodes“, von dem ich mich nicht entsinne, dass er von einem Journalisten je
als Metapher oder Schimpfwort verwendet worden wäre, obwohl die
konfluierenden roten und blauen
Flecken dieser Krankheit einiges an
politischen Assoziationen zuliessen.
Und was ist schliesslich mit den
psychotischen Symptomen, den
Wahnideen und Halluzinationen, die
Bleuler als „akzessorisch“ eingestuft
hatte und die über Kurt Schneider
eine dominierende Stellung in den
Definitionen der Schizophrenie in
den heute üblichen Diagnosesystemen erhalten haben, in denen sie die
kognitiven und affektiven Störungen
durchwegs ausstechen?
Das Dominieren psychotischer
Symptome in den Schizophreniedefinitionen wird heute zunehmend kritisiert (Tsuang et al, 2001). Zum einen,
weil Halluzinationen und Wahnideen
die „gemeinsame Endstrecke“ vieler
verschiedener psychiatrischer Störungen sind und derartige mehrdeutige Phänomene jede Art von krankheitsspezifischer kausaler Forschung
torpedieren; zum anderen, weil die
von Bleuler beschriebenen kognitiven und affektiven Symptome viel
mehr als Halluzinationen und Wahnideen für die spezifischen Alltagsbehinderungen verantwortlich sind, und
weil es ohne ihre Beachtung keine
wirksame Therapie und Rehabilitation der Schizophrenie gibt (Sachs
und Katschnig, 2001).
Bemerkenswert ist in diesem
Zusammenhang auch, dass die derzeit gebräuchlichen Schizophreniedefinitionen – mit dem hohen Stellenwert, den sie Wahnideen und Halluzi-
nationen geben – zu den bisher verwendeten „alten“ oder „klassischen“
Neuroleptika passen, die ja in erster
Linie auf diese Symptome wirken
(auch die Unterscheidung in „Plusund Minussymptome“ wurde von
dorther beeinflusst). Bei den „neuen“
oder „atypischen“ Antipsychotika
wird hingegen gerne hervorgehoben,
dass sie u.a. auch auf kognitive
Symptome wirken.
Das ständig wachsende Interesse
an den kognitiven Störungen der
Schizophrenie betrifft so verschiedenen Bereiche wie die psychiatrische
Genetik, die Neuropsychologie, die
Pharmakotherapie, die Psychotherapie und die Sozialpsychiatrie. Dass
heute zunehmend vorgeschlagen
wird, Schizophrenie als „Informationsverarbeitungsstörung“ zu verstehen und diese nicht als „Krankheit“
sondern als „Verletzlichkeit“ oder
„Vulnerabilität“ zu sehen, die sich in
der Interaktion mit der Umwelt je
nach Stressbelastung manifestiert
oder nicht manifestiert, legt nahe,
dass dieser Denkrichtung eines „Vulnerabliltäts-Stress-Coping-Konzeptes“ auch in der Definition der Schizophrenie mehr Aufmerksamkeit
geschenkt werden sollte (Katschnig,
2002; Katschnig et al. 2002).
Ausblick
Das Schizophreniekonzept ist
heute fast unmerklich in Bewegung
geraten. Zwar dominieren im klinischen und Forschungsalltag noch die
„operationalen“ Definitionen des
DSM-IV (American Psychiatric
Association, 1994) und der ICD-10
(World Health Organization, 1992) –
und da neigt man dazu, die einmal
gegebenen Beschreibungen undiskutiert anzuwenden, nicht nur im Hinblick auf den Inhalt, also auf bestimmte Symptome, sondern auch im
Hinblick auf die eher mechanisch-
deskripitive aber „praktische“ Art,
wie eine Krankheit aus Symptomen
zusammengesetzt ist, deren Einbau in
einen „Algorithmus“ dann eine Diagnose ergibt.
In der Konzeptdiskussion werden
heute nicht nur die Inhalte dieser
Definitionen in frage gestellt – die
Tage der Wahnideen und Halluzinationen in der Schizophreniedefiniton
erscheinen gezählt – sondern auch die
Art der „Diagnosekonstruktion“. Die
Idee der „Informationsverarbeitungsstörung“ und des „VulnerabilitätsStress-Coping-Modells“ weisen in
eine prinzipiell neue Richtung: Nicht
mehr Symptome und deskriptive
kategoriale Krankheitseinheiten (die
sich ja besonders gut für die Diskriminierung und Stigmatisierung eignen), sondern die pathologischen
Prozesse und Dysfunktionen hinter
den Symptomen werden interessant,
für die man dann (diagnoseunabhängig) ätiologische Faktoren und pathogenetische Prozesse identifizieren
könnte (Gaebel, 2001). Bei der Schizophrenie leiten kognitive Funktionsstörungen, die eine Entsprechung in
dysfunktionalen Denkstilen und/oder
dysfunktionalen biologischen Funktionsbläufen haben (die man auch
Vulnerabilität nennen kann), zunehmend das Erkenntnisinteresse (Sachs
und Katschnig, 2001). Auch eigene
Termini tauchen für diese Vulnerabilität auf, wie etwa der Begriff der
„Schizotaxie“, der von Meehl schon
1962 vorgeschlagen wurde und jetzt
wieder aufgegriffen wird (Tsuang et
al, 2000). Im übrigen dachte bereits
Eugen Bleuler (1911) in Krankheitsprozessen und nicht einfach in deskriptiven Symptommustern – und
ging noch darüber hinaus, indem er
viele „Symptome“ (er nannte sie
sekundär) als Resultat der geglückte
oder missglückten Anpassungsversuche der Person an die Erscheinungen
des primären Krankheitsprozesses
ansah.
Wohin diese Entwicklung führen
wird, ist noch nicht sicher erkennbar.
Auf jeden Fall kann sie, wie sehr sie
auch auf einer inneren wissenschaft-
19
Stigmarelevante historische Wurzeln des Schizophreniekonzepts ...
lichen Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Psychiatrie beruht, auch
aus der Sicht der Stigmavermeidung
begrüsst werden. Das Verständnis
von einer an „Schizophrenie“ leidenden Person wird durch diese Ansätze
differenzierter und individualisierter.
Das Anlegen verschiedener „Dimensionen“ der Dysfunktion anstelle des
„Schubladisierens“ in eine diagnostische Kategorie, ermöglicht ein nuancierteres Herangehen an die erkrankte Person.
Allerdings gilt das nur prinzipiell
– die große Unbekannte ist, ob selbst
dann, wenn die Psychiatrie diese neuen „dimensionalen“ und „funktionalen“ Konzepte entwickelt und anwendet, bei Nicht-Fachleuten immer
noch das Bedürfnis nach Einordnung
von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten in Kategorien von Vorurteilen besteht. Vielleicht sind es gar
nicht nur die inhaltlichen Diagnosekonzepte der Psychiatrie, die zur Diskriminierung und Stigmatisierung
beitragen, sondern auch die Tatsache
von der Psychiatrie behandelt zu werden? Wenn dies so wäre, dann stellt
sich auch gleich die Frage, was und
wie diese Psychiatrie ist. Das steht
aber auf einem anderen Blatt.
Ich danke Herrn Univ. Prof. Dr.
Eberhard Gabriel für eine Reihe
nützlicher Hinweise.
DC 1994. Deutsche Version: Saß H., H.U.
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Univ.-Prof. Dr. Heinz Katschnig
Universitätsklinik für Psychiatrie
Währingergürtel 18 – 20
A-1090 Wien, Österreich
21
REZENSION
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002
Katschnig H., Donat H., Fleischhacker W. W., Meise U.:
4 x 8 Empfehlungen zur Behandlung von Schizophrenie.
Edition pro mente, Linz 2002
Die Österreichische Gesellschaft
für Psychiatrie und Psychotherapie
hat vier renommierte Psychiater und
erfahrene Experten ersucht, Behandlungsempfehlungen für Schizophrenie-Kranke zu erarbeiten. Diese Empfehlungen sind primär für Fachärzte
für Psychiatrie bestimmt. Es ist aber
von den Autoren beabsichtigt, dass sie
auch für die zahlreichen anderen
Berufsgruppen, die in der Behandlung
und Versorgung von SchizophrenieKranken tätig sind, von Nutzen sind.
Die Autoren betonen, dass sie
bewusst von „Empfehlungen“ und
nicht von „Leitlinien“ sprechen, da
das Wort „Empfehlungen“ einen
geringeren Verbindlichkeitsgrad habe.
Sie heben auch hervor, dass nicht jede
Empfehlung auf jeden Patienten
zutreffe. So fällt beim Durcharbeiten
auch auf, dass manche Empfehlungen
einen recht großen Spielraum lassen.
Auf diese Weise wird berücksichtigt,
dass die unterschiedlichen Lebenssituationen, die verschiedenen Krankheitsverläufe und die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kranken und
ihrer Angehörigen individuell angepasste Behandlungsmaßnahmen erfordern.
Es ist auch ungewöhnlich, dass
diese Empfehlungen nicht nur auf
Basis der wissenschaftlichen Literatur
erstellt wurden, sondern Vor-Versionen auf Tagungen und Kongressen
vorgestellt wurden und die Autoren
sich der kritischen Diskussion gestellt
haben. Die dabei gesammelten Anregungen und Kritikpunkte wurden in
der endgültigen Version berücksichtigt.
Durch das ganze Buch ist der klinisch-praktische Bezug festzustellen.
Alle Empfehlungen sind trotz des
Herausarbeitens der wissenschaftlichen Evidenz praxisorientiert und
im klinischen Alltag umsetzbar. Es ist
den Autoren gelungen, die Spannung
zwischen klinischer Erfahrung und
wissenschaftlich anerkanntem Wissen
weitgehend aufzulösen. Die Darstellung der Empfehlungen ist nach den
drei vorherrschenden Richtungen der
Interventionsmethoden in der Psychiatrie gegliedert: der Intervention
mit biologischen Mitteln (medikamentöse Therapie), der mit psychischen Mitteln (Psychotherapie) und
der Intervention an der Umwelt und
dem sozialen Kontext des Kranken
(Soziotherapie). Für jeden dieser drei
Bereiche wurden jeweils acht Empfehlungen formuliert. Den Empfehlungen zu diesen Therapieformen
wurden acht allgemeine Empfehlungen vorangestellt, die von der Art der
Intervention unabhängig sind und
generell für den therapeutischen
Umgang mit Schizophrenie-Kranken
gelten. Da für pharmako-, psychound soziotherapeutische Techniken
jeweils 8 Empfehlungen formuliert
wurden, signalisieren die Autoren
deren Gleichgewichtung und betonen
den integrativen Ansatz für das
„Management“ dieser komplexen und
vielgestaltigen Gruppe von psychischen Erkrankungen. Als gemeinsame
Basis wird das „VulnerabilitätsStress-Coping Paradigma“ für das
Verständnis schizophrener Erkrankungen zu Grunde gelegt. All dies
unterscheidet
die
vorliegenden
Behandlungsempfehlungen von ähnlichen in den letzten Jahren für der
Schizophreniebehandlung publizierten Guidelines oder Leitlinien. Letztere vermitteln oft den Eindruck, dass
psycho- oder soziotherapeutischen
Behandlungsansätzen eine randständige Wertigkeit zugeordnet wird.
Jede der insgesamt 32 Empfehlungen umfasst etwa zwei Druckseiten,
wobei die eigentliche Empfehlung
durch einen Kasten hervorgehoben
wird. Erläuterungen zu den wichtigsten Aspekten, die Angabe des Evidenzgrades und (häufig deutschsprachige) Literaturhinweise ergänzen
jede Empfehlung.
Die „4 x 8 Empfehlungen zur
Behandlung der Schizophrenie“
umfassen alle wesentlichen Aspekte
der Schizophrenie-Behandlung. Darin
finden sich auch moderne Ansätze,
wie „Empowerment“ und „Salutogenese“; Sichtweisen, die auch für andere Bereiche der Gesundheitsversorgung zunehmend Gültigkeit gewinnen. Der internationale Stand der
wissenschaftlichen Literatur wird auf
übersichtliche und leicht lesbare
Weise zusammengefasst. Der hohe
Praxisbezug gibt Grund zu der Hoffnung, dass diese Empfehlungen im
klinischen Alltag auch wirklich umgesetzt werden und auf diese Weise die
Behandlung Schizophrenie-Kranker
positiv beeinflussen. Zu guter Letzt
sollte nicht unerwähnt bleiben, dass
diese Publikation auch ein sehr
ansprechendes Layout aufweist.
Univ.-Prof. Dr.
Johannes Wancata, Wien
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 22 – 26
Rechtliche Benachteiligung
psychisch Kranker in Österreich
Karin Gutiérrez-Lobos
Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien
Schlüsselwörter
psychisch krank – Stigmatisierung –
Gefährlichkeit – Unterbringungsgesetz –
Soziale und private Krankenversicherung
– Ehegesetze
Key words
Stigma – mental disorders – civil commitment – dangerousness – social insurance
– law – marriage acts
Rechtliche Benachteiligung
psychisch Kranker in Österreich
Die Einstellung der Öffentlichkeit
sowie der politischen Entscheidungsträger gegenüber psychisch Kranken
ist nach wie vor von Mythen und Stereotypen geprägt. Das spiegelt sich
sowohl in gesetzlichen Bestimmungen als auch in der Interpretation und
Durchführung bestimmter Gesetze
wider. Deswegen wurde als Teil der
österreichischen Antistigmakampagne eine Untersuchung über potentielle diskriminierende Inhalte von
Gesetzen (Sozialversicherung, Unterbringungsgesetz, Straf- und Zivilgesetzgebung etc.) initiiert. Es gibt
Gesetze, die direkt und offen psychisch kranke Personen diskriminieren, aber auch Gesetze, die zwar nicht
ihrem Wesen nach stigmatisierend
sind, wo aber gesetzliche Bestimmungen im Fall psychischer Erkrankung unterschiedlich und in den meisten Fällen nachteilig angewendet
werden. Diskriminierende Paragraphen finden sich aber auch in gesetzliche Vorschriften, die primär zum
Schutz von psychisch kranken Personen erlassen wurden. Im folgenden
Artikel werden Beispiele gesetzlicher
Benachteiligungen und Stigmatisierung aufgezeigt und diskutiert.
Legal discrimination of mentally disordered persons in Austria
The attitudes of the public as well
as of the political authorities towards
mentally disordered persons, their
needs and issues of integration are
still influenced by myths and misconceptions. This is reflected in legal
provisions as well as in the interpretation and administration of rules. Therefor, as part of the Austrian anti-stigma campaign an investigation about
potential discriminating sections of
the relevant laws (social security system, civil commitment, penal and
civil code, etc.) was initiated with the
aim to identify rules that contribute to
discrimination and to disadvantages
and to test the consumer orientation
of access and assertion of claims.
There exist rules directly and overtly
discriminating mentally disordered
persons as well as laws that do not
fundamentally differentiate between
mentally and somatically ill persons,
but where rules are differently and –
in most of the cases – adversely applied. Also, legal provisions basically
enacted to protect the rights of mentally disordered persons may include
some sections resulting in discrimination. Certain provisions such as the
claim on sufficient and needs-orientated community care and rehabilitation facilities and on the legally warranted support of relatives are even
entirely lacking. Some examples of
legal stigmatisation and discriminations will be presented and discussed.
Einleitung
Das Wissen über und die Einstellung der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger zu psychischen Krankheiten, ihre Implikationen und geeignete Behandlungsmöglichkeiten sind weiter von Mythen
und Stigmatisierung geprägt, die
ihren Niederschlag sowohl in rechtlichen Bestimmungen als auch in der
Auslegungs- und Durchführungspraxis von Rechtsnormen finden. Aus
diesem Grund wurde eine Untersuchung initiiert, die Bereiche der rechtlichen Diskriminierung psychisch
Kranker erheben und aufzeigen sollen. Ziel dieses Projektes ist die
Erfassung jener Rechtsmaterien, die
mittelbar oder unmittelbar zur
Benachteiligung psychisch Kranker
führen. Durchleuchtet werden sollen
unter anderem Führerscheinverordnungen, Familien- und Kindschaftsrecht, sozialversicherungsrechtliche
Bestimmungen, das Erbrecht, das
Kirchenrecht, sicherheitspolizeirechtliche Bestimmungen, privatrechtliche
Regelungen etc. Die entsprechenden
Rechtsmaterien sollen sowohl auf ihr
Diskriminierungspotential als auch
auf ihre Benutzerfreundlichkeit überprüft werden. Im Anschluss daran
sollen konkrete Vorschläge für Änderungen der identifizierten Rechtsmaterien und Umsetzungspraktiken entwickelt werden, die den zuständigen
Entscheidungsträgern – unter Einbeziehung von Patienten, Angehörigen
23
Gutiérrez-Lobos
und Experten präsentiert werden, um
so auf eine konkrete Umsetzung der
Vorschläge hinzuarbeiten. Das Ziel
soll eine Verbesserung der gesetzlichen Situation von psychisch Kranken sein.
„Unbehandelbar und
chronisch“ – soziale
und private Krankenversicherung
Gemäß dem österreichischen Sozialversicherungsrecht wird Krankheit definiert als „regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der eine
Krankenbehandlung
notwendig
macht“. Krankenbehandlung ist dann
indiziert, wenn dadurch die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit oder Fähigkeit für lebenswichtige persönliche
Bedürfnisse zu sorgen, voraussichtlich wieder hergestellt oder verbessert wird. Offensichtlich findet sich
hier eine gesetzliche Gleichstellung
von psychisch und physisch Kranken,
die durch die Einbeziehung der Kriterien Arbeitsfähigkeit und Erfüllung
persönlicher Bedürfnisse noch akzentuiert und dem Anliegen der Integration psychisch Kranker entgegenzukommen scheint.
Die Realität – d.h. die Umsetzung
dieses Gesetzes- sieht jedoch anders
aus. Die strenge Dichotomie entweder krank oder gesund, die schon bei
organischen Erkrankungen nicht
immer sinnvoll ist, wirkt sich
besonders nachteilig auf die Behandlung und Rehabilitation psychisch
Kranker aus. Schon der Weg zur
Behandlung kann mitunter erschwert
sein. Wie Medienberichten zu entnehmen war, werden Krankentransporte in einigen Fällen, u.a. bei
Panikstörungen, nicht von der Krankenkasse bezahlt ( zit. n. Dr. F. Fuchs,
stellv. Ärztlicher Direktor der Wiener
Gebietskrankenkasse, Die Presse
2.4.2001). Natürlich ist der formale
Anspruch psychisch Kranker auf
Behandlung gewährleistet. Behandlung bedeutet aber in diesem Fall
meist die Beschränkung auf medizinische Therapie im engeren Sinn, d.h.
besonders auf pharmakologische
Behandlung. Selbst die Pharmaindustrie ist aber kaum mehr der Ansicht,
dass dies alleine wirkt. Immer dann,
wenn nach der akuten Behandlungsphase zur weiteren Stabilisierung
zusätzliche, aber der erwähnten
Dichotomie scheinbar widersprechende Behandlungsschritte unternommen werden, sind psychisch
Kranke benachteiligt. Komplementäre Einrichtungen vergleichbar denjenigen, die somatisch Kranken zur
Verfügung stehen, gibt es für psychisch Kranke kaum, Kur- und Rehabilitationsaufenthalte werden erst gar
nicht angeboten.
Zwar ist im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich auch die Rehabilitation psychisch Kranker vorgesehen, doch fehlen für diesen Bereich
im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen Durchführungsrichtlinien, wodurch die rechtlichen Grundbestimmungen totes Recht darstellen,
was zu einer klaren Diskriminierung
psychisch Kranker führt. Bei der
Rehabilitation wird häufig auf die
angeblich insgesamt nicht sehr günstigen Erfolgsprognosen bei psychisch Kranken verwiesen. Vergessen
wird dabei, dass diese ungünstige
Prognose aber zumeist von der mangelnden und nicht den Bedürfnissen
der Patienten angepassten Infrastruktur bestimmt wird. Die Folge sind
Frühpensionierungen, Invaliditätspension und Aussteuerung, die zu
materieller, sozialer und leistungsmäßiger Verelendung führen. Auch Pflegerichtlinien berücksichtigen psychisch Kranke meist nur auf dem
Papier, in der Praxis wird in der Regel
die besonders auf die Bedürfnisse der
psychisch Kranken abgestimmte
Pflege nicht existent.
Psychisch Kranke haben Anspruch auf eine zumindest teilweise
Refundierung von Psychotherapie
durch die Krankenkassen. Viele
Patienten sind aber aufgrund ihrer
geminderten Erwerbsfähigkeit dann
gar nicht in der Lage, die oft beträchtlichen Selbstbehaltkosten zu leisten
und bleiben somit von dieser Behandlungsmethode ausgeschlossen. Jüngst
ließ eine Meldung im Zuge der Verhandlungen mit der Wiener Gebietskrankenkasse zur vollen Kostenübernahme („Psychotherapie auf Krankenschein“) aufhorchen, dass nämlich im Fall einer Erkrankung mit
psychotischen Symptomen nur
30 Stunden, bei anderen Störungen
aber zumindest 70 Stunden voll
refundiert werden sollen. Diese
Ungleichbehandlung wird nun auf
ihre Zulässigkeit geprüft.
Das alles bedeutet, dass Behandlungsmaßnahmen, die bekannterweise und entsprechend dem ASVG
"die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit
oder Fähigkeit für lebenswichtige
persönliche Bedürfnisse zu sorgen”
wieder herstellen oder verbessern
können, im Falle psychischer Erkrankungen weder adäquat angeboten
noch finanziert werden. Die Diskriminierung basiert auf den auch im
Gesundheitssystem weiter vorherrschenden üblichen stigmatisierenden
Einstellungen "unheilbar und chronisch” und wird durch eine erstaunliche Missachtung der Ergebnisse der
klinischen Forschung über wirksame
Behandlungsmethoden in der Psychiatrie verursacht.
Auch hinsichtlich der Erfüllung
von Patientenrechten und dem Recht
auf Selbstbestimmung finden sich bei
psychisch Kranken Unterschiede zu
somatisch erkrankten Personen.
Nicht nur ist die freie Wahl von Hilfsangeboten kaum gegeben, in praktisch allen Verträgen privater Zusatzversicherungen findet sich der Passus, dass Leistungen für psychische
Störungen nicht bzw. nur in deutlich
geringerem Umfang gewährt werden.
Entsprechend den allgemeinen
Unfallversicherungsbedingungen
(Abschnitt c, Artikel 16 unversicherbare Personen) heißt es, dass unversicherbar und jedenfalls nicht versichert jene Personen sind, die dauernd
vollständig arbeitsunfähig oder von
24
Rechtliche Benachteiligung psychisch Kranker in Österreich
schweren Nervenleiden befallen sind
sowie Geisteskranke. Diese pauschale Ablehnung der Versicherung behinderter Menschen hat eindeutig und
direkt diskriminierenden Charakter.
Auch in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen anderer privater
Krankenversicherungen finden sich
ähnliche Bestimmungen. Betroffen
davon sind in der Regel die Gewährung von Taggeld für Krankenhausaufenthalte, Pflegeunterstützung aber
auch Auslandsversicherungen und
Reiserückholversicherungen. Anfragen bei verschiedenen Versicherungsunternehmungen haben ergeben, dass
die Meinung vorherrscht, psychische
Erkrankungen würden im frühen Erwachsenenalter entstehen, zu wiederholten und langen Spitalsaufenthalten
führen und regelhaft in Chronizität
münden. In Einzelfällen würden
durchaus nach vorheriger Rücksprache mit dem Versicherungsträger
Krankenhausaufenthalte in psychiatrischen Abteilungen, vorzugsweise
an den Universitätskliniken, gewährleistet sein. Auch hier finden sich aber
ähnliche Verständnisschwierigkeiten
wie in der sozialen Krankenversicherung: in letzter Zeit häufen sich beispielsweise jene Fälle, wo die Kosten
dann nicht mehr übernommen werden, wenn der Patient zwar weiter im
Krankenhaus ist, aber Ausgänge hat.
Jemand der in klassischem Sinne
krank ist, hat im Bett zu liegen; dass
Ausgänge durchaus ein relevanter
Teil der Behandlung und Rehabilitation in der Psychiatrie sind, wird nicht
berücksichtigt.
„Unvernünftig und
verantwortungslos“ –
Ehegesetze
Zivilrecht und Kirchenrecht enthalten direkt diskriminierende Bestimmungen. Diese sind zwar meist
der Öffentlichkeit kaum bekannt und
haben dementsprechend wahrschein-
lich wenig Einfluss auf die Meinungsbildung, da sie aber den persönlichsten Bereich eines Menschen
betreffen und einschränken, werden
sie von den Betroffenen als besonders
diskriminierend erlebt.
So findet sich in einem aktuellen
Kommentar zum Kirchenrecht über
die Ehefähigkeit folgende Auslegung: „Auch bei Geisteskrankheiten
kann es lichte Augenblicke geben. Im
Falle der Schizophrenie ist allerdings
in der Regel nicht damit zu rechnen,
dass in solchen Remissionszeiten
Ehefähigkeit besteht, weil die Krankheit tatsächlich auch in diesen Zeiten
andauert. Wenn die schizophrene
Erkrankungen für die Zeit vor und für
die Zeit nach der Eheschließung
erwiesen ist, wird vermutet, dass sie
auch bei der Eheschließung bestand.“
Aber auch im Zivilrecht finden
sich ähnlich diskriminierende Bestimmungen: Eine Ehe ist nichtig,
wenn einer der Ehegatten zur Zeit der
Eheschließung geschäftsunfähig war
oder sich ... im Zustand einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit befand (§ 22 Abs. 1 Ehegesetz). In § 37 Abs. 2 heißt es weiter:
Ein Ehegatte kann die Aufhebung der
Ehe begehren, wenn er sich bei der
Eheschließung über solche die Person
des anderen Ehegatten betreffende
Umstände geirrt hat, die ihn bei
Kenntnis der Sachlage und bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe
von der Eingehung der Ehe abgehalten hätten. Zu diesen Umständen
gehören auch psychische Störungen
bzw. deren „Anlage“ mit späterem
Ausbruch. Gemäß § 51 Ehegesetz
kann ein Ehegatte auch die Scheidung begehren, wenn der andere geisteskrank ist, die Krankheit einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den
Ehegatten aufgehoben ist und eine
Wiederherstellung nicht mehr erwartet werden kann.
Aber auch Personen, die – wenn
auch nur für eine Angelegenheit –
besachwaltert sind, benötigen aufgrund der mangelnden Geschäftsfähigkeit, für die Eheschließung die
Zustimmung des Sachwalters.
„Unberechenbar und
gefährlich“ –
Unterbringungsgesetz
und Maßnahmenvollzug
Bei Einführung des Unterbringungsgesetzes 1991 war es die Absicht, die Persönlichkeitsrechte von
zwangsweise aufgenommenen Patienten zu schützen und gleichzeitig
die Anzahl von Zwangsunterbringungen zu reduzieren. Obwohl der strikte
Schutz der Persönlichkeitsrechte und
die Einführung des Rechtsinstrumentes der Patientenanwaltschaft eine
notwendige Entwicklung darstellen,
beinhaltet dieses Gesetz zwei wesentliche nachteilige Effekte für psychisch Kranke. Erstens ist aus diesem
Gesetz kein Recht auf optimale
Behandlung ableitbar. Zweitens –
und das ist die wahrscheinlich am
meisten stigmatisierende Konsequenz – wird im Unterbringungsgesetz das Kriterium „Gefährlichkeit“ überbetont. Die Existenz von
Gesetzen, die eine bestimmte Gruppe
von Menschen ganz allgemein nicht
nur als „anders“, sondern darüber
hinaus als potentiell gefährlich ausweist, so dass Maßnahmen ähnlichen
jenen der Strafjustiz gerechtfertigt
sind (Unterbringung ja – Behandlung
nein), mögen zwar aus juristischer
Sicht korrekt sein, verstärken jedoch
gerade jene Befürchtungen und Stigmatisierungen in der Öffentlichkeit,
denen mit Anti-Stigma Aktionen
entgegengetreten werden soll. Die
Koppelung einer Zwangsmaßnahme
an die vermutete Gefährlichkeit
psychisch Kranker hat bereits in der
Vergangenheit dazu geführt, dass
Patienten, die nach Kontakt mit dem
Amtsarzt und den Sicherheitsbehörden zur Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht wurden, in der sogenannten „Geisteskranken-Kartei“ registriert wurden.
25
Gutiérrez-Lobos
Es hat dies zum einzigartigen Fall der
Speicherung von Gesundheitsdaten
im Rahmen des Polizeisystems geführt. Die Folgen waren, dass Informationen aus der GeisteskrankenKartei unkontrolliert und ohne das
Wissen der Betroffenen weitergeben
werden konnten, psychisch kranke
Personen befürchteten, dass prinzipiell jeder – auch der freiwillige –
Kontakt mit der Psychiatrie von den
Sicherheitsbehörden registriert werden würde und dies in der Folge möglicherweise viele Patienten davon
abgehalten hat, sich überhaupt in psychiatrische Behandlung zu begeben.
Darüber hinaus war die Existenz
einer derartigen Kartei natürlich dazu
geeignet, auch in der Öffentlichkeit
weiter den Eindruck zu verstärken,
dass psychisch kranke Personen tatsächlich gefährlicher sind als andere.
Nach jahrzehntelangen Bemühungen
wurde die GES- Kartei schließlich
1997 vernichtet. Wie man jedoch Zeitungsberichten (Polizei sammelt
Gesundheitsdaten, „Der Standard“,
17.7. 2001; Angst vor GesundheitsEkis? „Die Presse“ 3.11.2000) und
parlamentarischen Anfragen entnehmen kann, scheint sich diese Tradition im Rahmen des Sicherheitspolizeigesetzes weiter fortzusetzen.
Entgegen den Erwartungen sind
die Unterbringungen in den letzten
Jahren gestiegen. So mag in der
Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass psychisch Kranke nicht nur
immer schon gefährlich waren, sondern auch noch gefährlicher geworden sind. Ein weiterer Fallstrick der
Gesetzgebung: Die vom Gesetz verlangten weniger restriktiven Maßnahmen zur Vermeidung einer Unterbringung sind nämlich kaum oder nicht
im benötigten Sinne vorhanden. So
fehlen beispielsweise Einrichtungen
für psychiatrische Notfälle, die auch
Hausbesuche anbieten. Darüber hinaus werden Patienten oft sehr schnell
wieder aus dem Spital entlassen,
sobald eine der zur Unterbringung
erforderlichen Voraussetzungen nicht
mehr vorliegt. Auch die Einführung
des „Leistungsorientierten Kranken-
hausfinanzierungssystem“ 1997 hat
den Druck, stationäre Aufenthalte so
kurz wie möglich zu halten, weiter
verstärkt. Nicht die Patienten sind
gefährlicher geworden, sondern die
Umsetzung von Gesetzen wird auf
Kosten der Patienten gefährlich vernachlässigt.
1975 wurde im Rahmen der großen Strafrechtsreform der Maßnahmenvollzug für zurechnungsfähige
und zurechnungsunfähige geistig
abnorme Rechtsbrecher etabliert, der
ebenso die Gefährlichkeit als zentralen Aspekt einbezieht. Die Einweisung erfolgt auf unbestimmte Zeit,
eine bedingte Entlassung ist erst dann
möglich, wenn die mit der Störung
verbundene Gefährlichkeit abgebaut
ist. Die Einführung des Maßnahmenvollzuges bewirkte gleichzeitig eine
Ausgliederung der Betreuung von
psychisch kranken Rechtsbrecher aus
dem Gesundheitssystem. Die Nachteile für psychisch kranke Täter sind
evident: Der Maßnahmenvollzug ist
in erster Linie eine auf die Wahrung
der Sicherheit eingerichtete Institution des Justizsystems, wo therapeutische Fragen nur nachrangige Bedeutung haben und dementsprechend in
deutlich geringerem Maß finanziert
werden. Es gibt keine Patientenanwälte, die sich um die Durchsetzung
der Patientenrechte kümmern könnten. Darüber hinaus bedeutet die
unbestimmte Zeit der Anhaltung eine
deutliche Erschwerung für die Planung der Entlassung und folglich
auch für die Rehabilitation. Spezielle
Nachbetreuungseinrichtungen bzw.
betreute Wohnheime für diese Patienten existieren kaum, allgemeinpsychiatrische Einrichtungen lehnen die
Behandlung solcher Patienten oft ab.
Die Folge ist, dass die im Maßnahmenvollzug untergebrachten psychisch kranken Rechtsbrecher auch
bei weniger gefährlichen Delikten
meist deutlich länger angehalten werden als Täter des Strafvollzuges,
schlechtere Rehabilitationschancen
haben und so das Risiko eines Rükkfalls nicht ausreichend minimiert
werden kann. Auch hier gilt: nicht
die Prognose ist generell schlecht,
sondern die Bedingungen die zur Verbesserung der Prognose beitragen
würden, fehlen.
Unterbringungsgesetz sowie die
gesetzlichen Bestimmungen zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug
sind gute Beispiele dafür, wie die
Gesetzgebung im Bereich der Psychiatrie üblicherweise Elemente von
Gewalt und Gefährlichkeit betont und
dies ist in der modernen Gesetzgebung noch mehr der Fall als früher.
Die dahinter steckende Absicht ist
einerseits Patienten vor willkürlicher
Zwangsanwendung zu bewahren und
ihre Persönlichkeitsrechte zu sichern
und andererseits die Öffentlichkeit
vor eben diesen Personen zu schützen. Die undifferenzierte Überbetonung des Kriteriums Gefährlichkeit
führt zu weiterer Diskriminierung
und zu neuen Gesetzen, die diese
vermutete Gefährlichkeit bekämpfen
sollen. Die weitverbreitete Meinung,
dass psychisch kranke Personen
generell gefährlich sind und dazu neigen, gewalttätige Delikte zu begehen,
hat eine lange Tradition und wird
durch die Medienberichterstattung
verstärkt. Tatsächlich zeigen neuere
epidemiologische Daten, dass akute
psychotische Symptome das relative
Risiko für gefährliches Verhalten
erhöhen. Obwohl diese Ergebnisse
signifikant sind, wird aber nur ein
verschwindend kleiner Teil von psychisch kranken Personen tatsächlich
gewalttätig. Charakteristika, die wesentlich aussagekräftiger hinsichtlich
gewalttätigem Verhalten sind als das
Vorliegen einer psychischen Erkrankung sind Merkmale wie junges
Erwachsenalter, männliches Geschlecht, niedriger Sozialstatus und
Substanzabhängigkeit. Zurecht würde niemand in diesen Fällen spezielle
gesetzliche Vorkehrungen fordern.
Psychiater haben bei der Akzeptanz der Etikettierung von psychisch
Kranken als „gefährlich“ und bei der
Definition von „Gefährlichkeit“ über
lange Zeit mitgewirkt, wodurch der
Eindruck entstanden sein mag, dass
Gesetzte, die sich auf das Kriterium
26
Rechtliche Benachteiligung psychisch Kranker in Österreich
„Gefährlichkeit“ stützen, auf einer
wissenschaftlichen Basis beruhen.
Wir sind jetzt aufgerufen, dieses Konzept zu überdenken und auf seine
Unwissenschaftlichkeit hinzuweisen.
Schlussfolgerungen
Anhand der skizzierten Beispiele
wird klar, dass es keine lineare Beziehung zwischen Stigma und Gesetzen
gibt. Es finden sich sowohl direkt und
unmittelbar diskriminierende Rechtsnormen als auch Rechtsnormen, die
zwar grundsätzlich keinen Unterschied zwischen psychisch Kranken
und Gesunden treffen, bei denen aber
auf breiter und regelmäßiger Basis in
der Anwendungspraxis psychisch
Kranke benachteiligt werden. Selbst
in Gesetzen, die zum Schutz von psychisch Kranken im engeren Sinn
erlassen wurden, können diskriminierende Ansätze enthalten sein. Als
wichtige Frage wird weiters diskutiert, inwieweit überhaupt Gesetze für
bestimmte
Bevölkerungsgruppen
zum Abbau von Diskriminierung beitragen und nicht im Gegenteil zu weiterer Stigmatisierung führen.
Angesichts der Tatsache, dass
zwischen 25 – 50 % der Menschen im
Laufe ihres Lebens an einer behandlungsdürftigen psychischen Störung
erkranken, psychische Störungen
weiter zunehmen und schon bald an
erster Stelle für Arbeitsunfähigkeit
und Frühpensionierungen stehen werden, ist die gesetzlich verankerte
Gleichstellung und Aufhebung von
diskriminierenden Bestimmungen
eine dringend notwendige Maß-
nahme. Bei der Vorbereitung von
Gesetzen ist die Einführung neuer
Standards zu fordern. Diese beinhalten die Beteiligung von Betroffenen,
Angehörigen und Experten, eine
regelmäßige Evaluierung und ein
Monitoring der Auswirkung von
Gesetzen sowie die Zunahme der
Betonung von Behandlungs- und
Rehabilitationsaspekten und die Abnahme der Betonung von Gefährlichkeitsaspekten.
Univ. Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos
Universitätsklinik für Psychiatrie
Abteilung für Sozialpsychiatrie und
Evaluationsforschung
Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien
email: [email protected]
KOMMENTAR
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 26 – 27
Stigma-Erfahrung aus erster Hand
Christian Horvath
„Crazy Industries“, Wien
Roterdstraße 12/27/1
1160 Wien
Bis heute werden in der psychiatrischen Behandlung die Folgen, die
Betroffenen aus der Stigmatisierung
erwachsen, sehr oft unterschätzt beziehungsweise überhaupt nicht berücksichtigt; entweder aus mangelndem Interesse oder aus der alleinigen
Konzentration auf die Krankheit. Bei
schweren Erkrankungen kommt der
Beeinträchtigung bzw. Schädigung
und dem krankmachenden Einfluss
des Stigmas eine große Bedeutung
zu, sodass man von einer sekundären
Erscheinung in der Erkrankung sprechen kann. In Rückkopplungsprozessen verstärken Stigma und Erkrankung die seelischen Wunden. Das
Stigma als Bann wird aber nicht nur
über Psychiatrieerfahrene geworfen,
sondern trifft auch die Institution Psychiatrie als eine im Ansehen eher
gering geschätzte medizinische Disziplin mit unanständigen Patienten.
Die Medien – und die Gesellschaft, die aus diesen ihre Informationen zieht – ist wesentlich daran betei-
ligt, dass es ein Stigma gibt und dieses sich noch immer hartnäckig zu
behaupten weiss. Die mediale Darstellung weist dem psychisch Kranken oft in der Rolle des Unberechenbaren, Gefährlichen zu; die mediale
Aufarbeitung von Fehlern der Psychiatrie schüren Ängste, die aus dem
Thema Psychiatrie eines der letzten
Tabus machen. Die Psychiatrie als
das eigentliche Übel zu betrachten, ist
ebenso einseitig, wie die Schuld ausschließlich bei Medien und Gesell-
27
Horvarth
schaft zu suchen. Die antipsychiatrische Bewegung übersieht diesen
Punkt in ihrer einseitigen Protesthaltung. Die Situation ist komplexer und
verlangt nicht nach einseitigen
Schuldzuweisungen, sondern nach
Aufklärung, weiterem Bemühen um
mehr Verständnis und Information.
Die Entstigmatisierung wird also zu
einem Prozess, der von Psychiatrieerfahrenen sowie der Psychiatrie im
ureigensten Interesse gemeinsam
getragen werden könnte. Wenn also
die Stigmatisierung wesentlichen
Einfluss auf seelische Erkrankungen
und deren Therapie hat, so hat sie
weitläufige Konsequenzen, wie z.B.
größeres Leid und erhöhter Behandlungskosten. Dies hat v.a. vermehrte
Krankenhausaufenthalte und intensivere Therapien zur Folge, ohne dass
das eigentliche Problem wesentlich
verändert wurde. Aus meiner persönlichen Erfahrungen weiss ich, dass
viele therapeutische Gespräche das
Stigma in der einen oder anderen
Form jedoch eher unstrukturiert zum
Inhalt haben. Hier könnte durch eine
konsequente Anti-Stigma-Arbeit viel
Geld eingespart, oder noch besser,
für Sinnvolles verwendet werden,
wenn es dadurch gelingt, den Teufelskreis Stigma sowie Diskriminierung
und die daraus sich folgernde seelische Schädigung abzuschwächen.
Dass es auch ohne Stigmatisierung geht, bewiesen mir die Reaktionen einiger Freunde, die nichts von
meinen psychiatrischen Episoden
wussten. Sie sahen mich als sozialkommunikativen, klar orientierten
verlässlichen Freund. In ihren Augen
war ich einer von ihnen, ohne auffallendes Makel. Die andere Erfahrung,
die ich machen mußte ist, dass ich
von Menschen, die von meiner Psychiatrie- und Psychoseerfahrung
wußten, mich mit anderen Augen
gesehen wurde, wodurch sehr oft
Beziehungen erschwert wurden.
Stigmatisierung ist eine allgemeine Grundhaltung, die Fremdes, Unverständliches durch Leugnung, Verdrängen oder Verurteilung in Schach
zu halten versucht. Stigma und Angst
hängen aufs tiefste zusammen, im
Sinne „Was ich nicht verstehe, beunruhigt mich“. Dies löst jene Verurteilungsspirale aus, die in den Medien
und somit auch in weiten Bereichen
der Gesellschaft auf fruchtbaren
Boden fällt. Die Angst vor dem
Unverständlichen ist gerade dort
anzutreffen ist, wo eine hohe Angstbereitschaft eine Auseinandersetzung
verhindert.
Fast könnte man meinen , dass in
einer Gesellschaft der schwindenden
Sündenböcke psychisch Kranke als
eine der letzten Projektionsflächen
herhalten müssen. Der Homosexuelle
vor dem man noch vor 50 Jahren
Abscheu empfand, ist zum lieben
Nachbarn geworden, der obdachlose
Sandler ist durch eine gutgemachte
Zeitung, dem „Augustin“ zum
freundlichen Verkäufer geworden –
zumindest in Wien. Das Wissen um
Randgruppen und Subkulturen in
unserer Medien- und Informationsgesellschaft ist stark angewachsen.
Liberale Einstellungen gegenüber
dem Abweichenden und früher Tabuisierten haben leider noch nicht die
von Psychiatrie Betroffenen erreicht.
Was nach oberflächlichem hinsehen
als Unwille zum Verständnis
erscheint, entpuppt sich bei näherer
Betrachtung als zutiefste Verunsicherung und Abwehr des als fremd
Empfundenen.
Es besteht aber auch das Phänomen der Selbststigmatisierung – also
die Bereitschaft von Psychiatrieerfahrenen sich selbst auszugrenzen,
oft ohne Zutun anderer, sondern aus
der Bewertung ihrer selbst heraus.
Hier wird offensichtlich, dass die
Entstigmatisierung auf verschiedenen
Ebenen anzusiedeln ist: Auf einer
gesellschaftlichen Ebene mit
Medien- und Pressearbeit und
Informationsbereitstellung. Dann
wäre die medizinische Ebene zu nennen; denn auch Ärzte diskriminieren
Psychiatrieerfahrene häufig, indem
sie diese nur vor dem Hintergrund der
Diagnose beurteilen. Hier wäre die
rein medizinische diagnostizierte
Sichtweise durch weitere Dimensio-
nen des Menschseins zu erweitern.
Schließlich auf der Ebene der Eigenstigmatisierung, die aus der medizinisch und gesellschaftlichen Stigmatisierung erwächst, aber auch eine
persönliche Färbung trägt, die tiefer
in individuelle Lebenssituationen
reicht, wo seelische Wunden nicht
immer nur von außen geschlagen
wurden. Für eine Anti-Stigma Kampagne hätte die Homosexuellenbewegung Vorbildfunktion, da sie es
geschafft hat, aus einem absoluten
Rand- und Tabuthema ein Thema zu
machen, das an Schärfe und Interessantem viel zu bieten hat; eine eigene
kulturelle Identität, die Subkulturcharakter hat und der heute jegliche
subversive
und
zerstörerische
Absicht nicht mehr nachgesagt wird.
Ein Vorbild, von dem wir lernen können.
Verständnis, Toleranz und Akzeptanz als Ergebnis der Anti-StigmaArbeit von Homosexuellen könnten
auch Psychiatrieerfahrene ermutigen.
Vielleicht gelingt es uns Psychiatrieerfahrenen damit nicht nur das psychische Leiden zu mildern, sondern
auch eine Subkultur aufzubauen.
Eine Psychiatrieerfahrenen-Identität
zu finden, die uns selbstbewusst
einen Platz in dieser Gesellschaft bietet; nicht gegen diese, sondern in dieser, mit eigenen schöpferischen Möglichkeiten und Entfaltungsbereichen,
deren Output in etablierte Bereiche
der Gesellschaft einfließen kann,
sodass ein Austausch mit diesen entsteht. Kein Aus- oder Abkoppeln,
sondern ein Einfließen und Nützen
jener Kräfte und Möglichkeiten der
Gesellschaft, die ohne Stigma dann
zugänglich werden; dies führt zu
Chancen in der Erweiterung des
Lebenssinnes, Glück durch Entfaltung von Selbstverwirklichung. Eine
eigene Kultur als Bereicherung und
Keimzelle für weitergehende Wünsche und Visionen. Um diese Ziel zu
erreichen ist es notwendig, dass eine
Antistigma-Kampagne erst nach Auflösung des Stigmas beendet wird,
denn das erste Opfer des Stigmas ist
die Gerechtigkeit.
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 29 – 33
Angehörige – Parias am
Rande der Psychiatrie?
Ingrid Rath
HPE-Österreich, Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter, Wien
„Jede ärztliche Situation umfasst
grundsätzlich nie nur zwei sondern
stets drei Menschen. Es sind dies einmal der Arzt, zum anderen der Patient
und zum Dritten die Angehörigen.
Das nimmt weniger Bezug darauf,
dass Familienangehörige gelegentlich bei der Entstehung einer Erkrankung eine Rolle spielen, mehr schon
darauf, dass das Leben mit einer
Krankheit sowie ihr Ausgang wesentlich von der Einstellung und dem Verhalten der Angehörigen geprägt ist;
vor allem aber darauf, dass unter
einer schweren, insbesondere chronischen Krankheit alle Mitglieder einer
Familie zwar unterschiedlich, aber
gleichviel leiden..“ [2]
Die in unserer Gesellschaft kolportierten und nach wie vor festverankerten Urteile – Vorurteile –
Mythen psychische Krankheiten
betreffend ziehen vor allen in Zeiten
der Eskalation unweigerlich Ablehnung des Erkrankten und Integrationsverweigerung durch das soziale
Umfeld nach sich und treffen auch
die Angehörigen mit großer Intensität.
Warum werden „die
Angehörigen zu
Ungehörigen“? [4]
Mit der Zementierung der modernen Kernfamilie als gesamtgesell-
schaftliche Norm im 19. und 20. Jhdt.
war auch eine emotionale Aufwertung der Familie verbunden.
Die mit großen Erwartungshaltungen überfrachtete Gemeinschaft
Familie als Hort von Harmonie und
Glück verliert aber durch den Einbruch einer psychischen Krankheit
die selbstverständliche Tragfähigkeit
ihres bisherigen familiären Daseins.
Es werden nicht nur ev. Selbsttäuschungen bezüglich des tatsächlichen Zustandes der Beziehungen
spürbar, sondern ein eindeutig nicht
zu verbergendes pathologisches Geschehen wird auch für Außenstehende sichtbar. Es lässt sich in seiner oft
sehr dramatischen Form dem sozialen
Umfeld nicht nur als „Dopaminmangelerscheinung“ erklären, sondern
bleibt vorerst einmal an der Familie
als „Versagen“ hängen.
Die Familie muss um die Neubestimmung des mehr oder weniger
gemeinsamen Lebens ringen, um die
Einbettung in ihr soziales Umfeld zittern und jedes Familienmitglied für
sich muss seine Stellung in diesem
Drama und seine Möglichkeiten und
Grenzen neu ausloten.
Dass dies nicht von heute auf
morgen möglich sein wird und dass
dies auch nur in den seltensten Fällen
ohne Hilfe gehen kann, auch weil sich
Anforderungen erst im Laufe der
Geschehnisse zeigen, ist wohl selbstverständlich.
Zum Zweiten haben wir alle –
auch natürlich die Angehörigen – als
Kinder unserer Zeit, unseres Kultur-
kreises, unserer Geschichte, die
bekannten Vorurteile psychischen
Störungen gegenüber verinnerlicht
und sind auch keiner Notwenigkeit
unterworfen worden, sie zu hinterfragen – bis eben zum Einbruch einer
psychischen Krankheit in unserer
unmittelbaren Umgebung.
Es handelt es sich bei diesen vorgefassten und als „Volkesstimme“
weitergegebenen Annahmen unter
anderem um vereinfachte Schlussfolgerungen aus den naturwissenschaftlichen Theorien des 19., und 20. Jahrhunderts, die ihre Spuren noch immer
ziehen, (z.B. unentrinnbare Vererbung, Unheilbarkeit, Demenz als
Endstation, Unberechenbarkeit und
Gefährlichkeit der Erkrankten usw.)
Sie werden selbstverständlich nicht
von neueren therapeutischen Erkenntnissen und Möglichkeiten korrigiert, weil diese in der Bevölkerung
weithin unbekannt sind.
Auch uralte, religiös motivierte
Ängste mögen im Spiel sein: Dämonenglaube z.B. wie er in Exorzismen,
oder göttlichen Strafexpeditionen
sichtbar wird.
Die Abwehrhaltung der Gesellschaft hat sicher auch eine Wurzel in
den inneren Befindlichkeiten, die
Arno Gruen in seinem Buch „Der
Fremde in uns“ herausgearbeitet hat:
„Diesen Teil von uns wollen wir zum
Schweigen bringen, indem wir den
Fremden, der uns daran erinnert, weil
er uns ähnelt, vernichten.“... (Ausgrenzen, an den Rand drängen, wegsperren ...)
30
Rath
Heinz Häfner bestätigt diese Aussage auf eine sachliche Weise. Er
spricht davon, dass es „für die Menschen, die von Schizophrenie betroffen sind, hilfreich ist, zu wissen, dass
sie nicht an einer geheimnisvollen,
von ihren Ursachen her unbekannten
Krankheit leiden, sondern an einer
Disposition, die sie mit vielen Menschen gemeinsam haben, und zudem
an einem Reaktionsmuster, das durch
diese Disposition, aber nicht allein
durch sie, hervorgerufen wird.
Dieses Reaktionsmuster Psychose
ist nicht nur geeigneten medikamentösen oder kognitiv therapeutischen
Maßnahmen, sondern auch der eigenen Einsicht wesentlich besser
zugänglich ...“ [6]
Auch der Einsicht der Angehörigen – die wie die Betroffnen (die
„psychisch Außerordentlichen“, wie
sie sich neuerdings nennen) aus dieser Aussage erkennen können, dass
durch Reflexion und Verhaltensänderung einiges zu erreichen ist – nicht
leicht und nicht gleich und nicht alles
– eben einiges.
Aber schon die Aussicht etwas tun
zu können, gibt Hoffnung und fördert
die Bereitschaft, Bewältigungsstrategien zu erarbeiten und gegen Stigmatisierung anzukämpfen. Dazu gehört
in erster Linie die Erkenntnis, dass
wir von unserem eindimensionalen
Ursache – Wirkungsdenken abgehen
müssen, welches im Fall der Angehörigen psychisch Erkrankter meist
in der Suche nach einem Sündenbock
gipfelt.
Der Lieblingssündenbock der Angehörigen ist völlig undifferenziert
„die Psychiatrie“ und umgekehrt von
außen her wird der Familie der
Schwarze Peter zugeschoben.
Einige der Hypothesen des vergangenen Jahrhunderts haben ja bekanntlich die Verursachung der psychiatrischen Schwierigkeiten des betroffenen Familienmitgliedes direkt
der Familie als Schuld angelastet –
dies als Ausfluss der Achtundsechziger-Meinung, dass Gesellschaft und
insbesondere die Familie die Wurzel
allen Übels sei.
Insbesondere die „schizophrenogene“ Mutter war Ziel von höchst
einseitigen Anschuldigungen, die
unendlich viel Unglück in die ohnehin belasteten Familien gebracht
haben und noch heute gibt es ältere
Frauen, die ein Leben lang fast ohne
jede Hilfe für ihren Kranken gesorgt
haben (vielleicht ein wenig zuviel –
aber wie hätten sie dies wissen sollen?) und noch immer unter Schuldgefühlen leiden.
In jüngster Zeit vermehrt artikuliert wird als Ursache von psychischen Störungen der sexuelle Missbrauch in der Familie. Nicht dass es
dies alles – leider – nicht wirklich
gäbe, aber gerade in unserer voyeuristischen Zeit liegt die Gefahr in der
Verallgemeinerung und den sich daraus ergebenden Pauschalverdächtigungen aller Familien mit psychisch
Erkrankten.
Manche Angehörige sind ausschließlich in rein biologische Erklärungsmuster der Krankheitsursache
(z.B. Stoffwechselstörung) geflüchtet, die entlastend einfach die Notwendigkeit der Selbstreflexion und
einer Veränderung der Verhaltensmuster in der Familie zuwenig deutlich
macht.
Kann man denn wirklich
von „Schuld“ sprechen?
Wenn man einzig eine biologisch
Anomalie als Verursachung von psychischen Krankheiten gelten lässt,
muss man über eine Entkräftung der
Schuldzuweisung nicht weiter nachdenken. Da aber unter anderen Ursachen auch der Einfluss des sozialen
Umfeldes als eine mögliche Wurzel
von psychischer Krankheit feststeht,
geht es uns als Angehörigenorganisation um eine Definition des Begriffes
„Schuld“.
Nach philosophisch/theologischen
Kriterien ist der Begriff der Schuld in
der europäischen Tradition stets an
Vorsätzlichkeit gebunden und aus
diesem Grund auf Angehörige selten
anwendbar. Denn im familiären
Zusammenleben wird aus dem eigenen biografischen und charakterlichen Background heraus gehandelt,
so gut es eben in der gegebenen Situation möglich ist unter ungewollter
Einbeziehung aller Defizite in den
Voraussetzungen und aller Fehlhaltungen.
Vorsätzlich schlecht oder böse
handeln Angehörige, z.B. Eltern,
sehr selten an ihren Kindern.
Unqualifizierte Schuldvorwürfe
sind begrifflich falsch und belasten
die ohnehin verunsicherten Angehörigen schwer, sie rauben Kraft, die
dringend gebraucht wird.
Ein „Freispruch der Familien“
(Dörner) im oben erläuterten Sinn
erleichtert erfahrungsgemäß eine tiefgehende Reflexion über das eigene
Verhalten, erleichtert Veränderungsversuche der einzelnen Familienmitglieder und Versuche, die Familienatmosphäre zu verbessern.
Stigmatisierung der
Angehörigen durch
ihre von psychischen
Störungen betroffenen
Familienmitglieder
Es ist naheliegend, dass Menschen mit einem so großen Leidensdruck, dem Jugendalter oft kaum entwachsen, die Schuld für das Unerklärbare bei den Menschen suchen,
die ihnen am nächsten stehen. Es
gehört zum Krankheitsbild, dass es
dabei oft zu massiven Vorwürfen
kommt, die sehr treffen.
Im Sinne einer Entstigmatisierung
der Angehörigen – Eltern, Partner,
Geschwister usw. bitten wir die Psychiatrieerfahrenen, so es ihnen wieder besser geht, über eindimensionale
Anschuldigungen an ein Familienmitglied oder die ganze Ursprungs-
Angehörige – Parias am Rande der Psychiatrie?
familie nachzudenken – ev. mit Hilfe
eines Therapeuten. Oftmals gelingt
es, über differenziertere Urteile in
wieder beruhigten Zeiten zu gerechteren Folgerungen und zu einem entkrampfteren Zusammenleben zu finden, was für alle Beteiligten gleichermaßen wichtig ist.
In unserer Beratungsstelle können
wir ein Lied davon singen, wie nötig
es ist, durch Schuldzuweisungen verletzte Angehörige aufzufangen und
aus dem Schock die Bereitschaft herauszufiltern, Geduld zu haben, die
Sympathie für den Erkrankten zu
bewahren und die Chance zur Reflexion und zur eigenen Veränderung zu
erkennen.
Und wenn es sich herausstellen
sollte, dass es für beide Teile (Angehörige und Betroffene) besser ist, mit
mehr Distanz zu leben, sich also
bezüglich Wohnen zu trennen, muss
auch das möglich sein, ohne dass seitens der Professionellen massiv
Druck auf die Familie ausgeübt wird,
ihr krankes Mitglied nicht zu „verstoßen“.
Davon ist keine Rede – aber die
Trennung ist oft für beide Teile
„Überlebenschance“ und der emotionale Background kann besser erhalten werden.
Stigmatisierung der
Angehörigen durch
Professionelle
Auch dieses Kapitel muss geschrieben werden .Nicht um billiger
Anklagen willen, sondern um Überheblichkeiten und Gedankenlosigkeit
aufzuzeigen und um Grenzen abzustecken. Denn Professionelle haben
ein umfassendes Expertenwissen –
natürlich – aber das ist nicht alles,
was gebraucht wird.
Ein sehr bekannter Psychiater, der
plötzlich in seiner engsten Familie
eine psychisch Kranke hatte, sagte
mir einmal, dass er nun den Ange-
hörigen ganz anders gegenüberstünde
und dass seine ganze Theorie bezüglich Angehörigenarbeit nun erst
„geerdet“ sei ...
Gott sei Dank müssen nicht alle
Menschen, die gute Fachleute sind,
auch „echte“ Angehörige sein. Es ist
aber zu hoffen, dass sie, um ihr Wissen optimal einsetzen zu können, ihre
Verantwortung zur Selbstreflexion
wahrnehmen, dass sie z.B. ihre Probleme mit den eigenen Eltern kennen,
dass sie Alfred Adlers Theorie vom
Stellenwert des Geltungsdranges und
das Streben nach Überlegenheit, nach
Macht, richtig ausbalancieren, dass
sie nicht vergessen, dass auch die
heutige wissenschaftliche „Wahrheit“
und der darauf beruhende „state of
the art“ nur ein Durchzugsstadium
sein kann. Bekanntlich ist „die Wahrheit von heute der Irrtum von morgen.“ Dass Fachleute also bereit sind,
ihre eigene wissenschaftliche Weltanschauung immer wieder zu hinterfragen und neu anzureichern. Und
dass sie dazu auch um ihre Verführbarkeit wissen müssen.
Auch die Beurteilung des Stellenwertes von Angehörigen im jeweiligen Drama ist schwierig aber notwendig. Mit Klischees kommt man
nicht aus, auch nicht mit wissenschaftlichen, denn um das Agieren
einer z.B. Overprotektion-Mutter ein
wenig ausloten zu können, braucht
es – neben schlichter Menschlichkeit
und Kenntnis ihrer Biografie auch
eine Portion kulturhistorisches Wissen.
Als naseweiser Laie bin ich ja
überhaupt der Meinung, dass ein
guter Psychiater neben seinen medizinischen Kenntnissen und dem ganzheitlichen Wissen vom Menschen
noch Philosophie, Kulturgeschichte
und auch Religionswissenschaft in
Grundzügen erlernt haben sollte.
Wenn Angehörige besonders
lästig sind, ist auch ihr Leidensdruck
besonders groß – sie müssen nicht
„vom Halse geschafft“ werden, sie
brauchen um ihrer selbst willen ehrliche professionelle Zuwendung. Sie
„links“ liegen zu lassen, ist Missach-
31
tung von menschlichem Leid, ein
Verstoß gegen die ärztliche Pflicht
und kann nicht nur mit Zeitdruck entschuldigt werden. Diese Unarten
haben sich aber in den letzten Jahren
spürbar gebessert.
Und noch eines: Kraft ihres Expertentums und der daraus resultierenden Autorität sollten sich Ärzte
die Treffsicherheit ihre Worte überlegen und bedenken, dass es Situationen gibt, in welchen das Leben einer
Familie tatsächlich die Ausmaße
einer griechischen Tragödie annehmen kann. Wenn z.B. einer an sich
sehr vernünftigen Mutter ganz objektiv beurteilt aus heiterem Himmel
eine massive Gesichtsverletzung zugefügt und der Betroffene nach einem
recht kurzen Krankenhausaufenthalt
wieder zu ihr nachhause geschickt
wird mit der Begründung: „Wo soll er
denn sonst hingehen, sie sind doch
seine Mutter“..., oder wenn eine
25 jährige drogenabhängige, äußerst
schwierige psychisch Kranke im
zuständigen Krankenhaus nicht aufgenommen wird, weil „sie sich ohnehin nicht behandeln lässt“ und die
Mutter mit den Worten „keine Mutter
lässt ihr Kind im Stich“ weichgeklopft wird, sie wieder aufzunehmen,
dann vermuten wir unter anderem
eine gedankenlose Bequemlichkeit
hinter therapeutisch sinnlosen Aktionen. (Übrigens – in beiden Fällen
haben sich andere medizinische Institutionen gefunden, die geholfen
haben!) Aber der Verdacht bleibt bestehen, dass es auch einer eigenen
Entstigmatisierungskampagne für
Angehörige, speziell für Mütter bedarf.
Ich habe Angehörigenerfahrung
nun durch rund 30 Jahre, davon
11 Jahre Arbeit in der österreichischen Angehörigenorganisation. Ich
kenne sehr wohl, was sich auch in der
Miteinbeziehung der Angehörigen in
persönliche und politische Entscheidungen zum Besseren gewandelt hat,
aber zwischen „Ist“ und „Soll“ einer
trialogisch ausgerichteten Psychiatrie
gibt es noch große Defizite. Vieles
daran ist weiter theoretisch und nicht
32
Rath
eigentlich mit Leben erfüllt, dient
demokratischer Selbstbefriedigung.
Aber auch auf der anderen Seite
gibt es Nachholbedarf: z.B. die Erkenntnis, dass auch Betroffene und
Angehörige für die Professionellen
eine gewisse Verantwortung haben in Richtung Achtung vor guter Arbeit,
dort wo sie geleistet wird und Achtung vor einem fallweise sehr schweren Beruf, in dem aufgrund verknöcherter Strukturen viele gute Leute
nicht immer tun können, was ihnen
wirklich als das Beste zu tun
erscheint.
Die Frage Ulrich Becks - in anderem Zusammenhang gestellt – hat
auch in der Angehörigen/ Professionellenbeziehung Berechtigung: „Die
alten Autoritätsstrukturen mögen
beschädigt sein, jedenfalls ist ihr
Lack ab; Verhandlung wird zum
dominanten Muster. ... Die Prinzipien
des Gespräches aber, des virtuellen
Rollentausches, des Zuhörens, Verantwortung-für-einander-Übernehmens bleiben uneingelöst. Sind sie
vielleicht nicht lebbar?“ [1]
Die Antwort auf diese Frage ist
wohl die Feststellung, dass hier der
Weg das Ziel ist, welches vielleicht
nie wirklich befriedigend erreicht
werden kann, aber der Weg muss
unbeirrbar auch gegen Widerstände
in Zeiten der „Gegenreformation“
weitergegangen werden. Dies fordert
auch den Angehörigenorganisationen
einiges ab. Aber unbeirrt gegangen
führt dieser Weg auch aus dem stigmatisierten „Tschapperldasein“ der
Angehörigen..
Angehörige psychisch Erkrankter und Öffentlichkeit
Bekanntlich gibt es viele Studien,
die Wissen und Einstellung der
Öffentlichkeit über psychische Störungen, v.a. aus dem schizophrenen
Formenkreis, untersucht haben.
„Das Ergebnis war, kurz gesagt
nicht optimistisch. Nach wie vor
besteht hinsichtlich der nahen sozialen Beziehungsebenen ... überwiegend Ablehnung.“ [6]
Bei der jüngeren und gebildeteren
Bevölkerungsschicht sei die Ablehnung allerdings in letzter Zeit zurükkgegangen.
Das gibt ein wenig zu Hoffnung
Anlass und findet in der Evaluierung
der in Österreich durchgeführten
Schulaktionen ihren Niederschlag.
Leider darf man den Einfluss von Stereotypen, wie schon ausgeführt, nicht
unterschätzen – bekanntlich lebt
nichts so lange wie ein Vorurteil.
Außerdem – einige davon sind sehr
leicht zu entkräften andere wieder
schwer oder gar nicht, auch deshalb,
weil ihre differenziertere Betrachtung
ein beachtliches Fachwissen voraussetzt, das natürlich bei Durchschnittsbürgern nicht gegeben ist.
Dazu kommt die häufig sensationslüsterne
Aufmachung
der
Berichterstattung in den Medien, oft
auch missbraucht zur Verstärkung
politischer Tagestendenzen.
Leider sind die Folgen auf den
sozialen Verlauf der Krankheit
besonders tragisch in einer Zeit, in
der Mauern fallen und Krankenhausbetten dezimiert und die Erkrankten
ja auf eine gewisse Integrationsbereitschaft der Allgemeinheit angewiesen sind.
Einiges an Einsicht kann man
wohl in der Öffentlichkeit fordern,
aber es wäre naiv, eine rasche Veränderung der Einstellung sozusagen
von heute auf morgen als Wunder zu
erwarten.
Das soziale Umfeld darf nicht
überfordert werden.
Je „normaler“ und unauffälliger
das Leben von „psychisch Außergewöhnlichen“, wie sie sich selber
nennen, geführt werden kann, je weniger sie aus dem Rahmen des sogenannten Üblichen fallen, desto weniger wird sie das Umfeld stigmatisieren. Dazu gehören Medikamente, die
das Äußere nicht auffällig verändern,
gehört eine gewisse Körperpflege,
gehört eine materielle Basisgrundla-
ge, auch wenn keine Anbindung an
die Berufswelt möglich war usw.
Dafür könnte u. a. eine nachgehende Begleitung, ein sogenannter
Casemanager sorgen. Falls der oder
die Betroffene einverstanden ist –
ansonsten beginnt die niemalshoffnungslose aber unter Umständen
langwierige Arbeit eines Beziehungsaufbaues.
Casemanagement ist auch in mehreren österreichischen Bundesländern
geplant, aber noch nicht in die Praxis
übergeführt. Die Angehörigenorganisation fordert diese Maßnahme schon
lange, zum derzeitigen Stand der
Psychiatriereform ist sie aber unverzichtbar geworden. Nur durch sie
kann ein Absinken vieler psychisch
Erkrankter in die beziehungslose
Verelendung oder ein Mehr an gesetzlich erlaubter Gewalt verhindert
werden. Sie ist die Gretchenfrage an
die Politik: „Wie hältst Du es wirklich
mit Deiner Sorgepflicht?“
Denn wie Klaus Dörner richtig
sagt, muss die Respektierung der
eigenen Entscheidung des anderen
und sein Selbstbestimmungsrecht
eingebettet sein in eine Beziehung zu
ihm und in die Sorge für ihn. [2]
Ich verstehe diese Auflage so,
dass von der Öffentlichkeit, von den
Mitmenschen (Nachbarn etc) und v.a.
von den Angehörigen her unter Wahrung von der die Menschenwürde erst
möglich machenden Distanz alles
getan werden muss, um ein Leben
„draußen“ mit Qualität anzubieten.
Dazu gehört alles, was eine gute
Sozialpsychiatrie weiß, aber sie sollte
auch die nervlichen Grenzen des
sozialen Umfeldes kennen.
Durch all diese Maßnahmen
würde auch die Stigmatisierung der
Familie auf ein Mindestmaß zurükkgeführt werden, der Rest könnte
durch ein wieder intaktes Selbstwertgefühl der Angehörigen halbwegs
bewältigt werden, das zu einem
sicher nicht einfachen Schicksal steht
und es nicht verleugnet.
(Und dass die Hilfe der Gemeinde
und ihrer Einrichtungen selbstverständlich anfordert.)
33
Angehörige – Parias am Rande der Psychiatrie?
Selbst – Stigmatisierung ?
Michel Montaigne (1533 – 1592)
erzählt die Geschichte des Königs
von Mazedonien, der in römische
Gefangenschaft geraten war und an
Aemilius Paulus einen Boten sandte
mit der untertänigen Bitte, ihm die
Schmach des Triumphzuges zu ersparen. Dieser antwortete: „Dies Gesuch
soll er an sich selber richten“. [7]
Dies kann im Ehrenkodex alter
Zeiten eine Aufforderung zum Selbstmord sein, in unserer Angehörigenproblematik aber ist es als Hinweis
auf die wiederhergestellte Kraft des
eigenen Selbstwertgefühles zu verstehen, frei nach einem Leitspruch
unserer Organisation: Keine Schuld,
keine Schande, ein Schicksal – das
angenommen und bewältigt werden
muss!
Angehörige brauchen dazu vor
allem Information, mehr abgesichertes Wissen und das Gefühl, zusammen mit den Freunden in der Selbsthilfe durch Gespräch und Schulung
Bewältigungsstrategien entwickeln
zu können, die ihnen aber auch den
Betroffenen nützlich sind.
Die Lösung kann nicht in der
Hoffnung auf ein „Wunder“ liegen,
sondern im Annehmen des erkrankten
Familienmitgliedes, so wie es ist.
Und in Strategien von Distanz und
Nähe, von der Respektierung der
beidseitigen Grenzen und der Be-
dachtnahme auch auf die eigene
Lebensqualität. Dies bedingt Kampf
gegen die innere Versuchung des totalen Rückzuges aber doch die Freiheit,
sich seine Freunde nach neuen Kriterien auszuwählen – nach seelischer
Tiefe, Menschlichkeit und Fähigkeit
zum Loslassen.
Die Ermutigung zur Selbsthilfe
meint ein sich Lösen aus der „Opferrolle“ – meint auch, sich durch
Dummheit und Unwissenheit nicht
verwunden zu lassen, meint Kraft
zum Einfordern aller möglichen Hilfen, die längst versprochen aber noch
nicht verwirklicht sind, zieht also die
Grenzen der Subsidiarität.
Selbsthilfe heißt auch Ermutigung
zur Mithilfe an der Entstigmatisierung der Psychiatrie als Institution –
unsere betroffenen Angehörigen sind
oder waren nicht mehr „im Irrenhaus“ sondern im Krankenhaus für
seelische Ausnahmezustände, wie sie
jedem Menschen widerfahren können.
Nach all dem Gesagten ist klar –
Angehörige dürfen sich nicht ausliefern, auch nicht der eigenen Verzweiflung – sie müssen gegen
Stigmata inneren Widerstand leisten.
Als
Angehörigenorganisation
werden wir alles tun, um das Stigma,
das psychischen Störungen anhaftet
auf allen Linien zu bekämpfen – dazu
dient auch unsere aktive Mitwirkung
an der derzeit laufenden Antistigmakampagne.
Literatur:
[1]
Beck U. (Hg): Kinder der Freiheit. (S.
215 ff), Suhrkamp, Frankfurt Main
1997
[2]
Dörner K.: Der gute Arzt. Schattauer,
Stuttgart 2001.
[3]
Finzen A.: Psychose und Stigma. Psychiatrieverlag Bonn 2000.
[4]
Finzen A: Die „schizophrenogene Mutter“. „Kontakt“ 4, 1994.
[5]
Goffmann E., Stigma. Suhrkamp,
Frankfurt Main 1975.
[6]
Häfner H.: Das Rätsel Schizophrenie:
(S. 175 u. 408). Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 2oo1.
[7]
Montaigne M.: Essais, Philosophieren
heißt sterben lernen.
[8]
WPA: Global Programme against
Stigma and Discrimination because of
Schizophrenia, Dt. Übersetzung, promente Linz 2000.
Mag. Ingrid Rath
HPE – Österreich,
Hilfe für Angehörige
psychisch Erkrankter
Bernardg.36/14, A-1070 Wien
KOMMENTAR
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 35 – 36
Stigmatisierung als Folge intrapsychischer
Abwehrprozesse – der psychotherapeutische
Gesichtspunkt
Harald Meller
Gesellschaft für Psychische Gesundheit Tirol, Innsbruck
Zu den bestehenden umfangreichen Bemühungen, Stigmatisierung
zu benennen, sie kenntlich zu machen
und gegen sie zu arbeiten ("Entstigmatisierung"), sollen im folgenden
einige Überlegungen aus psychotherapeutischer Sicht beitragen.
Dieser Beitrag ist allerdings –
soviel läßt sich schon vorab sagen –
unbequem, da er „Schuld und Sühne“
für die Stigmatisierung psychiatrisch
Betroffener nicht ausschließlich in
vermeintlich veränderbaren gesellschaftlichen Zuständen ortet, sondern
an anderer Stelle, nämlich in den
eigenen intrapsychischen Stabilitätsmechanismen.
Aus psychotherapeutischer Sicht
sind zunächst drei grundlegende Dinge zu akzeptieren:
• Psychotherapie und psychotherapeutisches Wahrnehmen und
Handeln stellen eine maßgebliche
Erweiterung der psychiatrischen
Handlungskompetenz dar. Dass
klassische psychotherapeutische
Settings für die Behandlung im
psychiatrischen Bereich vielfach
nur modifiziert verwendbar sind,
heißt nicht, dass angewandte
Psychotherapie nicht einen hohen
Stellenwert in der Organisation
und Durchführung (sozial-)psychiatrischer Komplexleistungsprogramme hat und haben muss.
• Die aus der psychotherapeutischpsychoanalytischen Praxis und
Forschung kommenden Begriffe
Übertragung und Gegenübertra-
•
gung stehen für Phänomene, welche im psychiatrischen Kontext
gerne übersehen werden, obwohl
oder gerade weil sie dort in besonderer Weise und stark ausgeprägt
sind. Gerade ein gesichertes Bewusstsein über diese Phänomene
wäre jedoch die Voraussetzung
für eine menschenwürdige Gestaltung psychiatrischer Verhältnisse.
Es gibt zwar eine reichhaltige
Forschung und eine höchst kontroversielle Diskussion über die
Ursachen von Psychosen und
psychosewertigen Störungen, der
praktische Umgang mit Menschen, die solche Störungen zeigen (das heißt im wesentlichen
Beziehungsarbeit), scheint jedoch
weit weniger attraktiv zu sein. Die
dazugehörige Praxisforschung ist
im Verhältnis zur Ursachenforschung stark unterrepräsentiert.
Unter Berücksichtigung dieser
drei Grundannahmen läßt sich in aller
Vorsicht folgende Hypothese postulieren: Es scheint, als ob größere seelische Funktionsstörungen, wie sie
mit den diagnostischen Bezeichnungen Psychose und psychosewertige
Störungen gemeint sind, ein ihnen
innewohnendes Gefahrenpotential
besitzen würden. Gefahr allerdings
nicht in dem Sinn, wie es uns der Vorgang der Stigmatisierung nahelegen
will, bei dem wir einen Menschen
über den äußeren Vorgang der Etikettierung mit negativen Eigenschaften
belegen – im Fall von sogenannten
„psychischen Kranken“ etwa mit der
Eigenschaft unberechenbar, asozial,
kriminell oder gefährlich. Vielmehr
scheint es so zu sein, als ob der Kontakt mit Menschen mit seelischen
Störungen auch in anderer Hinsicht
„gefährlich“ wäre, nämlich hinsichtlich der eigenen inneren Stabilität.
Das psychotische Geschehen repräsentiert nicht nur eine schwere Gefährdung des seelischen Gleichgewichts des von ihr unmittelbar betroffenen Menschen. Es gefährdet auch
jeden, der mit einer Person, die
Zeichen einer psychotischen inneren
Organisation zeigt, zu tun hat, also im
engeren Kontakt oder in Beziehung
zu dieser Person steht. Diese Gefährdung bleibt großteils unbewusst, da
die eigene seelische Integrität und
„Normalität“ für jeden Menschen
einen sehr hohen – auch narzisstischen – Stellenwert besitzt. Dies gilt
ganz besonders für Menschen, welche in psychiatrischer Professionalität arbeiten müssen. Hier dient das
„ICH bin NICHT verrückt“ nicht nur
als Konstituente eines stabilen Ich
und Selbst – wie bei jedem anderen –,
sondern zusätzlich als Differenzierung und Unterscheidungskriterium
zu den betroffenen Menschen oder zu
Berufskollegen ... Man will keinesfalls Subjekt einschlägiger Witze
sein, welche z.B. Psychiater und
Patienten auf eine Ebene der Verrükktheit stellen, oder Gegenstand von
Redewendungen wie „Wer Psychologe wird, braucht selber einen“.
36
Kommentar
Um die seelische Stabilität aufrecht zu erhalten, muss die Gefährdung des eigenen Funktionierens
unbewusst bleiben. Die psychotherapeutische Forschung hat dazu ausführliche Konzepte entwickelt und
ein ganzes Arsenal von sogenannten
Abwehrmechanismen beschrieben.
Der Kontakt zu psychosebetroffenen
Menschen führt also dazu, dass sich
bei den „Gesunden“ die jeweiligen
„gesunden“ Abwehrmechanismen
verstärken. Gleichzeitig bleiben diese
psychischen Geschehnisse weitgehend unbewusst. In der Folge und im
Lauf der Zeit bilden sich aus den vielen individuellen Abwehrhaltungen
kollektive spezifische Abwehrmuster.
So kann die Summe zunächst persönlicher Abwehrhaltungen zu einer Gemeinschaftshaltung werden. Einige
typische Abwehrmuster lassen sich
herausarbeiten im Sinn von Haltungen oder Verhaltensweisen Betroffenen gegenüber. Diese Haltungen
können durchaus zuwiderlaufend
oder gegensätzlich sein, in der gesellschaftlichen
Gesamtorganisation
führen sie als Summenfaktor der
Haltungen von Subsystemen zum
Gesamtphänomen der Stigmatisierung.
Einige dieser typischen Abwehrhaltungen (Gegenübertragungsfixierungen) und daraus resultierende Verhaltensweisen psychotischen Menschen gegenüber sind folgende:
• Die allgemeine „geographische“
Abwehrhaltung: „Bei uns soll es
keine solchen geben. Hauptsache,
sie sind woanders, wo sie uns
nicht stören.“
• Die antipsychiatrische Abwehrhaltung: „Es gibt keine Psychose.
Empfindliche Menschen werden
zu Opfern gemacht. Täter sind
•
•
•
•
gesellschaftliche Machtstrukturen, allen voran die Psychiatrie.“
Die sozialutopische Abwehrhaltung: „Menschen mit Psychosen
sind die wahren Menschen. Früher wären sie heilig gesprochen
worden.“
Die soziotherapeutische Abwehrhaltung: „Man muß alles tun um
zu helfen. Schuld sind unzureichendes Verständnis für soziale
Angelegenheiten. Man bräuchte
viel mehr Geld.“
Die naturwissenschaftliche Abwehrhaltung: „Psychotische Menschen sind grundsätzlich anders.
Ihre „vererbbare Stoffwechselstörung“ behindert ihr seelisches
Funktionieren. Allenfalls können
Medikamente die Funktion verbessern.“
Die entwicklungspsychologischpsychoanalytische Abwehrhaltung: „Tiefe Störungen des seelischen Erlebens sind in frühester
Kindheit durch Fehlbehandlung
verursacht. Frühe Störungen sind
schlecht behandelbar und äußerst
mühsam in der konkreten Praxisarbeit.“
Die beschriebenen Abwehrhaltungen betreffen in exemplarischer
Weise vor allem den Bereich Psychiatrie und damit die in diesem Bereich
tätigen Personen. Man könnte noch
einige weitere Haltungen herausarbeiten, wollte man die Liste vollständig machen. Bedeutsam scheint, wie
unterschiedlich einerseits, wie effektiv und relevant andererseits Denkmuster und Überzeugungen dazu führen, den von den Betroffenen so dringend benötigten menschlichen Kontakt in irgendeiner Weise zu
vermeiden, ihn zu reduzieren oder
unter extreme Vorgaben zu stellen,
sodass im Endeffekt menschliche
Abwertung die Folge ist.
Der Prozess der Stigmatisierung
ist so gesehen ein sehr grundlegendes
psychisches Phänomen und eines, an
dem man sehr schnell tätigen Anteil
hat, ohne es je selbst zu merken.
Heiler, Planer, Helfer, Reformateure, Verantwortliche und gesellschaftliche Größen glauben sich ja
durchaus in bester Absicht, wenn sie
heilen, planen, helfen, reformieren
usw. Da es sich großteils um unbewusste und in der intrapsychischen
neurotischen Organisation ja durchaus um normale Vorgänge handelt, ist
dies auch niemandem persönlich zum
Vorwurf machen.
Die Psychotherapie könnte zur
Entstigmatisierung einen Beitrag leisten, indem sie soziologische und
historische Betrachtungsweisen um
die Benennung jener innerpsychischen Prozesse bereichert, die das
was wir Stigmatisierung nennen, ausmachen und die letztlich immer dazu
führen, den Kontakt, die Begegnung
und Beziehung zu anderen Menschen
zu reduzieren oder zu verunmöglichen.
Um die Entwicklung in diese
Richtung zu lenken, ist es notwendig,
Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis
zu fördern. Im Bewusstsein eigener
Anteile kann sich eine Reflexionskultur etablieren, die eine offene konstruktive und wertschätzende Auseinandersetzung ermöglicht – im Sinne
eines letztlich kulturellen und damit
auch mühsamen Prozesses.
OA Dr.Harald Meller
Institut für sozialpsychiatrische
Rehabilitation
GPG-Tirol
Karl Schönherrstr. 3
A-6020 Innsbruck
37
REZENSION
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002
Asmus Finzen: Psychose und Stigma.
Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und
Schuldzuweisungen
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000. ISBN 3-88414-254-2
„Alle reden von Entstigmatisierung. Was aber ist Stigma?“ fragt
Asmus Finzen in der überarbeiteten
Neuauflage von „Psychose und Stigma“. Kein Zweifel, dieses Buch liegt
im Trend, den der Autor im deutschen
Sprachraum wohl selbst mitinitiiert
hat: Keine Zeitschrift, keine Tagung,
die dieses Thema nicht aufgreift,
zusätzlich gefördert durch die in zahlreichen Ländern breit angelegten
Antistigmakampagnen.
Doch Asmus Finzen verweigert
sich dem psychiatrischen Zeitgeist, er
führt uns – wie so oft – weiter. Er holt
die allzu hehren Ziele hochgeschraubter Kampagnen auf den spröden Boden der Realität, er macht uns
mit viel Geduld klar, wieso „dem
Stigma-Management (Goffman) der
Vorrang gegenüber dem langfristigen
– und utopischen – Ziel der Entstigmatisierung gebührt“. Eine Enttäuschung für alle idealistisch an der
Psychiatrie-Entwicklung werkelnden
Menschen. Aber eine gesunde.
Anhand einer prägnanten Zusammenfassung des Goffman-Klassikers
aus den 60er Jahren erhalten wir
Grundinformationen über das soziologische Phänomen der Stigmatisierung und ihre Auswirkungen auf psychisch Kranke. Gerade anhand des
Begriffs der Schizophrenie wird klar,
was Stigma ist und wie es zu einer
„zweiten Krankheit“ führt: „Schizophrenie ist nicht nur eine Krankheitsbezeichnung. Schizophrenie ist, wie
Krebs und Aids und früher die Tuberkulose, zugleich eine Metapher. Der
Begriff steht für alles mögliche andere; und nichts davon ist gut.“ – „Man
kann die Krankheit Schizophrenie
nicht behandeln – wenn man sich
nicht zugleich mit den Folgen des öffentlichen Umgangs mit ihr befasst.“
Der Autor zeigt uns, was unsere Bilder und Vorstellungen anrichten können. Er setzt sich auseinander mit den
Nöten Betroffener und Angehöriger,
für die eine psychiatrische Diagnose
zunächst einmal „eine Katastrophe“
darstellt und beschreibt, wie Vorurteile wirken und zu sozialer Ausgrenzung führen. Er diskutiert die
häufigen Fragen nach Ursache, Verantwortung und Schuld und geht im
besonderen auf die Vorurteile „gefährlich“ und „unberechenbar“ ein.
Ein zusätzliches Kapitel widmet sich
den noch zu wenig beachteten Kindern psychisch erkrankter Eltern. Im
besonderen macht er auf die Schwierigkeiten, aber auch auf die Leistungen und die Bedeutung der Angehörigen aufmerksam und auf das Unrecht,
das den Familien widerfährt.
Doch „was ist zu tun“? Erst wenn
die Beteiligten den sozialen Mechanismus der Ausgrenzung „begreifen,
sind sie im Stande, das Stigma
zurückzuweisen und zu bewältigen“:
Der Autor plädiert dafür, „sich selbst
und anderen immer wieder zu bekräftigen: An Schizophrenie ist niemand
Schuld!“ Er fordert uns auf, „ein
nüchternes Verhältnis zur Krankheit
‚Schizophrenie‘“ zu entwickeln und
regt uns an, furchtlos zu sein, an
unseren individuellen, jeweiligen
Umgang zu glauben und notfalls auch
mal zu lügen: „Moralische Überlegungen sind hier fehl am Platz. Die
Moral der Gemeinschaft der Gesunden im Umgang mit an Schizophrenie
Erkrankten lässt mehr zu wünschen
übrig als umgekehrt.“
Er ermutigt uns zum „Blick nach
vorn. Denn der Verlauf der Krankheit
ist durch eigenes Verhalten – der
Kranken wie der Angehörigen – zu
beeinflussen“. Ein Appell an die eigene Verantwortlichkeit. Ein Appell an
die Kraft der kleinen Schritte und
eine Absage an den Größenwahn
gesellschaftsverändernder Maßnahmen, die uns höchstens als Utopie die
Richtung angeben können. Wer
immer noch keine Kampagne geplant
hat, kann mit der Lektüre dieses
Buches einige Fehler vorweg vermeiden ...
Finzens Buch bestärkt und ermutigt jene, die es unmittelbar betrifft
und hilft allen anderen zu verstehen.
Aus den Ausführungen sprechen
Empathie, Respekt und die langjährigen Erfahrungen eines Profis, der
eine wohltuende Bescheidenheit
pflegt. Dazu kommt, dass Herr Finzen einfach gut schreibt. Komplexe
Sachverhalte werden verständlich,
wir haben das Gefühl, als ob uns grade eben unser Nachbar das alles
erzählen würde. Und er verleiht dem
luftigen Zeitgeist-Thema „Stigma“
wieder Gewicht.
Mag. Rosi Schmid, Salzburg
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 39 – 45
Interventionen zur Reduzierung
des Stigmas der Schizophrenie:
Konzeptuelle Überlegungen
Matthias C. Angermeyer und Beate Schulze
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Leipzig
Schlüsselwörter
Stigma Konzept – Schizophrenie – AntiStigma Interventionen
Key words
stigma concept – schizophrenia – antistigma interventions
Interventionen zur Reduzierung des Stigmas der Schizophrenie: Konzeptuelle Überlegungen
Im Rahmen eines von der World
Psychiatric Association initiierten
Programms werden in verschiedenen
Ländern, darunter auch in Österreich,
Interventionen zur Reduzierung der
Stigmatisierung und Diskriminierung
schizophrener Kranker durchgeführt.
In Anlehnung an das von Link et al.
entwickelte Konzept des Stigmaprozesses wird versucht die Vielzahl der
gewählten Strategien in eine systematische Ordnung zu bringen. Für die
einzelnen Etappen des Stigmaprozesses (Wahrnehmung und Benennung
eines Unterschieds – Verknüpfung
mit negativen Stereotypen – Abgrenzung von anderen Menschen – Diskriminierung) werden Ergebnisse der
Stigmaforschung dargestellt und darauf aufbauend Ansätze für Interventionen diskutiert. Schließlich werden
die Grenzen angesprochen, die den
Bemühungen um eine Reduzierung
des Stigmas der Schizophrenie
gesetzt sind.
Interventions to reduce stigma
related to schizophrenia: A conceptual discussion
In the context of an international
programme initiated by the World
Psychiatric Association, interventions aimed at reducing stigma and
discrimination because of schizoph-
renia are being developed in many
countries, including Austria. Drawing
on Link’s et al. concept of the stigma
process (distinguishing and labelling
differences – associating differences
with negative stereotypes – separating ”us” from ”them” – discrimination ), results of stigma research will
be presented and opportunities for
anti-stigma interventions will be
discussed for each step of the process.
Finally, the limitations of attempts to
reduce stigma and discrimination will
be pointed out.
Einleitung
Im Jahr 1996 initiierte die World
Psychiatric Association ein Programm zur Reduzierung der Stigmatisierung und Diskriminierung schizophrener Kranker [55]. Es nahm seinen Ausgangspunkt in Alberta (Canada), später kamen Spanien und
Österreich hinzu. Inzwischen sind 20
Länder rund um die Erde daran beteiligt. Im Rahmen dieses Programms
wurden, ausgehend von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten, eine
Vielzahl von Interventionen initiiert.
Das Spektrum reicht von MedienKampagnen über gesetzliche Regelungen bis hin zum Empowerment
von Kranken und ihren Angehörigen.
Im folgenden soll versucht werden,
die verschiedenen Ansätze, die das
Ziel verfolgen, das Stigma der Schizophrenie zu reduzieren, in eine
systematische Ordnung zu bringen.
Dies soll die Orientierung innerhalb
der Vielfalt der gewählten Strategien
erleichtern. Als theoretischer Rahmen
dient uns hierfür das von Link et al.
[40] (vergleiche auch [38]) entwikkelte Konzept des Stigmaprozesses.
Er nimmt seinen Ausgang damit, dass
bei einer Person ein Unterschied zu
anderen Menschen festgestellt wird
und dieser benannt wird. Er findet
seine Fortsetzung darin, dass die so
bezeichnete Person mit negativen
Stereotypen in Verbindung gebracht
wird, die über diesen Personenkreis
in der Gesellschaft vorherrschen.
Damit fällt die so bezeichnete Person
in eine distinkte Kategorie von Menschen, von denen man sich abgrenzt.
Der Stigmaprozess kulminiert darin,
dass die Person verschiedenen Formen der Diskriminierung ausgesetzt
ist mit den entsprechenden negativen
sozialen Konsequenzen. Für die einzelnen Stufen des Stigmaprozesses
sollen die Ergebnisse der in jüngerer
Zeit durchgeführten Forschung dargestellt werden und darauf aufbauend
Möglichkeiten der Intervention diskutiert werden.
Wahrnehmung und Benennung eines Unterschieds
Der Stigmaprozess wird dadurch
eingeleitet, dass bei jemandem ein
unterscheidendes Merkmal festge-
40
Angermeyer und Schulze
stellt und dieses mit einem Label versehen wird. Durch was sind nun schizophrene Kranke von anderen Menschen unterscheidbar? Als erstes sind
hier die akuten psychotischen Symptome zu nennen, durch die die Kranken die Aufmerksamkeit ihrer
Umwelt auf sich ziehen. Hinzu kommen die auf den ersten Blick weniger
auffallenden Negativsymptome und
krankheitsbedingten Behinderungen.
Weiterhin sind hier die unerwünschten Effekte der psychopharmakologischen Behandlung bedeutsam. Vor
allem durch die extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen der
konventionellen Neuroleptika werden die Kranken für ihre Umwelt als
solche erkennbar. Aus „Diskreditierbaren“ [26], die es selbst in der Hand
haben, ob sie sich als psychisch Kranke „outen“ oder nicht, werden „Diskreditierte“, die wegen des medikationsbedingten Parkinsonoids als
psychisch Kranke identifiziert werden können – ob sie es wollen oder
nicht. Aber nicht nur diese sichtbaren
Unterschiede sind von Bedeutung.
Allein durch das Bekanntwerden der
Diagnose „Schizophrenie“ wird der
Stigmaprozess in Gang gesetzt –
unabhängig davon, ob die Betroffenen im Moment Symptome der
Krankheit aufweisen oder nicht. Ja
schon allein die Tatsache, dass
jemand in psychiatrischer Behandlung ist (oder war), genügt.
Von großer Bedeutung dafür, ob
der Stigmaprozess in Gang kommt
und welche Auswirkungen er nach
sich zieht, ist die Sichtbarkeit des
unterscheidenden Merkmals [17]. Je
wirksamer die psychiatrische Behandlung in der Reduzierung der
Krankheitssymptome und der krankheitsbedingten Behinderungen ist,
um so geringer dürfte das Stigmatisierungsrisiko sein. Und je geringer
die sichtbaren Nebenwirkungen der
Psychopharmakotherapie sind, desto
weniger laufen die Kranken Gefahr,
stigmatisiert zu werden. Die Einführung der atypischen Neuroleptika
bedeutet hier sicher einen Fortschritt,
führen sie doch seltener zu extrapyra-
midal-motorischen Nebenwirkungen.
Was den stigmatisierenden Effekt
der psychiatrischen Diagnose und die
Tatsache, ein psychiatrischer Patient
zu sein, betrifft, so lassen sich zwei
gegenläufige Strategien unterscheiden: die Medikalisierung und die
Normalisierung. Befürworter der
Medikalisierung versprechen sich
von einer möglichst engen Annäherung der Psychiatrie an die Medizin
eine entstigmatisierende Wirkung.
Sie plädieren für die Anwendung des
medizinischen Krankheitskonzepts
auf psychische Störungen und dafür,
psychische Krankheiten wie andere
medizinische
Krankheiten
zu
betrachten. Sie propagieren eine klare
Grenzziehung zwischen Normalität
und psychischer Krankheit, die in
ihren Augen zwei verschiedene
Kategorien darstellen. Es besteht die
Tendenz, den Krankheitsbegriff weit
zu fassen und viele psychische Störungen darunter zu subsumieren.
Man spricht sich klar für den
Gebrauch der psychiatrischen Diagnose aus. Patienten werden als solche bezeichnet. Die Psychiatrie wird
als eine Disziplin der Medizin begriffen. Die Verankerung der klinischen
Psychiatrie in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung wird
betont. Räumlich wie organisatorisch
bemüht man sich um die Integrierung
der Psychiatrie in die Medizin.
Die Strategie der „Normalisierer“
verfolgt genau das Gegenteil: Sie
gehen möglichst auf Distanz zur
Medizin. Man vermeidet es, psychische Störungen als Krankheit zu
bezeichnen und spricht lieber von
einer „Krise“. Zwischen Normalität
und psychischen Störungen bestehen
in ihren Augen fließende Übergänge.
Der Normalitätsbegriff ist sehr breit
gefasst. Man ist gegen die Verwendung psychiatrischer Diagnosen.
Dies gilt ganz besonders für die Schizophrenie wegen des ihr anhaftenden
Stigmas. Psychosoziale Erklärungsmodelle werden präferiert. Einer
psychopharmakologischen Behandlung steht man eher skeptisch bis
ablehnend gegenüber. Die Benen-
nung als psychiatrischer „Patient“
wird peinlich vermieden. Vielmehr ist
von „Klienten“, „Psychoseerfahrenen“ oder „Psychiatrieerfahrenen“
die Rede, oder man wählt die eher
kryptische Bezeichnung „Betroffene“. Räumlich und organisatorisch
geht man möglichst auf Distanz zu
Institutionen der Psychiatrie.
Der Medikalisierungsansatz findet vor allem bei professionellen
Helfern medizinischer Provenienz
Anklang, daneben auch bei vielen
Angehörigen. Dagegen tendieren v.a.
in Selbsthilfegruppen organisierte
Kranke, aber auch Vertreter paramedizinischer Berufsgruppen, eher zum
Normalisierungsansatz. Welche der
beiden hier idealtypisch dargestellten
Strategien erfolgreicher ist bezüglich
der Vermeidung der Stigmatisierung
schizophrener Kranker, ist eine offene Frage. Bislang existieren nur einige wenige Studien zu diesem Thema,
deren Ergebnisse zudem recht widersprüchlich sind. Für die Medikalisierungsstrategie sprechen beispielsweise die Ergebnisse von Socall und
Holtgraves [59] und Mechanic et al.
[42], eher dagegen die von Farina et
al. [22], Fisher und Farina [23] und
Rothaus et al. [54].
Verknüpfung mit
negativen Stereotypen
Im nächsten Schritt des Stigmaprozesses werden mit jemandem, der
als „psychisch krank“, „psychiatrischer Patient“ oder „schizophren“
identifiziert wurde, negative Vorstellungen verknüpft, die in der Gesellschaft über diesen Personenkreis vorherrschen. Für das Stereotyp vom
psychisch Kranken sind Hayward
und Bright [29] vor allem die folgenden vier Aspekte bestimmend: die
Vorstellung, dass psychisch Kranke
gefährlich seien; dass sie selbst für
ihre Erkrankung verantwortlich
seien; dass die Krankheit chronisch
Interventionen zur Reduzierung des Stigmas der Schizophrenie: Konzeptuelle Überlegungen
verlaufen würde, schwer zu behandeln sei und eine schlechte Prognose
hätte; schließlich dass psychisch
Kranke gegen die Normen sozialen
Rollenverhaltens verstoßen und
unberechenbar seien. Was schizophrene Kranke betrifft, so dominiert
hier die Vorstellung der Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit [16, 49].
Damit kongruiert das Ergebnis, dass
mit Abstand am häufigsten mit Schizophrenie eine Spaltung der Persönlichkeit assoziiert wird [32]. Auf die
ablehnende Haltung der Bevölkerung
gegenüber psychisch Kranken allgemein und gegenüber schizophrenen
Kranken im besonderen scheint die
Vorstellung von deren Gefährlichkeit
den stärksten Einfluss zu haben.
Krankheitsdefinition, Kausalattributionen und Prognosevorstellungen
treten dahinter an Bedeutung zurück.
Zu diesem Ergebnis kommen übereinstimmend in jüngster Zeit in den
USA und in Österreich durchgeführte
Bevölkerungsumfragen [27, 41].
Nun ist das relative Risiko einer
Gewalttat bei schizophrenen Kranken
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung tatsächlich mäßig erhöht. Darin
stimmen praktisch alle in jüngerer
Zeit durchgeführten epidemiologischen Studien überein [18]. Dagegen ist das attribuierbare Risiko, d.h.
der Anteil der von schizophrenen
Kranken begangenen Gewaltdelikte
am Gesamt der innerhalb eines
bestimmten Zeitraums begangenen
Gewaltdelikte, äußerst gering. Es gibt
auch keine eindeutigen Belege dafür,
dass der Anteil der von psychisch
Kranken begangenen Gewalttaten in
den letzten Jahren zugenommen hat
[3]. Das bedeutet, dass die von schizophrenen Kranken für die Allgemeinheit ausgehende Gefahr äußerst
gering ist.
Im Gegensatz dazu wird aber in
den Medien der Eindruck erweckt, als
ob schizophrene Kranke für die
Gesellschaft eine große Bedrohung
darstellten. Dieser Eindruck entsteht
zum einen durch die selektive Berichterstattung über diese Kranken. So
ergab eine Inhaltsanalyse des größten
deutschen Boulevardblatts, dass die
Hälfte der zwischen Januar und September 1997 erschienenen Berichte
über psychisch Kranke von diesen
begangene Straftaten zum Thema
hatten. Bei schizophrenen Kranken
waren es sogar zwei Drittel. Meist
handelte es sich dabei um Gewaltverbrechen [10]. In die gleiche Richtung
verweist das Ergebnis einer Auswertung überregionaler deutschsprachiger seriöser Tages- und Wochenzeitungen [31]. Auch Medienanalysen,
die in Großbritannien, in den USA
und in Australien durchgeführt wurden, belegen, dass über psychisch
Kranke überproportional häufig im
Kontext von Gewaltdelikten berichtet
wird [1, 12, 30, 50, 56, 58]. Dass die
Berichterstattung über Gewaltdelikte
psychisch Kranker tatsächlich die
Einstellung der Bevölkerung negativ
beeinflussen kann, konnten wir
anhand der Auswirkungen dreier
Attentate demonstrieren, die in
Deutschland von psychisch Kranken
auf prominente Persönlichkeiten
begangen wurden [5]. Das Stereotyp
der Gefährlichkeit und Bedrohung für
die Umwelt wird darüber hinaus
durch die Darstellung psychisch
Kranker im Unterhaltungsfilm verstärkt. Auch hier sind psychisch
Kranke in der Rolle des Gewalttäters
und Gewaltverbrechers überrepräsentiert [33, 57, 64]. Wie stark dadurch
die Vorstellungen über psychisch
Kranke geprägt werden können, zeigt
das Ergebnis einer Fokusgruppenstudie [51].
Durch ihren Einfluss auf die
öffentliche Meinungsbildung stellen
die Medien jedoch auch eine wichtige
Ressource für die Veränderung negativer Stereotypen über psychisch
Erkrankte dar. Durch Kooperation
mit Journalisten, besonders mittels
Unterstützung bei Recherche und
Themenfindung und der Vermittlung
von kompetenten Interviewpartnern
(sowohl psychiatrischen Experten als
auch Patienten und Angehörigen)
sowie durch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit seitens psychiatrischer
Institutionen kann darauf hin gewirkt
41
werden, dass psychische Erkrankungen auch außerhalb der Verbrechensberichterstattung als unabhängiges
Thema in den Medien etabliert werden. Gleichermaßen ist es wichtig,
negative Mediendarstellungen herauszustellen und kritisch zu diskutieren. Dazu können z.B. Stigma-Warnsysteme im Internet wie bereits von
der National Association of the Mentally Ill in den USA und SANE
Australia betrieben oder Leserbriefe
genutzt werden. In der Medienarbeit
sollte Faktenwissen zu psychischen
Erkrankungen mit Porträts psychisch
erkrankter Menschen kombiniert
werden. Berichte über Alltagserfahrungen der Erkrankten, die zeigen,
wie sie ihren Alltag erfolgreich meistern und die sie auch in anderen sozialen Rollen als der Krankheitsrolle
darstellen, können dazu beitragen, die
soziale Distanz zwischen Menschen
mit psychischen Erkrankungen und
der Allgemeinbevölkerung zu reduzieren. Besonders geeignet erscheint
dieser Ansatz für eine realistischere
Darstellung psychisch Erkrankter in
Film und Fernsehen, was in Australien durch die Einführung einer schizophren erkrankten Person in die
daily soap „Home and Away“ bereits
erfolgreich umgesetzt wurde. Die
Ausschreibung von Journalistenpreisen für Arbeiten zu psychischen
Krankheiten hat sich als zusätzlicher
Anreiz für eine Beschäftigung mit
dem Thema erwiesen. Schließlich
kann ein Medientraining psychiatrische Experten, Erkrankte und Angehörige dabei unterstützen, die für eine
erfolgreiche Medienarbeit erforderlichen Fähigkeiten zu entwickeln.
Workshops für Journalisten können
gleichermaßen dazu beitragen, diesen
Multiplikatoren Wissen über psychische Erkrankungen zu vermitteln und
sie im Umgang mit diesem sensiblen
Thema zu schulen.
Eine weitere Quelle, aus der das
Stereotyp der Gefährlichkeit psychisch Kranker gespeist wird, ist die
Psychiatrie. Während in Italien und in
Großbritannien das Gros der psychiatrischen Großkrankenhäuser inzwi-
42
Angermeyer und Schulze
schen geschlossen wurde, haben in
Deutschland mit einer einzigen Ausnahme alle überlebt. Zwar wurden sie
gründlich renoviert und die Bettenzahl drastisch reduziert. Dennoch
haftet diesen Einrichtungen nach wie
vor die Aura der Anstalt an, in die
man zumeist gegen seinen Willen
eingewiesen wird, in der der Einsatz
von Zwangsmaßnahmen an der
Tagesordnung ist und aus denen man
nur schwer wieder herauskommt. So
war beispielsweise bei einer 1993 in
den neuen deutschen Bundesländern
durchgeführten Umfrage über die
Hälfte der Befragten davon überzeugt, dass in psychiatrischen Krankenhäusern Zwangsjacken und Gummizellen nach wie vor in Gebrauch
seien [2]. Der Eindruck, dass es in
diesen Einrichtungen primär um die
Kontrolle aggressiver und gefährlicher Menschen geht, wird noch
dadurch verstärkt, dass in Deutschland innerhalb zahlreicher psychiatrischer Krankenhäuser Einrichtungen
des Maßregelverzugs installiert wurden. Das Laienpublikum dürfte
schlicht überfordert sein zu differenzieren zwischen den "normalen” psychisch Kranken und solchen, die
straffällig geworden sind. Unter dem
Gesichtspunkt der Stigmatisierung
ergibt sich daraus als Konsequenz für
die Planung der psychiatrischen Versorgung, dass der Einrichtung von
psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern der Vorzug
gegeben werden sollte. Auch dass die
Einrichtungen des Maßregelvollzuges lokal separiert von denen der Allgemeinpsychiatrie etabliert werden
sollten.
Abgrenzung von
anderen Menschen
Die Verknüpfung des Labels
„Schizophrenie“ mit den beschriebenen negativen Attributen liefert die
Grundlage für die Überzeugung, dass
der Träger dieses Labels sich von den
Menschen, denen dieses Label nicht
anhaftet, grundsätzlich unterscheidet
und einer speziellen Kategorie zugehört. Er wird zu dem, als was er
bezeichnet wird [19]. Er ist nicht
jemand, der an Schizophrenie
erkrankt ist, sondern er ist „schizophren“. Wie kann nun der Tendenz zur
Reduzierung einer Person auf das
Stereotyp und der Abgrenzung
gegenüber dieser Person entgegengewirkt werden? Am wirksamsten dürfte hier der persönliche Kontakt mit
psychisch Kranken sein. Denn dieser
gestattet es, den Kranken als Person
mit allen ihren Facetten kennen zu
lernen. Vieles spricht dafür, dass
möglichst frühzeitig, z.B. in der
Schule, Kindern und Jugendlichen
die Gelegenheit geboten werden sollte, persönlich Erfahrung im Umgang
mit psychisch Kranken zu sammeln
[43]. Im Prinzip verfolgten auch die
gemeindepsychiatrischen Reformen
das Ziel, mehr Kontakt zwischen den
Kranken und der Bevölkerung zu
ermöglichen in der Hoffnung, damit
zum Abbau von Vorurteilen beizutragen. Inwieweit dies realiter gelungen
ist, bleibt in Ermangelung einschlägiger Daten eine offene Frage. Immerhin kommt die Mehrzahl der Studien,
die den Zusammenhang zwischen
persönlicher Erfahrung mit psychisch
Kranken und der Einstellung diesen
gegenüber untersuchten zu einem
positiven Ergebnis: man vertrat seltener die Ansicht, dass diese gefährlich
seien, und der Wunsch nach sozialer
Distanz war etwas geringer ausgeprägt [6, 28, 36, 44, 47, 60, 61, 63]. In
diesem Zusammenhang erscheint es
wichtig, dass der Effekt der persönlichen Erfahrung offenbar vorrangig
emotional vermittelt wird, d.h. dass
man seltener ängstlich-verunsichert
und häufiger prosozial reagiert [7].
Eine Voraussetzung dafür, dass die
psychiatrische Reform überhaupt ihr
Ziel erreichen kann, ist, dass anstelle
der stationären ausreichend komplementäre und ambulante Einrichtungen geschaffen werden. Andernfalls
droht, siehe Beispiel USA, dass psychisch Kranke sprichwörtlich auf der
Straße landen und doppelt stigmatisiert sind: als psychisch Kranke und
als Obdachlose.
Diskriminierung
Der Stigmaprozess gipfelt in der
Diskriminierung des Stigmaträgers.
Prinzipiell lassen sich drei Formen
von Diskriminierung unterscheiden:
direkte Diskriminierung, strukturelle
Diskriminierung und Diskriminierung durch Selbststigmatisierung
[38]. Dass psychisch Kranke allgemein und schizophrene Kranke im
besonderen auch heute noch direkten
Diskriminierungen ausgesetzt sind,
dafür sprechen die Ergebnisse der in
den zurückliegenden 10 Jahren
durchgeführten Repräsentativerhebungen bei der Allgemeinbevölkerung [z.B. 7, 14, 39]. In die gleiche
Richtung weisen die Ergebnisse sozialpsychologischer Experimente [z.B.
20, 21, 45). Schließlich deuten auch
Studien, in denen die subjektiven
Stigmaerfahrungen der Kranken
exploriert wurden, auf ein substantielles Ausmaß an direkter Diskriminierung hin. Betroffen sind davon
insbesondere die Beziehungen zu
anderen Menschen und der Zugang
zu Arbeit [9, 62].
Die Kranken berichten, dass sie
nicht nur in ihrem persönlichen
Umfeld Diskriminierungen ausgesetzt sind. Auch als Patienten machen
sie einschlägige Erfahrungen. Dies
gilt für die Psychiatrie sowie
(womöglich in noch stärkerem Maß)
für die übrige Medizin [9]. Maßnahmen zur Qualitätssicherung könnten
hier Abhilfe schaffen. Ein Maßstab
sollte dabei sein, wie die Qualität
der professionellen Dienstleistungen
durch die Patienten beurteilt wird.
Derartige Maßnahmen würden sich
dann als besonders wirksam erweisen, wenn sie mit positiven bzw.
negativen Sanktionen bei der Kostenerstattung durch die Krankenkassen
Interventionen zur Reduzierung des Stigmas der Schizophrenie: Konzeptuelle Überlegungen
verknüpft würden. Eine andere Möglichkeit, die Kranken vor Diskriminierungen während des Aufenthalts in
einer psychiatrischen Klinik zu schützen, stellt die Einrichtung des Amts
des Patientenfürsprechers dar (wie es
in Sachsen gesetzlich vorgeschrieben
ist) [25].
Strukturelle Diskriminierung
beschreibt die negativen Folgen
für psychisch Erkrankte, die aus
Ungleichgewichten und Ungerechtigkeiten in sozialen Strukturen, politischen Entscheidungen und gesetzlichen Regelungen resultieren. Selbst
bei Abwesenheit konkreter Diskriminierungen auf individueller Ebene
können institutionelle Praktiken zum
Nachteil psychisch Erkrankter wirken. So sind psychische Krankheiten
innerhalb des Gesundheitssystems
marginalisiert. Als Folge des Stigmas
werden im psychiatrischen Bereich
weniger Forschungsmitteln ausgegeben, und die psychiatrische Versorgung ist mit geringeren Ressourcen
ausgestattet als Versorgungsangebote
für körperliche Erkrankungen [vgl.
38]. Darüber hinaus erleben psychiatrische Patienten Benachteiligungen
bei der Kostenübernahme durch die
Krankenversicherungen. Besonders
schwierig erweist sich die Bewilligung von Versicherungsleistungen
für speziell auf psychisch Kranke
zugeschnittene Versorgungsangebote
wie z. B. Psychosenpsychotherapie
oder psychiatrische Pflege im Wohnumfeld. Zusätzlich sehen sich die in
Deutschland niedergelassenen Nervenärzte aufgrund der Arzneimittelbudgetierung oft außerstande, die
vergleichsweise teuren atypischen
Neuroleptika zu verordnen. Als ebenso schwierig erweist sich die Finanzierung von Rehabilitationsmaßnahmen für psychisch Erkrankte durch
die Rentenversicherungsträger.
Zudem bleiben psychische Erkrankungen bei dem von Reiseversicherungen gewährten Auslandskrankenschutz ausgeschlossen [9]. Ein Abbau struktureller Diskriminierungen
erfordert die Zusammenarbeit mit
Entscheidungsträgern in Politik und
Gesundheitswesen. Voraussetzung
dafür, dass sie überhaupt zum Thema
für in der politischen Debatte werden
ist eine breite öffentliche Diskussion
struktureller Benachteiligungen.
Lobbying durch Patienten- und Angehörigenverbände sowie durch die
Berufsverbände der Psychiater könnten ein erster Schritt zum Abbau der
Ungleichbehandlung psychischer
und körperlicher Erkrankungen im
Gesundheitssystem sein.
Die dritte Form der Diskriminierung geht von den Kranken selbst aus.
So wie andere auch haben sie im
Zuge ihrer Sozialisation gelernt, was
es in unserer Gesellschaft bedeutet
psychisch krank zu sein. Sie haben
eine Vorstellung davon, auf welches
Ausmaß an Ablehnung psychisch
Kranke in ihrer Umwelt stoßen. Je
mehr sie mit negativen Reaktionen
rechnen, umso stärker dürften sie verunsichert sein im Umgang mit anderen und um so ausgeprägter dürfte das
Bedürfnis sein, anderen aus dem Weg
zu gehen um drohende Diskriminierungen zu vermeiden [35, 37]. Die
Konsequenz davon können Mangel
an Selbstvertrauen [65] und Demoralisierung [37] sowie soziale Isolierung [4, 37], Arbeitslosigkeit bzw.
Einkommenseinbußen [34, 37] und
der Verlust an Lebensqualität [53]
sein.
Dieser Tendenz zur Selbststigmatisierung können alle Strategien entgegenwirken, die dem Empowerment
der Kranken dienen. Beispiele sind
hier die Psychoedukation, durch die
die Kranken lernen, kompetenter mit
der Krankheit umzugehen [13, 46].
Oder Diskussionsgruppen für Kranke,
in denen diese offen über ihre Erlebnisse in der Psychose sprechen können (sog. „Psychoseseminare“) [11].
Oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme, die speziell auf die
Verbesserung des Stigmacopings
abzielen [15]. Vielleicht am wichtigsten sind aber Selbsthilfegruppen,
in denen die Kranken sich gegenseitig
unterstützen, offensiver ihre Interessen vertreten und das Stigma ihrer
Krankheit bekämpfen lernen [24].
43
Nachwort
Die Vielzahl der genannten Interventionsmöglichkeiten sollte uns
nicht die Grenzen vergessen lassen,
die den Bemühungen um eine Reduzierung der Stigmatisierung schizophrener Kranker gesetzt sind. Es
beginnt bei dem Stereotyp der
Gefährlichkeit. Es dürfte nicht einfach sein, die oben angesprochenen
komplexen epidemiologischen Sachverhalte dem Laienpublikum so zu
vermitteln, dass der angestrebte
Abbau unnötiger Befürchtungen tatsächlich erreicht wird [16, 48]. Die
Einstellung gegenüber psychisch
Kranken darf nicht isoliert betrachtet
werden. Sie ist wesentlich mitbestimmt durch individuelle (wie kollektive) Wertorientierungen und politische Überzeugungen, die von uns
nicht beeinflusst werden können [7,
8]. Die in den Medien vorherrschenden Gesetzmäßigkeiten und entscheidungsbestimmenden ökonomischen
Interessen setzen den Bemühungen
um eine adäquatere Beschäftigung
mit dem Thema psychische Krankheit enge Grenzen [52]. In Zeiten
knapper werdender finanzieller Ressourcen für das Gesundheitswesen
stoßen Bemühungen um den Abbau struktureller Diskriminierungen
schnell auf Widerstand. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein um
realistische Ziele für Programme zu
formulieren, die zur Reduzierung der
Stigmatisierung und Diskriminierung
schizophrener Kranker führen sollen.
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Univ.-Prof. Dr. Matthias C. Angermeyer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
Universität Leipzig
Johannisallee 20
D-04317 Leipzig
[email protected]
47
Rezension
Ulrike Hoffman-Richter: Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile.
Edition Das Narrenschiff, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000. ISBN 3-88414-295-X
Studien zeigen, dass Menschen
mit psychischen Problemen häufig
abgelehnt werden, dass das Wissen
über psychische Erkrankungen gering und oft verzerrt ist, dass die Psychiatrie – im Gegensatz zu anderen
medizinischen Disziplinen – insgesamt kein besonders gutes Image hat.
Es ist auch bekannt, dass die Bevölkerung ihr Wissen über die Psychiatrie und über Menschen mit psychischen Erkrankungen fast ausschließlich aus den Massenmedien bezieht.
Doch: Wie stellen die Medien den
Bereich Psychiatrie – psychische
Erkrankungen dar? Was steht in den
Zeitungen über psychisch kranke
Menschen? Welches Bild wird hier
gezeichnet?
Ulrike Hoffman-Richter hat sich
in ihrem Buch dieser zentralen Fragestellung angenommen und damit
Neuland betreten. Sie hat sechs
deutschsprachige renommierte Tages- bzw. Wochenzeitung aus dem
Jahr 1995 dahingehend untersucht,
was in diesen Medien so alles über
die Psychiatrie steht, wie über psychisch Kranke berichtet wird, was
über psychische Erkrankungen und
über Therapieverfahren zu lesen ist,
in welche Kontexte diese Berichte
eingebettet sind und worin sie sich
unterscheiden. Die Inhalte der sechs
Zeitschriften und Zeitungen sind auf
CD-ROM erhältlich und die Inhalte
sind so einer tiefgreifenden quantitativen wie qualitativen Volltextanalyse
zugänglich. Dadurch wurde es möglich, nicht nur jene Artikel zu untersuchen, die sich speziell mit dem
Thema Psychiatrie befassen, sondern
auch jene Texte zu analysieren, die
psychiatrische Ausdrücke und Begriffe verwenden. Und siehe da, in
diesem breiten Kontext tauchen psychiatriespezifische Termini plötzlich
in allen Teilen der Zeitschriften und
Zeitungen auf: In Gerichtsberichten,
auf der Wissenschaftsseite, im Literatur- bzw. Feuilletonteil, im Wirtschaftsteil ebenso wie bei Veranstaltungshinweisen. Ist die Psychiatrie
alltagstauglich geworden? Sind psychiatrische Begriffe in den Alltags-
sprachgebrauch eingezogen? Wissen
nun die Leserinnen und Leser
bescheid?
Die weitergehenden Analysen von
Hoffman-Richter zeigen jedoch bald
ein sehr ernüchterndes Bild: Viele
Begriffe werden in völlig sach- und
fachfremden Kontexten verwendet
und führen so zu weitreichenden
Bedeutungsveränderungen im sprachlichen Alltag. Psychiatrische Fachbegriffe werden vielfach als Metapher
verwendet und – was noch schwerwiegender ist – mit einer negativen
Bedeutung versehen. Psychiatrische
Themen werden im Kontext gesellschaftlicher Probleme angesiedelt:
Im Umfeld von Gewalttaten, sexuellem Mißbrauch, unerträglichen Familiensituation etc. „Die auffallend häufig verwendeten psychiatrischen Begriffe meinen ... nicht mehr das
Ursprüngliche. Sie haben außerhalb
des Fachgebietes eine Bedeutungsänderung durchgemacht.“ fasst die
Autorin zusammen (S. 376). Nicht
zuletzt dadurch kommt es zu einer
ungewöhnlichen Verdichtung und
Vereinfachung der Vorstellungen
über Psychiatrie und psychische
Erkrankungen. „Psychiatrie ...“ – so
fährt die Autorin fort – „ (ist) in den
Printmedien kein medizinisches
Fachgebiet, sondern verfeinertes Alltagswissen“ (S. 379). Das vermittelte
Bild ist simpel: Wer den Alltag nicht
mehr bewältigen kann, muß in eine
psychiatrische Klinik. Aber: Medikamente alleine können auch nicht
wirklich helfen. Das weiß heutzutage
jeder, daher gibt es auch kein besonderes Bedürfnis nach mehr Information. So schließt sich der Teufelskreis werden manche resigniert feststellen.
„Die Arbeit ist sehr umfangreich“
meint die Autorin im Vorwort. Mit
fast 400 Seiten ist es auch ein ansehnliches Werk geworden. Doch Fragestellung und Breite der Untersuchung
erfordern dies. In vier Teilen werden
schwerpunktmäßig die Befunde dargestellt: Psychiatrie und Psychotherapie in der Zeitung; Schizophrenie in
der Zeitung; Psychopharmaka und
Elektrokrampftherapie; Medizin in
der Zeitung. In einem vorangestellten
Teil werden Fragestellung und Vorgehensweise, der theoretische Hintergrund sowie themenrelevante Forschungsarbeiten kurz vorgestellt. Im
abschließenden Teil wird eine vergleichende Darstellung von Medizin
und Psychiatrie vorgenommen. Die
daran angeschlossene Diskussion
faßt die zentralen Ergebnisse der
„Psychiatrie in der Zeitung“ nochmals pointiert zusammen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis ergänzt die Berichtlegung. Zahlreiche
Tabellen und Beispiele aus den Textanalysen, kurze Einführungen am
Beginn und eine zusammenfassende
Diskussion jeweils am Ende jedes
Kapitels vermitteln nicht nur Einund Überblicke, sie helfen auch beim
Durchblick dieser umfangreichen
und schwierigen Materie.
Nicht zuletzt durch die Lektüre
des Werkes werden aber zahlreiche
Fragen auftauchen: Wie wirkt sich
diese Art der Berichterstattung bei
den Leserinnen und Lesern aus? Was
bewirken diese Darstellung tatsächlich? Welchen Einfluß hat die Lektüre der geschilderten Artikel auf die
Urteile und Vorurteile über Psychiatrie und psychisch Kranke? Wie kann
eine Änderung der Berichterstattung
über Psychiatrie erreicht werden?
Was kann zur „Entstigmatisierung“
psychisch kranker Menschen unternommen werden? Darauf gibt das
Buch keine Antworten, und kann es
im Untersuchungskontext auch nicht.
Aber es regt zu wichtigen Überlegungen und Fragen an – und dies ist ein
besonderer Verdienst. Deshalb ist
auch die Einschätzung von Asmus
Finzen im Geleitwort zu unterstreichen. „Aus diesem Grunde ist
das Buch ein Meilenstein auf dem
Wege zur Erforschung der komplexen Beziehung zwischen der Psychiatrie und Öffentlichkeit und dem Bild
der Gesellschaft von psychisch Kranken und psychischer Krankheit“.
Dr. Alfred Grausgruber, Linz
ÜBERSICHT
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 48 – 53
Schizophrenie hat viele Gesichter
Die österreichische Kampagne zur Reduktion des Stigmas
und der Diskriminierung wegen Schizophrenie
Werner Schöny
Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Österreichische Schizophreniegesellschaft,
pro mente austria
Schlüsselwörter
Stigma – psychische Erkrankung – Schizophrenie – Diskriminierung
Key words
stigma – mental disease – schizophrenia – discrimination
Schizophrenie hat viele Gesichter: Die österreichische Kampagne zur Reduktion des Stigmas
und der Diskriminierung wegen
Schizophrenie
Die Vorurteile gegenüber allem,
was mit psychischer Krankheit zu tun
hat und das damit verbundene Stigma
sind eine der wesentlichen Barrieren
für die Integration psychisch kranker
Menschen sowie die rechtzeitige
Inanspruchnahme von Therapie und
Hilfe. Die Welt- psychiatrieorganisation (WPA) hat zu diesem Zweck eine
weltweite Kampagne initiiert, der
sich Österreich sehr früh angeschlossen hat. Es werden im Rahmen dieser
Kampagne eine Reihe von Maßnahmen gesetzt, die der Allgemeinheit
und auch gezielte Meinungsbilder in
der Bevölkerung für die Problematik
psychisch Kranker und vor allem an
Schizophrenie Erkrankter sensibilisieren sollen. Das Ziel dieser Kampagne ist Aufklärung, Information,
Reduzierung von Stigma, Hilfe für
Betroffene und Angehörige sowie
Erleichterung der Reintegration von
Betroffenen. Eine Reihe von Broschüren wurden erarbeitet, um über
die Kampagne, über Schizophrenie
und über die allgemeinen Vorurteile
zu informieren. Weiters werden allgemeine Sets für Information und Vorträge erarbeitet sowie gezielte
Medienarbeit über Fernsehspots,
Pressekonferenzen und persönlichen
Austausch eingeleitet. Die ersten
Ergebnisse geben Zeugnis über die
Intensität dieser Maßnahmen und die
weite Verbreitung der Ergebnisse.
Schizophrenie has many faces: The Austrian Campaign to
Reduce Stigma and Discrimination because of Schizophrenia
The prejudice against everything
concerning mental disease and the
connected stigma is a main barrier for
integration of mentally ill people.
They also prevent the search for
therapy and help in right time. The
World Association for Psychiatry
(WPA) has iniciated a world wide
campaign in which Austria was integrated very early. In the frame of this
campaign special acts of information
for the general population, for opinion-leaders as well as for users and
relatives. The aim of this campaign is
to inform, clarificate, reduce stigma
and discrimination and to help users
and relatives. Several brochures were
produced informing about the campaign, about schizophrenia and its
myth. It includes sets for information
and a lot of talks. For targeted work
with media we had a spot on TV,
several press conferences and very
much personal information. The first
results lead us to an optimistic opinion concerning the performance of
this campaign.
Einleitung
Eine der wesentlichen Barrieren
für die Eingliederung und Rehabilita-
tionsmaßnahmen psychisch kranker
Menschen – insbesondere an Schizophrenie erkrankter Menschen – ist
das Stigma, dh die negativen Vorurteile, die diesem Personenkreis entgegengebracht werden. Dementsprechend beschäftigt sich die Wissenschaft
seit langem mit Hintergründen und
Ausmaß dieser negativen Einstellungen und vor allem auch mit Maßnahmen, um diese zu verändern. Das
negative soziale Stigma trägt nämlich
wesentlich
zum
unglücklichen
Lebensschicksal vieler an Schizophrenie leidenden Menschen und zur
seelischen Belastung für ihre Angehörigen und Helfer bei.
Die Folgen von Stigma sind:
• falsche Darstellungen in den
Medien (Film, Zeitung)
• negative Auswirkungen auf Betroffene:
– Verzögerung der Behandlung,
– Einfluss auf Krankheitsverlauf
– Beeinträchtigung des Selbstwerts
– Soziale Isolation
• negative Auswirkungen auf Angehörige
• Ressourcenmangel für die Entwicklung von Einrichtungen im
Bereich der Psychiatrie (Behandlung, Selbsthilfe, Rehabilitation)
Konkret heißt das, Diskriminierung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, verspätetes und unzureichendes Einsetzen der Behandlung, mangelndes Wissen über Maßnahmen
49
Schöny
innerhalb der Bevölkerung, vor allem
auch der Gesundheitsberufe, was in
Form eines Circulus Vitiosus oben
genannte Diskriminierungsfolgen
verstärkt. Die Vorurteile entstehen
durch Unwissenheit und durch
soziale Akzeptanz von falschen Bildern.
Gängige Vorurteile und Missverständnisse:
• unberechenbar und gefährlich
• unheilbar krank
• von „Persönlichkeitsspaltung
betroffen“
• unzuverlässig und träge
• faul und arbeitsscheu
Häufig werden noch die Eltern
schizophrener Menschen beschuldigt, für die Krankheit verantwortlich
zu sein.
Einer der wesentlichen Gründe
für diese negativen Vorurteile und
Einstellungen ist mangelnde Information und Aufklärung. Es ist daher
eine Forderung vieler maßgebender
in der Psychiatrie Tätigen, gegen das
Stigma und seine Folgen anzukämpfen. Die WPA (World Psychiatric
Association) hat eine große internationale Kampagne ins Leben gerufen,
die sich zum Ziel gesetzt hat, dem
Stigma und seinen Folgen entgegenzuwirken. Österreich war eines der
ersten Länder, die sich dieser Kampagne angeschlossen haben, wobei es
das erste Land ist, bei dem die Kampagne im gesamten Bundesgebiet
durchgeführt wird. Aus organisatorischen und auch ökonomischen Gründen beschränkt sie sich meist nur auf
definierte Regionen eines Landes.
Die WPA hat ein ausführliches
Grundlagenpapier über den aktuellen
Stand wissenschaftlichen Wissens
zum Thema Schizophrenie in zahlreichen Arbeitsgruppen erarbeitet,
weiters wird eine Vorgangsweise vorgeschlagen, der man sich zwar dem
Grunde nach anschließen sollte, die
aber viel Freiheit in der individuellen
Ausgestaltung des Programmes überlässt. Das Programm ist kumulativ
aufgebaut und ergibt den jeweiligen
Staaten die Möglichkeit, auf den
Erfahrungen anderer aufzubauen. Die
daran beteiligten Länder stehen in
einem regelmäßigen Austausch, um
so möglichst rasch und direkt an den
Erfahrungen anderer zu partizipieren.
In Österreich hat es bereits im
Vorfeld zahlreiche regionale Aktivitäten zur Entstigmatisierung bzw Beeinflussung der öffentlichen Meinung
gegeben. Dies war auch der Grund,
warum der Entschluss zur Teilnahme
am weltweiten Programm rasch
gefällt werden konnte und auch von
den Gremien der WPA akzeptiert
wurde.
Es wurde folgendes Programm
durchgeführt:
Das Ziel war, die Öffentlichkeit
zu mobilisieren, als Leitspruch wurde
folgender gewählt:
Jeder 5. Österreicher ist
psychisch krank – pro mente für psychische und soziale Gesundheit
(HELFEN STATT AUSGRENZEN)
Vorprogramm-Aktivitäten
In zahlreichen Bundesländern
wurden Aktionen durchgeführt, wie
Filmwochen, Schul- informationsprogramme, allgemeine Informationsveranstaltungen (zB Tag der
offenen Tür, Schwerpunktinformationsprogramme) und Ähnliches.
Hier soll kurz ein Programm
beschrieben werden, welches in
Oberösterreich durchgeführt wurde
und den Zweck hat, den Hauptträger
von psychosozialer außerstationärer
Arbeit pro mente Oberösterreich
bekannt zu machen, um den betroffenen Personen den Zugang zu erleichtern und allgemeine Informationen
über psychische Erkrankungen einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt zu
machen. Es wurde einleitend bei
einer Bevölkerungsumfrage der Bekanntheitsgrad von pro mente Oberösterreich in verschiedenen Bevölkerungsschichten abgefragt. Dabei
stellte sich heraus, dass der Name
einen gewissen Bekanntheitsgrad hat,
jedoch die Zuordnung zur psychosozialen Arbeit und zur speziellen
Tätigkeit nur in einem sehr geringen
Ausmaß bekannt war. Besonders bei
jüngeren Personen war ein umfangreicher Informationsbedarf gegeben.
Die genaueren Daten werden in
(späteren) Tabellen dargelegt.
Um diese Botschaft zu verbreiten, wurden folgende Maßnahmen
ergriffen:
• Plakataktion
• Werbespot im Kino
• Medienarbeit
• Schulprogramm
• Filmwochen
Plakat
Das Programm sollte das Bundesland Oberösterreich erfassen. Es wurden 600 Plakate oberösterreichweit
affichiert, die in der folgenden Abbildung dargestellt sind. Selbstverständlich wurden beide Geschlechter
berücksichtigt.
Der Impact des Plakats wurde
gemessen und ist in der folgende
Tabelle (siehe nächste Seite) zu
sehen:
Es zeigt sich, dass sowohl der
spontane Recall, wie auch die
gestützte Plakaterinnerung einen
relativ sehr hohen Wert aufwiesen.
Immerhin musste man gegen sehr
bekannte Marken, die langjährige
Werbedurchschlagskraft aufweisen,
bestehen und konnte dabei sehr
ehrenvoll abschneiden. Besonders
bemerkenswert ist, dass dieses Plakat
50
Schizophrenie hat viele Gesichter
Eindruck vom Spot
Frage 7,13,19:
Sagen Sie mir anhand dieser
Liste, welchen Eindruck Sie von dieser Werbung haben. Nennen Sie mir
die entsprechenden Punkte:
Medienarbeit
anlässlich der Regional- wahlen in
Oberösterreich in der bekanntesten
Tageszeitung in einer Wahlwerbekarrikatur Eingang fand, die einen
besonderen Hinweis auf die Durchdringung dieses Plakats ergab.
Frage 9:
Können Sie sich an einen Werbefilm für psychisch Kranke erinnern?
Frage 15:
Können Sie sich an einen Werbefilm für pro mente erinnern?
Es wurden gezielt eine Reihe von
Pressekonferenzen durchgeführt und
eine vierseitige Sonderbeilage in den
Oberösterreichischen Nachrichten,
der wichtigsten und größten Regionalzeitung Oberösterreichs, platziert.
In diesem 4-Seiter wurde intensiv auf
die Belange psychisch Kranker eingegangen, wobei auch die wichtigsten Politiker zu Wort kamen.
Filmerinnerung mit
Hauptstichwort „Schwarz-Weiß-Film mit
einzelnen Gesichtern von Menschen“
Zusätzlichem Stichwort „Psychisch Kranke“
Zusätzlichem Stichwort „pro mente“
keine Erinnerung
Kinobesucher
insgesamt %
60
29
3
8
100
Filmspot
Der Filmspot wurde vorwiegend
in Kinocenter gezeigt, die junge Menschen ansprechen. In der ebenfalls
von der Firma Spectra durchgeführten Erhebung zur Erinnerung des
Filmspots ergaben sich folgende
Ergebnisse.
Erinnerung an den Spot
(gestützt)
Frage 3:
Unter den Werbefilmen war ein
Spot in Schwarz-Weiß, wo hintereinander einzelne Gesichter von
Menschen gezeigt wurden. Können
Sie sich an diesen Werbefilm erinnern?
Es meinen, der Spot –
Spricht Gefühle an
Macht betroffen
Regt an zum Hinschauen
Glaubwürdig
Originell
Spricht mich an
Informativ
Nette Idee
Modern
Sagt mir was
Etwas übertrieben
Sympatisch
Dynamisch
Spoterinnerer
(n=92) %
43
40
31
21
16
16
15
14
14
10
8
7
5
240
51
Schöny
Schulaktion
In einer gezielten Aktion wurde
gemeinsam mit dem Landesschulrat
für Oberösterreich an allen höheren
Schulen die Einladung ausgegeben,
entweder in der Schule vortragsmäßig über psychische Krankheiten zu
sprechen oder Exkursionen in
psychiatrischen Krankenabteilungen
bzw in externen psychosozialen Einrichtungen durchzuführen oder
Workshops abzuhalten. Innerhalb der
Aktion, die ein halbes Jahr dauerte,
wurde mit über 100 Schulklassen
Kontakt aufgenommen, um so zahlreiche Schüler, Lehrer und Angehörige zu erreichen.
Diese Aktionen wurden ein halbes
Jahr schwerpunktmäßig durchgeführt, soweit es möglich war auch
länger. Dies betrifft besonders Schulaktivitäten sowie Informationsveranstaltungen. Nach zwei Jahren wurde
mittels Meinungsumfrage der Bekanntheitsgrad von pro mente Oberösterreich erneut abgefragt. Es zeigt
sich, dass sich der Bekanntheitsgrad
von pro mente Oberösterreich mehr
als verdoppelt hat. Waren es 1996
21 %, gaben 1999 47 % an, pro mente Oberösterreich zu kennen. Waren
es 1996 5 %, so waren es 1999 28 %,
die auch über den Tätigkeitsbereich
von pro mente Oberösterreich
Bescheid wussten. Das Imageprofil
wurde klar und eindeutig und es war
möglich, es auf einer inhaltlichen und
themenorientierten Ebene aufzubauen. Inhaltlich gesehen konnte auch
nachgewiesen werden, dass das zugeordnete Tätigkeitsprofil die Kernkompetenzen von pro mente Oberösterreich vermittelt.
Besonders bedeutsam scheint zu
sein, dass diese Aktivität zu einer
Diskussion im Umfeld der Schüler
geführt hat und damit einen wesentlichen Informationseffekt aufzuweisen schien.
Filmwochen
Es wurden in Linz – aber auch in
Bezirkshauptstädten Oberösterreichs
– Filme, die sich mit der Problematik
psychisch Kranker beschäftigten,
gezeigt; anschließend fanden Diskussionen mit den Besuchern statt.
Die Österreich-Kampagne
Die österreichische „Anti-StigmaKampagne“ betreffend Menschen,
die an Schizophrenie erkrankt sind.
Das österreichische Programm
wird in enger Kooperation mit dem
Programm der World Psychiatric Association (WPA) durchgeführt. Veranstalter sind die Österreichische
Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie (ÖGPP), die Österreichische
Schizophreniegesellschaft (ÖSG) und die pro mente
austria (pma). Damit ist Gewähr leistet, dass eine große repräsentative
Gruppe von in psychosozialen Bereich Tätigen, Angehörigen und auch
Betroffenen involviert ist. Ein österreichweites Steering-Committee hat
die wesentlichen Grundlagen erarbeitet.
Als Ausgangslage wurde eine
Studie durchgeführt (Grausgruber,
Katschnig, Meise, Schöny), in welcher das aktuelle Bild der Einstellung
zur Schizophrenie in der Allgemeinbevölkerung, Allgemeinärzten, allgemein und psychiatrisches Pflegepersonal, Sozialarbeitern und Journalisten sowie Angehörigen abgefragt
wurde. Die Ergebnisse dieser Studie
dienten auch als Entscheidungsgrundlage für Aktivitäten. Im Zentrum der Aktivitäten steht eine
Kampagne. Diese beinhaltet:
•
•
•
•
Anhand dieser Daten und den
umfangreichen Aktivitäten konnte
also innerhalb von zwei Jahren eine
deutliche Veränderung des Informationsstandes der Allgemeinbevölkerung erreicht werden und das Aufgabengebiet der psychosozialen Einrichtungen bekannt gemacht werden,
womit auch das Image der Betroffenen und der Zugang zur Hilfsmaßnahme wesentlich erleichtert werden
konnte.
Medienarbeit
einzelne Projekte
Meinungsforschung
regionale Aktivitäten
Elemente der Kampagne:
•
•
•
TV-Spot und Infoline 0810/333
222
bundesweite und regionale Aktivitäten
Öffentlichkeitsarbeit
Die Kampagne hat folgende
Ziele:
• Aufklärung
• Information
52
Schizophrenie hat viele Gesichter
•
•
•
Reduzierung von Stigma
Hilfe für Betroffene und
Angehörige
Reintegration von Betroffenen
Unter anderem soll sie durch folgende Strategien umgesetzt werden:
• Forcieren von Behandlungsmethoden
• Initiieren von Aufklärungsaktivitäten auf lokaler Ebene
• Miteinbeziehung antistigmatisierender Aufklärung in die Ausbildung von Lehrern und Gesundheitsdiensten
• Miteinbeziehen von Patienten und
Angehörigen in die Identifikation
diskriminierender Verhaltensweisen
Es wurden eine Reihe von Unterlagen erarbeitet:
• Informationsbroschüre für allgemein Interessierte, Betroffene,
Angehörige
• Kampagnenfolder für Mitarbeiter,
Aktivisten und Multiplikatoren
• Folien für Vorträge
• Basis-Pressemappe für Medienaktivitäten
• Mythenbroschüre (Darstellung
der wichtigsten Vorurteile gegenüber Schizophrenie und deren
Korrektur)
Das Corporate-Design der Unterlagen ist einheitlich, in der Folge
werden einige Beispiele dargestellt. In
einem Newsletter werden die
Aktivitäten, die in den einzelnen
Regionen gesetzt werden, auch allen
anderen „Mitstreitern“ näher gebracht.
Besonders wichtig ist, dass in dieses Programm Angehörige und
Betroffene sowohl in der Planung als
auch in der Durchführung umfassend
eingebunden sind. Das Motto der
Kampagne lautet: „Schizophrenie hat
viele Gesichter – wir können etwas
dagegen tun“.
Verteilung der
Info-Materialien:
Regionale Aktivitäten
Pressearbeit:
Start – Pressekonferenz am
17.08.2000 mit einer Reihe von Presseaussendungen
Berichte in Print-Medien:
Damit sind alle wesentlichen
österreichischen
Print-Medien
erreicht worden. Auch in den Fachmedien gab es eine sehr breite Vertretung mit ausführlichen Artikeln über
Schizophrenie, Stigma, Diagnostik
und Behandlungsweise.
Berichte in elektronischen
Medien
Der Fernsehspot wurde zu PrimeTime-Zeiten in 32 Schaltungen
gesendet. Der Spot wurde mit zwei
Auszeichnungen bedacht:
Senator 2000 für die außergewöhnliche Einzelleistung auf dem
Gebiet der Werbung und Marktkommunikation in Oberösterreich
Saturn 2000 in Bronze, Kategorie
„Kino/TV-Spot“, für die Produktion
„Sprachlosigkeit/Anrufbeantworter“.
In allen Bundesländern wurden in
unterschiedlichen Ausprägungen eine
Reihe von Aktivitäten gesetzt, aus
Platzgründen können diese nicht alle
angeführt werden. Es handelt sich
um Rundfunk und Print-MedienAktionen, um Schulaktionen, um
Vortrags- und Diskussionsreihen.
Auch wurden Seminare und Workshops mit verschiedensten Berufsgruppen, wie Exekutive, Lehrern,
Ärzten, in Gesundheitsberufen tätigen Personen abgehalten.
Anfang Jänner 2001 wurde als
erstes Zwischenergebnis bei einer
Meinungsumfrage des Fessel-Institutes die Sichtbarkeit der Aktivitäten
abgefragt. Dabei ergaben sich folgende Ergebnisse:
Frage 1: Ist Ihnen aufgefallen,
dass in den vergangenen Monaten in
der Öffentlichkeit verstärkt vom Thema Schizophrenie und von der Diskriminierung Betroffener die Rede
war?
Frage 2: In welcher Form haben
Sie dieses Thema wahrgenommen?
Frage 3: Ist Ihnen der Fernsehspot
„Schizophrenie hat viele Gesichter“
aufgefallen, der im August/Septem-
zu Frage 1:
ja
nein
weiß nicht
18 %
82 %
0%
männlich
weiblich
15 %
85 %
0%
21 %
79 %
0%
zu Frage 2:
Thema ist aufgefallen 178
Fernsehspot
Medienberichte
anderes
weiß nicht/keine Angabe
männlich
40 %
58 %
14 %
2%
44 %
47 %
12 %
2%
weiblich
37 %
65 %
16 %
2%
53
Schöny
ber 2000 im Österreichischen Fernsehen zu sehen war?
Total
Ja
Nein
1000
14
86
Wie Medienexperten berichten,
ist dieses Ergebnis äußerst positiv zu
werten, mit den eingesetzten Mitteln
ist die Erreichbarkeit von 18 % der
Bevölkerung als sehr hoch anzusehen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Abfrage drei Monate nach
der Sendung des Fernsehspots durchgeführt wurde.
Vorausschau
Die österreichweite Antistigmakampagne soll jetzt noch im Jahr
2001 als Kampagne weitergeführt
werden. Welche Aktivitäten gesetzt
werden können, hängt von der Dotierung ab. In jedem Fall ist vorgesehen,
die Schulaktion auf eine noch breitere Basis zu stellen. Ein weiteres Projekt umfasst die legistischen Benachteiligungen für Personen mit psychischen Erkrankungen. Dieses Projekt
ist derzeit beim "Fonds Gesundes
Österreich" eingereicht.
Ein Schwerpunkt in diesem Jahr
soll die Auseinandersetzung mit
gezielten Personengruppen, vor allem
in den pädagogischen Berufen sowie
im Exekutivebereich, sein. Wie weit
es möglich sein wird, noch eine generelle Kampagne zum Wecken der
Aufmerksamkeit über elektronische
Medien – wie zweiter Fernsehspot
oder Hörfunk – durchzuführen, ist
zum jetzigen Zeitpunkt aus finanziellen Gründen noch nicht klar.
Wenn die Kampagne als solche
abgeschlossen ist, muss allerdings
Öffentlichkeitsarbeit und Antistigmaarbeit weitergeführt werden. Eine
Kampagne dient ja letztlich zum
Wecken der Aufmerksamkeit und
zum Bewusstseinmachen eines Problems, die Veränderung der Einstellung der Bevölkerung bzw der Abbau
von Vorurteilen kann nur langfristig
bewältigt werden. Die Kooperation
aller am Thema beteiligten Personengruppen – wie Professionisten,
Betroffene, Angehörige – ist notwendig, um die Öffentlichkeit und Allgemeinheit zu informieren und zu
mobilisieren.
legungen. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 3945 (2002).
[2]
Grausgruber A., H. Katschnig, U.
Meise, W. Schöny: Einstellung der
österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie. Neuropsychiatrie Neuropsychiatrie 16, 1/2: 54-67 (2002).
[3]
Meise U, A. Grausgruber, H. Katschnig,
W. Schöny: Das Image der Psychopharmaka in der Österreichischen Bevölkerung. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 68-77
(2002).
[4]
Meise U., H. Sulzenbacher, G. Kemmler,
R. Schmid, W. Rössler, V. Günther:
„...Nicht gefährlich aber doch furchterregend“ Ein Programm gegen Stigmatisierung in Schulen. Psychiat. Prax. 27,
340-346 (2000).
[5]
Satorius N., J.J.Lopez-Ibor, C.N.Stefanis, N.N.Wig: The WPA Global Programme, Against Stigma and Discrimination Baecause of Schizophrenia,
Handbuch zum internationalen WPAProgramm gegen Stigmatisierung und
Diskriminierung von Schizophrenie,
1997
[6]
Sartorius N.: Eines der letzten Hindernisse einer verbesserten psychiatrischen
Versorgung: Das Stigma psychischer
Erkrankung. Neuropsychiatrie 16, 1/2:
5-10 (2002).
[7]
Sulzenbacher H., R. Schmid, G. Kemmler, Ch. De Col, U. Meise: Schizophrenie... „bedeutet für mich gespaltene
Persönlichkeit“ Neuropsychiatrie 16,
1/2: 93-98 (2002).
Acknowledgement
WPA standard acknowledgement:
This paper reports findings form
the Province of Alberta, one of the
sites of the World Psychiatric Association`s Global Programme against
Stigma and Discrimination because
of Schizophrenia. A full description
of the programme and listing of heads
collaborating groups and of the programme´s Steering committee can be
found on the programme´s Website
www.openthedoors.com.
w. Hofr. Univ.-Doz. Prim.
Dr. Werner Schöny
Ärztlicher Direktor
Literatur
[1]
Angermeyer M. C., B. Schulze: Interventionen zur Reduzierung des Stigmas
der Schizophrenie: Konzeptuelle Über-
O. Ö. Landes-Nervenklinik
Wagner-Jauregg
Wagner-Jauregg-Weg 15
4020 Linz
email: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 54 – 67
Einstellungen der österreichischen
Bevölkerung zu Schizophrenie
Alfred Grausgruber1, Heinz Katschnig2, Ullrich Meise3 und Werner Schöny4
1Institut für Soziologie der Johannes-Kepler Universität, Linz
2Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien
3Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
4Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Schlüsselwörter
Einstellungen – Bevölkerung – Fallvignetten – Meinungsumfragen – Schizophrenie – Persönlichkeitsspaltung –
Massenmedien – Ursachen – Gefährlichkeit – Behandelbarkeit – Psychotherapie
– Pharmakotherapie – Integration –
soziale Distanz – Stigmatisierung
Key words
Attidudes – public opinion – gate keeper
– schizophrenia – vignettes – personality
split – mass media – causes – psychotherapy – drug treatment – dangerousness –
integration – social distance – stigmatisation
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
Im Gegensatz zu anderen Ländern
wurden in Österreich in letzter Zeit
nur wenig Studien über die Einstellung gegenüber psychisch Kranken
durchgeführt. Im Zuge der Umstrukturierung der psychosozialen Versorgung und der Enthospitalisierung
kommt der Haltung der Bevölkerung
jedoch besondere Bedeutung bei.
1998 konnte eine repräsentative Umfrage bei der Bevölkerung (n=1042)
zum Thema Schizophrenie durchgeführt werden, wobei unter anderem
zwei Fallvignetten verwendet wurden. Ziel der Studie war es neben der
Erkundung der verschiedenen Einstellungsfacetten auch Ursachen für
die Haltungen zu ergründen und Hinweise zur Verbesserung der Einstellungen und Verhaltensweisen zu bekommen. Die Ergebnisse zeigen, dass
rd. 4 von 5 Österreichern zwar den
Ausdruck Schizophrenie schon gehört haben, kaum jemand aber Personen mit der Erkrankung persönlich
kennt. Unter Schizophrenie wird vor
allem eine „Persönlichkeitsspaltung“
verstanden. Die Informationen werden in erster Linie aus Massenmedien
bezogen. Als Ursachen der Schizophrenie werden mehrere gemeinsame
Faktoren angenommen. Rd. die Hälfte der Befragten glaubt, dass Personen mit der Diagnose Schizophrenie
eine größere Gefährlichkeit aufweisen als die Durchschnittsbevölkerung. Die Behandelbarkeit der Schizophrenie wird durchwegs positiv
eingeschätzt, insbesondere wenn entsprechend wirksame Therapien verabreicht werden. Bei wirksamen therapeutischen Maßnahmen denkt die
österreichische Bevölkerung mehr an
psychotherapeutische Verfahren als
an eine Pharmakotherapie. Obwohl
sich rd. 4 von 5 Österreichern für eine
Integration von an Schizophrenie
erkrankten Menschen in die Gesellschaft aussprechen, wollen nur wenige mit solchen Menschen engere persönliche Kontakte. Konsequenzen
dieser Ergebnisse im Hinblick auf
eine Verringerung der Distanz und
zum Abbau der Stigmatisierung werden diskutiert.
Attitudes of the general Population towards Schizophrenia in
Austria
In contrast to other countries in
Austria only view research concerning attitudes towards mental illness
have been done. But in the process of
the restructering of the psychosocial
care and dehospitalisation knowledge
of publics opinion is essential. 1998
we could conduct a nationwide representativ public survey (n=1042) concerning the attitudes towards schizophrenia, using among others two
different vignettes discribing schizophrenia. Aims of the research are to
get information about attitudes
towards schizophrenia, about causes
of these attitudes and to get ideas to
reduce the stigma of schizophrenia.
Results show, that about 80 % know
the term schizophrenia, but only
minorities know people suffering on
schizophrenia personally. The dominant understanding of schizophrenia
is turning around „personality split“.
Information is dominantly got from
mass media. Respondents show a
multidimensional understanding of
the causes of schizophrenia. About
half of the respondents believe, that
people suffering on schizophrenia are
more dangerous than the average
population. Treatment of schizophrenia is estimated as fairly good, especially when effectiv therapy is delivered. Austrian people believe, that
psychotherapeutic treatments are
more effectiv than drug treatment.
Although four from five respondents
agree, that people suffering on schizophrenia should be integrated into
society, only view of them are willing
to have closer personally contacts to
them. Consequences of these results
to reduce stigmatisation of schizophrenia are discussed.
Einleitung
Wenn man die Forschungen über
die Einstellung zu psychisch Kranken
in den letzten fünfzig Jahren verfolgt,
wird man ein sehr buntes Bild unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen, Befunde und praktischer
Empfehlungen zur Verbesserung der
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
Einstellungen bzw. zur Verringerung
der sozialen Distanz gegenüber psychisch Kranken finden [19]. Kamen
die ersten Studien noch zu relativ eindeutigen negativen Befunden – die
Bevölkerung weiß über psychische
Erkrankungen wenig Bescheid und
begegnet psychisch Kranken mit
Mißtrauen und Distanz – so präsentieren die Untersuchungen ab Mitte
der 60er Jahre differenziertere Einschätzungen. Sie meinen, dass im
Zuge der sozialen und strukturellen
Änderungen und insbesondere auch
durch den Zugang breiterer Schichten
zu höheren Bildungseinrichtungen
die Haltungen gegenüber psychisch
Kranken durch eine abnehmende
Distanz ihnen gegenüber gekennzeichnet sei.
War die Erforschung der Einstellung zu psychisch Kranken zunächst
auf den angelsächsisch-amerikanischen Raum beschränkt, so zeigt sich
mit Beginn der 70er Jahre auch im
deutschsprachigen Raum ein Interesse für diese Problematik. Die ersten
umfassenden Studien über die Einstellung zu psychisch Kranken bzw.
zur psychosozialen Versorgung wurden in Österreich zu Beginn der 80er
Jahre gestartet [15]. Ziel der damaligen Studie war es, durch eine gezielte Erforschung der Einstellung bei
solchen Bevölkerungsgruppen, die
mit psychisch Kranken beruflichen
Kontakt haben, Informationen über
deren Einstellung zu psychischen
Erkrankungen sowie psychisch Kranken zu bekommen, mögliche Informationsdefizite zu identifizieren und
Hinweise darüber zu bekommen, wie
emotionale und kontaktbezogene
Widerstände sowie Vorurteile durch
Aufklärung und Information abgebaut werden konnten. Der Studie
wurde insofern besondere Bedeutung
beigemessen, als sich gerade zu Beginn der 80er Jahre auch in Österreich
erste Maßnahmen zur Umstrukturierung der psychosozialen Versorgung
in Richtung Gemeindenähe und
ambulante Einrichtungen beobachten
ließen. Die Ergebnisse, die bei dieser
Studie festgestellt werden konnten,
unterschieden sich von den Befunden
von Untersuchungen in anderen
Ländern nur wenig. Im besonderen
Maße waren hervorzuheben:
• Ein Defizit an Informationen über
Einrichtungen der psychosozialen
Versorgung, über die therapeutische Praxis, über die Ursachen
von psychischen Erkrankungen
und über die Behandlungsmöglichkeiten bzw. Behandlungschancen.
• Weiters zeigte sich eine weit verbreitete Unfähigkeit bzw. Abneigung, psychische Probleme bei
Menschen als solche zu erkennen;
und
• drittens eine weit verbreiteten
Haltung gegenüber psychisch
Kranken, welche sich als eine
stark emotional unterstützte
Distanz bzw. mangelnde Kontaktbereitschaft gegenüber psychisch
kranken Menschen interpretieren
läßt.
All diese Befunde deuten auf eine
markante Distanz und auf Tendenzen
von offenen Vorurteilen unter den
Berufsgruppen bzw. gate-keeper hin.
Im Gegensatz zu den umfangreichen Forschungsarbeiten zu den
Einstellungen gegenüber psychisch
Kranken etwa in der Bundesrepublik
Deutschland [1, 2, 5, 6, 7, 9, 10] oder
anderen Ländern [27, 28, 29, 30, 50,
51, 52, 53] wurden in Österreich nur
sehr wenige Studien durchgeführt.
Die erste österreichweite Erhebung über die Einstellungen gegenüber psychisch Kranken wurde im Jahr
1991 von Katschnig et.al. durchgeführt [22, 24]. Im Zentrum des Interesses standen bei dieser Studie „... das
Wissen um die Einstellungen der
Bevölkerung im Hinblick auf die
Natur psychischer Krankheiten, ihre
Behandelbarkeit und die vorhandenen Behandlungsmethoden, die mit
der Behandlung und Betreuung psychischer Störungen befaßten Berufsgruppen und die dafür zuständigen
Dienste und Einrichtungen ...“
[22:17]. Darüber hinaus sollte auch
erfaßt werden, welches Verständnis
55
die Bevölkerung sowie die zur
Behandlung und Betreuung psychischer Störungen befaßten Berufsgruppen haben, und wie die dafür
zuständigen Dienste und Einrichtungen beschaffen sind. Einen zentralen
Stellenwert nahmen weiters Einstellungen über das Hilfesuchverhalten, sowie Vorstellungen über die
Wiedereingliederung von psychisch
Kranken und die Umsetzung einer
gemeindenahen psychosozialen Versorgung ein.
Die Arbeitsgruppe um Grausgruber/Schöny führte 1992 eine
Untersuchung bei den Angehörigen
von psychisch Kranken durch [18,
32]. Mit spezifischen Themen bzw.
Problemstellungen im Rahmen der
Einstellungsforschung
gegenüber
psychisch Kranken beschäftigt sich
auch die Arbeitsgruppe um Meise.
Neben einer Studie über die Einstellung von Ärzten zur Psychiatrie
[34] wurde hier auch eine Studie bei
Personen durchgeführt, die an
Schizophrenie erkrankt sind. In
dieser Untersuchung wurde die soziale Distanz von Betroffenen gegenüber anderen Betroffenen im besonderen erhoben. In einer jüngsten
Untersuchung wurde bei Schülern
geprüft, mit Hilfe welcher Maßnahmen eine Verbesserung der emotionalen Reaktionen sowie der sozialen
Distanz erreicht werden kann [36].
Dass die Einstellung der breiten
Bevölkerung gegenüber psychischen
Erkrankungen, gegenüber Menschen,
die an psychischen Problemen leiden,
einen wesentlichen Einfluss auf den
Ausbau einer gemeindenahen psychosozialen Versorgung haben kann,
ist mittlerweile vielfach nachgewiesen [48, 49]. Da nun gerade in Österreich in den 90er Jahren die ersten
großen Umstrukturierungsprozesse
zu greifen begannen, sollte sowohl
einer kontinuierlichen Beobachtung
der öffentlichen Meinung als auch der
individuellen Haltungen gegenüber
psychisch Kranken permanent besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es wäre aber zu einfach, wollte
man die Ergebnisse von ausländi-
56
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
schen Studien und die dort gemachten Erfahrungen zu einer Analyse der
österreichischen Situation und im
Hinblick auf zu erarbeitende Strategien und Maßnahmen gegen die
Diskriminierung von psychisch
Kranken eins-zu-eins übertragen.
Mindestens folgende drei Gründe
haben unserer Ansicht nach dafür
gesprochen, eine neue und umfassende Studie über die Einstellung der
österreichischen Bevölkerung zu
psychischen Erkrankungen sowie zu
Menschen mit psychischen Problemen in Angriff zu nehmen. Zum
einem war die Datenlage schon relativ veraltet bzw. bezog sie sich auf
ganz spezifische Personengruppen
bzw. Themenstellungen. Zum anderen können die Ergebnisse aus Studien von anderen Ländern nicht
zuletzt wegen der unterschiedlichen
strukturellen Rahmenbedingungen
nicht übertragen werden.
Zusätzlich sind in den letzten
Jahren neue Aspekte im Kontext der
Einstellungsuntersuchungen zu beobachten. Immer häufiger wurde in
Studien auf die Bedeutung der Massenmedien in der Vermittlung von
Bildern bzw. Vorstellungen über psychische Erkrankungen und psychisch
Kranke festgestellt. Weiters gibt es
eine Reihe von neuen Medikamenten,
welche bezüglich der Behandelbarkeit von psychischen Erkrankungen
besondere Erfolge versprechen.
Schließlich hat die World Psychiatric
Assoziation 1996 ein Programm zur
Bekämpfung der Stigmatisierung und
Diskriminierung von Menschen mit
psychischen Erkrankungen in Angriff
genommen. Im Zuge dieses Programms soll die öffentliche Einstellung gegenüber Menschen, die an
Schizophrenie leiden, und auch
gegenüber deren Familien verbessert
werden, soll das Wissen um die
Erkrankung Schizophrenie verbessert
werden, und die Bemühungen sollen
zu Maßnahmen führen, welche Vorurteile eliminieren und die Diskriminierung abbauen.
Eine besondere Herausforderung
stellen die geänderten sozialstruktu-
rellen Rahmenbedingungen innerhalb
der Gesellschaft insgesamt sowie
auch die geänderten strukturellen
Gefüge der psychosozialen Versorgung im speziellen dar. Über diese
Veränderungen in Österreich informieren beispielsweise Meise [33, 35]
oder Forster [14]. Für Amerika wird
angenommen, dass um ein Vielfaches
mehr als vor 20 Jahren Menschen mit
psychosozialen Problemen auch entsprechende Beratungs-, bzw. Versorgungseinrichtungen nutzen [39].
Darüber hinaus wird aus zahlreichen
Einstellungsstudien der Schluß gezogen, dass die allgemeine Steigerung
des Bildungsniveaus auch zu einem
vermehrten Wissen über psychische
Erkrankungen und zu einem breiteren
Verständnis geführt haben (ebd.). Die
strukturellen Veränderungen innerhalb der psychosozialen Versorgung
veränderten auch die Einstellung
gegenüber psychisch Kranken. Der
Ausbau von extramuralen Einrichtungen sowie der Abbau von Einrichtungen für Langzeithospitalisierte
führen dazu, dass psychisch kranke
Menschen mehr in der Gesellschaft
sichtbar werden. Studien haben in
diesem Zusammenhang jedoch
widersprüchliche Befunde ans Tageslicht gebracht. Bei einigen Studien
stellte sich heraus, dass vermehrte
Kontakte mit psychisch kranken
Menschen in der Gemeinde auch ein
weniger vorurteilbehaftetes Bild vom
psychisch Kranken hervorrufen [beispielsweise 16, 49]. Auf der anderen
Seite wurde jedoch im Zusammenhang mit der Schließung von psychiatrischen Großkliniken und der
Schaffung von Wohn- und Lebensmöglichkeiten in der Gemeinde für
ehemalige
langzeithospitalisierte
psychisch Kranke die Erfahrung
gemacht, dass man bei diesem Enthospitalisierungsprozeß teilweise auch
mit erheblichen Widerständen und
Vorurteilen auf Seiten der Bevölkerung rechnen muß [11, 12, 53]. Zu
den strukturellen Änderungen ist
sicherlich auch jener Prozeß zu zählen, in dem die betroffenen psychisch
Kranken und ihre Angehörigen sich
zu Interessensgruppen zusammengefunden haben und immer intensiver
darum bemüht sind, ihre Anliegen
gegenüber der Öffentlichkeit sowie
gegenüber der Gesundheitspolitik
durchzubringen [44].
Nicht zuletzt im Anschluß an die
umfangreiche Berichterstattung über
ein Attentat auf einen deutschen
Abgeordneten [9, 10] wurde auch der
Vermittlung von Vorstellungen und
Bildern über psychisch kranke Menschen oder psychische Erkrankungen
durch die Massenmedien vermehrt
Aufmerksamkeit geschenkt [20, 53].
Forschungsdefizite, geänderte Rahmenbedingungen sowie die Unmöglichkeit einer sinnvollen Übertragung
von Forschungsergebnissen aus
anderen Ländern ließen es ratsam
erscheinen, die Chancen für eine
aktuelle Erhebung der Einstellung der
österreichischen Bevölkerung zu
psychisch Kranken, psychischen
Erkrankungen und psychosozialen
Versorgungseinrichtungen
aufzugreifen. Dies schien umso mehr als
zielführend, als 1998 sich die österreichische Gesellschaft der Nervenärzte entschlossen hatte, beim internationalen Anti-Stigma-Programm
der WPA in Österreich mitzumachen.
[43 in diesem Heft].
Forschungsziele und
Studiendesign
Den internationalen Anforderungen bzw. Ansprüchen folgend verfolgt die Untersuchung mehrere wissenschaftliche und praktische Ziele:
• In wissenschaftlicher Hinsicht gilt
es zunächst die Einstellung zu
Menschen, die an Schizophrenie
leiden, zu ergründen sowie die
Haltung zu Psychopharmaka zu
erfassen.
• Darüber hinaus ist es auch ein
besonderes Anliegen, die Ursachen bzw. die Hintergründe für
die jeweiligen Ansichten und
Haltungen zu ergründen.
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
•
Schließlich gilt es auch entsprechende praktische Hinweise zum
Abbau von Wissensdefiziten
bezüglich Schizophrenie und
Psychopharmaka zu gewinnen
und Hinweise zur Verbesserung
der Einstellung gegenüber psychisch Kranken und zum Abbau
der Stigmatisierung von an Schizophrenie
Erkrankten
bzw.
gegenüber der Krankheit Schizophrenie zu erarbeiten.
Bei der Konzeptentwicklung zu
dieser Studie wurden mehrere neue
Wege beschritten. Es wurde nicht
mehr die Einstellung zu psychisch
Kranken allgemein, sondern die Haltung gegenüber Menschen, die an
Schizophrenie leiden, ins Zentrum
der Forschungen gestellt. Dies erfolgt
im Einklang mit den Zielsetzungen
der Anti-Stigma-Kampagne [40, 54].
Zum zweiten wurde die Haltung nicht
nur der Bevölkerung ins Auge gefaßt,
sondern es wurden auch sog. strategische Berufsgruppen in der Studie
berücksichtigt. Unter strategischen
Berufsgruppen sollen jene Professionen verstanden werden, welche im
Rahmen der Beratung, Therapie und
Rehabilitation von Menschen mit
schizophrenen Erkrankungen eine
Rolle spielen. Neben den Fachärzten
für Psychiatrie wurden daher auch
praktische Ärzte sowie das nicht-ärztliche Personal in der psychosozialen
Versorgung sowohl im ambulanten
wie auch im stationären Bereich in
die Untersuchung einbezogen. Darüber hinaus interessierte es auch, welche Ansichten bzw. Haltungen die
Angehörigen von psychisch Kranken
zu dieser Frage einnehmen. Darüber
hinaus war es ein besonderes Anliegen, auch die Meinung von Journalisten, welche im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung eine wesentliche Rolle spielen, mit in der Studie zu
berücksichtigen. Die Erforschung der
Haltung gegenüber Psychopharmaka
war ein besonderes Anliegen einer
Gruppe von Pharmafirmen, welche
die Bemühungen der österreichischen
Schizophreniegesellschaft fördern.
In der Auswahl der thematischen
Schwerpunkte sowie bei der Formulierung der detaillierten Forschungsziele spielten mehrere Aspekte eine
besondere Rolle. Zum einem sollten
derzeit – an internationalen Studien
orientiert – aktuelle Themen angesprochen werden. In diesem Kontext
schien es sinnvoll, sich auf bereits länger zurückliegende Ergebnisse der
ersten Studie über die Einstellung von
gate-keeper zu psychischen Erkrankungen zu erinnern [15]. Einen besonderen Schwerpunkt stellt die spezifische Erfassung jener Vorstellungen
dar, die mit der Krankheit Schizophrenie verbunden werden. Bereits Star
[45] hat mit sog. Fallschilderungen
von psychischen Erkrankungen versucht, die damit verbundenen Vorstellungen zu erfassen. Im Anschluß an
die Arbeiten von Stumme [46] wurde
auch in der österreichischen Studie
[17] in vielfältiger Weise versucht, die
Vorstellungsinhalte
bezüglich
bestimmter psychischer Erkrankungen
innerhalb der befragten Gruppen zu
ergründen. Als Ergebnis konnte bereits
damals festgehalten werden, dass die
Befragten sehr wohl in der Lage sind,
zwischen den einzelnen Krankheitsbildern ziemlich genau zu differenzieren und keine stereotypen Vorstellungen von psychisch Kranken anzutreffen sind. Allerdings sind nur wenig
Personen seinerzeit in der Lage gewesen, Menschen, die an Schizophrenie
erkrankt sind, als solche zu identifizieren. 1998 hat die Arbeitsgruppe um
Angermeyer [4] in einer Untersuchung über die soziale Repräsentation
der Schizophrenie festgestellt, dass in
der Vorstellung der Befragten die
Persönlichkeitsspaltung das zentrale
Merkmal der Schizophrenie darstellt.
In der vorliegenden Studie wurden
daher im Kontext der Vorstellungsinhalte zu Schizophrenie folgende zwei
Aspekte angesprochen:
• Die Kenntnis des Wortes Schizophrenie überhaupt, sowie in
weiterer Folge
• die Vorstellungsinhalte, welche
mit dem Ausdruck Schizophrenie
verbunden sind.
57
Bereits in der Studie mit den gatekeeper [15] konnte festgestellt werden, dass die Kontaktbereitschaft zu
den in den Fallschilderungen beschriebenen Menschen direkt davon
beeinflußt wird, ob von den Befragten
eine Gefährdung durch psychisch
kranke Menschen vermutet wird
(175ff). Die Kontaktbereitschaft zu
den geschilderten Personen war umso
geringer, je mehr psychisch Kranke
als eine Gefahr und Belastung für die
Umwelt gesehen werden, unabhängig
sonstiger
soziodemographischer
Merkmale bzw. sonstiger Einschätzungen und Vorstellungen gegenüber
psychisch Kranker. Dem Phänomen
der vermuteten Gefährlichkeit wurde
auch in der amerika-nischen Studie
1996 [31] besondere Beachtung
geschenkt. Dies veranlaßte uns, in die
Studie zwei besondere Aspekte aufzunehmen:
• Die Einschätzung der Gefährlichkeit von psychisch Kranken im
Vergleich zur Normalbevölkerung im allgemeinen, sowie
• die Einschätzung bzw. die vermutete Gefährlichkeit von Personen,
welche an Schizophrenie erkrankt
sind, im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung.
Auch die vermuteten Ursachen
von psychischen Erkrankungen bzw.
der Schizophrenie wurden in bisherigen Studien mehrfach angesprochen
[6, 22, 41], um nur einige zu nennen.
Auch in der Studie zu Beginn der 80er Jahre in Österreich bei den gatekeeper konnte ein indirekter Zusammenhang zwischen den vermuteten
Ursachen psychischer Erkrankungen
und der sozialen Distanz zu Personen,
die an Schizophrenie erkrankt sind,
festgestellt werden [17:177]. Wie
sich mittlerweile gezeigt hat, wurde
auch in der großen amerikanischen
Umfrage 1996 dem Aspekt der vermuteten Ursachen besondere Aufmerksamkeit gewidmet [31]. Es
schien daher sinnvoll, in der Studie
folgenden Aspekt mit zu erfassen:
• Vermutete Ursachen für die Schizophrenie
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
•
•
•
Im Kontext der verschiedenen
Einstellungsfacetten gegenüber
psychischen Erkrankungen hat
die vermutete Heilungschance
bzw. die vermuteten Behandlungsmöglichkeiten immer schon
eine bedeutende Rolle gespielt
[24, 41, 42]. Nicht nur zu Vergleichszwecken mit der Untersuchung vor gut zwei Jahrzehnten
wurde daher in der folgenden
Studie auch der Aspekt der Heilungschancen bzw. Behandelbarkeit aufgenommen.
Vermutete Behandelbarkeit von
Schizophrenie
Darüber hinaus sollten auch der
Aspekt Krankheitsverlauf sowie
Therapieempfehlung im Kontext
der Haltungen und Einschätzungen zu den Fallvignetten separat
abgefragt werden.
Wie bereits oben erwähnt, haben
zahlreiche Studien auf den besonderen Stellenwert der Massenmedien in
den Vermittlung der Einstellungen
gegenüber psychisch kranken Menschen bzw. gegenüber psychischen
Erkrankungen hingewiesen. Es erschien daher im Kontext der vorliegenden Studie sinnvoll, wie bereits
bei Katschnig et.al. [24] in Erfahrung
zu bringen, woher die Bevölkerung
bzw. die strategischen Berufsgruppen
ihr Wissen über Schizophrenie bzw.
über Menschen, die daran leiden,
beziehen:
• Wissensquellen über Schizophrenie
• Neben diesen Aspekten sollte die
Bevölkerung an Hand von vier
Fallschilderungen, welche in
knappen Worten Menschen mit
der Erkrankung Schizophrenie
charakterisieren, diese an Hand
einer Reihe weiterer Aspekte
beurteilen. Zunächst sollte der
Krankheitsverlauf ohne Therapie
eingeschätzt werden, dann der
vermutete Krankheitsverlauf mit
einer entsprechenden Therapie.
Weiters wurde erhoben, welche
Therapiemaßnahmen die Befragten als sinnvoll erachten. Der drit-
te Punkt war die Vermutung einer
wirksamen Behandlung, dem sich
die Empfehlung zu einer optimalen Behandlung des beschribenen
Falles anschloß. Zwei Fragen
bezogen sich schließlich auf die
allgemeine Integrationsbereitschaft sowie auf die Bereitschaft
zu näheren persönlichen Kontakten.
Schließlich sollte an Hand einer
Itemliste eine allgemeine Einstellung zu psychisch Kranken erhoben werden.
Beim Themenbereich Psychopharmaka wurde die Einstellung zu
folgenden Punkten erhoben:
• Die Kenntnis des Begriffs Psychopharmaka sowie die inhaltlichen Verständnisse dieses Begriffes,
• Facetten der Einstellung zu
Psychopharmaka sowie
• die Bereitschaft Psychopharmaka
auch einzunehmen.
Darüber hinaus sind natürlich bei
der Allgemeinbevölkerung noch eine
Reihe von soziodemographischen
Daten zur sozialen Verortung erhoben
worden.
Methodik und
Durchführung
Den allgemeinen Studienzielen
folgend wurde eine Befragung bei der
Allgemeinbevölkerung in Österreich
durchgeführt. Darüber hinaus wurden
auch noch einige gate-keeper-professions in die Untersuchung mit einbezogen. Im Kontext der Untersuchung
waren dies einmal diejenigen Berufsgruppen, welche im Bereich der
psychosozialen Versorgung eine zentrale Rolle spielen bzw. bei der Vermittlung von Berichten über die Thematik mitwirken bzw. eine wichtige
Stellung innerhalb der Meinungsbildung im Sinne einer Meinungsführer-
58
schaft ausüben. Neben der Allgemeinbevölkerung wurden daher aus
dem Bereich der ärztlichen Berufe
Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, Fachärzte für innere Medizin
sowie Allgemeinmediziner in die Studie mit einbezogen. Im Bereich der
psychosozialen Versorgung spielen
natürlich nicht-ärztliche Berufsgruppen wie das psychiatrische Pflegepersonal bzw. Sozialarbeiter eine
wesentliche Rolle. Zum einen sind sie
direkt in den Karriereprozeß einer
Erkrankung involviert und zum anderen kommt ihnen eine nicht zu unterschätzende Meinungsführerschaft in
dieser Thematik der psychosozialen
Versorgung bzw. von psychischen
Erkrankungen zu. Beide Argumente
treffen im übrigen auch für die Einbeziehung der Angehörigen zu. Im Kontext der Untersuchungsziele war es
auch wichtig, die Einstellungen und
Haltungen jener Berufsgruppen zu
erkunden, welche in den Massenmedien über Fragen von Gesundheit und
Krankheit berichten. Es wurden deshalb auch Journalisten, welche sich in
den Massenmedien mit Gesundheitsthemen befassen, in die Untersuchung mit einbezogen.
Die Einstellung der Bevölkerung
in Österreich wurde im Herbst 1998
mittels face-to-face Interviews bei
einer repräsentativen Stichprobe von
1042 Personen durch ein Meinungsforschungsinstitut erhoben. Als
Grundgesamtheit diente die Wohnbevölkerung über 16 Jahre in Österreich. Das zugrundeliegende Auswahlverfahren war ein Quotaverfahren. Aufgrund der gegebenen zeitlichen, finanziellen und organisatotorischen Rahmenbedingungen konnten die Meinungen der Berufsgruppen nicht mittels face-to-face Interviews erhoben werden. Die Fachärzte
für Psychiatrie, die praktischen Ärzte
sowie die Internisten und auch die mit
Gesundheitsthemen befaßten Journalisten wurden mittels Telefoninterviews durch dasselbe Meinungsforschungsinstitut befragt. Die Angehörigen sowie die in der psychosozialen
Versorgung tätigen Sozialarbeiter
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
bzw. Pfleger wurden mittels einer
postalischen Umfrage im Winter
1998/1999 um die Beantwortung
gebeten. Der Fragebogen enthielt von
Ausnahmen abgesehen idente Fragen
für alle Gruppen.
Zur differenzierten Erfassung der
Einschätzung bzw. Haltung gegenüber verschiedenen Formen der Schizophrenie wurden vier Subgruppen
gebildet. Die Fallschilderungen variierten einerseits nach der Symptomatik, andererseits nach dem Geschlecht. Die Fallschilderungen wurden zu Vergleichszwecken aus der
Studie von Katschnig [24] übernommen.
Fallvignette 1: weiblich-positiv
(„Positivsymptomatik“)
„Stellen Sie sich bitte vor, Sie
erfahren, dass eine 25 jährige Frau,
die bisher ein völlig normales Leben
geführt hat, plötzlich Stimmen hört,
oder sich ohne ersichtlichen Grund
verfolgt fühlt bzw. wirre Dinge
redet.“
Fallvignette 2: männlich-positiv
(„Positivsymptomatik“)
„Stellen Sie sich bitte vor, Sie
erfahren, dass ein 25 jähriger Mann,
der bisher ein völlig normales Leben
geführt hat, plötzlich Stimmen hört,
oder sich ohne ersichtlichen Grund
verfolgt fühlt bzw. wirre Dinge
redet.“
Fallvignette 3: weiblich-negativ
(„Negativsymptomatik“)
„Stellen Sie sich bitte vor, dass
eine 25 jährige Frau, die bisher ein
völlig normales Leben geführt hat,
sich zurückzieht, komisch wirkt, sich
vor anderen Menschen fürchtet,
immer alleine ist und sich für nichts
und niemanden interessiert.“
Fallvignette 4: männlich-negativ
(„Negativsymptomatik“)
„Stellen Sie sich bitte vor, dass ein
25 jähriger Mann, der bisher ein völlig normales Leben geführt hat, sich
zurückzieht, komisch wirkt, sich vor
anderen Menschen fürchtet, immer
alleine ist und sich für nichts und
niemanden interessiert.“
Durch diese Splittung reduziert
sich natürlich die Stichprobengröße
der einzelnen Fallschilderungen, sie
schwanken jedoch alle in einem minimalen Bereich um 250 Fälle (Fallvignette 1: N=252; Fallvignette 2:
N=258; Fallvignette 3: N=239; Fallvignette 4: N=266).
Die nachfolgenden Ergebnisse
beziehen sich ausschließlich auf die
Befragung der Allgemeinbevölkerung. Die Darstellung der Befragung
der anderen Gruppen (Gate-Keeper,
Angehörige, Journalisten) ist in Vorbereitung.
Ergebnisse
Im Themenbereich Verständnis
von Schizophrenie und Wissensquellen zeigten sich folgende Ergebnisse.
(Tabelle 1) Auf die Frage: „Was
bedeutet ‚Schizophrenie‘? Können
Sie mir das etwas genauer sagen, was
Sie darunter verstehen?“ gaben rd.
vier von fünf Befragten an, diesen
Begriff schon einmal gehört zu haben.
Lediglich 19 % ist der Ausdruck Schizophrenie nicht bekannt. Der Begriff
Schizophrenie ist somit innerhalb der
österreichischen Bevölkerung ziemlich weit bekannt. Die inhaltlichen
Vorstellungen zum Begriff Schizophrenie streuen allerdings ziemlich weit.
Auf die Bitte, den Begriff inhaltlich
etwas genauer zu beschreiben, meint
fast ein Drittel der Bevölkerung (29
%), es verstehe unter Schizophrenie
eine Art „Persönlichkeitsspaltung“.
Zwischen 18 % und 13 % der Österreicherinnen und Österreicher verbinden damit eine Geisteskrankheit (18
%), eine Krankheit des Gehirns (14
%) bzw. assoziieren sie damit Begriffe wie Wahn bzw. Verwirrtheit (13
%). Minderheiten assoziieren damit
Begriffe wie Wahrnehmungsstörung
(8 %) bzw. verwenden den allgemei-
59
nen Ausdruck „psychische Krankheit“ (7 %).
Woher kommt nun dieses inhaltliche Verständnis des Ausdrucks Schizophrenie? Die Antworten auf zwei
spezifische Fragestellungen können
diesbezüglich wertvolle Hinweise
bieten. Aus Tabelle 2 ist ersichtlich,
dass nur rd. jeder sechste Österreicher
Menschen, die an Schizophrenie leiden, aus dem Bereich der eigenen
Familie bzw. aus der Verwandtschaft
kennt bzw. in der Nachbarschaft solche Menschen kennt. Rd. vier von
fünf Österreichern kennen persönlich
keine Menschen, die an Schizophrenie leiden. Dies läßt bereits darauf
schließen, dass die Vorstellungen
über Schizophrenie bzw. die Haltungen gegenüber Menschen, die an
Schizophrenie erkrankt sind, durch
andere Instanzen bzw. Mechanismen
vermittelt bzw. beeinflußt sind.
Dass sich kaum jemand aus der
Allgemeinbevölkerung ein Bild von
Personen mit der Erkrankung „Schizophrenie“ durch persönliche Kontakte und Erfahrungen formen kann,
zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit auch bei der Frage, woher sie ihr
Wissen bzw. ihre Vorstellungen über
Schizophrenie schöpfen. (Tabelle 3)
Informationen über die Krankheit
Schizophrenie bzw. über Personen,
die an Schizophrenie leiden, erhalten
die Österreicherinnen und Österreicher hauptsächlich über die Massenmedien. Rd. jeder zweite Befragte
gab an, in Zeitungen, im Fernsehen
und Radio bzw. in Spielfilmen etwas
über Schizophrenie gehört oder gesehen zu haben. Gespräche mit anderen
Menschen bzw. mit Betroffenen oder
deren Angehörigen werden von rd.
jedem fünften Österreicher genannt.
Jeder Siebte gab weiters an, aus der
Fachliteratur Wissen bzw. Vorstellungen über Schizophrenie zu beziehen.
8 % nannten berufliche Kontakte als
Wissensquelle.
Als Ursachen für Schizophrenie
kommen aus Sicht der Bevölkerung
eine Reihe von Faktoren in Frage.
Faßt man die Antworten „sehr häufig“
und „eher häufig“ zusammen, so tre-
60
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
Tab. 1: Kenntnis des Ausdrucks „Schizophrenie“ und Verständnisinhalte
(Angaben in %)
Ausdruck nicht bekannt
Ausdruck „Schizophrenie“ bekannt*
18,9
81,1
*Verständnisinhalte
Persönlichkeitsspaltung
Geisteskrankheit
Krankheit des Gehirns
Wahn/Verwirrtheit
Wahrnehmungsstörung
psychische Krankheit
29,1
17,7
14,4
13,2
7,7
7,1
n=893 (Mehrfachnennung möglich)
Tab. 2: Persönliche Kenntnis von an Schizophrenie leidenden Personen
(Angaben in %)
kenne keine solchen Menschen
kenne solche Menschen in Nachbarschaft
kenne solche Menschen in der eigenen
Familie bzw. Verwandschaft
berufliche Kontakte
82,9
8,1
8,8
0,2
gesamt
100,0
Tab. 3: Wissensquellen (Angaben in %)
Zeitungen
Fernsehen/Radio
Spielfilme
Gespräche mit anderen (nicht kranken) Menschen
Gespräche mit Betroffenen oder Angehörigen
Fachliteratur
berufliche Kontakte
55,5
48,6
48,3
22,1
20,7
15,1
8,5
(Mehrfachnennung möglich)
Tab. 4: Vermutete Ursachen der Schizophrenie (Angaben in %)
Vererbung
tiefgreifende Erlebnisse
(z.B. Tod)
Kopfverletzungen
nervliche Überanstrengung
beruflicher Stress
unglückliche Familienverhälnisse
Willensschwäche
ausschweifendes Leben
schleche Wohnverhältnisse
sehr
häufig
eher
eher
häufig selten
nie
MW
%
44,0
32,1
16,6
7,3
1,87
100,0
34,6
27,8
24,4
16,3
38,7
33,3
48,6
41,7
18,4
27,6
17,0
26,6
8,3
11,3
10,0
15,4
2,00
2,22
2,13
2,41
100,0
100,0
100,0
100,0
13,5
10,0
5,2
2,9
30,9
20,9
15,5
14,0
36,8
36,4
34,2
44,6
18,8
32,7
45,1
38,5
2,61
2,92
3,19
3,19
100,0
100,0
100,0
100,0
ten folgende drei vermutete Ursachen
in den Vordergrund: Vererbung, tiefgreifende Erlebnisse sowie nervliche
Überanstrengung. Allerdings wird
aus den Ergebnissen der Tabelle 4
auch deutlich, dass aus Sicht der
österreichischen Bevölkerung Vererbung die dominierende Rolle spielt.
Gut zwei von fünf Österreicherinnen und Österreicher vermuten, dass
Vererbung sehr häufig als Ursache
der Schizophrenie anzusehen ist. Fast
drei von fünf Befragten vermuten,
dass auch beruflicher Stress häufig
eine Ursache der Schizophrenie darstellt. Andere mögliche Ursachen
kommen aus Sicht der Bevölkerung
weniger in Frage. Bei unglücklichen
Familienverhältnissen ist bereits
mehr als die Hälfte der Ansicht, dass
sie eher selten bzw. überhaupt nicht
als Ursache anzusehen sind. Willensschwäche, ausschweifendes Leben
sowie schlechte Wohnverhältnisse
kommen nur für relativ kleine Minderheiten der Befragten als Ursache
der Schizophrenie in Frage.
Die Behandelbarkeit der Schizophrenie (Tabelle 5) wird von der
österreichischen Bevölkerung durchwegs positiv eingeschätzt. Zwar geht
nur eine verschwindende Minderheit
von einer sehr guten Behandelbarkeit
der Schizophrenie aus (4 %), der
Anteil der ausgesprochenen Pessimisten ist jedoch mit rd. 27 % (Behandelbarkeit wenig: 19 %; Behandelbarkeit gar nicht gegeben: 8 %) auch
nicht zu groß. Rd. zwei Drittel der
Bevölkerung gehen allerdings davon
aus, dass sich die Schizophrenie gut
bzw. etwas behandeln läßt.
Eine zentrale Frage der Einstellung gegenüber psychisch Kranken
allgemein betrifft die Einschätzung
der Gewalttätigkeit. (Tabelle 6) Die
Ergebnisse zeigen eine ausgeprägte
Meinung innerhalb der Bevölkerung,
sowohl psychisch kranken Menschen allgemein als auch an Schizophrenie leidenden Personen eine
überdurchschnittliche Neigung zu
Gewalttätigkeit zuzuschreiben.
Jeweils 55% meinen, dass psychisch kranke Menschen eher zu
61
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
Tab. 5: Behandelbarkeit der Schizophrenie (Angaben in %)
sehr gut
gut
etwas
wenig
gar nicht
4,3
32,7
36,1
18,8
8,1
gesamt
100,0
Tab. 6: Einschätzung der Gewalttätigkeit im Vergleich (Angaben in %)
psychisch
kranke Menschen
an Schizophrenie
erkrankte Menschen
neigen eher zu Gewalttätigkeiten
als psychisch gesunde Menschen
55,2
55,0
nein, neigen nicht dazu
44,8
45,0
100,0
100,0
gesamt
Tab. 7: Verhaltensabsicht bei Errichtung eines Wohnheims
für ehemalige Langzeitpatienten (Angaben in %)
unterstützen
begrüßen
ist mir egal
verhindern
Wohnsitz wechseln
gesamt
Gewalttätigkeit neigen als psychisch
gesunde Menschen, gleich viele meinen auch, bei an Schizophrenie
erkrankten Personen von einer im
Vergleich zu psychisch gesunden
Menschen erhöhten Neigung zur
Gewalttätigkeit ausgehen zu müssen.
In Tabelle 7 ist angeführt, wie sich
die befragten Österreicherinnen und
Österreicher verhalten würden, sollte
in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft
ein Wohnheim für ehemalige Langzeitpatienten errichtet werden.
Nicht ganz jeder fünfte Befragte
zeigt hier eine eindeutig negative
Haltung. Gut 15 % meinten, aktiv
etwas zur Verhinderung eines derartigen Wohnheimes unternehmen zu
wollen. Eine verschwindende Minderheit von 3 % gab an, in so einem
Fall den Wohnsitz wechseln zu wollen. Rd. 12 % würden ein derartiges
6,6
5,6
68,0
15,5
3,3
100,0
Vorhaben unterstützen bzw. begrüßen. Mehr als zwei Drittel (68 %)
meinten, es sei ihnen egal, wenn in
ihrer unmittelbaren Nachbarschaft
ein Wohnheim für ehemalige Langzeitpatienten errichtet werden sollte.
In der folgenden Tabelle 8 sind
sehr dichte Informationen über die
Reaktion bzw. die Haltung der österreichischen Bevölkerung gegenüber
Personen, welche an Schizophrenie
erkrankt sind und unterschiedliche
Verhaltensweisen zeigen, enthalten.
Die Einschätzungen beziehen sich
zunächst auf den Krankheitsverlauf
ohne entsprechende Therapie. Nur
um die 5 % der österreichischen
Bevölkerung glauben, dass eine derartige Erkrankung, wenn sie nicht
behandelt wird, zwar einmal auftreten kann, dann aber verschwindet und
nicht mehr auftritt. Zwischen 30 %
und 40 % meinen, dass diese Krankheit zwar verschwinde, aber immer
wieder auftreten würde. Eine dauerhafte Erkrankung auf gleichem
Niveau vermuten bzw. befürchten
zwischen 20 % und 30 % der Antwortenden. Die pessimistischste Sichtweise, dass die Krankheit ohne
Behandlung sich verschlechtert, wird
ebenfalls zwischen 30 % und 40 %
von der österreichischen Bevölkerung befürchtet. Es ist bemerkenswert, dass unabhängig des beschriebenen Verhaltens bzw. der dahinter
vermuteten Erkrankung bei Frauen
ein optimistischerer Verlauf vermutet
wird. Jeweils gut über 40 % meinen,
dass bei einer derartige Erkrankung
ohne Behandlung eine Remission mit
Rückfällen zu beobachten ist. Bei der
männlichen Fallschilderung sind es
rd. 10 Prozentpunkte weniger.
Gibt es nun nach Ansicht der
befragten Österreicherinnen und
Österreicher eine wirksame Behandlung für dieses Krankheit? Jeweils
deutlich mehr als die Hälfte gehen
davon aus, dass es für jemandem mit
einer derartigen Erkrankung eine
wirksame Behandlung gibt. Die Einschätzungen variieren allerdings zwischen den vier unterschiedlichen Fällen signifikant. Während bei der Fallbeschreibung eins (weiblich, positive
Symptomatik) lediglich 51 % eine
wirksame Behandlung vermuten,
steigt dieser Prozentsatz bis zum Fall
vier (männlich, negative Symptomatik) auf 64 %.
Die Einschätzung des Krankheitsverlaufs durch die Bevölkerung
ändert sich dramatisch, wenn eine
derartige Erkrankung fachgerecht
behandelt wird. Im Gegensatz zur
Einschätzung des Krankheitsverlaufs
ohne wirksame Behandlung reduziert
sich der Anteil von pessimistischen
Einschätzungen ungeahnt stark.
Insgesamt zwischen 66 % und 76 %
der österreichischen Bevölkerung
gehen davon aus, dass bei einer fachgerechten Behandlung die in den
Fallschilderungen charakterisierte
Krankheit verschwindet und nur hie
und da wieder kommt. Zwischen
62
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
Tab. 8: Einschätzung von Krankheitsverlauf ohne Therapie, Krankheitsverlauf mit Therapie, Einschätzung einer
wirksamen Behandlung, erste Verhaltensabsicht, Medikationsempfehlung, allgemeine Integrationsbereitschaft und soziale Kontaktbereitschaft in Abhängigkeit von der Symptomatik (Positiv-, Negativsymptomatik) und Geschlecht
weiblich
positiv
männlich
positiv
weiblich
negativ
männlich
negativ
Krankheitsverlauf ohne Therapie1
verschwindet, tritt nie mehr auf
verschwindet, kommt aber wieder
bleibt dauernd
wird schlechter
5,3
42,0
23,7
29,0
6,0
30,6
32,1
31,3
4,7
41,4
20,7
33,2
5,1
27,0
26,2
41,8
Krankheitsverlauf mit Therapie2
verschwindet, tritt nie mehr auf
verschwindet, kommt aber wieder
bleibt dauernd
wird schlechter
14,4
76,5
7,0
2,1
19,9
65,5
10,1
4,5
21,8
67k3
10,0
0,9
21,3
70,5
7,0
1,1
vermutete wirksame Behandlung3
vorhanden
51,0
56,2
56,3
64,2
erste Verhaltensabsicht4
gut zureden
praktischen Arzt aufsuchen
Psychiater aufsuchen
Psychologen/Therapeuten aufsuchen
in psychiatrische Klinik schicken
anderes
16,8
16,0
38,5
9,8
4,9
14,0
21,2
18,3
34,4
10,4
6,5
9,8
24,6
20,3
28,8
12,7
1,7
11,9
34,4
13,7
25,2
11,1
4,6
11,0
Medikationsempfehlung5
Medikamente
vorw. Medikamente/Psychotherapie
vorw. Psychotherapie/Medikamente
Psychotherapie
12,1
26,6
55,7
5,6
5,4
29,5
60,4
4,7
6,4
27,2
59,2
7,2
6,7
25,2
65,0
3,1
allgemeine Integrationsbereitschaft:6
sollte mitten in der Gesellschaft leben
76,5
73,2
89,1
87,3
Soziale Kontaktbereitschaft:
Kinder zur Aufsicht anvertrauen7
als Vorgesetzte/n akzeptieren8
in Familie einheiraten lassen9
als Arbeitgeber diese Person einstellen10
als Nachbarn/in akzeptieren11
10,1
16,8
29,1
29,9
68,3
7,9
19,4
33,5
33,8
66,8
11,9
17,8
35,5
41,2
77,4
13,0
25,7
33,0
41,9
79,9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Chi/2=26,67 p<0.01; C.corr=0.19 p<0.01
Chi/2=19,12 p<0,05; C.corr=0.16 p<0,05
Chi/2= 9,24 p<0,05; C.corr=0.14 p<0,05
Chi/2=39,87 p<0.01; C.corr=0.22 p<0.01
Chi/2=8,92 ns
Chi/2=30,69 p<0.01; C.corr=0.24 p<0.01
Chi/2=14,78 p<0.01; C.corr=0.17 p<0.01
Chi/2=4,25 ns
Chi/2= 7,57 p<0,05; C.corr=0.12 p<0,05
Chi/2=2,34 ns
Chi/2=10,69 p<0,05; C.corr=0.152 p<0,05
63
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
15 % und 22 % vertreten sogar die
optimistische Variante, dass das Auftreten der Krankheit in der Biographie der Person ein Einzelfall bleibt.
Jene Befragten, welche eine wirksame Behandlung vermuten, wurden
weiters gefragt, an welche konkrete
Behandlung bzw. Therapie sie denken. Die Ergebnisse zeigen, dass nur
zum Teil verschwindende Minderheiten um 5 % nicht an eine kombinierte
Therapie denken. Von einer Ausnahme abgesehen sehen rd. 6 % in der
Behandlung durch Medikamente
alleine die optimale Therapie, ebenso
viele befürworten ausschließlich
psychotherapeutische Verfahren. Am
häufigsten wird eine Kombination
von psychotherapeutischen Verfahren
bzw. medikamentösen Verfahren
genannt – zwischen 55 % und 65 %
sprechen sich dafür aus –, wobei in
erster Linie psychotherapeutische
Verfahren im Vordergrund stehen.
Rd. ein Viertel denkt ebenfalls an eine
derartige Kombination, wobei für
diese Befragten allerdings eine medikamentöse Therapie im Vordergrund
steht. Es ist interessant, dass hier
zwischen den einzelnen Fällen keine
signifikanten Unterschiede zu beobachten sind.
In weiterer Folge wurden die
Befragten gebeten anzugeben, was
sie tun würden, falls jemand aus
ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis, plötzlich unter einer derartigen
Erkrankung leidet. Die Ergebnisse
zeigen, dass die Österreicherinnen
und Österreicher in einem derartigen
Fall in einem ersten Schritt zu rd.
einem Drittel einen Psychiater aufsuchen würden. Allerdings gibt es eine
Reihe weiterer Verhaltensweisen, die
aus Sicht der Befragten ebenfalls als
eine erste Maßnahme in Frage kommen. Es ist interessant, dass zwischen
17 % und 34 % der Antwortenden
meinen, als einen ersten Schritt
dem/der Erkrankten gut zureden zu
wollen. Zwischen 14 % und 20 %
meinten, als einen ersten Schritt einen
praktischen Arzt aufsuchen zu wollen. Rd. jeder Zehnte würde in erster
Linie einen Psychologen bzw.
Psychotherapeuten aufsuchen. Nur
Minderheiten würden die erkrankte
Person sofort in eine psychiatrische
Klinik schicken.
Zwei weitere Fragenbereiche
beschäftigen sich mit der Bereitschaft
zur Integration bzw. zu sozialen Kontakten. Zwischen 75 % und 90 % der
Antwortenden vertreten die Ansicht,
dass eine Person, so wie sie in der
Fallschilderung charakterisiert worden ist, mitten in der Gesellschaft
leben sollte. Mindestens 10 Prozentpunkte mehr Integrationsbereitschaft
sind bei der Fallschilderung der negativen Symptomatik zu beobachten.
Zum Abschluß wurde noch erhoben, ob die Befragten bereit wären,
mit den beschriebenen Personen in
unterschiedliche soziale Kontaktsituationen einzutreten. Es ist auffällig,
dass – wie in vielen anderen Studien
auch – das Spektrum der sozialen
Kontaktbereitschaft differenziert ist
und stark von der konkreten persönlichen Nähe bzw. von der unmittelbaren Betroffenheit des Kontaktes
abhängt. Rd. drei Viertel der Befragten würden die in der Fallschilderung
charakterisierte Person als Nachbarn
bzw. als Nachbarin akzeptieren.
Bedeutend weniger – nur mehr etwa
die Hälfte – wäre als Arbeitgeber
auch bereit die beschriebene Person
einzustellen. Um Nuancen zurückhaltender äußern sich die Befragten
bezüglich der Situation, diese Person
in die eigene Familie einheiraten zu
lassen. Zwischen 29 % und 35 %
wären dazu bereit. Die Kontaktbereitschaft sinkt noch einmal gewaltig,
wenn nach der Akzeptanz der
beschriebenen Person in einer Vorgesetztenposition gefragt wird. Nur
mehr zwischen 17 % und 25 % der
Befragten wären nun bereit, die
beschriebene Person als Vorgesetzten
anzuerkennen. Besonderes Mißtrauen und besondere Distanz sind
erkennbar, wenn es um Kontakte zwischen der beschriebenen Person und
den eigenen Kindern geht. Durchschnittlich nur mehr jeder zehnte
befragte Österreicher bzw. Österreicherin wäre bereit, von der in den
Fallschilderungen charakterisierten
Person die eigenen Kinder beaufsichtigen zu lassen. Einmal mehr stellt
sich somit heraus, dass zwar eine
überwältigende Mehrheit bereit ist,
für eine Integration von Personen, die
an Schizophrenie erkrankt sind, in die
Gesellschaft einzutreten, die damit
notwendige soziale Kontaktbereitschaft wird im engeren sozialen
Handlungsfeld jedoch auf ein Minimum reduziert.
Im Kontext der Untersuchung
stellten wir auch die Frage, ob die
österreichische Bevölkerung Interesse hat, mehr über Schizophrenie zu
erfahren. Der Befund war überraschend und ernüchternd zugleich:
Lediglich rd. jeder siebte Österreicher (14 %) äußerte einen Wunsch
nach mehr Informationen über die
Krankheit Schizophrenie.
Diskussion
Wenn nun in einer Zusammenfassung die zentralen Ergebnisse der
vorliegenden Studie diskutiert werden, so gibt es eine Reihe von Befunden, die in besonderem Maße von
Interesse sind. Zunächst einmal können wir festhalten, dass der Ausdruck
„Schizophrenie“ in der österreichischen Bevölkerung weit um bekannt
ist. Nur jeder Fünfte kann mit diesem
Begriff nichts anfangen. Inhaltliche
Vorstellungen, welche mit dem Begriff „Schizophrenie“ verbunden
sind, streuen weit und zeigen ein
besonderes Bild. Fast ein Drittel der
österreichischen Bevölkerung denkt
beim Wort „Schizophrenie“ in erster
Linie an eine Spaltung der Persönlichkeit. Erst an zweiter und dritter
Stelle werden mit Geisteskrankheit
allgemein bzw. Krankheit des Gehirns Hinweise auf eine Erkrankung
gegeben. Berücksichtigt man jedoch
die vierthäufigst genannten Assoziationen „Wahn“ bzw. „Verwirrtheit“,
so zeigt sich, dass innerhalb der
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
Bevölkerung das Verständnis von
Schizophrenie in erster Linie an
Symptomen orientiert ist. Die Krankheit bzw. ein Krankheitsverständnis
ist dem etwas untergeordnet. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch
Holzinger et.al. [21] bei ihrer Untersuchung zur sozialen Repräsentation
der Schizophrenie in der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei der Befragung von Medizinstudenten. Sie
berichten, dass sowohl innerhalb der
Allgemeinbevölkerung in der Bundesrepublik als auch – und hier sogar
im besonderen Maße – bei den Medizinstudenten das Phänomen einer
„Spaltung
der
Persönlichkeit“
besonders in den Vordergrund tritt. Es
scheint, als ob mit dem Ausdruck
Schizophrenie weniger eine konkrete
Krankheit und die damit verbundenen
Leiden assoziiert werden, als vielmehr ein eher abstraktes und von der
konkreten Erkrankung abgehobenes
Verständnis einer Persönlichkeitsspaltung. Es hat den Anschein, als ob
Schizophrenie als Metapher für etwas
Nicht-Nachvollziehbares,
Widersprüchliches, Gegensätzliches verwendet würde.
Dieses metaphorische Verständnis von Schizophrenie könnte nicht
zuletzt darauf zurückzuführen sein,
dass einerseits nur jeder fünfte Österreicher überhaupt persönlich Menschen kennt, die an Schizophrenie leiden, andererseits mit dem Faktum
zusammenhängen, dass das Wissen
über Schizophrenie in erster Linie aus
Zeitungen, Fernsehen, Radio bzw.
Spielfilmen bezogen wird. Inwieweit
dieses massenmedial vermittelte Bild
der Schizophrenie damit verknüpft
ist, was über Schizophrenie, über Personen, welche an Schizophrenie erkrankt sind, berichtet wird bzw. in
welcher Art und Weise das Wort
„schizophren“ in den Massenmedien
verwendet wird, müßte erst genauer
überprüft werden. Folgt man aber den
Ergebnissen der Medienanalyse von
Hofmann-Richter et.al. [20] dann
drängen sich bemerkenswerte Parallelitäten auf. Hofmann-Richter und
die Mitarbeiter konnten in ihrer Ana-
lyse der angesehenen „Neuen Züricher Zeitung“ auffallend häufig einen
metaphorischen Gebrauch des Wortes
„Schizophrenie“ feststellen. Sie weisen auf die widersprüchliche Verwendung des Begriffes hin. In einer
unveröffentlichten Arbeit kommt
Katschnig [25] bei einer Analyse
österreichischer Zeitschriften bzw.
Zeitungen zu einem noch höheren
Anteil von Berichten, in denen der
Ausdruck „Schizophrenie“ bzw.
„schizophren“ in einer metaphorischen Weise verwendet wird. Wenn
man in der vorliegenden Studie alle
jene Antworten summiert, welche als
Informationsquelle für Schizophrenie
Massenmedien nennen, so machen
die Massenmedien rd. zwei Drittel
aller Angaben insgesamt aus. Wenn
man weiters bedenkt, dass nur rd.
jeder Elfte Menschen, die an Schizophrenie leiden, im engeren sozialen
Umfeld kennt, dann muß man davon
ausgehen, dass die Vorstellungen
über Schizophrenie und auch die
Haltung gegenüber Menschen, die an
Schizophrenie leiden, nur in den
seltensten Fällen von persönlichen
Erfahrungen geprägt sind, und in den
allermeisten Fällen demgegenüber
ein durch massenmediale Darstellungen vermitteltes Bild bedeutet.
Im besonderen Maße interessant
sind weiters die Ergebnisse über die
vermuteten Ursachen der Schizophrenie. Die Befunde zeigen, dass aus
Sicht der österreichischen Bevölkerung offenbar mehrere Faktorenbündel eine Rolle spielen. Biologische Ursachen, Stress und andere
psychosoziale Umstände spielen
hierbei eine relativ große und gleich
bedeutende Rolle. Persönlichkeitsdefizite wie etwa Willensschwäche oder
ausschweifendes Leben spielen dem
gegenüber kaum eine Rolle. Ein derart multifaktorelles Ursachenverständnis konnte bereits bei der Studie
über gate-keeper in Österreich [41]
festgestellt werden. Auch in der großangelegten US-amerikanischen Studie von 1996 [30] wurde ein multifaktorielles
Ursachenverständnis
bemerkt.
64
Ähnliche Ergebnisse berichten
auch Angermeyer/Matschinger [2, 6]
für die Bundesrepublik Deutschland.
Allerdings wurde in der Studie von
Angermeyer/ Matschinger [2], bei
der die Daten bereits 1990 gewonnen
wurden, Persönlichkeitsschwächen
seltener als Ursachen genannt. Die
österreichische Bevölkerung ist damit doch relativ weit von jenem Verständnismuster entfernt, das allgemein als das medizinische Modell
bezeichnet wird. Angermeyer/Matschinger [6] konnten in ihrer Studie
herausfinden, dass bei den Angehörigen von psychisch Kranken biologische Faktoren im Sinne des medizinischen Modells eine klar dominierende Rolle spielen.
Das Ursachenverständnis der
Erkrankung Schizophrenie ist nun in
mehrerer Hinsicht von Interesse.
Zum einem wird zu überprüfen sein,
ob mit den unterschiedlichen Ursachenverständnis auch unterschiedliche Behandlungsempfehlungen verknüpft sind. Zum anderen wird der
Frage nachzugehen sein, ob die
jeweils vermuteten Ursachen der
Schizophrenie auch mit einer unterschiedlichen Kontaktbereitschaft gegenüber Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, einher gehen.
Angesichts der geringen persönlichen Kenntnis von Menschen, die
an Schizophrenie leiden, sowie der
zentralen Funktion von Massenmedien in der Herausbildung der Vorstellungen über Schizophrenie verwundert es nicht, dass gut die Hälfte
der österreichischen Bevölkerung die
Ansicht vertritt, dass mit der Erkrankung Schizophrenie auch eine gewisse Gefahr für das soziale Umfeld ausgeht. Furcht und Angst vor psychisch
Kranken spielen offenbar eine zentrale Rolle in der Einstellung gegenüber
psychisch Kranken im allgemeinen
und gegenüber Menschen, die an
Schizophrenie leiden, im besonderen.
Analysen haben gezeigt, dass insbesondere auch in angesehenen Zeitungen Berichte von einzelnen Gewalttaten psychisch Kranker einen überproportionalen Stellenwert einneh-
Grausgruber, Katschnig, Meise und Schöny
men [20, 53]. Die Frage, warum psychisch Kranke bzw. Menschen mit
der Diagnose Schizophrenie als gefährlicher eingeschätzt werden als die
Normalbevölkerung,
kristallisiert
sich immer mehr zu einem besonderen Ansatzpunkt in den Bemühungen
um eine Reduzierung von Stigma und
Diskriminierung. Dies ist umso mehr
von Bedeutung, als bisherige Einzelbzw. Übersichtsstudien [13, 26, 47]
eindeutig belegen konnten, dass ein
schwacher Zusammenhang zwischen
schizophrenen Erkrankungen und
Gewalttätigkeit besteht, dieser allerdings nur bei bestimmten Symptomkonstellationen zu beobachten ist.
Besonders aufschlußreich sind die
Ergebnisse über die Einschätzung des
Krankheitsverlaufs, der vermuteten
Wirksamkeit einer Behandlung und
der jeweiligen Vorstellung über eine
optimale Behandlung sowie über die
Verhaltensabsichten, falls jemand aus
dem eigenen Verwandten- oder Bekanntenkreis plötzlich an einer in den
Fallvignetten beschriebenen Erkrankung leiden würde. Hinsichtlich der
Wirksamkeit von therapeutischen
Verfahren haben wir Ergebnisse aus
einer direkten Frage sowie aus den
beiden Fragen zum Krankheitsverlauf mit und ohne Therapie. Beide
Ergebnisse zeigen ein sehr optimistisches Bild. Zwischen der Hälfte und
fast zwei Dritteln der Befragten vermuten grundsätzlich eine wirksame
Behandlungsmöglichkeit für die in
den Fallschilderungen charakterisierten Erkrankungen. Dabei fällt auf,
dass für die Fallschilderungen mit der
negativen Symptomatik tendenziell
eher eine wirksame Behandlung vermutet wird als für Fälle mit einer
Positivsymptomatik. Darüber hinaus
ist interessant, dass der Tendenz nach
unabhängig von den Fallschilderungen bei Männern eher eine wirksame
Behandlung vermutet wird als bei
Frauen. Diese günstige Einschätzung
wird ergänzt durch die unterschiedlichen Einschätzungen des Krankheitsverlaufs mit und ohne Therapie.
In allen Fällen zeigt sich eine Verdoppelung der positiven Einschätzungen
des Krankheitsverlaufs bei einer entsprechenden therapeutischen Behandlung. Bei der Fallschilderung
des jungen Mannes mit Negativsymptomatik kommt es sogar zu
einer Verdreifachung der Remissionseinschätzung mit und ohne Rückfälle.
Insgesamt sind rd. 90 % der österreichischen Bevölkerung der An-sicht,
dass es bei Anwendung wirksamer
Therapieverfahren zur einer Re-mission (mit oder ohne Rückfälle)
kommt. Zu ähnlichen Ergebnissen
kommen auch Studien in Australien
[22] sowie Angermeyer/Matschinger
[2] für die Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn die tatsächlichen
Behandlungserfolge in der Durchschnittsbevölkerung überschätzt werden, bleiben doch besonders bemerkenswerte Unterschiede in der Einschätzung des Krankheitsverlaufs mit
und ohne entsprechender Therapie als
zentraler Befund bestehen.
Worin besteht nun aber eine optimale Therapie? Die Ergebnisse zeigen deutlich auf, welch überragende
Bedeutung psychotherapeutischen
Verfahren in der Behandlung von
schizophrenen Erkrankungen zugesprochen wird. 90 % der Österreicherinnen und Österreicher halten
psychotherapeutische Verfahren als
wirksame anzuwendende Therapiemaßnahmen. Zusätzlich ist bemerkenswert, dass diese Präferierung der
psychotherapeutischen
Verfahren
unabhängig der jeweiligen Fallschilderungen erfolgt. Auch in der australischen [22] bzw. bundesdeutschen
Studie [2] wird Ähnliches berichtet.
Im Kontext der vorliegenden Ergebnisse tauchen allerdings einige interessante Fragestellungen auf. Zunächst wäre in einem nächsten Schritt
zu überprüfen, ob mit der Präferierung von psychotherapeutischen
Maßnahmen ein bestimmtes Ursachenverständnis einhergeht oder
nicht. Auf den ersten Blick sind zumindest einige Ergebnisse bemerkenswert, welche sich zu einem bestimmten sinnhaften Bild zusammenfügen. Bei der Frage nach den
Ursachen der Schizophrenie stellte
65
sich heraus, dass innerhalb der österreichischen Bevölkerung psychosozialen Faktoren eine wesentliche
Rolle zugesprochen wird. Es ist daher
durchaus verständlich, dass dem entsprechend auch psychotherapeutischen – und wohl auch soziotherapeutischen – Verfahren besondere
Aufmerksamkeit entgegengebracht
wird. Die österreichische Bevölkerung ist in ihrem Ursachenverständnis offenbar nicht am engeren medizinischen Krankheitsmodell orientiert
und votiert demgemäß auch weniger
stark für pharmakotherapeutische
Verfahren. In diesem Zusammenhang
wäre es sicherlich interessant zu
überprüfen, ob spezifische Einstellungen gegenüber Psychopharmaka
hier eine Rolle spielen.
Ein weiterer interessanter Aspekt
der vorliegenden Untersuchung bezieht sich auf die beabsichtigten
Handlungen für den Fall, dass jemand
aus dem Verwandten- bzw. Bekanntenkreis plötzlich an einer in den Fallschilderungen charakterisierten Erkrankung leidet. Aus den Antworten
ist ersichtlich, dass einerseits ein
hohes Vertrauen in professionelle Hilfe besteht, dass aber andererseits auch
das Laiensystem nach wie vor eine
bedeutende Rolle spielt. Vom Fall
Beispiel 4 (männlich, Rückzugsverhalten, Negativsymptomatik) einmal
abgesehen, wird in erster Linie die
Kontaktierung eines Facharztes für
Psychiatrie empfohlen. Insbesonders
bei einem Rückzugsverhalten spielt
aber auch „gut zureden“ eine wichtige
Rolle. Aus den Antworten ist aber
weiters klar ersichtlich, dass eine
sofortige stationäre Behandlung nur
in ganz wenigen Ausnahmefällen als
erster wesentlicher Schritt ins Kalkül
gezogen wird. Bereits bei der „gatekeeper-Studie“ [55] konnte der besondere Stellenwert des engeren persönlichen Umfeldes beobachtet werden.
Auch in anderen Studien [2, 3, 38]
zeigen sich ähnliche Ergebnisse.
Überrascht hat uns allerdings das
Ergebnis, dass der Wunsch nach mehr
Information nur bei 14 % der Allgemeinbevölkerung bestand. Es wird
66
Einstellung der österreichischen Bevölkerung zu Schizophrenie
notwendig sein im Rahmen der AntiStigma-Kampagne „Anreize“ zu
schaffen, dass sich das Interesse in
der Bevölkerung an dieser Thematik
steigert.
Die vorliegenden Befunde erhellen somit zwar wichtige Aspekte der
Einstellung der österreichischen
Bevölkerung zur Schizophrenie sowie gegenüber Menschen, die an dieser Krankheit leiden, einige zentrale
Fragen sind allerdings noch nicht
geklärt. Insbesonders im Hinblick auf
Überlegungen, wie die Stigmatisierung und die Diskriminierung von
Menschen, welche an Schizophrenie
leiden, reduziert werden kann, sind
weitere Analysen unbedingt notwendig.
So muß in einem nächsten Schritt
beispielsweise überprüft werden, ob
und bei welchen Aspekten der Einstellung unterschiedliche Wissensquellen über Schizophrenie bzw. die
persönliche Kenntnis von an Schizophrenie leidenden Menschen differenzierte Vorstellungen und Haltungen bewirken. Die Wirkungsweise
der Massenmedien auf dem Gebiet
der Einstellung zu psychisch Kranken
allgemein und zu Menschen mit der
Krankheit Schizophrenie im besonderen ist noch weitgehend unklar. In
diesem Zusammenhang ist auch der
Frage nachzugehen, ob und wie die
Einschätzung der Gefährlichkeit von
an Schizophrenie leidenden Menschen massenmedial vermittelt wird
oder nicht. In weiterer Folge wäre zu
klären, in welchem Ausmaß die Vorstellungen über Schizophrenie etwa
hinsichtlich Ursachenverständnis,
vermutete Behandelbarkeit und angenommene Gefährlichkeit die Kontaktbereitschaft gegenüber Menschen, die an Schizophrenie leiden,
beeinflußt. Schließlich ist zu prüfen,
ob und in welcher Weise die Vorstellungen über Psychopharmaka auch
die Suche nach adäquaten Ansprechstellen bzw. Hilfen bzw. bevorzugten
Therapieverfahren beim Auftreten
der Krankheit Schizophrenie beeinflussen.
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Danksagung
Die Studie wäre ohne die Unterstützung der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, pro mente Austria und der
Österreichischen Schizophrenie Gesellschaft und ohne die finanzielle
Hilfe der Arbeitsgemeinschaft der
Pharmafirmen in Österreich (ASTRA
ZENECA Österreich GmbH, ELI
LILLY GmbH, JANSSEN-CILAG
Pharma
GmbH,
LUNDBECK
Arzneimittel GmbH, NOVARTIS
Pharma GmbH) in der vorliegenden
Form nicht möglich gewesen. Dafür
sei herzlicher Dank ausgsprochen.
Dank gebührt auch den bei der
Umfrage antwortenden Österreicherinnen und Österreichern für ihre
Bereitwilligkeit zur Mitarbeit. Für
seine Unterstützung und wertvolle
Hinweise danken wir besonders
Herrn Univ.-Prof. Dr. W. Wolfgang
Fleischhacker, Psychiatrische Universitätsklinik, Innsbruck.
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Dr. Alfred Grausgruber
Institut für Soziologie der
Johannes-Kepler-Universität Linz,
A-4040 Linz, Altenbergerstr. 69,
e-mail: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 68 – 77
Das Image der Psychopharmaka in der
österreichischen Bevölkerung
Ullrich Meise1, Alfred Grausgruber2, Heinz Katschnig3 und WernerSchöny4
1Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
2Institut für Soziologie der Johannes-Kepler Universität, Linz
3Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien
4Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Schlüsselwörter
Einstellung – Meinungsumfrage – Psychopharmaka – Behandlung
Key words
Attitudes – Public Opinion – Psychotropic
drugs – Treatment
Das Image der Psychopharmaka in der Österreichischen
Bevölkerung
1998 wurde im Vorfeld zur österreichischen Anti-Stigma Kampagne
eine repräsentative Bevölkerungsumfrage (N = 1042) zu schizophrenen
Erkrankungen und ihrer Behandlung
durchgeführt. Aus dem umfangreichen Fragenkatalog wurden für diese
Arbeit nur jene Fragen herangezogen,
die sich allgemein auf Wissens- und
Einstellungsaspekte gegenüber Psychopharmaka und deren Verabreichung beziehen. Zudem wurde versucht jene Faktoren zu identifizieren,
welche im Falle einer psychischen
Erkrankung die Bereitschaft ärztlicherseits verordneter Psychopharmaka selbst einzunehmen beeinflussen.
Die Ergebnisse weisen darauf hin,
dass in der Bevölkerung bezüglich
Psychopharmaka mangelhafte Kenntnisse bestehen. Eine Liste mit 20 vorgegebenen Statements zur Wirkung
von Psychopharmaka sowie verschiedenen Aspekten der Psychopharmakotherapie zeigte, dass die Bewertung positiver Wirkaspekte weder auf
Ablehnung noch auf Zustimmung
stoßen. Eine deutlichere Zustimmung
verzeichneten negative Einstellungsstereotype, die sich auf Wirkdefizite
oder mögliche unerwünschte Effekte
beziehen. 74 % der Befragten sehen
die Pharmakotherapie als „ultima
ratio“. Lediglich 31,2 % beantworte-
ten die Frage, ob sie im Falle einer
Erkrankung vom Arzt verschrieben
Psychopharmaka einnehmen würden,
mit „ja“. Mittels einer Kovarianzanalyse wurden drei Modelle berechnet,
um Faktoren zu identifizieren, die die
Bereitschaft zur Einnahme von
Psychopharmaka fördern. Durch
soziodemographische Merkmale wie
auch jenen Variablen, die auf Kenntnisse hinweisen, konnte diese Bereitschaft kaum erklärt werden. Einen
guten Erklärungsbeitrag bietet hingegen die Beurteilung einzelner Fragen,
die in der zuvor genannten Liste zur
Wirkung von Psychopharmaka und
verschiedenen Aspekten der Therapie
beinhaltet sind. Psychopharmaka
werden demnach eher eingenommen,
wenn jemand sie als „wirksamste
Mittel zur Behandlung psychischer
Erkrankungen“ versteht, und der
Meinung ist, dass „durch ihre Einführung eine menschenwürdige
Behandlung psychisch Kranker erst
möglich wurde“. Diese Bereitschaft
nimmt ab, wenn jemand der Ansicht
ist, dass man mit Psychopharmaka
„Patienten nur ruhigstellen kann“,
dass Psychopharmaka einen „am
Ende noch kränker machen, als man
ohnehin schon ist“, und, dass „viele
Ärzte lieber Psychopharmaka verschreiben, anstatt auf die Probleme
der Patienten einzugehen“. Irritierend
in diesem Zusammenhang ist, dass
die Bereitschaft zur Einnahme von
Psychopharmaka gefördert wird,
wenn die Interviewten die Verwendung von Psychopharmaka zur sozialen Kontrolle oder zur allgemeinen
Stressreduktion gutheißen.
The Image of Psycho-Pharmaceuticals among the Austrian
Population
In 1998, in the run-up to the
Austrian Anti-Stigma Campaign, a
representative population questionnaire (N=1042) was carried out concerning aspects of schizophrenic illnesses and their treatment. From the
wide reaching catalogue of questions,
only those were used which referred
to general knowledge and attitude
aspects in relation to psycho-pharmaceuticals and their treatment. In connection with this, attempts were made
to identify factors which could
influence the readiness of the interviewee himself, in the case of mental
illness, to take medically prescribed
psycho-pharmaceuticals.
This research gives an indication
that the population is inadequately
informed concerning psycho-pharmaceuticals. A list with 20 given
statements to the effects of psychopharmaceuticals along with different
aspects of psycho-pharmacological
therapy shows that positive effects
resulted in neither rejection nor
acceptance. A clearer acceptance was
registered among the negative attitude stereotypes that referred to deficits
in effectiveness or undesirable sideeffects. 74 % of those questioned see
this method of treatment as „ultima
ratio“. Just 31.2 % responded to the
question whether they would accept
medically prescribed pharmaceuticals in the case of mental illness with
„yes“. Using a covariance analysis,
three models were calculated to identify those factors which would encourage the readiness to use psychopharmaceuticals. Through sociodemographic variables along with
variables that refer to knowledge, the
69
Meise, Grausgruber, Katschnig und Schöny
readiness could not be clearly explained. A clearer explanation could be
achieved through specific attitude
facets from the previously mentioned
list concerning the effects of psychopharmaceuticals and different aspects
of the therapy. Psycho-pharmaceuticals are more likely to be taken when
somebody sees them as the „most
effective treatment of a mental illness“, and is of the opinion that „only
through their use is a humane and dignified treatment of the mentally ill
possible“. This readiness declines
when somebody is of the opinion that
one „simply pacifies the patient“ with
psycho-pharmaceuticals which „will
only worsen their illness“ and thinks
that „many doctors prefer to prescribe
psycho-pharmaceuticals instead of
responding to the patient’s problems“. In relation to this it is irritating that the readiness to take psychopharmaceuticals personally increases, if the interviewee perceives their
use as being for social control or for
general stress reduction.
Vorbemerkungen
„Das mit psychischer Erkrankung
einhergehende Stigma und die negative Diskriminierung treffen nicht nur
Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch psychiatrische Institutionen, Psychopharmaka, Psychiater
und andere in der Psychiatrie Tätige.
Grundsätzlich durchdringt das Stigma alles und wirkt schädigend.“ [22].
Vergleicht man die Anzahl der
Untersuchungen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber
psychisch Kranken befassen, mit der
Zahl von Studien, die auf Einstellungen zur Behandlung – insbesondere
zu Psychopharmaka – fokusieren, so
zeigt sich, dass dieser wichtige
Aspekt bislang stiefmütterlich behandelt wurde. Die wenigen uns vorliegenden Untersuchungen zeigen recht
eindrücklich, dass das Image der
medikamentösen Behandlung psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung schlecht ist.
Die in einer Anfang der 70er Jahre
publizierten Studie – sie untersuchte
die Einstellungen in der Bevölkerung
gegenüber Tranquilizern [21] – erhobenen negativen Einstellungsstereotypien sind in nachfolgenden Studien
auch gegenüber anderen Gruppen
von Psychopharmaka – Antidepressiva und Antipsychotika – anzutreffen
[3, 5, 7, 16, 17, 18]. Bis heute ist ein
hoher Prozentsatz in der Bevölkerung
der Meinung, dass Psychopharmaka
schädigen, ja sogar gefährlich sind.
Psychopharmaka werden undifferenziert als symptomatisch wirkende
Beruhigungsmittel angesehen, die
eine zugrundeliegende psychische
Problematik lediglich verschleiern
oder überdecken; zudem werden
ihnen erhebliche Nebenwirkungen
und ein hohes Abhängigkeitspotential
zugeschrieben; ihre Behandlung oft
als „ultima ratio“ gesehen.
Angermeyer und Mitarbeiter [2,
3] gingen im Rahmen einer repräsentativen Umfrage für verschiedene
psychische Erkrankungen den bestehenden Behandlungspräferenzen in
der Bevölkerung nach. Die Zahl der
Befragten, die eine Psychopharmakotherapie ablehnten, war mit 41 %
doppelt so hoch wie jene, die dieser
Behandlung zustimmten. Dabei fanden sie keine Unterschiede für spezifische Erkrankungen oder einzelne
Gruppen von Psychopharmaka. Mehr
als die Hälfte der Interviewten votierten für eine psychotherapeutische
Behandlung; für die Psychopharmakotherapie waren es lediglich
14 %. Die Präferenz für eine Behandlung mit Naturheilmitteln, Meditation
oder Yoga war auch für Erkrankungen, wie schizophrene Psychosen,
höher als für die Psychopharmakotherapie. Die „Mainzer Studie“ [5] –
ebenfalls eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zur Akzeptanz von
Psychopharmaka – kam u.a. zum
Ergebnis, dass im Falle einer HerzKreislauferkrankung der Großteil der
Interviewten eine medikamentöse
Behandlung für erforderlich erachtet,
während im Falle einer psychischen
Erkrankung nur eine Minorität der
Psychopharmakabehandlung
zustimmte. Auch diese Untersuchung
kommt zur Erkenntnis, dass die Bevölkerung eine psychotherapeutische
Behandlung wesentlich besser akzeptiert bzw. höher bewertet. Psychopharmaka stoßen somit in weiten
Bevölkerungskreisen auf große Skepsis; ihnen wird im Gegensatz zur
Behandlung mit Medikamenten aus
der somatischen Medizin eine negative Nutzen-Risikobilanz zugeschrieben. Andere vergleichbare Studien,
die in Österreich [18], der Schweiz
[7] oder in Australien [16] durchgeführt wurden, weisen trotz unterschiedlicher methodischer Ansätze in
die gleiche Richtung: Die Behandlung mit Psychopharmaka hat in der
Bevölkerung ein schlechtes Image
[17]. Die Aussagen der Bevölkerung
stehen im Widerspruch zur Meinung
der Behandler [16] und auch zu den
Ergebnissen der „Evidence based
Medicine“. Auf Grund dieser Diskrepanz wird die unzureichende Behandlungsbereitschaft und Compliance
von Patienten verständlicher [3].
Die nachfolgende Untersuchung
beschreibt die Einstellungen der
österreichischen Bevölkerung gegenüber Psychopharmaka und geht auch
der Frage nach, welche Faktoren auf
die Bereitschaft, im Falle einer persönlichen Erkrankung selbst Psychopharmaka einzunehmen, einen Einfluss haben könnten.
Methodik
Im Vorfeld der österreichischen
Anti-Stigma Kampagne [23] wurde
eine landesweite Meinungsumfrage
zu verschiedenen Einstellungsaspekten schizophrene Erkrankungen und
ihre Behandlung betreffend durchgeführt [10]. 1998 wurde dazu eine
repräsentative Stichprobe von 1042
Personen mittels face-to-face Interviews befragt. Die Erhebung erfolgte
durch ein Meinungsforschungsinsti-
70
Das Image der Psychopharmaka in der österreichischen Bevölkerung
tut. Als Grundgesamtheit diente die
Wohnbevölkerung über 16 Jahre in
Österreich; das zugrundeliegende
Auswahlverfahren war ein QuotaVerfahren. Aus dem umfangreichen
Fragenkatalog wurden für diese Auswertung nur jene Fragen herangezogen, die sich ganz allgemein auf
Wissens- und Einstellungsaspekte
gegenüber Psychopharmaka und
ihrer Verwendung zur Behandlung
beziehen; folgende Fragenbereiche
wurden verwendet:
1. Hier auf dieser Liste sind verschiedene Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Krankheiten ganz allgemein angeführt.
– Welche der folgenden Maßnahmen kennen Sie zumindestens dem Namen nach?
– Und welche der angeführten
Möglichkeiten halten Sie für
eine gute Behandlungsmethode?
2. Haben Sie schon einmal das Wort
Psychopharmaka gehört?
– Wenn ja: Können Sie mir ungefähr sagen, was Psychopharmaka sind, was man darunter versteht?
3. Einmal ganz allgemein betrachtet,
wie denken Sie über Psychopharmaka, also Medikamente, die bei
psychischen Erkrankungen verschrieben werden? Ich lese Ihnen
jetzt verschiedene Meinungen vor.
Sagen Sie mit bitte anhand dieser
Skala, inwieweit Sie mit jeder der
Meinungen übereinstimmen oder
nicht.
4. Angenommen Sie erkranken und
ihr Arzt verschreibt Ihnen
Psychopharmaka. Würden Sie die
Psychopharmaka einnehmen oder
vermutlich eher nicht?
Bei der zuvor angesprochenen
Liste von Meinungen gegenüber Psychopharmaka (Fragenbereich 3.) handelt es sich um 20 vorgegebene Statements zur Wirkung von Psychopharmaka sowie verschiedenen Aspekten
der Psychopharmakotherapie [1, 12].
Jedes Item ist 5-Punkt skaliert mit
den Polen „Stimme voll und ganz zu“
(1) und „Stimme überhaupt nicht zu“
(5). (Tabelle 2 und 3)
Neben einer deskriptiven Darstellung wurden mittels einer KovarianzAnalyse, jene Faktoren identifiziert,
die die Bereitschaft zur Einnahme
von Psychopharmaka beeinflussen.
Dabei wurde die abhängige Variable
„Psychopharmaka nehmen, wenn der
Arzt solche verschreibt – oder nicht
(incl. weiß nicht)“ dichotomisiert. Es
wurden drei Modelle berechnet:
• Modell 1: Soziodemographischen
Variablen wurden als unabhängige Faktoren – Einflussfaktoren –
berücksichtig.
• Modell 2: Soziodemographische
Variablen und allgemeine Vorstellungen über Psychopharmaka
wurden als unabhängige Faktoren
– Einflussfaktoren – berücksichtigt.
• Modell 3: Soziodemographische
Variablen und allgemeine Vorstellungen über Psychopharmaka sowie spezifische Einstellungsfacetten zu Psychopharmaka und ihre
Behandlung wurden als unabhängige Faktoren – Einflussfaktoren
– berücksichtigt.
Ergebnisse
Wissen über psychiatrische Behandlungsmethoden: (Fragenbereich 1.)
Die Frage, ob die Interviewten
eine der aufgelisteten Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen
Erkrankungen zumindestens dem
Namen nach kennen und ob sie diese
auch als gute Behandlungsmöglichkeit erachten ergibt, dass spezifische
psychotherapeutische Behandlungsverfahren und therapeutische Gespräche neben einem hohen Bekanntheitsgrad auch eine hohe Zustimmung als gute Behandlungsmethode
aufweisen (Tab 1). Das Wissen um
medikamentöse Behandlung ist deutlich geringer ausgeprägt, was auch
auf die Art der Fragenformulierung
zurückgeführt werden könnte. Die
Frage, „Kennen Sie Medikamente?“,
wurde möglicherweise auch so aufgefasst, dass die Interviewten der Meinung sein konnten, spezifische Angaben hinsichtlich der Medikamente
machen zu müssen. Trotzdem erachten lediglich 61 % jener, denen
Medikamente als Behandlungsme-
Tab. 1: Wissen über Behandlungsmethoden bei psychischen
Erkrankungen und deren Bewertung
Wissen1
%
Gute Behandlungsmethode2
%
Psychotherapeutische Verfahren
(Psychoanalyse, Verhaltenstherapie,
Autogenes Training)
70,8
67,1
Gespräch mit
Therpeuten/Psychologen
82,8
65,9
Selbsterfahrungsgruppen
58,8
29,9
Yoga, Meditation, Tai-Chi
62,8
24,8
Medikamente
12,2
7,5
Elektroschockbehandlung
54,9
3,7
Gummizelle, Zwangsjacke
63,0
2,6
1 N = 1027, 2 N = 1021
Meise, Grausgruber, Katschnig und Schöny
thode bekannt waren, diese auch als
„gute Behandlungsmöglichkeit“. Als
Nebenbefund wäre auch auf das
schlechte Image, das offensichtlich
die EKT-Behandlung in der Bevölkerung genießt, hinzuweisen.
Wissen über Psychopharmaka:
(Fragenbereich 2.)
Den Hinweis auf ein doch bestehendes Kenntnisdefizit bezüglich
Psychopharmaka liefert das Ergebnis
der direkten Frage, ob die Interviewten schon einmal das Wort Psychopharmaka gehört haben. 39,2 % gaben an, diesen Begriff noch nie gehört
zu haben.
Auf die nachfolgende Frage, was
jene, denen der Begriff Psychopharmaka bekannt war (59,3 %), darunter
verstehen, gaben 46,1 % an, dass es
sich um Medikamente handle, die die
Psyche beeinflussen; 18 % assoziierten mit diesem Begriff Beruhigungsmittel; 17 % bezeichneten sie ganz
allgemein als Medikamente und 12 %
verbanden damit Medikamente gegen
Depression, bewußtseinsverändernde
Medikamente oder glaubten, dass es
sich um Drogen handle.
Beurteilung der Wirkung von
Psychopharmaka und Einstellungen
zu verschiedenen Aspekten der Psychopharmakotherapie: (Fragenbereich 3.)
In Tabellen 2 und 3 sind der
Fragenkatalog und die Ergebnisse für
Zustimmung und Ablehnung in Form
von Prozentwerten und Mittelwerten
dargestellt. Von 11 vorgegebenen
Aussagen zur Wirkung der Psychopharmaka beziehen sich 5 (Item
1-5) auf positive Aspekte. Die Mittelwerte der Antworten bewegen sich
durchwegs im neutralen Bereich; es
lässt sich also weder eine eindeutige
Zustimmung noch eine eindeutige
Ablehnung erkennen. Deutlicher ist
jedoch die Zustimmung für negative
Einstellungsaspekte, die sich auf
Wirkdefizite von Psychopharmaka
beziehen (Item 6-8). In Prozentsätzen
ausgedrückt bewerten 55 % der
Befragten die Aussage „Mit Psycho-
pharmaka kann man Patienten nur
ruhigstellen.“, mit dem Wert 1 oder 2
der 5-teiligen Skala und stimmen
somit mit dieser Ansicht überein.
Dem Statement „Nimmt man Psychopharmaka, so sieht man alles durch
eine rosa Brille, in Wirklichkeit bleiben die Probleme unverändert bestehen.“, stimmen 65,6 % zu. Ähnlich
verhält es sich bei Fragen, die sich auf
mögliche unerwünschte Effekte der
Psychopharmaka beziehen (Item 911). 72 % der Befragten bewerten die
Aussage „Bei Psychopharmaka ist
die Gefahr groß, dass man von ihnen
abhängig wird“, mit 1 oder 2. Immerhin rund ein Drittel waren der Meinung, dass Psychopharmaka einem
am Ende noch kränker machen, als
man ohnehin schon ist. Bei den Einstellungen zu verschiedenen anderen
Aspekten der Psychopharmakotherapie fällt auf, dass gängige negative
Stereotype eine hohe Zustimmung
erfahren (Item 12 und 16). 74 % stimmen der Pharmakotherapie als „ultima ratio“ (Item 12) zu; 62,9 %
schlossen sich der Meinung an, dass
man heute an Stelle der Zwangsjacke
Psychopharmaka verwendet. Als
überraschendes Ergebnis, das in
einem gewissen Widerspruch zum
Antwortverhalten bezüglich anderer
Aspekte steht, ist zu werten, dass
immerhin 50,3 % der Aussage zustimmten, dass durch die Einführung
von Psychopharmaka eine menschenwürdige Behandlung psychisch
Kranker möglich wurde. Eine hohe
Zustimmung fanden auch die Aussagen in Item 18 und 19 mit 70,9 %
bzw. 68,1 % Zustimmung. Sie weisen
auf vermeintliche oder auch tatsächliche Defizite in Hinblick auf den
persönlichen bzw. professionellen
Umgang in der Bewältigung und
Behandlung von psychischen Störungen hin.
Einflussfaktoren auf die Bereitschaft, Psychopharmaka einzunehmen oder nicht:(Fragebereich 4)
Die Frage, ob die Interviewten im
Falle einer Erkrankung und Verschreibung durch ihren Arzt selbst
71
Psychopharmaka einnehmen würden,
beantworteten 31,2 % mit „ja“,
35,3 % mit „eher nein“ und 33,5 %
zeigten sich unentschlossen; d.h. sie
antworteten mit „weiß nicht“.
Mittels einer Kovarianzanalyse
wurden 3 Modelle berechnet, um jene
Faktoren zu identifizieren, welche die
Bereitschaft zur Einnahme von
Psychopharmaka, fördern könnten.
(Tab 4)
• Mit dem Modell 1, in das soziodemographische Variablen als unabhängige Faktoren eingingen,
konnte eine Einnahmebereitschaft
kaum erklärt werden. Lediglich
das Alter und die berufliche Position spielen eine gewisse Rolle.
Demnach werden Psychopharmaka eher eingenommen, je älter die
Menschen sind und wenn jemand
Arbeiter ist. Menschen in der beruflichen Position als Angestellte
oder Beamte lehnen eine Psychopharmakaeinnahme eher ab.
• Auch mit dem zweiten Modell, in
das neben den demographischen
Variablen verschiedene auf einen
Wissensstand beruhende Vorstellungen zu Psychopharmaka als
unabhängige Faktoren Eingang
fanden, konnte eine Psychopharmakaeinnahme oder Nicht-Einnahme immer noch kaum erklärt
werden. Neben Alter und Berufsposition erweist sich die Nennung
von Psychopharmaka als gute
Behandlungsmethode bei psychischen Erkrankungen oder die
Kenntnis von Psychopharmaka
als Medikamente, die die Psyche
beeinflussen als relevant. Psychopharmaka werden eher eingenommen, je älter die Menschen sind,
wenn jemand Arbeiter ist. Sie
werden eher abgelehnt, wenn
jemand in leitender Position als
Beamter oder Angestellter tätig ist
und sie werden eher eingenommen, wenn jemand Medikamente
als gute Therapiemöglichkeit bei
psychischen Erkrankungen nennt
bzw. wenn jemand Psychopharmaka als Medikamente versteht,
welche die Psyche beeinflussen.
72
Das Image der Psychopharmaka in der österreichischen Bevölkerung
Tab. 2: Beurteilung der Wirkung von Psychopharmaka
Bewertung*
Mittelwert
(SD)
1+2
%
3
%
4+5
%
2,89 (1,19)
26,7
36,2
27,1
2,76 (1,10)
31,1
36,9
22,2
2,65 (1,20)
45,6
32,2
22,2
2,90 (1,16)
37,9
35,0
27,1
5. Der Nutzen der Behandlung mit
Psychopharmaka ist viel größer
als die damit verbunden Risiken
2,70 (1,04)
32,0
40,3
17,7
6. Die Ursachen seelischer
Erkrankungen kann man mit
Psychopharmaka gut behandeln
2,94 (1,21)
36,6
32,9
20,5
2,34 (1,06)
55,8
30,7
16,5
2,11 (1,05)
65,6
23,7
10,7
9. Bei Psychopharmaka ist die
Gefahr groß, dass man von ihnen
abhängig wird
1,93 (1,01)
72,0
20,4
7,6
10. Über längere Zeit eingenommen,
führen Psychopharmaka zu
bleibenden Hirnschäden
2,88 (1,15)
26,1
35,7
28,2
11. Psychopharmaka machen einen
am Ende noch kränker, als man
ohnehin schon ist
2,63 (1,13)
33,7
35,9
20,4
1. Psychopharmaka sind die wirksamsten Mittel zur Behandlung
seelischer Erkrankungen
2. Psychopharmaka sind das zuverlässigste Mittel,. um bei einer
psychischen Erkrankung einen
Rückfall zu verhindern
3. Bei schweren psychischen Störungen
sind Psychopharmaka das einzig
wahre Mittel
4. Will man rasch eine Besserung
seelischer Störungen erreichen,
nimmt man am besten
Psychopharmaka
7. Mit Psychopharmaka kann man
Patienten nur ruhigstellen
8. Nimmt man Psychopharmaka,
so sieht man alles durch seine
rosa Brille. In Wirklichkeit bleiben
die Probleme aber unverändert
bestehen.
*
Erhoben anhand einer fünfteiligen Skala von völliger Zustimmung (1) bis völliger Ablehnung (5);
Neben Mittelwerten und Standardabweichungen wurden jeweils die Bewertungen 1+2 (Zustimmung), 3 sowie 4+5 (Ablehnung)
zusammengezogen und in Prozetsätzen ausgewiesen.
73
Meise, Grausgruber, Katschnig und Schöny
Tab. 3: Einstellungen zu verchiedenen Aspekten der Psychopharmakotherapie
Bewertung*
12. Psychopharmaka sollte man nur
dann nehmen, wenn alles andere
nicht geholfen hat
13. Weil es Psychopharmaka gibt,
müssen die Patienten heutzutage
nur noch kurze Zeit in der
psychiatrischen Klinik bleiben
14. Erst durch die Einführung der
Psychopharmaka wurde eine
menschenwürdige Behandlung
psychisch Kranker möglich
15. Es ist nur eine Frage der Zeit,
bis es Medikamente geben wird,
mit denen man schwere seelische
Erkrankungen nicht nur behandeln, sondern heilen kann
16. Früher steckte man psychisch
Kranke in die Zwangsjacke,
heute gibt man ihnen dafür
Psychopharmaka
17. Patienten, die sich auffallend
und störend verhalten, gehören
auf jeden Fall mit Psychopharmaka behandelt
18. Anstatt sich mit ihren Problemen
ernsthaft auseinanderzusetzen,
greifen die Leute viel zu rasch
zu Psychopharmaka
19. Anstatt auf die Probleme der
Patienten einzugehen, verschreiben viele Ärzte lieber
Pschopharmaka
20. Bei dem Stress heutzutage ist es
kein Wunder, wenn viele Leute
Psychopharmaka nehmen
*
Mittelwert
(SD)
1+2
%
3
%
4+5
%
1,89 (0.96)
74,0
19,7
6,3
2,65 (1,11)
46,0
34,1
19,9
2,46 (0,99)
50,5
37,2
12,3
2,75 (1,17)
41,8
35,2
27,0
2,09 (0,99)
62,9
29,6
7,5
2,97 (1,21)
34,0
36,5
28,5
1,19 (0,97)
70,9
23,3
5,8
2,03 (1,00)
68,1
24,3
7,6
2,38 (1,10)
55,6
29,3
15,1
Erhoben anhand einer fünfteiligen Skala von völliger Zustimmung (1) bis völliger Ablehnung (5);
Neben Mittelwerten und Standardabweichungen wurden jeweils die Bewertungen 1+2 (Zustimmung), 3 sowie 4+5 (Ablehnung)
zusammengezogen und in Prozetsätzen ausgewiesen.
74
Das Image der Psychopharmaka in der österreichischen Bevölkerung
Tab. 4: Einflussfaktoren auf die Bereitschaft Psychopharmaka einzunehmen oder nicht1
Soziodemografische Merkmale
Geschlecht
Alter: ältere Menschen
Schulbildung
Ortsgröße
Berufsposition
Arbeiter
Leitende Angestellte/Beamte
Nicht-leitende Angestellte/Beamte
Selbstständig
Landwirte
Modell 1
Modell 2
–
+0,7
–
–
–
+0,7
–,07
–
–
–
–
+0,7
–
–
–
+0,7
–,06
–
–
–
–
–
–
–
–
(+0,5)
–,07
–
–
–
(+,05)
–
+
–
Vorstellungen zu Psychopharmaka
gute Behandlungsmethode
Kenntnis Begriff „Pschopharmaka“
Psyche beieinflussende Medikamente
Einstellungen zu Psychopharmaka*
Wegen Stress häufige Einnahme (Item 20)
Wirksamste Mittel (Item 1)
Erlauben menschenwürdige Behandlung (Item 14)
für Auffallende/Störende (Item 17)
Machen noch kränker (Item 11)
Können nur ruhigstellen (Item 7)
Verschreiben statt auf Probleme eingehen (Item 18)
Mult. PRE Koeff = R2
+,09
+,08
+,07
+,06
–,08
(–,06)
{–,05)
,131
,212
,452
Erklärte Varianz
1,7 %
4,5 %
20,4 %
F-Wert
2,22
2,79
Zuwachs
1
*
•
Modell 3
2,8 %
6,72
15,9 %
Kovarianzanalyse: (part. corr.coieff; p<0,05, ()p<0,1; + Psychopharmaka eher nehmen, – eher nicht nehmen)
unter statistischer Kontrolle von 13 Items, welche nicht signifikante Werte zeigen (Tabelle 2).
Im Modell 3 wurden als unabhängige Faktoren neben den soziodemographischen Variablen, allgemeine
Vorstellungen
über
Psychopharmaka auch zusätzlich
spezifische Einstellungsfacetten
zu Psychopharmaka (Tab 2)
berücksichtigt. Nunmehr kann die
Bereitschaft, ob jemand Medikamente einnehmen würde oder
nicht, relativ gut erklärt werden.
Die soziodemographischen Faktoren verlieren an Prägekraft, das
Verständnis von Psychopharmaka
bleibt relevant, als bedeutend stellen sich spezifische Vorstellung
über die Wirkung von Psychopharmaka bzw. andere verschiedene Aspekte der Pharmakotherapie heraus. Der Erklärungszuwachs mit rund 15 %-Punkten ist
bemerkenswert. Psychopharmaka
werden demnach eher eingenommen, wenn jemand Arbeiter ist
und eher abgelehnt, wenn jemand
in leitender Position als Ange-
stellter oder Beamter tätig ist. Das
Gleiche trifft zu, wenn jemand
Psychopharmaka als Medikamente versteht, welche die Psyche
beeinflussen.
Psychopharmaka werden eher
eingenommen, wenn jemand
– sie als die wirksamsten Mittel
zur Behandlung seelischer Erkrankungen versteht,
– meint, dass erst durch die Einführung der Psychopharmaka
eine menschenwürdige Be-
Meise, Grausgruber, Katschnig und Schöny
–
–
–
–
–
handlung psychisch Kranker
möglich wurde,
der Ansicht ist, dass es bei
dem Stress heutzutage kein
Wunder sei, wenn viele Leute
Psychopharmaka nehmen,
der Ansicht ist, dass Patienten,
die sich auffallend und störend
verhalten, auf jeden Fall mit
Psychopharmaka behandelt
gehören,
nicht der Meinung ist, dass
man mit Psychopharmaka
man Patienten nur ruhig stellen kann,
nicht der Meinung ist, dass
anstatt auf die Probleme der
Patienten einzugehen, viele
Ärzte lieber Psychopharmaka
verschreiben und
nicht der Meinung ist, dass
einen Psychopharmaka am
Ende noch kränker machen,
als man ohnehin schon ist.
Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass der Einsatz von
Psychopharmaka zur sozialen Kontrolle einen positiven Einflussfaktor
auf die Bereitschaft, Psychopharmaka selbst einzunehmen, darstellt.
Diskussion
Diese und andere Ergebnisse der
österreichischen Befragung [10] weisen in dieselbe Richtung, wie jene,
die durch repräsentativen Meinungsumfragen in anderen Kategorie A
Ländern (gemäß Weltbank) gewonnen wurden [3, 5, 7, 16, 17, 18].
Lediglich etwa ein Drittel der Interviewten gab an, dass sie im Falle
einer psychischen Erkrankung bereit
wären selbst Psychopharmaka einzunehmen und somit dem ärztlichen Rat
zu folgen. Nach dem verwendeten
Fragenkatalog erfuhren positive Aussagen zur Wirkung von Psychopharmaka in unserer Befragung eine
indifferente und somit höhere
Zustimmung, als sie unter Medizin-
studenten in der Studie von Hillert
und Mitarbeitern anzutreffen war, in
der derselbe Fragebogen verwendet
wurde [13]. Ähnlich verhielt es sich
mit den Fragen, die auf unerwünschte
Effekte und Wirkdefizite Bezug nahmen; d.h. die von uns Interviewten
stimmten den entsprechenden Statements deutlicher zu als Medizinstudenten in der zuvor genannten Untersuchung. Diese mangelnde Differenzierung oder dieser Widerspruch
kann auch auf begrenzte Kenntnisse
zurückgeführt werden. Dazu finden
sich in unserer Befragung Hinweise.
Eine höhere Zustimmung im Falle einer psychischen Erkrankung
selbst Medikamente einzunehmen,
äußern Personen, die Psychopharmaka als „wirksamste Mittel für die
Behandlung psychischer Erkrankung
ansehen“ und der Meinung sind, dass
„Psychopharmaka erst eine menschenwürdige Behandlung psychisch
Kranker ermöglichten“. Verwunderlich ist in diesem Kontext, dass diese
Bereitschaft gefördert wird, wenn die
Interviewten der Verwendung von
Psychopharmaka zur sozialen Kontrolle oder zur allgemeinen Stressreduktion zustimmten
Unsere Aussagen hinsichtlich
jener Faktoren, die eine Bereitschaft
Psychopharmaka einzunehmen positiv beeinflussen, sind limitiert. Auf
Grund der spezifisch auf Schizophrenie fokusierten Befragung konnten
die persönlichen Erfahrungen mit
psychischen Störungen sowie deren
Behandlung nicht in verallgemeinerter Form erhoben werden. Eine differenziertere und offenere Einstellung
gegenüber Psychopharmaka weisen
nach der Literatur Personen auf, die
Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben, sei es, dass sie selbst
oder ein ihnen Nahestehender erkrankt ist oder es war [4, 7, 18].
Folgt man den Ergebnissen jener
Untersuchungen, die das Ausmaß des
Psychopharmakagebrauches erhoben
haben, so zeigt sich, dass die Anzahl
jener, die Psychopharmaka einnehmen, mit 6 bis 15 % der Gesamtbevölkerung relativ hoch ist [11].
75
Davon werden von einem erheblichen Prozentsatz Psychopharmaka
gegen psychosozialen Stress eingesetzt, wobei sich viele selbst behandeln und keine psychische Erkrankung im engeren Sinne aufweisen.
Zum einen könnte dadurch die zuvor
angesprochene positive Korrelation
zwischen Einnahmebereitschaft und
der Zustimmung zur Aussage, „dass
es beim heutigen Stress kein Wunder
ist, dass viele Leute Psychopharmaka
einnehmen“, erklärbarer werden.
Zum anderen wundert es nicht, dass
unter dieser Umständen das Bild der
Psychopharmaka vom Wirk- und
Nebenwirkungsprofil der Tranquilizer und Sedativa geprägt wird [3].
Trotz methodischer Unterschiede
ist der Tenor in entsprechenden
Untersuchungen gleichlautend; in der
Bevölkerung besteht gegenüber
Psychopharmaka große Skepsis.
Explizit weist die Untersuchung von
Jorm und Mitarbeiter darauf hin, dass
zwischen Lehrmeinungen der Psychiatrie und den Meinungen in der
Bevölkerung eine große Kluft besteht
[16]. Diese Diskrepanz zwischen der
Sicht der Experten und jener der
Bevölkerung (die in einem hohen
Ausmaß Psychopharmaka ablehnt,
ihnen eine fehlende kausale Wirksamkeit und hohe Nebenwirkungsrate attestiert) ist ein Problem, da
dadurch die Behandlungsbereitschaft
und Compliance von Patienten beeinflusst werden muss. Dieser Gesichtspunkt wurde in der Complianceforschung bislang kaum berücksichtigt
[3]. Unter diesem Blickwinkel kann
die Non-Compliance von Patienten
als eine rationale Entscheidung angesehen werden, wenn sie auf Grund
eines mangelnden Vertrauens auf die
Wirksamkeit der Medikamente,
deren vermeintlich negativen Nutzen-Risikobilanz und dem negativen
Meinungsbild in der Bevölkerung
eine Psychopharmakaeinnahme ablehnen [6]. Patienten sind Teil des
sozialen Systems und es ist zu erwarten, dass sie sich den vorherrschenden Einstellungen nicht entziehen
können.
76
Das Image der Psychopharmaka in der österreichischen Bevölkerung
Was sind mögliche Gründe, dass
in einer Gesellschaft, die über ein
hohes Bildungsniveau verfügt, offensichtlich in allen Schichten das Meinungsbild über Psychopharmaka von
negativen Stereotypien geprägt ist?
Warum konnte die Transformation
von „Evidence Based Medicine“,
„Expertenkonsensus“ oder dem „State of the Art“ der Behandlung in das
Alltagswissen bisher nicht in erwünschtem Ausmaß erfolgen? Nachfolgend einige Überlegungen, zu
möglichen kognitiven und affektiven
Dimensionen, die mit verantwortlich
sein können, dass sich Einstellungen
und Vorurteile gegenüber Psychopharmaka, wie sie zuvor beschrieben
wurden, so hartnäckig halten.
Umfrangreiche Medienanalysen
[13, 14, 15] bestätigen, dass sowohl
meinungsführende Tages- oder
Wochenzeitschriften wie auch Boulevardblätter und Magazine im
deutschsprachigen Raum Psychopharmaka durchwegs negativ porträtieren. Diese Medikamente werden
im Gegensatz zu Medikamenten aus
der somatischen Medizin vorzüglich
durch Nebenwirkungen und Abhängigkeit charakterisiert. Psychische
Erkrankungen oder die Indikation
dieser Behandlung werden kaum
erwähnt; Differenzierungen welche
Medikamente gegen welche Erkrankung und warum verordnet werden,
werden kaum vorgenommen. Häufig
ist die Berichterstattung einseitig
oder von Emotionalität geprägt:
Psychopharmaka werden in begriffliche Nähe zu Gewalt, Zwang, Fehlbehandlung und anderem mehr gestellt.
Das Bild der Psychopharmaka wird
stark von Missbrauch und den Gefahren der Tranquilizer geprägt [2]. Folgt
man den Äußerungen von Niklas
Luhmann [15] „Was wir über unsere
Gesellschaft, ja die Welt in der wir
leben, wissen, wissen wir durch die
Massenmedien“, wird deutlich, dass
diese in der Vermittlung unseres Alltagswissens eine zentrale Rolle spielen. Auf der anderen Seite sind die
Medien auch von den vorherrschenden Vorurteilen beeinflusst, die sie oft
lediglich widerspiegeln. Es gehört
zum Wesen eines Vorurteiles, dass
richtige Informationen ignoriert,
nicht wahrgenommen oder verleugnet werden und einseitiges oder falsches Wissen nicht abgelehnt wird.
In der Bevölkerung werden psychische Erkrankungen häufig ausschließlich auf ungelöste Konflikte,
Stress und ähnliches zurückgeführt
[8]. Dieses Krankheitsmodell ist
einseitig psychologisch/psychodynamisch ausgerichtet; demgemäß ist das
Behandlungsmodell ein psychotherapeutisch dominiertes, das zumeist
aber ein psychoanalytisches ist[3]. So
gesehen kann die Gegnerschaft
gegenüber den Psychopharmaka auch
Symbol für den Widerstand gegenüber Medizin und Psychiatrie sein, die
häufig ein neurobiologisch dominiertes Krankheits- und Behandlungskonzept vermitteln.
Neben der „kognitiven Dimension“, die den Stellenwert des Wissens auf die Einstellungsbildung und
das Verhalten berücksichtigt, bezieht
sich die „affektive Dimension“ auf
positive oder negative Emotionen.
Dieser Dimension wird eine zentrale
Rolle in der Einstellungs- und Vorurteilsbildung zugeschrieben [9]. Demnach können neben rationalen, die
Einstellung zu Psychopharmaka
negativ beeinflussenden Faktoren,
wie z.B. das Wissen über Nebenwirkungen [4], auch unbegründete Ängste und daraus resultierende Abwehrprozesse dazu beitragen, dass das
bestehende Meinungsbild in der
Bevölkerung
verfestigt
bleibt.
Psychopharmaka werden häufig in
gleicher Weise wie psychische
Erkrankungen bewertet, wobei psychische Erkrankungen in der Regel
als starke Bedrohung der Persönlichkeit erlebt werden. Durch sie werden
Identität, psychische Integrität,
Selbstkontrolle, Selbstwert oder der
soziale Status als in Frage gestellt
erachtet; ähnliches wird auch den
Psychopharmaka zugeschrieben. [8].
Katschnig [19] hat in diesem
Zusammenhang bemerkt, dass die
Freud’sche Idee der dritten koperni-
kanischen Kränkung des Menschen
durch die Psychoanalyse auch auf die
Psychopharmaka angewendet werden
könnte. Ein weiterer Aspekt der die
Abneigung gegenüber Psychopharmaka verstärken könnte, liegt in
einem, wie es Klerman formuliert
hat, „pharmakologischen Calvinismus“ [19]; einer in unserer Kultur
verankerten Haltung, die uns abverlangt, Probleme ohne „Hilfsmittel“
nur durch eigene Anstrengung lösen
zu müssen.
Zusammenfassend ist es erforderlich, dass neben Maßnahmen die zur
Verbesserung von sachlichen und
verständlichen Information beitragen, auch die bestehenden emotionalen Vorbehalte thematisiert werden.
Grundsätzlich sollten Krankheitskonzepte vermittelt werden, denen ein
mehrdimensionaler Erklärungsversuch psychischer Erkrankungen zu
Grunde liegt. Durch einen daraus
zwangsläufig resultierenden biopsycho-soziale Behandlungsansatz,
nach dem jeweils beim Einzelnen
bedürfnisorientiert und flexibel eine
Gewichtung von pharmakologischen
und non-pharmakologischen Behandlungsverfahren erfolgt, könnte die
bestehende Diskrepanz zwischen der
Expertenmeinung und der öffentlichen Meinung gegenüber Psychopharmaka mit der Zeit wahrscheinlich aufgelöst werden [20]. Generell
sollte auch die pharmazeutische Industrie den Fokus ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht nur auf die Experten sondern auch auf die Konsumenten und
die Allgemeinbevölkerung richten.
Danksagung
Diese Studie wurde durch nachfolgende, in alphabetischer Reihenfolge angeführte Firmen der Pharmazeutischen Industrie ermöglicht,
wofür wir Ihnen herzlichst danken
möchten:
• ASTRAZENECAÖsterreich GmbH
• ELI LILLY GmbH
77
Meise, Grausgruber, Katschnig und Schöny
•
•
•
JANSSEN-CILAG Pharma GmbH
LUNDBECK Arzneimittel GmbH
NOVARTIS Pharma GmbH
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Andrews G., S. Henderson: Unmet need
A. Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise
ARGE-Versorgungsforschung
Univ.-Klinik für Psychiatrie
Anichstraße 35
A-6020 Innsbruck
email: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 78 – 86
Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht
schizophren Erkrankter, ihrer Angehörigen
und von Mitarbeitern in der psychiatrischen
Versorgung
Beate Schulze und Matthias C. Angermeyer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Leipzig
Schlüsselwörter
Stigma – Schizophrenie – subjektive Erfahrungen
Key words
stigma – schizophrenia – subjective experiences
Perspektivenwechsel: Stigma
aus der Sicht schizophren Erkrankter, ihrer Angehörigen und
von Mitarbeitern in der psychiatrischen Versorgung
Die Schizophrenie zählt zu den
am meisten stigmatisierten Erkrankungen. Die Stigmaforschung hat
vorrangig aus den Ergebnissen von
Einstellungserhebungen oder analogen Verhaltensexperimenten Schlüsse auf das von schizophren Erkrankten erlebte Stigma gezogen. Die Perspektive derer, die den stigmatisierenden Reaktionen ausgesetzt sind,
blieb bei der Untersuchung des Stigma-Prozesses und seiner Konsequenzen jedoch bislang weitgehend vernachlässigt. Mit dem Ziel, Stigma aus
der subjektiven Sicht der schizophren
Erkrankten und ihrer Angehörigen zu
untersuchen, wurde an den vier in
Deutschland am Anti-Stigma-Programm des Weltverbandes für Psychiatrie beteiligten Zentren eine
Fokusgruppenstudie durchgeführt.
Schizophren Erkrankte und ihre
Angehörigen wurden zu ihren konkreten Stigmatisierungserfahrungen
befragt. Zusätzlich wurde die Sicht
von Mitarbeitern in der psychiatrischen Versorgung auf das Stigma
schizophren Erkrankter erfragt. Die
Fokusgruppen wurden auf Tonband
und Video aufgezeichnet, transkribiert und mittels eines computergestützten qualitativen Analyseverfah-
rens ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen 4 Dimensionen des Stigmaerlebens: interpersonelle Interaktion,
strukturelle Diskriminierung, das
Bild psychischer Erkrankungen in der
Öffentlichkeit, und Zugang zu sozialen Rollen. Die vier Dimensionen
werden aus der Sicht der Patienten
und Angehörigen dargestellt und mit
der Perspektive der psychiatrischen
Fachkräfte verglichen. Unterschiede
in der Einschätzung der Situation
unterstreichen, dass die subjektive
Sicht der Betroffenen sowohl in der
Stigmaforschung als auch bei der Planung und Umsetzung von Anti-Stigma Interventionen verstärkt einbezogen werden sollte.
Changing perspectives: Stigma from the point of view of
people with schizophrenia, their
families and of mental health
professionals
Schizophrenia has been found to
be one of the most stigmatising conditions. To the present, most research
on stigma related to mental illness has
drawn conclusions on the adverse
reactions faced by people with schizophrenia from studies on public attitudes or analogue behavioural studies. The views of those exposed to
the stigmatising reactions, however,
has largely been absent from attempts
to understand the stigma process and
its consequences. Aiming to explore
stigma from the subjective perspective of people with schizophrenia and
their relatives, a focus group study
was carried out at the 4 centres involved in the WPA Global Programme
against Stigma and Discrimination
because of Schizophrenia in Germany. People with schizophrenia and
their relatives were asked about concrete stigmatisation experiences. In
addition, the perspective of mental
health professionals on the stigma of
schizophrenia was enquired. Focus
group sessions were tape- and videorecorded, transcribed and analysed by
means of a computer-based procedure for qualitative content analysis.
Results reveal four dimensions of
stigma: interpersonal interaction,
structural discrimination, public images of mental illness and access to
social roles. The dimensions are described from the perspective of
patients and relatives and compared
with the views of mental health professionals. Differences in the perceptions of the groups emphasize the
importance of taking account of the
subjective experiences of those affected by the illness – both in stigma
research and in the design and implementation of anti-stigma interventions.
Einleitung
Das Erleben einer Schizophrenie
umfasst nicht allein die psychotische
Symptomatik. Vielmehr geht es einher mit einer „zweiten Krankheit“
[4]: den Reaktionen der Umwelt auf
die Erkrankung, dem mit ihr verbundenen Stigma. Die Diagnose Schizophrenie hebt jene, die unter der
Krankheit leiden aus der Allgemeinheit heraus und verbindet sie mit
negativen Eigenschaften: man hält sie
für aggressiv, gefährlich, unvernünf-
79
Schulze und Angermeyer
tig, beängstigend, weniger intelligent
als den Durchschnitt der Bevölkerung, und sieht in der Krankheit den
Ausdruck mangelnder Disziplin und
Selbstkontrolle [1]. Diese Stereotypen werden im Kontakt mit anderen
aktiviert. In der Folge erfahren schizophren erkrankte Menschen häufig
Ablehnung – ihre soziale Umwelt
begegnet ihnen mit Unsicherheit und
Unverständnis oder sucht sie zu vermeiden. Ein Großteil der Bevölkerung würde es ablehnen, mit einem
schizophren Erkrankten eine Wohnung zu teilen, ihn für eine Stelle zu
empfehlen oder ihn mit der Betreuung von Kindern zu betrauen [2].
Der
Stigmatisierungsprozess
beginnt damit, dass ein Unterschied
wahrgenommen und benannt wird. In
der Folge wird das vergebene Etikett,
wie z. B. die Diagnose Schizophrenie, mit negativen, kulturell geprägten Vorurteilen entstammenden Eigenschaften verbunden. Diese negativen Stereotypen dienen wiederum als
Rechtfertigung, um die etikettierten
Personen aus der Allgemeinheit herauszulösen: sie werden zu einer
Kategorie zusammengefasst („die
Schizophrenen“) und erfahren in der
Konsequenz eine Herabsetzung ihres
sozialen Status und Diskriminierung
[16, 17].
In der Stigmaforschung wurde der
Versuch unternommen, den Prozess
der Stigmatisierung näher zu beleuchten. Bisher jedoch basierte die
wissenschaftliche Untersuchung von
Stigma fast ausschließlich auf den
von der Soziologie und Sozialpsychologie entworfenen theoretischen Konzepten [7, 8, 3, 5]. Das
subjektive Erleben von Stigma und
seinen Folgen durch die Betroffenen
spielte dabei kaum eine Rolle. Die
meisten empirischen Studien zum
Stigma psychischer Erkrankungen
untersuchten seine Auswirkungen für
die Erkrankten selbst nur indirekt:
aus den Einstellungen der Bevölkerung [20, 24, 10, 11, 26]), der
gewünschten sozialen Distanz gegenüber psychisch Kranken [2], analogen Verhaltensexperimenten (e.g. [6,
21]) oder der Wahrnehmung vorherrschender negativer Vorstellungen in
der Bevölkerung durch psychisch
Erkrankte [14, 15] wurden Rükkschlüsse auf das Stigmaerleben der
Betroffenen gezogen.
Im Gegensatz zu früheren Arbeiten zum Thema untersucht die hier
vorliegende Studie Stigma explizit
aus der subjektiven Perspektive schizophren Erkrankter und ihrer Angehörigen. Anhand konkreter Stigmatisierungserfahrungen wurde exploriert, wie negative Stereotypen und
Diskriminierung sich auf den Alltag
der Betroffenen auswirken und wie
sich Stigma aus ihrer Sicht definiert.
Weiterhin interessierte uns, inwieweit
sich die Erfahrungen der Erkrankten
und ihrer Angehörigen von der Sichtweise psychiatrischer Experten und
Mitarbeitern in der psychiatrischen
Versorgung auf das Stigma der Schizophrenie unterscheiden.
Fokusgruppen wurden drei Themenschwerpunkte angesprochen: Konkrete Stigmatisierungserfahrungen,
Vorstellungen zu den Ursachen der
Stigmatisierung und Vorschläge zum
Abbau von Stigma und Diskriminierung. Gegenstand dieser Arbeit ist die
Darstellung der Stigmatisierungserfahrungen. Die Fokusgruppen wurden auf Tonband und Video aufgezeichnet, transkribiert und einer computergestützten, qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring unterzogen (s.
[18, 12, 13]). Die Kodierung erfolgte
durch induktive Kategorienbildung
aus den Transkripten und hatte zum
Ziel, eine Typologie der Stigmatisierungserfahrungen zu entwickeln.
Ergebnisse
Die häufigsten Stigmatisierungserfahrungen
Methode
Im Rahmen des von der World
Psychiatric Association initiierten
Programms „Reducing Stigma and
Discrimination because of Schizophrenia“ [22] wurde in den vier in
Deutschland am Programm beteiligten Regionen (München, Leipzig,
Düsseldorf und Kiel/Hamburg/Itzehoe) eine Fokusgruppenstudie durchgeführt.
Fokusgruppen sind Gruppeninterviews mit 5 – 12 Teilnehmern. Der
Moderator regt eine Reihe von Themen (Foci) für die Diskussion an und
sorgt dafür, dass sich die Diskussion
nicht von Gegenstand des Interviews
entfernt [19]. Im Rahmen dieser Studie wurden insgesamt zwölf Fokusgruppen durchgeführt: jeweils eine
mit schizophren Erkrankten, eine mit
Angehörigen und eine mit Mitarbeitern der psychiatrischen Versorgung
in jeder der vier am WPA-Projekt
beteiligten Regionen [s. 23]. In den
Wie wird die Stigmatisierung von
den Betroffenen und Angehörigen
erlebt? Welche negativen Erfahrungen machten sie, die auf das Wissen
ihrer Umwelt um die Erkrankung
zurückzuführen sind?
Insgesamt wurden von den Patienten und Angehörigen 457 konkrete
Stigmatisierungserfahrungen genannt
(Abb1.). Am häufigsten beschrieben
die Befragten Situationen, in denen
sie soziale Ausgrenzung, den Rükkzug von Freunden, Verwandten und
Kollegen erlebten und auf Unverständnis in ihrer Umwelt stießen
(16,7 %). In 11,3 % aller Fälle sprachen die Fokusgruppenteilnehmer
von Stigmatisierung durch Ärzte und
andere Mitarbeiter in der psychiatrischen Versorgung. Die mangelnde
Qualität der psychiatrischen Versorgung wurde in 11 % aller Stigmaerlebnisse von den Befragten als stigmatisierend erlebt, besonders im Vergleich mit der Versorgungsqualität im
somatischen Bereich. 8,9 % aller
80
Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht schizophrener Erkrankter ...
Stigmatisierungserfahrungen bezogen sich auf berufliche Desintegration infolge der Erkrankung. Ebenfalls 8,9 % der Nennungen betrafen
Schuldzuweisungen an die Angehörigen bzw. die Zuschreibung eigener
Verantwortung für die Erkrankung
durch behandelnde Psychiater oder
im Verwandten- und Bekanntenkreis.
Besonders häufig hierbei waren die
noch immer bemühte Theorie von der
schizophrenogenen Mutter und Kommentare an die Betroffenen, man
müsse sich nur ein bisschen
zusammenreißen, wie zum Beispiel
„Es ist ja kein Wunder, dass
es dir so schlecht geht, du lässt
dich ja total hängen, du bist
selber Schuld, du bist ja gar
nicht krank, du bist ja nur zu faul
und lauter solche Sachen“.
(Herr B., seit fünf Jahren
schizophren erkrankt)
Die Liste der häufigsten Stigmatisierungsformen aus der Sicht der Erkrankten und Angehörigen enthält
außerdem negative Mediendarstellungen psychischer Krankheit
(6,8 %), Unwissenheit und Informa-
tionsmangel in der Bevölkerung
(6,2 %), Unsicherheit und Angst
(5,9 %), die Verheimlichung der
Krankheit aufgrund antizipierter
Stigmatisierung (4,1 %) sowie Benachteiligungen durch den unterschiedlichen Stellenwert psychischer
und somatischer Erkrankungen
(4,1 %). Diese zehn Kategorien beinhalten 85 % aller genannten Erfahrungen.
anderen gemacht. Für die meisten
Befragten – und dies betrifft sowohl
die Erkrankten als auch ihre Angehörigen – führte das Bekanntwerden
der schizophrenen Erkrankung zu
einer Reduzierung sozialer Kontakte.
Frau C., die seit 15 Jahren unter
Schizophrenie leidet, beschreibt die
Reaktionen ihrer Nachbarn auf ihren
zweiten Klinikaufenthalt aufgrund
einer psychotischen Episode wie
folgt:
Dimensionen der
Stigmatisierung
„Und dann habe ich auch meiner
Nachbarin wieder Bescheid gesagt,
dass ich wieder in die Klinik muss.
Und wie es dann mit der Treppe
wäre und dann sagte die: „Ach schade um die Wohnung.“ und bummste
die Tür zu. Also da war ich völlig
schockiert ... und das Verhältnis wie
sie zu mir waren, war auch so ganz
anders. Ich meine, ich wusste doch
wie wir jahrzehntelang zusammen
waren, in Urlaub gefahren sind, wie
wir miteinander gesprochen haben
und zueinander waren.
Das war ganz, ganz anders.
...und das tat so weh.“
(Frau C., lebt seit 15 Jahren mit
einer schizophrenen Erkrankung)
Aus der Sicht der Erkrankten und
Angehörigen fanden wir vier Dimensionen des mit der Schizophrenie verbundenen Stigmas: interpersonelle
Interaktion, strukturelle Diskriminierung, das Bild psychisch
Erkrankter in der Öffentlichkeit
und erschwerter Zugang zu sozialen
Rollen (Abb.2).
Die erste Dimension, interpersonelle Interaktion, bezieht sich auf
Stigmatisierung, die im Kontext sozialer Beziehungen erlebt wurde. 48%
aller Stigmatisierungserfahrungen
werden in direkter Interaktion mit
Abb. 1: Die 10 häufigsten Stigmatisierungserfahrungen
16,7
Ausgrenzung/Rückzug/Unverständnis
Umgang der Professionellen mit
Betroffenen und Angehörigen
11,3
Qualität der psychiatrischen Versorgung
11
Berufliche Desintegration
8,9
Schuldzuweisungen/eigene Verantwortung
8,9
6,8
Negative Mediendarstellungen
6,2
Unwissenheit/Informationsmangel
5,9
Unsicherheit und Angst
Verheimlichung der Krankheit
4,1
Differenzieurng zwischen psychischen
und somatischen Erkrankungen
4,1
(n = 457)
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
20
81
Schulze und Angermeyer
Mehreren Befragten blieben
außerhalb der „Psychiatrieszene“
keine sozialen Kontakte mehr. Die
Erkrankten und Angehörigen gaben
übereinstimmend an, dass Menschen,
die selbst oder im Bekanntenkreis
keine psychischen Erkrankungen
erlebt haben, schizophrenen Patienten wenig Verständnis entgegenbringen. Darüber hinaus berichteten die
Befragten, dass Freunde und Bekannte an Informationen über die Krankheit wenig interessiert seien. Die
Erkrankten und Angehörigen betonten, dass die Schizophrenie in der
Öffentlichkeit nicht als Krankheit
anerkannt ist. Ein Kontakt mit der
Psychiatrie führe dazu, dass die Person des Erkrankten darauf reduziert
wird „verrückt zu sein, unzurechnungsfähig, jemand, dem man nicht
trauen kann“. Sie schilderten, dass
jede Auffälligkeit der Krankheit zugeschrieben und ihnen mit Misstrauen begegnet wurde:
„Vor allen Dingen auch wenn ich
etwas erzählte. Da wurde immer
noch einmal gefragt, ob das auch
wirklich stimmte und dann noch
einmal gefragt und so.“
(Frau D., schizophren erkrankt)
In den Augen der befragten
Patienten und Angehörigen ist das
mit der Schizophrenie verbundene
Stigma auf Wissensmangel über die
Erkrankung zurückzuführen. Noch
wesentlicher seien Unsicherheit und
Ängste im Umgang mit den Betroffenen und der Krankheit für die Stigmatisierung verantwortlich. Wie eine
Angehörige schildert:
„Unsicherheit würde ich sagen,
sehr viel Unsicherheit. Also, ich
merke das also im Freundeskreis,
dass sie, also, auch jetzt, meinetwegen nach drei vier Wochen
Rückmeldungen kommen, dass sie
sagen, ja wir wissen da gar nicht
recht mit umzugehen, wir bemühen
uns jetzt auch mal was nachzulesen
und jetzt stellen wir erst mal fest,
was es doch alles für Richtungen
gibt und wie viel Facetten diese
Krankheit hat ... Im Grunde was uns
eigentlich ein bisschen enttäuscht,
ist so diese Unsicherheit auch
unserem Sohn gegenüber, dass sie,
wir müssen sie fast auffordern und
sagen, ja ruf doch mal an. Was
sollen wir denn jetzt zu ihm sagen,
was sollen wir denn fragen?“
(Frau A., hat einen schizophren
erkrankten Sohn)
noch mal bestätigen, was vorher
schon gesagt worden ist, zum Teil
verweigert werden. Also, ich kenne
in einer Psychiatrie hier einen
Oberarzt, der hat gesagt, er redet
mit den Angehörigen grundsätzlich
nicht und bei Ihnen werde ich
auch keine Ausnahme machen.“
(Frau G., zwei ihrer
Kinder haben eine
schizophrene Erkrankung)
Die Mehrzahl der Befragten war
sich einig, dass eine akute psychotische Episode genüge, um als „verrkckt“ eingestuft zu werden. Das Stigma wiederum präge die soziale Identität und die Wahrnehmung der
Betroffenen in den verschiedensten
Interaktionssituationen.
Außerdem wurde über konkrete
Fälle von Diskriminierung berichtet.
So erlebten die schizophren Erkrankten Schwierigkeiten mit Vermietern
bis hin zur Kündigung des Mietverhältnisses nach Bekanntwerden der
Krankheit. In manchen Fällen wurden sie Fehlverhaltens und krimineller Handlungen bezichtigt. Patienten
berichteten, in ihrer Ungebung häufig
als „Sündenböcke“ zu dienen und als
erste für Missverhältnisse verantwortlich gemacht zu werden.
Stigmatisierung im Kontakt mit
professionellen Helfern und im Kontext der Behandlung war die zweithäufigste Form des im Bereich
der interpersonellen Interaktion.
Besonders die Angehörigen schilderten häufig, auf Ablehnung von Seiten
der behandelnden Psychiater zu stoßen und von der Behandlung ausgeschlossen zu sein. Oft träfe man in der
psychiatrischen Versorgung noch auf
die Vorstellung, dass falsche Erziehung für die Entstehung der Krankheit verantwortlich sei. Frau G., deren
Tochter an Schizophrenie erkrankt
ist, schildert ihre Erfahrung wie folgt:
Die Erkrankten fühlten sich in
Ihrer Beziehung zu den Ärzten in der
Klinik vor allen dadurch stigmatisiert, dass man ihrer Person und der
Vorgeschichte ihrer Erkrankung wenig Interesse entgegenbrachte und ihre
Bedürfnisse und Sichtweisen nicht
ernst nahm. Dies war besonders der
Fall, wenn die Erkrankten aufgrund
von somatischen Beschwerden in
Behandlung waren. Darüber hinaus
wurde erlebt, dass das Wissen um die
psychische Erkrankung des Patienten
dazu führte, dass körperliche Beschwerden weniger ernst genommen
wurden oder gleich eine Überweisung in die Psychiatrie veranlasst
wurde.
Ein weiterer Faktor, der als stigmatisierend erlebt wird und die sozialen Beziehungen der Erkrankten
negativ beeinflusst sind Nebenwirkungen der Medikamente wie z.B.
extrapyramidale Störungen und
Gewichtszunahme. Diese sichtbaren
Zeichen der Krankheit (oder der Tatsache, dass man sich in psychiatrischer Behandlung befindet) werden
in der Öffentlichkeit negativ bewertet
und bringen den Betroffenen in Verbindung mit allen mit psychischer
Krankheit assoziierten negativen
Attributen. Dies veranlasste Patienten, Kontakte zu anderen zu vermeiden, da sich die Krankheit nun nicht
mehr verbergen ließ und somit kein
wirksamer Schutz mehr vor den antizipierten ablehnenden Reaktionen
bestand.
Der zweite Bereich, in dem Stigmatisierung erlebt wird ist die strukturelle Diskriminierung. 21 % aller
Stigmatisierungserfahrungen waren
„..dann ist man so ganz
beschissen dran, sage ich jetzt
mal, wenn man von der Klinik
keine Information hat und auch die
Gespräche dort, ich muss das auch
Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht schizophrener Erkrankter ...
auf Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte in gesellschaftlichen Strukturen, politischen Entscheidungen
und gesetzlichen Regelungen zurükkzuführen. Dabei wird die Qualität
der psychiatrischen Versorgung als
stärkste Form der strukturellen Diskriminierung
wahrgenommen.
Patienten und Angehörige erleben
gleichermaßen einen Mangel am
gemeindenahen Versorgungseinrichtungen. In diesem Zusammenhang
wird besonders die Notwendigkeit
ambulanter Krisendienste hervorgehoben und der Wunsch zum Ausdruck gebracht, die Prävention psychischer Krisen stärker in den Vordergrund zu stellen, anstatt den Schwerpunkt allein auf die stationäre
Akutversorgung zu legen. Die
Erkrankten fühlten sich auch durch
den Eindruck stigmatisiert, dass es
nur eine Standardbehandlung für
jedermann gibt. In den Augen der
Befragten wird individuellen Bedürfnissen und persönlichen Lebensgeschichten innerhalb ihrer Behandlung
nicht genug Raum gegeben. Pauschalisierende Aussagen von Psychiatern
wie z.B. „Sie haben Schizophrenie.
Sie werden für den Rest Ihres Lebens
krank sein.“ seien auch heute noch an
der Tagesordnung.
Die Situation der psychiatrischen
Versorgung wird teilweise durch die
unausgewogene Verteilung von
Ressourcen im Gesundheitswesen
verursacht. Nach Meinung der
Befragten ist der psychiatrische
Bereich in Debatten über Ausgaben
benachteiligt. Die ihm zur Verfügung
stehenden Mittel sind knapp bemessen und hauptsächlich für einen eng
definierten, stark an der somatischen
Medizin orientierten Versorgungsbereich vorgesehen: die pharmakologische Behandlung und organische
Diagnoseverfahren: „Ein CT wird
schnell mal gemacht, da fragt niemand, ob das denn notwendig sei und
wo das Geld dafür herkommen soll“.
Auf der anderen Seite wird die
Kostenübernahme durch die Krankenversicherung für speziell auf psychisch Kranker zugeschnittene Ange-
bote wie Psychosentherapie oder die
gemeindepsychiatrische Versorgung
als äußerst schwierig beschrieben.
Auch in der medikamentösen
Behandlung verhindert die Arzneimittelbudgetierung bei niedergelassenen Nervenärzten oft, dass die teureren atypischen Neuroleptika, die mit
weniger Nebenwirkungen behaftet
sind und damit auch zur Reduzierung
der sichtbaren Stigmatisierung beitragen könnten, verordnet werden.
Wertvorstellungen in der Gesellschaft wie Leistungsbereitschaft und
Wettbewerbsorientierung tragen zusätzlich zur Stigmatisierung schizophren Erkrankter bei. Durch die
allgemeine Ausrichtung auf wirtschaftlichen Erfolg, Flexibilität und
Aktivität wird es psychisch kranken
Menschen besonders schwer gemacht, die vorherrschenden Kriterien
für soziale Anerkennung und Integration zu erfüllen. Eine schizophren
erkrankte Frau beschreibt das als
„...ein Spiel, wer schneller
durchdreht, wer sich verrät. Und
bei psychisch Kranken ist das so,
dass die normalerweise sensibler
sind als die anderen und reagieren
vielleicht heftiger und dann sind die
dran. Dann können sie sich nicht
durchsetzen. Das ist ein Teufelskreis.
Wir kommen nicht da raus.
Es hängt davon ab, wer
schneller durchdreht.“
(Frau M., psychosekrank)
Die hohen Leistungsanforderungen und die Vorstellung, dass psychisch Erkrankte nicht in der Lage
sind, diese zu erfüllen wirken sich
besonders negativ auf ihre Position
auf dem Arbeitsmarkt aus.
Ein weiteres Feld der Stigmatisierung schizophren Erkrankter ist das
Bild psychischer Erkrankungen in
der Öffentlichkeit (20 %). Das Vorherrschen negativer Vorstellungen
und Stereotypen über die Schizophrenie in der öffentlichen Meinung wird
nicht allein als Ursache der Stigmatisierung wahrgenommen, sondern als
direkt diskriminierend und verletzend
82
empfunden. Die Gegenwart dieses
negativen öffentlichen Bildes ist Teil
des Stigmaerlebens. Die Schilderungen der Befragten zeigen, dass das
Wissen um die Präsenz von Vorurteilen zu einer Vermeidung sozialer
Kontakte aufgrund von vorweggenommener Stigmatisierung führt.
Das öffentliche Bild psychischer
Erkrankungen und insbesondere der
Schizophrenie wird geprägt durch die
Vorstellung, dass die psychisch Kranke grundsätzlich zu Gewalttätigkeit
neigen und daher gefährlich sind. Die
befragten Patienten und Angehörigen
machen die Medien für die Verbreitung dieses Bildes verantwortlich.
Für den Großteil der Bevölkerung
sind Presse, Fernsehen und Spielfilme oft die einzige Informationsquelle
über psychische Erkrankungen („Die
haben ihr Wissen aus der BILD-Zeitung oder aus dem Fernsehen ...“).
Dort finden sich Darstellungen
besonders schrecklicher, offensichtlich unmotivierter Verbrechen, bei
denen die Krankheit als Erklärung für
das scheinbar Unerklärliche dient
(...“alles was sie wissen ist das eine
Schizophrene am Heiligabend in der
Kirche eine Handgranate gezündet
hat ...“). Mit diesem Schwerpunkt
der Berichterstattung verstärken die
Medien negative Stereotypen und
schüren Ängste in der Bevölkerung.
Folgender Ausschnitt aus der Diskussion zweier schizophren Erkrankter
macht diesen Zusammenhang deutlich:
Frau C: Ja, dann kapier´ ich
einfach nicht, warum man nicht,
äh, äh, es gibt so oft im Fernsehen
Berichte, äh, Familie erschossen,
Mann hatte Psychose, war psychisch
krank, und das kannst, das kommt in
der Presse vor, die Meldungen
kommen in der Presse vor, die
kommen exklusiv –
Frau D: Schreckensmeldungen
Frau C: – und deswegen ham
die Leute auch Berührungsängste
mit psychisch Kranken.
83
Schulze und Angermeyer
Ein zweites wichtiges Element
des Bildes in der Öffentlichkeit ist,
dass psychische Erkrankungen mit
geistiger Behinderung gleichgesetzt
werden. „Die Leute denken wir sind
blöde ...“ sagt eine schizophren
erkrankte Frau. Für die Patienten hieß
die Diagnose Schizophrenie gleichzeitig, von ihrer Umwelt für inkompetent und geistig minderbemittelt
gehalten zu werden – was nicht
zuletzt dem entsprechenden Vorurteil
in der Bevölkerung geschuldet sein
dürfte.
Schließlich trägt auch die öffentliche Sichtweise auf die psychiatrische
Versorgung zur von den schizophren
Erkrankten und ihrer Angehörigen
erlebten Stigmatisierung bei. Obwohl
sich die Psychiatrie mit der Einführung moderner Psychopharmaka und
der gemeindepsychiatrischen Reform
entscheidend verändert hat wird die
Psychiatrie weiterhin und hartnäckig
mit dem Bild der „Klapse“ in Verbindung gebracht:
„... na ja, auch so, wie man
im Film sieht. Was weiß ich,
Gitter vorm Fenster, und die Leute
sind ans Bett angebunden und was
weiß ich. Also, ich denke, dass ist
was den Leuten in den Köpfen rumgeistert, draußen, die von
Psychiatrie nicht viel wissen.“
(Herr L., schizophren erkrankt)
In der Folge erscheinen Zwangsmaßnahmen und stationäre Unterbringung in den Augen der Öffentlichkeit die angemessenste Art des
Umgangs mit schizophren Erkrankten zu sein. Durch diese Sichtweise
auf die Psychiatrie werden die Kranken indirekt stigmatisiert: wer eine
solche Behandlung braucht muss
schon große Probleme haben, und
man sollte ihn/sie besser meiden oder
gleich „wegschließen“.
Die Trennung psychischer Krankheit von körperlichen Erkrankungen
in der öffentlichen Diskussion ist ein
weiteres Anzeichen für den Ausschluss psychischer Erkrankungen
aus der allgemeinen Debatte zu
Gesundheitsfragen. Die Befragten
beklagen, dass es kaum Informationen oder Beratung zu psychischen
Krankheiten gibt, während zu körperlichen Erkrankungen wie Diabetes,
Bluthochdruck oder HIV großangelegte Aufklärungskampagnen stattfinden. Auch in den Medien ist diese
Unterscheidung festzustellen: somatische Krankheiten sind Thema von
Gesundheitsmagazinen, zu ihnen gibt
es Expertengespräche und Beiträge
auf den Gesundheitsseiten der Tagespresse, während psychische Krankheiten weitestgehend außen vor bleiben. Hierbei muss man jedoch zwischen den einzelnen Störungsbildern
unterscheiden: Depressionen und
Angststörungen werden zunehmend
akzeptiert, und das Medieninteresse
an diesen Erkrankungen steigt. Das
Bild der Schizophrenie hingegen
bleibt in den Medien mit negativen
Attributen wie Unberechenbarkeit
und persönlichem Fehlverhalten
assoziiert. Wie einer der befragten
Patienten es ausdrückte „Sogar Prinzen erlauben sich mal eine kleine
Depression, aber Schizophrenie ...
das heißt irre, verrückt“.
Der vierte Bereich der Stigmatisierung schizophren Erkrankter liegt
in einer Behinderung des Zugangs
zu sozialen Rollen durch die Krankheit. 11 % aller in den Fokusgruppen
zur Sprache gebrachten Stigmatisierungserfahrungen betrafen den Ausschluss von wichtigen Rollen in
Familie, Partnerschaft und Beruf. Am
häufigsten wurde davon berichtet,
dass die Schizophrenie als Hindernis
zu arbeits- und berufsbezogenen Rollen wirkt. Die Rückkehr an den
Arbeitsplatz nach einer Erkrankungsphase wird häufig von kritischen
Bemerkungen, Misstrauen oder der
Aberkennung von vorher unter
Beweis gestellten Fähigkeiten begleitet. Nicht selten bekämen die
Erkrankten Kommentare wie „Ohne
Dich lief alles viel besser“ zu hören.
Unter solchen Umständen sind Menschen, die an einer Schizophrenie leiden oft die ersten, die ihren Arbeitsplatz verlieren.
Die Beschäftigungssituation von
Psychosekranken wird zudem von
der Frage geprägt, ob sie potentielle
Arbeitgeber über ihre Krankheit
informieren sollen oder nicht. Ehrliche Angaben über eine psychiatrische
Vorgeschichte auf Bewerbungsformularen oder in Vorstellungsgesprächen haben in der Regel zur Folge,
dass die Anstellung gar nicht erst
zustande kommt, während das Verschweigen der Erkrankung die Entlassung aufgrund der nicht wahrheitsgetreuen Angaben nach sich ziehen
könnte. Ungeachtet dieses Risikos
empfehlen die meisten Befragten, die
Krankheit besonders bei der Stellensuche auf jeden Fall für sich zu behalten und längere Phasen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz mit
„Scheindiagnosen“ wie z.B. „Stoffwechselstörung“ oder „Erschöpfungssyndrom” zu begründen. Auf
die Frage hin, ob sein gegenwärtiger
Arbeitgeber von seiner Krankheit
wisse antwortete ein junger Mann
„Nein, ich kann auch niemandem
empfehlen, da etwas an der Arbeit
zu erzählen über die psychische
Krankheit, denn man kann schon
reden, wenn man vielleicht mal eine
Depression anspricht oder so.
Das wird noch so allgemein so
akzeptiert, aber wenn man dann
sagt eine Psychose, dann
um-Gottes-Willen und so.“
(Herr F., hat schizophrene
Psychosen erlebt)
Schwierigkeiten werden auch
dabei geschildert, einen Partner zu
finden oder eine bestehende Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Bei vielen
der Befragten haben der unvorhersehbare Verlauf der Erkrankung, die
zusätzlichen Belastungen und auch
die Ängste des Partners zur Trennung
geführt, die oft auch die Trennung
von den eigenen Kindern bedeutete.
So führt die Krankheit zu Schwierigkeiten, familiäre Rollen einzunehmen.
Weiterhin beschreiben die Befragten Probleme bei der Wohnungs-
84
Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht schizophrener Erkrankter ...
suche oder beim Aufrechterhalten
eines Mietverhältnisses. Das Verhältnis zum Vermieter ist oft konfliktbeladen einschließlich Verleumdungen,
Verdächtigungen auf Diebstahl,
Beschwerden der Nachbarn und
Anzeigen wegen Landfriedensbruch
(z.B. für lautes Musikhören). In einigen Fällen eskalierte die Situation
und endete mit Wohnungskündigung.
Das Stigmaerleben von
Patienten und Angehörigen im Vergleich mit
der Sicht der Mitarbeiter
in der psychiatrischen
Versorgung
Wie die Patienten und Angehörigen beschreiben auch die Mitarbeiter
in der psychiatrischen Versorgung
Stigma-Erfahrungen in den Bereichen interpersonelle Interaktion,
strukturelle Diskriminierung, Bild
psychischer Erkrankungen in der
Öffentlichkeit und eingeschränkter
Zugang zu sozialen Rollen. Allerdings haben die 4 Dimensionen für
die direkt von der Erkrankung Betroffenen und ihre professionellen Helfer
einen unterschiedlichen Stellenwert
(Abb. 2).
Interpersonelle Interaktion ist
für alle Befragten gleichermaßen der
wichtigste Bereich des Stigmaerlebens. Dessen ungeachtet schildern
Patienten und Angehörige deutlich
häufiger negative Erfahrungen im
direkten persönlichen Kontakt mit
anderen als die psychiatrischen Fachkräfte. Fast die Hälfte der von ihnen
geschilderten Stigmatisierungserfahrungen betreffen diesen Bereich.
Betrachtet man die Art der beschriebenen Stigmaerfahrungen innerhalb
der Dimension interpersonelle Interaktion ergeben sich weitere Unterschiede: Das Stigmaerleben der
Patienten und Angehörigen wird
hauptsächlich vom Verlust sozialer
Kontakte und der Tatsache, dass das
Wissen um die psychische Erkrankung die Wahrnehmung ihrer gesamten Person dominiert geprägt. Im
Gegensatz dazu betrachten die "Professionellen” die Verheimlichung der
Erkrankung und die damit verbunde-
ne Verzögerung der Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlung als
wichtigsten Aspekt der Stigmatisierung im Bereich interpersonelle Interaktion (s. [9]).
Das negative Bild psychischer
Erkrankungen in der Öffentlichkeit ist für die Mitarbeiter in der Psychiatrie von wesentlich größerer
Bedeutung als für Patienten und
Angehörige (34,4%). Dies könnte
darauf zurückzuführen sein, dass sie
als professionelle Helfer seltener mit
Stigmatisierung in direktem Kontakt
mit anderen konfrontiert sind und
Stigma vornehmlich in Bereichen
wahrnehmen, die auch sie selbst
betreffen. So sind auch die Rolle und
der Charakter von Psychiatern und
stereotypische Vorstellungen von der
psychiatrischen Behandlung Gegenstand negativer Mediendarstellungen
(e.g. [25]).
Stigmatisierung durch strukturelle Diskriminierung ist besonders
wichtig aus der Sicht der Angehörigen. Für sie ist die Qualität der psychiatrischen Versorgung ein Indiz für
die Anerkennung der Schizophrenie
als Krankheit und die Gleichberechtigung psychischer und somatischer
Abb. 2: Dimensionen der Stigmatisierung: die Sichtweise der Patienten und Angehörigen im Vergleich
zur Sicht der Mitarbeiter in der Psychiatrie
47,7
Interpersonelle Interaktionen
38,7
21,1
Stukturelle Diskriminierung
13,1
20,3
Bild psychisch Kranker in der Öffentlichkeit
34,4
10,9
Zugang zu sozialen Rollen
13,8
0
Patienten und Angehörige
20
40
60
80
Mitarbeiter der Psychiatrie
100
85
Schulze und Angermeyer
Erkrankungen. Die psychiatrischen
Fachkräfte erleben diesen Bereich als
weniger zentral für das Stigma der
Schizophrenie (13,1 %). Für sie stehen vor allem Fragen der Finanzierung von Versorgungsleistungen im
Mittelpunkt. Die ungleiche Position
von psychischen und körperlichen
Krankheiten finde ihren Ausdruck in
Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme für speziell auf schizophren
Erkrankte zugeschnittene Behandlungsangebote wie z.B. Psychosenpsychotherapie oder bestimmte Rehabilitationsprogramme. Oft sehen
sie sich harten Verhandlungen mit
Versicherungsträgern gegenüber, die
sich teilweise nicht für psychiatrische
Patienten zuständig betrachten, weil
diese Versorgungsangebote beanspruchen, die über die medizinische
Standardversorgung hinausgehen.
Der eingeschränkte Zugang zu
sozialen Rollen spielt für die Mitarbeiter in der psychiatrischen Versorgung eine größere Rolle als für die
befragten Patienten und Angehörigen
(13,8 %). Die psychiatrischen Fachkräfte erleben den negativen Einfluss
der Schizophrenie auf die Biographie
der Patienten vor allem bei ihrem
Versuch, die Erkrankten nach einem
Klinikaufenthalt beim Wiedereinstieg
ins Berufsleben zu unterstützten. Probleme ihrer Patienten auf dem
Arbeitsmarkt sind die häufigste von
ihnen geschilderte einzelne Stigmatisierungserfahrung. Besonders bei der
Bewerbung käme das Stigma zum
Tragen. Hier stünden Patienten vor
dem Dilemma, wie sie Falschangaben auf Bewerbungsbögen vermeiden könnten ohne dadurch Benachteiligungen zu erfahren. Bei vielen
Patienten führte die psychische Erkrankung langfristig zum Verlust
ihres Arbeitsplatzes. Um diese Situation zu vermeiden, so die befragten
Mitarbeiter, bitten Patienten immer
wieder um „Scheindiagnosen“ wie
z.B. „Erschöpfungssyndrom“ und
um Ratschläge, inwieweit sie ihre
Arbeitgeber über ihre Erkrankung
informieren sollen. Eine gängige Praxis, hier Unterstützung zu leisten sei
die Verwendung neutraler Klinikstempel auf dem Krankenschein, um
den Kontakt mit der Psychiatrie zu
verbergen.
Schlussbemerkung
Die meisten Stigmatisierungserfahrungen von schizophren Erkrankten und ihren Angehörigen werden im
Rahmen der direkten Interaktion mit
anderen gemacht. Aufgrund einer
schizophrenen Erkrankung erlebte
Benachteilungen gehen jedoch weit
über diesen Bereich hinaus. Stigmatisierung wird auch in strukturellen
Benachteilungen durch gesetzliche
Regelungen und politische Entscheidungen, der vorurteilsbehafteten Einstellung der Bevölkerung und der entsprechenden Darstellung psychisch
Erkrankter in den Medien, sowie in
der behindernden Funktion der Erkrankung beim Zugang zu sozialen
Rollen erfahren. Diese Erkenntnis
sollte die Planung von Projekten zum
Abbau von Stigma und Diskriminierung leiten.
Neben Information und Aufklärung der Öffentlichkeit sind Gesundheitspolitik und Versorgungsplanung
weitere wichtige Interventionsbereiche. Bei der Planung von Projekten
zum Stigmaabbau dürfen wir es allerdings nicht versäumen, vor der eigenen Haustür zu kehren. 22,3 % der
geschilderten Fälle - die größte Häufigkeit für einen Stigmatisierungsbereich überhaupt – betreffen stigmatisierendes Verhalten von Psychiatern
und anderen Mitarbeitern in der psychiatrischen Versorgung bzw. die (aus
der Sicht der Betroffenen und Angehörigen) schlechte Qualität des psychiatrischen Versorgungssystems.
Dies besitzt besonders für die Definition von Zielgruppen für Anti-Stigma-Interventionen Relevanz. Neben
Journalisten, Politikern, Schülern und
der breiten Bevölkerung sind hier
auch und besonders Ärzte und Pfle-
gepersonal anzusprechen. Darüber
hinaus sollte hinterfragt werden, ob
bestehende Versorgungsangebote und
Behandlungskonzept dem Bedarf
entsprechen und patientenzentriert
angelegt sind.
Darüber hinaus verweisen die im
Ergebnis unserer Studie gefundenen
Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von Stigmatisierung durch
Patienten und Angehörige einerseits
und der Mitarbeiter in der psychiatrischen Versorgung andererseits auf die
Notwendigkeit, auch bei der Stigmaforschung die Perspektive der Betroffenen stärker in den Mittelpunkt zu
rücken. Stigmatisierung wird von den
drei Gruppen vor dem Hintergrund
ihrer jeweiligen Alltagserfahrungen
und spezifischen Interessen betrachtet, die bei Patienten und Angehörigen wesentlich durch die direkte
Erfahrung der Erkrankung und ihrer
Konsequenzen geprägt wird. Durch
das Fehlen der Perspektive der
Betroffenen wurden bei der Definition des Stigma-Konzepts strukturelle Benachteiligungen als auch die
Rolle des negativen Bildes psychischer Erkrankungen in der Öffentlichkeit für das direkte Stigmaerleben
bislang vernachlässigt. Die vorliegende Studie ist ein erster Schritt
in Richtung der Gewinnung eines
umfassenderen Verständnisses davon, wie sich das mit der Schizophrenie verbundene Stigma auf die
Lebensqualität und das Selbstwertgefühl der Patienten auswirkt und ihre
Chancen beeinflusst, von einer optimalen Behandlung und Förderung zu
profitieren. Zudem erlauben die
unterschiedlichen Sichtweisen der
Patienten und Angehörigen einerseits
und der psychiatrischen Fachkräfte
andererseits, Aspekte der Stigmatisierung zu erfassen, die von einer Gruppe allein unter Umständen nicht
wahrgenommen werden.
86
Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht schizophrener Erkrankter ...
about mental disorders: a limiting factor
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Epidemiologie
Morgan, D.: Focus groups as qualitative research. (Qualitative research
D-04317 Leipzig
Klinik für Psychiatrie
Evaluationsforschung und
Johannisallee 20
[email protected]
88
REZENSION
Rezension
J. Guimón, W. Fischer, N. Sartorius (Editors):
The Image of Madness – The Public Facing Mental Illness
and Psychiatric Treatment
Karger, Basel 1999. ISBN 3-8055-6846-0
Dieses Buch – ein Mehrautorenwerk – gibt einen recht guten Einblick in den Stand der wissenschaftlichen Bearbeitung von Stigma und
Diskriminierung mit welchen psychische Erkrankungen, psychisch Kranke und deren Behandlung stark beladen sind.
Bis vor kurzer Zeit wurde – von
einigen Ausnahmen abgesehen – seitens der Psychiatrie die Einstellungsforschung stiefmütterlich behandelt.
Die von der Weltpsychiatrischen Vereinigung (WPA) ins Leben gerufene
Kampagne „Open the Doors –
Against Stigma and Discrimination
because of Schizophrenia“, der sich
bereits viele Länder aus verschiedenen Erdteilen angeschlossen haben,
scheint nun langsam auch der Psychiatrie die Augen zu öffnen: Vorurteile
und Diskriminierung – wie Norman
Sartorius in seinem Beitrag ausführt –
haben negative Auswirkungen auf
Patienten, ihr soziales Umfeld, die
Behandlung, den Behandlungsverlauf und die Entwicklung der Psychiatrie.
In diesem Buch kommen Proponenten der Einstellungsforschung,
wie M.C. Angermeyer, A. Finzen
oder H. Hillert mit wichtigen Arbeiten aus ihrem wissenschaftlichen
Oeuvre zu Wort. Zudem finden sich
auch interessante Studien von
Arbeitsgruppen aus Genf und
Lausanne, die für die Einstellungsforschung als grundlegend zu
betrachten sind.
Thematisch setzt dieses Buch drei
Schwerpunkte:
• Ein Kapitel widmet sich empirischen Untersuchungen und
grundsätzlichen Überlegungen
zur sozialen Repräsentanz psychischer Erkrankungen und ihrem
Image in der Bevölkerung.
• Ein kurzer Abschnitt stellt Strategien vor, die für eine Entstigmatisierung nützlich sein können. In
diesem Rahmen werden u.a. die
dem WPA-Programm zu Grunde
liegenden Überlegungen ausgeführt. Auch wird die Sichtweise
von Patienten und ihren Familien
bezüglich Stigmatisierung und
Diskriminierung berücksichtigt.
Dies ist auch deshalb von Bedeutung, da in der Begegnung von
Vorurteilen und Ausgrenzung alle
von psychischer Erkrankung
„Betroffenen“, d.h. Patienten, ihre
Familien sowie Experten gemeinsam „an einem Strang“ ziehen
sollten.
• Ein größeres Kapitel befasst sich
mit den Einstellungen zur psychiatrischen Behandlung bzw. verschiedenen Behandlungsverfahren wie sie in der Bevölkerung
anzutreffen sind. Dies ist ein
wichtiger Aspekt mit dem sich die
Psychiatrie in Zukunft stärker
auseinandersetzen müßte. Aus
verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird durch diese Beiträge
deutlich, dass zwischen den Lehrmeinungen der Psychiatrie und
den Meinungen der Bevölkerung
gravierende, die Behandlung behindernde Diskrepanzen bestehen. Vor dem Hintergrund des
Meinungsbildes, besonders hinsichtlich der Psychopharmaka, ist
Handlungsbedarf geboten, vorhandene negative Einstellungsstereotype zu verändern. Auch
sollten vor diesem Hintergrund
unsere gängigen Auffassungen
bezüglich der Compliance von
Patienten neu überdacht werden.
Obwohl diese Publikation in
einem höheren Preissegment angesiedelt ist, bietet sie vor allem jenen,
die an dieser Thematik wissenschaftlich interessiert sind, einen guten
Überblick über den Stand des Wissens (aber auch des Nichtwissens).
Hinweise auf wertvolle methodische
Grundlagen, relevante Literaturzitate
und ein Index, der die rasche Orientierung erleichtert, runden die
Qualität dieses Buches ab.
Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise,
Innsbruck
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 89 – 92
Soziale Distanz von an Schizophrenie
Erkrankten gegenüber psychisch Kranken
Christine De Col1, Peter Gurka1, Eckehart Madlung-Kratzer3,
Georg Kemmler1,2, Harald Meller2 und Ullrich Meise1,2
1Univ.-Klinik für Psychiatrie, Innsbruck,
2Gesellschaft für Psychische Gesundheit Tirol, Innsbruck
3Psychiatrisches Krankenhaus des Landes Tirol, Hall i. T.
Schlüsselwörter
Soziale Distanz – Krankheitskonzept –
Einstellung – Schizophrenie
Erkrankte sich in ihrer Bereitschaft
zum sozialen Handeln gegenüber
psychisch Kranken nicht von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.
Key words
social distance – concept of illness –
attitudes – schizophrenia
Soziale Distanz von an schizophrenie Erkrankten gegenüber
psychisch Kranken
Anliegen: In dieser Studie untersuchten wir die Bereitschaft zum
sozialen Handeln von schizophren
Erkrankter gegenüber psychisch
Kranken.
Methode: 50 PatientInnen mit
schizophrenen Störungen sowie 57
Medizin- und PsychologiestudentInnen wurde eine Vignette, die einen
Wahnkranken zeichnet, vorgelegt.
Anhand von Fragebögen sollten sie
angeben, wie sie dieser Person in verschiedenen Situationen gegenüber
handeln würden und welche Emotionen diese bei ihnen auslöst. Den
Patienten wurde zudem eine Skala
zur Erfassung des Krankheitskonzeptes vorgelegt.
Ergebnisse: Hinsichtlich der,
gegenüber in der Vignette beschriebenen Person angegebenen sozialen
Distanz sowie des Einflusses der
emotionalen Reaktionen auf die
Bereitschaft zum sozialen Handeln,
gab es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Patienten und Studenten; die Antworten von Patienten
standen in keiner Beziehung zu deren
Krankheitskonzept.
Schlußfolgerung: Die Studie liefert den Hinweis, daß schizophren
Sozial distance of patients
with schizophrenia towards mentally ill
Objective: To examine the willingness to social acting in patients with
schizophrenia facing a case of psychiatric disorder (vignette).
Methode: We recruited 50
patients diagnosed with schizophrenia (DSM-IV) and 57 students of
medicine and psychology who were
confronted with a clinical vignette
about a male subject suffering from
paranoia. Emotions towards the person characterized by the vignette and
social distance were assessed by
means of two different questionnaires. In addition patients had to fill in a
scale on their personal concept of illness.
Results: Patients with schizophrenia did not differ significantly
from control subjects in their social
distance to the paranoid subject described in the vignette. They also, did
not differ from controls regarding
their emotions toward the vignette.
The concept of illness did not have an
impact on patients´ answers.
Conclusion: Our data give hints
that there are no major differences
between patients with schizophrenia
and general population regarding
their willingness to social acting
toward mentally ill.
Einleitung
Den Einstellungen und Haltungen
der Bevölkerung zu psychiatrischen
Themen werden erhebliche Auswirkungen auf die psychiatrische Versorgungspraxis zugeschrieben [12].
Durch Korrektur von Vorurteilen
erwartet man unter anderem mehr
Unterstützung beim Ausbau gemeindenaher Versorgungseinrichtungen.
Obwohl die subjektive Sicht von
Betroffenen z.B. im Rahmen der
Lebensqualität, Behandlungsbewertung oder Krankheitstheorien in der
psychiatrischen Praxis zunehmend an
Bedeutung gewinnt [11] sind Untersuchungen wie psychisch Kranke
gegenüber psychisch Kranken eingestellt sind rar. Vor dem Hintergrund
der Opinion-Leader Theorie [4], nach
der den Haltungen von Personengruppen (z.B. aus Gesundheitsberufen), die in Hinblick auf psychiatrische Themen meinungsführend sind
und die Informationskanäle „kontrollieren“, eine zentrale Bedeutung
zukommt, müßten Betroffene auch zu
diesen „Meinungsführern“ gezählt
werden. Dies würde auch dem Empowerment-Konzept entsprechen [16]
demnach eine verstärkte Selbstbestimmung und Qualifizierung von
Nutzern psychiatrischer Dienste
sowie ein partizipativer Behandlungsstil gefordert wird.
90
De Col, Kemmler, Gurka, Madlung-Kratzer, Meller und Meise
positive Gefühlszustände, die bei der
persönlichen Begegnung mit psychisch Kranken auftreten, erfaßt
werden sollen [21]. Das Krankheitskonzept wurde mit einer für schizophren Erkrankte entwickelten Skala erhoben [8]. 7 Krankheits-Konzeptdimensionen beurteilen darin die
Meinungen, Erklärungen und Vorhersagen eines Menschen hinsichtlich
der Störung seines Gesundheitszustandes.
An der Befragung nahmen 50
Patienten (46 mit schizophrener, 4
mit schizoaffektiver Störung nach
ICD 10) teil. Die Geschlechtsverteilung war gleich (Alter: x = 31,1 ± 5,9
Jahre). Der erste Kontakt zu einer
psychiatrischen Institution erfolgte
bei den Patienten vor x 8,6 (± 6,3)
Jahren. Sie wiesen keine psychopathologische Symptomatik auf, die
eine solche Befragung verunmöglicht
hätte und standen alle in einer Einrichtung zur tagesklinischen oder
tagesstrukturierenden Behandlung.
Als Vergleichsgruppe dienten 57
Medizin- und Psychologiestundenten
(45 Frauen, 12 Männer: x = 24,3 ± 4,4
Fragestellung und
Methodik
Durch diese Befragung wollten
wir erfragen, ob und in welchem Ausmaß an Schizophrenie Erkrankte
gegenüber psychisch Kranken eine
Bereitschaft zum sozialen Handelnd
aufweisen. Als Vergleichsgruppe
dienten zukünftigte „Meinungsführer“: Medizin- und PsychologiestudentInnen. Weiters gingen wir den
Fragen nach, ob die Ergebnisse durch
emotionale Reaktionen, die psychisch Kranke bei den Befragten auslösen, bzw. durch das Krankheitskonzept der Patienten beeinflußt werden.
Patienten und Studenten wurde eine
Vignette vorgelegt, die das Bild einer
Person mit einer wahnhaften Störung
zeichnet [17]. Zur Messung der sozialen Distanz verwendeten wir die
Skala von Link [9]; 7 Fragen geben
einen Hinweis, inwieweit Befragte
psychisch Kranken gegenüber eine
Integrationsbereitschaft angeben. Zur
Erhebung von emotionalen Reaktionen verwendeten wir eine Liste mit
7 Aussagen, mit denen negative und
Jahre). In dieser Arbeit werden jene
Ergebnisse der Befragung berükksichtigt, die zu Beginn der Psychiatrievorlesung gewonnen wurden.
Ergebnisse
In Abb. 1 ist die Bereitschaft zum
sozialen Handeln von Patienten und
Studenten gegenüber einem in der
Fallvignette beschriebenen Wahnkranken dargestellt. Bei zwei der insgesamt 7 im Fragebogen beschriebenen (hypothetischen) Situationen –
„Würden Sie diese Person für eine
Arbeitsstelle empfehlen?“ sowie
„Würden Sie diese Person einem
Freund vorstellen?“ – bestand ein
statistisch signifikanter Unterschied
in jeweils unterschiedliche Richtung.
Der Gesamtscore-Mittelwert betrug
bei Patienten 3,35, bei Studenten 3,19
(p = 0,189); es bestand kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen. Die beiden
Abb. 1: Soziale Distanz
Würden Sie X akzeptieren als ...? Würden Sie X ...?
Babysitter
Schwager/Schwiegersohn
für Arbeit empfehlen
Untermieter
Nachbar
Arbeitskollege
einem Freund vorstellen
1
2
uneingeschränkt ja
3
4
uneingeschränkt nein
schizophren Erkrankte
* signifikanter Unterschied zwischen Studenten und schizophren Erkrankten:
p<0,05 (adjustiert für Alter und Geschlecht)
Studenten
5
Soziale Distanz schizophren Erkrankter gegenüber psychisch Kranken
Gruppen unterschieden sich nicht signifikant in Hinblick auf emotionale
Reaktionen (Subskalen: „positive Reaktionen“, „negative Reaktionen“),
die durch die Vignette ausgelöst wurden. Der Einfluß emotionaler Reaktionen auf die soziale Distanz wurde
mittels multipler Regressionsanalyse
untersucht. Es zeigte sich, daß die
soziale Distanz durch negative Reaktionen signifikant erhöht und durch
positive Reaktionen signifikant verringert wird, und zwar in beiden
Gruppen gleichermaßen. Hinsichtlich
der, in der Krankheitskonzept-Skala
aufgeführten Dimensionen bestanden
bei Patienten keine Korrelationen zur
sozialen Distanz.
Diskussion
Nach den wenigen, zumeist in den
60er Jahren, durchgeführten Studien
gibt es Hinweise, daß psychisch
Kranke sich in ihren Einstellungen
gegenüber psychisch Kranken von
der Normalbevölkerung nicht unterscheiden [2] bzw. sich ihnen gegenüber genauso ablehnend verhalten
[20]. Aus der Untersuchung von
Angermeyer und Matschinger [1] zur
sozialen Distanz der Bevölkerung
geht hervor, daß Befragte, die angaben selbst einmal in psychiatrischer
Behandlung gestanden zu sein, „eine
überraschend starke Distanz“ gegenüber psychisch Kranken aufwiesen.
Berücksichtigt man weiter das Ergebnis der Einstellungsuntersuchung von
Rössler und Mitarbeiter [13] so zeigt
sich, daß Medizinstudenten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
„keine positiveren Einstellungen“
aufwiesen. Das Ergebnis, der von uns
befragten StudentInnen war jenem
dieser Studie sehr ähnlich. Diese
Zusammenschau führt zum Schluß,
daß schizophren Erkrankte gegenüber einem, mittels einer Vignette
beschriebenen Wahnkranken, eine
der Allgemeinbevölkerung vergleich-
bare soziale Distanz aufweisen. Ihr
Ausmaß wird auch in unserer Untersuchung sehr wesentlich von den
emotionalen Reaktionen, die dieser
Mensch bei den Befragten auslöst,
beeinflußt [1]. In beiden Gruppen
wurde durch negative Reaktionen die
soziale Distanz erhöht und durch
positive verringert. Dabei ist jedoch
zu berücksichtigen, daß die verbalen
Reaktionen auf die in Fragebögen
dargestellten Situationen keine Aussage über das tatsächliche Verhalten
zulassen [19], sondern lediglich die
Bereitschaft in dieser Form auch tatsächlich zu handeln, hinweisen.
Unser Ergebnis muß auch vor dem
Hintergrund dieser selegierten Gruppe von Langzeitkranken gesehen
werden und läßt sich somit nicht verallgemeinern. Außerdem gehören
schizophren Erkrankte zu einer Gruppe, denen im Vergleich zu anderen
psychisch Kranken eine deutlich
höhere soziale Distanz entgegengebracht wird [1].
Dazu einige Belege: Der Krankheitsname Schizophrenie ist mit
einem hohen Grad an Stigmatisierung
vergesellschaftet [3]. Das Unwissen
hinsichtlich der Merkmale dieser Störungen, die von der (gebildeten)
Öffentlichkeit in der Regel in "Spaltungen der Persönlichkeit” gesehen
werden, ist groß [7]. Auch in medizinischen Fachkreisen halten sich hartnäckig Mythen, daß Schizophrenie
unheilbar bzw. unbehandelbar sei [5].
Der Krankheitsname hat als umgangssprachlicher Begriff Eingang in
den Duden gefunden und wird auch
in Printmedien verwendet, um die
innere Widersprüchlichkeit, Zwiespältigkeit oder die Unsinnigkeit von
Handeln hervorzuheben [6]. In Filmen werden Menschen mit psychotischen Störungen oft als unberechenbar, gewalttätig oder diabolisch porträtiert; solche Darstellungen werden
häufig in Fernsehprogrammen gesendet [18]. In der extremen Stigmatisierung und Diskriminierung, die schizophren Erkrankte erfahren (sie wird
als ein wesentliches Hindernis für die
soziale Integration dieser Menschen
91
angesehen [10]) könnte eine Erklärung für dieses unerwartete Ergebnis liegen. Die Beschreibung eines
Menschen, der eine Symptomatik
aufweist, die Patienten mit ihrer eigenen Störung bzw. Diagnose in Beziehung setzen, kann bei ihnen Abwehr
bzw. Verleugnung bewirken. Dadurch
laufen sie nicht Gefahr durch „SelbstLabelling“ mit den der Schizophrenie
zugeschriebenen Stereotypen übereinzustimmen, und die ihnen so zugeteilten Rollen (z.B. Gefährlichkeit,
Unfähigkeit, Wertlosigkeit, Unheilbarkeit) zu übernehmen [22].
Würden sie die mit diesem Stigma
vergesellschafteten Eigenschaften
akzeptieren, so könnte es geschehen,
daß sie im Sinne einer verminderten
Selbstwirksamkeitswahrnehmung
sich nicht mehr als fähig erachten,
über ihr Leben Kontrolle ausüben zu
können. Durch Stigmatisierung und
dem durch sie, wie zuvor beschrieben
ausgelösten Prozeß, kann sich jedoch
ein circulus vitiosus entwickeln, der
unter anderem Copingfähigkeit und
Compliance beeinträchtigt. Dies hat
gerade bei Störungen deren "Verlauf”
häufig mit einer hohen Rezidivneigung und der Entwicklung von sozialen Beeinträchtigungen vergesellschaftet ist, ungünstige Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der
Krankheit. Als eine Konsequenz
unseres Ergebnisses und dieser Erklärung erscheinen Interventionen erforderlich, die in zwei Richtungen
gehen sollten.
Erstens sollten in der Behandlung
von Patienten der Krankheits- und
auch der Stigmabewältigung ein
höherer Stellenwert eingeräumt
werden.
Zweitens sind Aufklärung und
Öffentlichkeitsarbeit (nach „innen“
und nach „außen“) zur Entstigmatisierung dieser Krankheit und der
von ihr Betroffenen erforderlich. Diese Anti-Stigma-Arbeit sollte über den
Zeitraum der Kampagne [15] hinaus
ein wichtiges Projekt der Psychiatrie
werden [14]. Es ist jedoch zu bedenken, daß sich das mit der Krankheit
„Schizophrenie“ verwobene Stigma
92
De Col, Kemmler, Gurka, Madlung-Kratzer, Meller und Meise
im Sinne der Albert Einstein zugeschriebenen Feststellung – „It is harder to crack a prejudice than an atom“
– mittelfristig als „löschungsresistent“ erweisen kann.
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Voges, B., W. Rössler: Beeinflußt die
gemeindenahe psychiatrische Versorgung das Bild vom psychisch Kranken
in der Gesellschaft? Neuropsychiat. 9
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Warner, R., D. Taylor, M. Powers, J.
Hyman: Acceptance of the mental illness label by psychotic patients: effects
on functioning. Am. J. Orthopsychiat.
59 (1989) 398-409
OA Dr. Christine De Col
Psychiatrische-Psychotherapeutische
Tagesklinik der Univ.-Klinik für
Psychiatrie, Innsbruck
Anichstraße 35
A-6020 Innsbruck
e-mail: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 93 – 98
Schizophrenie ...
„bedeutet für mich gespaltene Persönlichkeit“
Ein Programm gegen Stigmatisierung von Schizophrenie in Schulen
Hubert Sulzenbacher1, Rosi Schmid2, Georg Kemmler1, 2,
Christine De Col1 und Ullrich Meise1,2
1Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
2Gesellschaft für Psychische Gesundheit Tirol, Innsbruck
Schlüsselwörter
Schizophrenie – Einstellungen – Wissen –
Anti-Stigma-Programm
Key words
schizophrenia – attitude – knowledge –
anti-stigma-program
Schizophrenie ... „beudeutet
für mich gespaltene Persönlichkeit“ – Ein Programm gegen
Stigmatisierung von Schizophrenie in Schulen
Im Zuge einer Informationsveranstaltung an Allgemein-Höherbildenden Schulen wurden SchülerInnen
über schizophrene Erkrankungen
informiert. Es sollte in Erfahrung
gebracht werden, ob diese kurze
Lehrveranstaltung zu Veränderungen
der kognitiven Einstellungsdimension der SchülerInnen führt und ob
die Einbeziehung einer Betroffenen
im Unterricht diese beeinflusst.
Dabei wurden 57 SchülerInnen aus
drei Schulklassen (Gruppe A) durch
eine Betroffene und einen Psychiater,
57 SchülerInnen (Gruppe B) durch
eine Sozialarbeiterin und einen Psychiater informiert. Einige Tage vor
und einige Tage nach der Veranstaltung wurden die SchülerInnen gebeten, alle Gedanken, welche ihnen
zum Begriff „Schizophrenie“ einfielen, nieder zu schreiben. Die Ergebnisse dieser Befragung wurden auf
zwei Arten ausgewertet: Einerseits
wurden die einzelnen Antworten von
vier Expertinnen getrennt benotet,
andererseits ordneten wir die Antworten inhaltlichen Kategorien z. Es
stellte sich heraus, dass sich die
Benotung der SchülerInnen in Gruppe A (signifikant) deutlicher verbesserte als in Gruppe B. In beiden Grup-
pen und zu beiden Befragungszeitpunkten betrafen mehr als zwei Drittel aller Aussagen zur Schizophrenie
deren (vermeintliche) Symptomatik.
Die bei der ersten Befragung noch
sehr häufig vertretene Auffassung,
dass an Schizophrenie Erkrankte eine
„gespaltene Persönlichkeit“ aufweisen, trat nach der Informationsveranstaltung deutlich seltener auf. Dagegen nahm – folgt man der Beschreibung von Eugen Bleuler (1911) – von
der ersten zur zweiten Befragung die
Angabe „akzessorischer Symptome“
(z.B. akustische Halluzinationen,
Wahn) in beiden Gruppen zu. Nur in
der Gruppe A kam es bei der zweiten
Befragung zu einer deutlichen Zunahme von Angaben zu „Grundsymptomen“ (z.B. kognitive- und affektive
Störungen). Berücksichtigt man die
bereits publizierten Ergebnisse dieser
Studie, so erhärten sich die Hinweise,
dass in jener Gruppe, in welcher die
Informationsmittlung unter Mitarbeit
einer Betroffenen erfolgte, das Wissen über schizophrene Erkrankungen,
im Gegensatz zur anderen Gruppe
deutlich verbessert wurde.
Schizophrenia ... „to me this
means a split personality“ – A
school program aimed at fighting
the stigma of schizophrenia
In the course of the information
workshops in secondary schools,
pupils were informed about the illness of schizophrenia. The aim was to
find out whether such short workshops bring about a change in the cognitive attitudes among pupils and
whether the involvement of a patient
in the lessons would have any
influence. 57 pupils from three classes (group A) were informed by an
affected person and a psychiatrist, a
further 57 pupils (group B) by a social worker and a psychiatrist. A few
days before and after the workshop
the pupils were asked to write down
all the thoughts which they could
think of in relation to the term „schizophrenia“. The results of this request
were evaluated in two ways: On the
one hand the individual answers were
graded separately by four experts, on
the other the answers were categorised according to content in order to
reach results. The findings were that
the grades of the pupils in group A
were (significantly) better than those
of group B. In both groups and during
both questionnaire dates, more than
two thirds of all statements about
schizophrenia concerned its (supposed) symptoms. In response to the
first questionnaire the opinion was
frequently expressed that patients
suffering from schizophrenia had a
„split personality“, a view expressed
more seldom in the questionnaires
after the workshops. In contrast, the
number of references to what Eugen
Bleuler called in 1911 „accessory
symptoms“ (e.g. hallucinations, delusions) increased in both groups from
the first to the second time of completing the questionnaires. The second
time the questionnaires were completed, only group A showed a clear
increase in the responses to „essential
symptoms“ (e.g. affective and cognitive disorders).Taking into a account
the already published results of this
pilot study, there is strong evidence
that the knowledge of the experience
of schizophrenia and the difficulties it
causes for the affected were much
improved in the group in which an
affected patient was involved in the
workshop as opposed to the other
group.
Sulzenbacher, Schmid, Kemmler, De Col und Meise
Einleitung
Die negativen Auswirkungen des
Stigmas auf den Lebensvollzug und
die Behandlung von Menschen mit
schizophrenen Erkrankungen sind so
ausgeprägt, dass Asmus Finzen von
einer „zweiten Erkrankung“ spricht,
die als Folge von Stigmatisierung
entstehen kann [8]. Vor dem Hintergrund des Vulnerabilität-Stress Paradigmas [30] können die sozialen
Konsequenzen der mit dem Stigma
regelhaft verbundenen Diskriminierung [1] als Stressoren wirksam werden und so zu Erkrankungsrezidiven
beitragen. Benachteiligungen in verschiedenen Belangen der gesellschaftlichen Teilhabe [16, 24], negative Bewertungen und kränkende
Benachteiligungen [2, 13, 14, 28]
führen zur Beschädigung der Identität
von Betroffenen [9] und untergraben
Selbstvertrauen sowie Copingfähigkeit.
Für die österreichische Anti-Stigma-Kampagne „Schizophrenie hat
viele Gesichter – helfen statt ausgrenzen“ [26], die unter der Schirmherrschaft der weltweiten Initiative der
WPA (World Psychiatric Association)
„Open the doors – Reducing Stigma
and Discrimination because of Schizophrenia“ steht [25], wurden als
eine der landesweit durchzuführenden Aktivitäten Informationsveranstaltungen für Schüler AllgemeinHöherbildender Schulen formuliert.
Da bekannt ist, dass jüngere Menschen offener sind, bestehende Vorurteile zu überdenken, verknüpfen wir
mit dieser Initiative die Hoffnung,
dass die Haltung zukünftiger Opinionleader gegenüber psychisch
Kranken weniger von schädigenden
Stereotypen geleitet wird. Zudem
könnten diese jungen Erwachsenen in
ihrem sozialen Umfeld als Fürsprecher für psychisch Kranke fungieren.
Außerdem könnte im Falle, dass sie
selbst psychisch erkranken sollten,
ihre möglichen Vorbehalte, sich
rechtzeitig in Behandlung zu begeben, beseitigt werden. Sinn macht
diese Anti-Stigma-Arbeit in Schulen
jedoch nur, wenn sie über den
begrenzten Zeitraum der Kampagne
hinaus fortgeführt wird.
Da die Art und Weise, wie Information vermittelt wird, für den Erfolg
der Aufklärung wesentlich ist [10, 22,
23], haben wir in Tirol dem Schulprojekt eine Pilotstudie vorgeschaltet
[21]. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen recht deutlich, dass die
bei den Schülerinnen und Schülern zu
beobachtenden Einstellungsänderungen wesentlich ausgeprägter waren,
wenn sie von einer von der Erkrankung Betroffenen und einem Experten gemeinsam unterrichtet wurden.
Dagegen zeigte sich, dass Informationsvermittlung, wenn sie ausschließlich durch Experten erfolgte,
weniger geeignet war, bestehende
Einstellungen zu verändern.
Bereits 1962 haben Krech und
Mitarbeiter [19] in ihrem Definitionsvorschlag sozialer Einstellungen auf
drei wesentliche Dimensionen von
Einstellungen und deren systemhafte
Verbindung hingewiesen; demnach
würde eine Veränderung entweder
der kognitiven, der affektiven oder
der konativen Einstellungsdimension
eine Veränderung der beiden anderen
Dimensionen nach sich ziehen. Obwohl gezeigt werden konnte [3, 20,
27, 29], dass aus den Ergebnissen von
Einstellungsuntersuchungen nicht
ohne weiteres auf konkretes Verhalten geschlossen werden kann, wurde
das Bestehen eines Zusammenhangs
unseres Wissens nie grundsätzlich in
Frage gestellt.
Die kognitive Einstellungsdimension ist in der Einstellungsforschung
zur Schizophrenie insofern von Bedeutung, als das vermeintliche Wissen der Bevölkerung, aber auch der
Ärzte über die Erkrankung mit den
realen Fakten oder dem Fachkonsens
nur sehr bedingt übereinstimmt. Vorurteile und Fehlmeinungen gegenüber Menschen mit schizophrenen
Erkrankungen sind in unserer kulturellen Tradition tief verwurzelt [7].
Das Bild, welches die Gesellschaft
von Schizophrenien hat, ist von der
vermuteten Persönlichkeitsspaltung
94
der Betroffenen und der scheinbar
daraus auch resultierenden Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit
geprägt. Zudem hat der Krankheitsname Eingang in die Umgangssprache gefunden [6] und wird auch in
Printmedien synonym für „Widersprüchlichkeit“, „Zwiespältigkeit“,
„Unsinnigkeit“ oder „absurdes Verhalten“ verwendet [4, 14, 15]. Andere
mit der Schizophrenie vergesellschaftete Mythen, wie ihre vermeintliche
Unbehandelbarkeit oder Unheilbarkeit, sind nicht nur bei Laien, sondern
auch bei im Gesundheitswesen Tätigen häufig anzutreffen [12]. Das
Odium des deletären Verlaufes, das
dieser Erkrankung anhaftet, hat auch
seine Wurzeln in der Einteilung der
Psychosen durch Emil Kraepelin, der
in seinem Dichotomiekonzept endogener Psychosen zwischen jenen mit
günstigem Ausgang (Manisch-depressives Kranksein) und jenen mit
ungünstigem Verlauf (Dementia praecox) unterschied: Die Vorurteile von
heute sind oft die Lehrmeinung von
gestern oder vorgestern (A. Finzen).
[17]
Spätestens seit der Untersuchung
von Cumming und Cumming [5] ist
bekannt, dass durch Aufklärung
allein, also die ausschließliche Berücksichtigung der kognitiven Einstellungsdimension, bestehende Vorurteile nicht verändert werden können. Wichtig erscheint, mit von psychischer Erkrankung Betroffenen in
Kontakt zu kommen, um Fehlmeinungen korrigieren zu können. Da
das Wissen über schizophrene Erkrankungen und die davon Betroffenen äußerst gering ist bzw. falsches
Wissen besteht [10], ist es trotzdem
erforderlich, den Wissensstand über
schizophrene Erkrankungen zu verbessern. Da es zum Wesen von Vorurteilen gehört, dass diese kaum hinterfragt werden und schwer korrigierbar
sind, erscheint es von Bedeutung,
entsprechende „Anreize“ zu schaffen,
dass ein adäquates Wissen überhaupt
angenommen wird.
95
Schizophrenie ... „ bedeutet für mich gespaltene Persönlichkeit“
Fragestellung und
Methodik
Im Rahmen des Psychologieunterrichtes wurden sechs Schulklassen der siebten Schulstufe von Allgemein-Höherbildenden Schulen Themenbereiche zur Schizophrenie in
einem Block von zwei Unterrichtsstunden nähergebracht. In drei der
Klassen (Gruppe A) wurde diese
Information durch eine Betroffene
und einen Psychiater, in weiteren drei
Klassen (Gruppe B) durch eine Sozialarbeiterin und einen Psychiater vermittelt. Dazu wurde eine begleitende
Evaluation mit Hilfe von Fragebögen
durchgeführt, die in der Schulstunde
vor (Zeitpunkt 1) und in der Schulstunde nach der Informationsveranstaltung (Zeitpunkt 2) von den SchülerInnen ausgefüllt wurden. [21]
Nachdem die durch die Informationsveranstaltung verursachten Veränderungen in der affektiven Einstellungsdimension sowie der sozialen
Distanz der SchülerInnen bereits an
anderer Stelle [21] beschrieben wurden, untersucht die vorliegende
Arbeit die Vorstellungen der SchülerInnen von Schizophrenie und deren
Veränderungen durch die Informationsveranstaltung. Für diesen Zweck
wurden die SchülerInnen aufgefordert, alles, was ihnen zum Begriff
„Schizophrenie“ einfiel, in freier
Form – vor und nach der Informationsveranstaltung – niederzuschreiben.
Um nicht eine allzu selektive
Interpretation der Ergebnisse vorzunehmen, wählten wir zwei voneinander unabhängige Methoden der Auswertung: Einerseits wurden vier
Expertinnen (3 Psychiaterinnen, 1
Psychologin) gebeten, die Antworten
der befragten SchülerInnen zu benoten (wobei aus den vorgelegten Texten nicht ersichtlich war, von welcher
Person, aus welcher Gruppe der
jeweilige Text stammte bzw. ob er vor
oder nach der Informationsveranstaltung geschrieben wurde); so konnte
schließlich jedem der insgesamt 228
Antwortblöcke (114 SchülerInnen zu
zwei Zeitpunkten) eine Note zugeordnet werden, die dem Mittelwert
der Einzelnoten der vier Expertinnen
entsprach.
Andererseits versuchten wir, über
eine Kategorisierung der gegebenen
Antworten inhaltliche Unterschiede
zwischen den Gruppen A und B und
die Veränderungen der Antworten
durch den Einfluss der Informationsveranstaltung herauszufinden; es ist
evident, dass eine inhaltliche Kategorisierung freier Texte immer ein willkürlicher Akt ist (so kann der Ausdruck „zwiegespalten“ sowohl der
nicht zum Formenkreis der Schizophrenien gerechneten dissoziativen
Identitätsstörung als auch der von E.
Bleuler zu den Grundsymptomen
schizophrener Erkrankungen gezählten Ambivalenz zugeordnet werden).
In der Auswertung wurden nur jene
Aussagen berücksichtigt, die sich
einer Kategorie zuordnen ließen.
Dabei legten wir folgende Kategorien
fest: „Klassifikation der Schizophrenie“, „Häufigkeit“, „Ätiopathogenese“, „Verlauf“, „Therapie“, „Medien“, „Folgen für den Betroffenen“,
„Folgen für die Umgebung“, „persönliche Erfahrung mit Schizophrenie“ sowie drei Kategorien für Aussagen zur Symptomatik („falsch“:
Symptome, die nichts mit schizophrenen Erkrankungen zu tun haben;
unspezifische
Symptome
und
„Grund- sowie akzessorische Symptome“ nach E. Bleuler).
Ergebnisse
Insgesamt lagen vollständige Datensätze von 114 SchülerInnen vor, in
beiden Gruppen jeweils 57 SchülerInnen. Auffällig war der höhere
Anteil des weiblichen Geschlechts
(weiblich : männlich = 59,6 : 40,4 %),
was aber für die Gruppen A und B in
annähernd gleichem Ausmaß zutraf.
Das Alter der einzelnen Befragten lag
zwischen 16 und 19, das Durchschnittsalter bei 17,0 Jahren.
Benotung
Die Resultate der Benotung der
Schülerantworten durch die Expertinnen zeigt Abbildung 1. Die von den
vier Expertinnen gegebenen Noten
korrelierten zum Zeitpunkt 1 zwischen 0,40 und 0,65 (p in allen Fällen
< 0,01), zu Zeitpunkt 2 zwischen 0,56
und 0,81 (p in allen Fällen < 0,01).
Bei der ersten Befragung erreichten die SchülerInnen aus Gruppe B
(wurden durch zwei Experten informiert) eine etwas bessere Benotung
als jene aus Gruppe A, der Unterschied war allerdings nicht signifikant (p = 0,075). Bei der zweiten
Befragung hatten sich die Noten beider Gruppen verbessert; dabei fiel die
Verbesserung in Gruppe A (wurde
durch Betroffene und Experten informiert) im Vergleich zur ersten Note
deutlicher aus (p < 0,01) als in Gruppe B, in der die Verbesserung allerdings auch Signifikanzniveau erreichte (p < 0,05). Bei der zweiten
Befragung erreichte Gruppe A eine
bessere Benotung als Gruppe B, der
Unterschied erreichte allerdings
knapp nicht das Signifikanzniveau
(p = 0,057). Die Verbesserung der
Noten war allerdings in Gruppe A
signifikant (p < 0,01) deutlicher ausgeprägt als in Gruppe B.
Inhaltliche Kategorien
Die Befragung vor der Informationsveranstaltung erbrachte 329 Aussagen, die zweite Befragung 491 Aussagen zur Schizophrenie. Mehr als
zwei Drittel davon waren Beschreibungen der (vermeintlichen) Symptomatik schizophrener Erkrankungen.
Mehr als 10 % der verwertbaren
Aussagen entfielen sonst nur noch
auf die Klassifikation der Schizophrenie als „psychischer Krankheit“. Zu
allen anderen von uns verwendeten
Kategorien wurden zu beiden Befragungszeitpunkten jeweils weniger als
5% der Aussagen gemacht.
Die Veränderungen der Aussagen
zur Symptomatik sind in Abbildung 2
96
Sulzenbacher, Schmid, Kemmler, De Col und Meise
Abb. 1: Benotung vor und nach der Informationsveranstaltung
5
4,04
4
3,79
3,49
3,12
Note
3
2
1
Gruppe A
Gruppe B
0
Zeitpunkt 2
Zeitpunkt 1
Gruppe A: Information durch Betroffene und Psychiater
Gruppe B: Information durch Sozialarbeiterin und Psychiater
dargestellt. Die hier als „falsch“ bezeichneten Nennungen beschäftigten
sich praktisch ausschließlich (in
96 %) mit einer Persönlichkeitsspaltung. Diese Verwechslung der Schizophrenie mit der dissoziativen Iden-
titätsstörung trat bei der zweiten
Befragung in beiden Gruppen nur
mehr viel seltener auf (p in beiden
Gruppen < 0,01). Unter der Kategorie
„unspezifische und Grundsymptome“
wurden beispielsweise Angst, Isola-
tion, Rückzug, Verwirrtheit oder
diverse Affektstörungen oder IchStörungen subsumiert. Auffällig ist,
dass sich von der ersten zur zweiten
Befragung in Gruppe A die Nennungen in dieser Kategorie mehr als ver-
Abb. 2: Aussagen zur Symptomatik (nach E. Bleuler) vor und nach der Informationsveranstaltung
Gruppe A
Gruppe B
100
100
89
88
84
Anzahl der Nennungen
80
80
63
60
40
60
36
40
33
35
41
38
falsch
20
19
20
16
13
0
Akzessorische
Symptome
0
Zeitpunkt 1
Zeitpunkt 2
Grundsymptome
Zeitpunkt 1
Gruppe A: Information durch Betroffene und Psychiater
Gruppe B: Information durch Sozialarbeiterin und Psychiater
Zeitpunkt 2
Schizophrenie ... „ bedeutet für mich gespaltene Persönlichkeit“
doppelten (p < 0,01), während die
Anzahl der Nennungen in Gruppe B
kaum zunahm (p = 0,77), der Unterschied zwischen beiden Gruppen war
dabei signifikant (p < 0,01). In der
Kategorie der „akzessorischen Symptome“ wurden Halluzinationen,
Wahn oder auch katatone Störungen
zusammengefasst. Hier fällt auf, dass
bei der ersten Befragung in Gruppe B
diese produktiven Symptome dreimal
häufiger genannt wurden als in Gruppe A. Bei der zweiten Befragung hatte sich die Anzahl der Nennungen in
dieser Kategorie in beiden Gruppen
ausgeglichen. Die Zunahme in Gruppe A war dabei wieder signifikant (p <
0,01), in Gruppe B wurde das Signifikanzniveau knapp nicht erreicht (p =
0,06), was aber auf den höheren Ausgangswert zurückzuführen sein mag.
Zusammenhang zwischen
inhaltlichen Aussagen und
Benotung
Die Angabe „akzessorischer
Symptome“ war zu beiden Befragungszeitpunkten mit einer besseren
Benotung signifikant korreliert (t1: p
< 0,01; t2: p < 0,01). Auch die Angabe „unspezifischer und Grundsymptome“ ging bei beiden Befragungen
mit einer signifikant besseren Benotung einher (t1: p < 0,01; t2: p < 0,01).
Die Angabe "falscher” Symptome
hatte bei der ersten Befragung noch
einen signifikant nachteiligen Einfluss auf die Benotung (p < 0,05), bei
der zweiten Befragung war die
Notenverschlechterung nicht mehr
signifikant (p = 0,22).
Diskussion
Dass das Gelingen einer Informationsvermittlung über schizophrene
Erkrankungen sowohl vom Inhalt als
auch von der Art und Weise, wie diese angeboten wird, abhängt, konnte in
verschiedenen Untersuchungen belegt werden [11, 21, 22, 23]. In der
Auswertung zur kognitiven Einstellungsdimension unserer Pilotstudie
überraschte uns das Ergebnis, dass
sich die Benotung der Aussagen zur
Schizophrenie in jenen Klassen, bei
denen eine Betroffene am Unterricht
mitwirkte, deutlicher verbesserte als
die jener Klassen, die ausschließlich
durch Experten informiert wurden.
Wir – die Experten – waren der Meinung, wesentlich mehr Fachwissen
transportiert zu haben. In den Schulklassen, wo die Betroffene gemeinsam mit einem Experten unterrichtete, stand diese mit ihrer persönlichen
Biographie im Zentrum, wobei unserer Wahrnehmung nach die Information über schizophrene Erkrankungen
eher in den Hintergrund trat. Vergleicht man die Veränderung der von
den Expertinnen gegebenen Noten
(Abbildung 1) mit den Veränderungen in den inhaltlichen Kategorien
der Antworten (Abbildung 2), so ist
ersichtlich, dass die Abnahme der
Angaben „falscher“ Symptome vom
Zeitpunkt 1 zum Zeitpunkt 2 nicht die
Ursache dieses Notenunterschieds
sein kann, da diese in beiden Gruppen
sehr ähnlich ausfällt. Diese Abnahme
ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Aussage „Menschen mit
schizophrenen Störungen haben eine
Persönlichkeitsspaltung“ zum Zeitpunkt 2 deutlich seltener erfolgte.
Dies ist auch darauf zurückzuführen,
dass die Korrektur dieses Einstellungsstereotyps einen Fokus im Rahmen der Informationsveranstaltung
darstellte. Diese Fehlmeinung trifft
man besonders bei Menschen mit
höherem Bildungsstand häufiger an
[10, 15]. Bei näherer Betrachtung ist
dies nicht verwunderlich, da der von
Eugen Bleuler eingeführte Krankheitsname eine Neubildung aus dem
griechischen σχιζειν (spalten) und
ϕρην (Geist, Gemüt) darstellt. Sogar
in einem Standardwerk zur Etymologie [18] wird Schizophrenie als
„Bewusstseinsspaltung“ bezeichnet.
Die Zunahme der akzessorischen
Symptome nach Bleuler ist zwar in
Gruppe A viel stärker als in Gruppe
B, kann aber nur die schlechtere
Benotung der Gruppe A bei der
Befragung vor der Informationsver-
97
anstaltung erklären, nicht jedoch die
deutlich bessere Benotung dieser
Gruppe bei der zweiten Befragung.
Als wahrscheinliche Erklärung
bleiben somit nur die Grundsymptome übrig, die ja mit einer besseren
Benotung signifikant korrelierten und
in Gruppe A bei der zweiten Befragung viel häufiger genannt wurden
als bei der ersten, während sie in
Gruppe B in etwa gleich blieben.
Dass in der Gruppe A, also in jener
Gruppe, in der die Betroffene den
Unterricht wesentlich mitgestaltete,
verstärkt Grundsymptome schizophrener Erkrankungen vermittelt wurden, kann auf mehrere Ursachen
zurückgeführt werden. Zum einen
scheinen die beiden Experten in der
Gruppe B die paranoid-halluzinatorische Symptomatik als zentral für die
schizophrenen Störungen vermittelt
zu haben; dies entspricht der Gewichtung der Symptomatik in den zur Zeit
maßgeblichen Klassifikationssystemen, wie ICD-10 und DSM IV. Zum
anderen wurden seitens der Betroffenen den Schülerinnen und Schülern
der Gruppe A schwerpunktmäßig
Basisstörungen als subjektives Erleben schizophrener Vulnerabilität und
v. a. ihre Auswirkungen auf den
Lebensvollzug näher gebracht. Die
Darstellung der in einer akuten
Krankheitsepisode erlebten produktiven Symptomatik wurde eher vermieden. Diese wird häufig verdrängt oder
verschwiegen, da dieses Erleben u a.
oft mit Peinlichkeit und Scham vergesellschaftet ist.
Berücksichtigt man ein anderes
Ergebnis dieser Pilotstudie [21], nämlich, dass sich in Gruppe A gegenüber
der Gruppe B die soziale Distanz
gegenüber eines in der Vignette
beschriebenen fiktiven Mitschülers
mit einer schizophrenen Erkrankung
deutlich verbesserte, scheint es wichtig, im Rahmen einer Information
auch die Grundsymptome dieser Erkrankung und ihre Auswirkungen auf
den Lebensvollzug der Betroffenen
näher zu bringen. Diese könnten für
einen Außenstehenden wesentlich
nachvollziehbarer und einfühlbarer
98
Sulzenbacher, Schmid, Kemmler, De Col und Meise
sein, als es die produktive Symptomatik sein kann.
In der Gruppe (Gruppe A), in welcher die Informationsveranstaltung
unter Mitarbeit einer Betroffenen
erfolgte, hat sich somit das Wissen für
die häufig eine akute Krankheitsphase länger überdauernde Symptomatik, das subjektive Erleben und die
Schwierigkeiten, die eine schizophrene Erkrankung für den Betroffenen
verursacht, im Gegensatz zur anderen
Gruppe deutlich verbessert. Dies ist
ein weiterer Beleg, dass es wichtig
ist, der Gesellschaft die Möglichkeit
der Begegnung mit von schizophrenen Erkrankungen Betroffenen zu
eröffnen. Dadurch wird eine breitere
Innensicht der Erkrankung vermittelt
und eher Empathie geweckt, als wenn
die Informationsvermittlung ausschließlich durch Expertinnen erfolgt
bzw. das Hauptaugenmerk z.B. auf
die Darstellung „produktiver Krankheitssymptome“ gelegt wird.
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A. Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise
Psychiatrisch-Psychotherapeutische
Tagesklinik der Univ.-Klinik für
Psychiatrie, Innsbruck
Anichstraße 35
6020 Innsbruck
email: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 99 – 102
Behandlungsvorstellungen der Bevölkerung zu
Depression und Schizophrenie
Christoph Lauber, Carlos Nordt, Luis Falcato und Wulf Rössler
Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich
Schlüsselwörter
Depression – Schizophrenie – Einstellung
– Behandlung – Allgemeinarzt – Psychiater – Psychologe – öffentliche Meinung
Key words
Depression – schizoprenia – attitude –
treatment – general practitioner – psychiatrist – psychologist – public opinion
Behandlungsvorstellungen
der Bevölkerung zu Depression
und Schizophrenie
Im Rahmen einer repräsentativen
Bevölkerungsumfrage über psychische Erkrankungen in der Schweiz
wurde den Befragten in einer Vignette entweder ein schizophren oder
depressiv Kranker vorgestellt. Aus
einer Liste von 9 potentiellen Helfern
wollten wir wissen, welche empfohlen und von welchen abgeraten würde. Rund zwei Drittel erachteten
Psychologen und Hausärzte als hilfreich, weniger jedoch Psychiater und
psychiatrische Institutionen. Alternative und schulmedizinische Ansätze
wurden kontrovers betrachtet. Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den beiden Vignetten zeigen,
dass depressive Symptome deutlich
weniger im Krankheitsbereich angesiedelt wurden. Folglich wurden
weniger psychiatrische, sondern eher
alltägliche Bewältigungsstrategien
empfohlen. Aus dieser Untersuchung
können wir folgende Schlüsse ziehen:
(1) Das Bewusstsein, dass Depression eine Krankheit ist und deshalb
einer Behandlung bedarf, muss
geweckt werden. (2) Hausärzte und
andere im sozialen Bereich Tätige
müssen gezielt auf ihre Aufgabe als
erste Ansprechpersonen für Men-
schen in psychischer Not vorbereitet
werden.
Public’s Treatment Proposals
for Depression and Schizophrenia
Background: As psychiatric illnesses have a high life time risk, the
population has probably contact to
mental illness at some time. In this
context, the personal viewpoint concerning treatment possibilities is crucial as it influences the own compliance, the recommendations to the
affected, and the judgement of the
measures taken.
Method: In Switzerland we did a
representative
opinion
survey
(n=1737) on public attitude to mental
illness, psychiatric treatment, and the
institutions involved. The interviewees were presented with a vignette
depicting a case of either depression
or schizophrenia. Out of a list of 9
proposals we asked them to indicate
both all helpful and all harmful proposals.
Results: Two third favoured psychologists and general practitioners.
Psychiatrists and psychiatric institutions were regarded as less helpful.
Further, the public warned against
dealing alone with the situation. Alternative and standard psychiatric treatments are controversially discussed.
Distinctions made between the two
vignettes indicate that the depressive
person compared to the schizophrenic
was considered less pathological.
Conclusions: (1) The fact that
depression is a serious illness and,
therefore, requires a treatment must
be better communicated. (2) General
practitioners and those working in the
health system must be specifically
prepared for their task to be the first
contact person for people with mental
difficulties.
Einleitung
Die Lebenszeitprävalenz psychischer Krankheit ist hoch [1]. Somit
werden grosse Teile der Bevölkerung
eigene Erfahrungen mit psychischer
Krankheit oder irgendeinmal in ihrem
Leben Kontakt zu psychisch Kranken
haben. Es ist wichtig, die Einstellung
der Bevölkerung zu psychischer
Krankheit zu kennen, weil sie im Falle eigener Betroffenheit die Behandlungsbereitschaft beeinflussen, aber
auch wesentlich das weitere Umfeld
psychisch Kranker prägen wird. Die
Einstellung wird von verschiedenen
Faktoren bestimmt, wobei neben
soziodemographischen auch kulturelle und individuelle Variablen eine
Rolle spielen [2 – 5].
Obwohl psychische Krankheiten
wirksam behandelt werden können,
zeigt eine australische Studie, dass
Standardbausteine psychiatrischer
Therapie wie Psychopharmaka und
Elektrokrampftherapie von der
Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt
werden. Sogenannte alternative Heilmethoden, z.B. Yoga und Naturheilmittel, werden hingegen für wirksam
gehalten [6]. Eine Mehrheit in
100
Lauber, Nordt, Falcato und Rössler
Deutschland erachtet die Psychotherapie als geeigneten Therapieansatz,
weil damit psychische Erkrankungen
ursächlich behandelt werden könnten
[7]. Bei den möglichen Helfern werden bei Schizophrenen der Psychiater
und eine vertraute Person als erste
genannt, bei Depressiven werden
eine vertraute Person und der Hausarzt erwähnt [8].
Die Einschätzung, welche Hilfe
oder welcher Helfer in einer bestimmten Situation hilfreich sein
könnte, ist ein wesentlicher Faktor,
wenn Betroffene von Laien Ratschläge erhalten. Um darauf gezielt
Einfluss nehmen zu können, ist es
wichtig, die entsprechende Meinung
der Bevölkerung zu kennen. Deshalb
haben wir in der Schweiz eine Bevölkerungsumfrage über Einstellungen
zu psychischer Gesundheit, psychiatrischer Behandlung und psychiatrischen Institutionen durchgeführt.
Ausgehend von zwei Vignetten, die je
eine schizophrene und eine depressive Person darstellen, wollten wir von
den Befragten aus einer Liste von 9
potentiellen Helfern wissen, welche
sie empfehlen und von welchen sie
abraten.
würden. Folgende Helfer standen zur
Auswahl: Psychologe, Sozialarbeiter,
telephonische Beratung, Psychiater,
Naturheilpraktiker, Hausarzt, Pfarrer,
alleine mit der Situation zurechtkommen und eine Hospitalisation in einer
psychiatrischen Klinik. Um die Qualität der Aussagen zu verbessern, hatten wir den Befragten die Liste der
Helfer vor dem Interview zugeschickt.
Um signifikante Unterschiede
zwischen den Vorschlägen für die
depressive und die schizophrene Vignette zu finden, benutzten wir den
Chi-Quadrat-Test.
Resultate
Die Angaben aller 1737 Befragten
konnten ausgewertet werden. Die
prozentuale Verteilung der Antworten
wird in Tabelle 1 dargestellt. 68 %
sahen Psychologen, 57 % Hausärzte
und 51 % Psychiater als adäquate
Behandler. Helfende Berufe im weiteren Sinne wie Pfarrer und Sozialarbeiter sowie eine telephonische Beratung fanden bei etwas mehr als einem
Viertel Zustimmung. 15 % empfahlen
eine Hospitalisation in einer psychiatrischen Klinik. 65 % der Befragten
Tab. 2: Dissenswerte der Behandlungsvorstellungen
Psychiatrische Klinik
Naturheilpraktiker
Pfarrer
Telefonische Beratung
Sozialarbeiter
Psychiater
Hausarzt
Alleine zurechtkommen
Psychologe
Kein Ratschlag
0.27
0.22
0.19
0.13
0.09
0.09
0.05
0.04
0.03
0.00
rieten davon ab, dass jemand in der
geschilderten Situation alleine zurechtkommen soll. Ein Fünftel erachtete die Hospitalisation in einer psychiatrischen Klinik als nicht ratsam.
Um die umstrittensten Vorstellungen zu finden, wurde der Dissenswert
berechnet (Tabelle 2). Der Dissenswert z (0 ≤ z ≤ 1) wird folgendermassen berechnet: (x:y):(x+y), wobei
x < y. Er ist dann maximal, wenn alle
Befragten zu einer bestimmten Frage
eine Meinung vertreten (hier: „empfehlenswert“ und „nicht zu empfehlen“) und diese beiden Möglichkeiten
gleich häufig vertreten werden (hier:
die beiden Gruppen sind gleich
gross). Die Hospitalisation in einer
psychiatrischen Klinik sowie Hilfe
Methode
Wir haben 1737 Einwohner der
Schweiz, eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung zwischen 16
und 76 Jahren, telephonisch befragt.
Die Stichprobe und die Methodik
wurden bereits anderswo beschrieben
[3]. Es wurde zuerst eine Vignette
vorgelesen, die entweder einen depressiven oder einen schizophrenen
Menschen darstellte. Wir baten darauf die Interviewten, aus 9 potentiellen Therapeuten oder Therapieformen (professionelle und andere) diejenigen Vorschläge anzugeben, welche sie als hilfreich erachteten. Dann
wurden die Befragten gefragt, von
welchen der Vorschläge sie abraten
Tab. 1: Behandlungsvorstellungen, geordnet nach den Beurteilungskriterien „zu empfehlen“ und „nicht zu empfehlen“ (N=1737)
„Zu empfehlen“
Psychologe
Hausarzt
Psychiater
Telefonische Beratung
Pfarrer
Sozialarbeiter
Naturheilpraktiker
Psychiatrische Klinik
Alleine zurechtkommen
Kein Ratschlag
„Nicht zu empfehlen“
68 %
57 %
51 %
29 %
28 %
28 %
20 %
15 %
4%
0%
Alleine zurechtkommen
Psychiatrische Klinik
Naturheilpraktiker
Pfarrer
Telefonische Beratung
Psychiater
Sozialarbeiter
Hausarzt
Psychologe
Kein Ratschlag
65 %
21 %
13 %
13 %
9%
8%
7%
5%
3%
1%
101
Behandlungsvorstellungen der Bevölkerung zu Depression und Schizophrenie
Tab. 3: Vergleich der Behandlungsvorstellungen für die beiden Vignetten (Depressionsvignette: N=873;
Schizophrenievignette: N=864). Signifikante Unterschiede (p<0.001) sind hervorgehoben.
„Zu empfehlen“
Depression
Kein Ratschlag
Psychologe
Sozialarbeiter
Telefonische Beratung
Psychiater
Naturheilpraktiker
Hausarzt
Pfarrer
Alleine zurechtkommen
Psychiatrische Klinik
0%
68 %
28 %
30 %
44 %
21 %
58 %
30 %
5%
10 %
durch einen Naturheilpraktiker und
einen Geistlichen haben sich als
umstrittenste Vorschläge herausgestellt.
Zwischen den zwei Vignetten
wurden signifikante Unterschiede
gemacht (Tabelle 3): für die schizophrene Vignette wird das Aufsuchen eines Psychiaters mehr empfohlen als für die depressive. Depressiven wird weniger als Schizophrenen
geraten, sich in einer psychiatrischen
Klinik behandeln zu lassen. Bei Schizophrenen wird der Psychiater häufiger erwähnt.
Diskussion
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass wenig Dissens
herrscht über die Einschätzung
bezüglich Psychologen und Hausärzten, welche von ca. zwei Dritteln als
hilfreich angesehen werden. Einigkeit herrscht auch, dass von „alleine
zurecht kommen“ abgeraten wird.
Andere Helfer werden divergent
beurteilt: Aufsuchen eines Geistlichen oder eines Naturheilpraktikers
sowie die Hospitalisation in einer
psychiatrischen Klinik. Unterschiede
Schizophrenie
0%
69 %
28 %
27 %
57 %
18 %
55 %
26 %
4%
21 %
„Nicht zu empfehlen“
Depression
0%
3%
8%
10 %
9%
12 %
4%
13 %
63 %
26 %
Schizophrenie
1%
3%
7%
9%
7%
15 %
6%
14 %
66 %
16 %
in der Beurteilung, wer hilfreich sein
könnte, werden auch zwischen den
zwei Vignetten gemacht: Depressiven
wird deutlich weniger zu psychiatrischer Hilfe geraten als Schizophrenen.
Wie sind nun die erhobenen Aussagen einzuschätzen? Am wesentlichsten erscheint uns die Frage, ob
die genannten Helfer eine adäquate
Behandlung anbieten können. Die
Hälfte bis zwei Drittel der Befragten
erachteten hier die drei Stützen der
psychiatrischen Therapie – Hausarzt,
Psychiater und Psychologe – als
hilfreich. Dies ist deutlich weniger,
als es aus den neuen Bundesländer
Deutschlands berichtet wird [8].
Gründe dafür bleiben spekulativ, liegen aber möglicherweise doch darin
begründet, dass alternative Heilmethoden in den neuen Bundesländern
zum Zeitpunkt der Erhebung (Frühling 1993) weniger bekannt und verbreitet waren als in der Schweiz
knapp sechs Jahre später. Der Hausarzt wird an zweiter und nicht an
erster Stelle genannt. In der Realität
ist es aber oft der Hausarzt, der als
erster Fachmann mit psychischem
Leiden in Kontakt kommt und dieses
erkennt. Als Generalist muss er dementsprechend speziell für die Aufgabe
als erster Ansprechpartner bei psychischen Problemen ausgebildet werden.
Nicht erwähnt
Depression
Schizophrenie
99 %
28 %
64 %
60 %
47%
67 %
38 %
57 %
32 %
64 %
99 %
28 %
65 %
63 %
36 %
67 %
39 %
60 %
30 %
63 %
Als hilfreich werden auch Personen des erweiterten sozialen Hilfesystems gesehen, die durch ihre Tätigkeit mit seelischem Leiden in Kontakt kommen. Telephonische Beratungsstellen und kirchlich wie sozial
Tätige sind je länger je mehr erste
Anlaufstelle von Menschen in psychischer Not. Daraus ergibt sich, dass
auch sozial Tätige Zeichen seelischer
Krankheit kennen und erkennen müssten, um rechtzeitig aufmerksam zu
werden und eine adäquate Therapie
einzuleiten.
Die Unterschiede in den Empfehlungen, die zwischen den Vignetten
gemacht werden, sind bemerkenswert. Aufsuchen eines Psychiaters
und die Hospitalisation in einer psychiatrischen Klinik werden eher für
Schizophrene und weniger für Depressive empfohlen. Bei den Depressiven fällt der grosse Unterschied
zwischen den Empfehlungen bezüglich den Psychologen, Hausärzten
und Psychiatern auf, wobei letztere
mit 44 % das Schlusslicht bilden.
Dies mag damit zusammenhängen,
dass Labels, die einen depressiven
Zustand darstellen, oft nicht als
krankheitsbedingt erkannt, sondern
als normalpsychologisch verstanden
werden. Folglich werden sie auch
nicht „behandelt“, d.h. auch nicht
„psychiatrisiert“, sondern mit zwar
102
Lauber, Nordt, Falcato und Rössler
populären Alltagsratschlägen, aber
nicht genügend wirksamen Hausmitteln oder mit Ratschlägen wie
„Selbsthilfe“ und „Mobilisierung des
sozialen Netzes“ angegangen, wie
eine Untersuchung in Deutschland
zeigte [7]. Die Symptom-Beschreibung eines schizophren Kranken wird
eher als krankheitsbedingt empfunden, was auch aus professioneller
Sicht adäquatere Behandlungsratschläge zur Folge hat, z.B. die häufigere Empfehlung von Psychopharmaka [9]. Es zeigt sich also, dass
in der Bevölkerung das Bewusstsein
mehr geweckt werden muss, dass
psychische Leiden, insbesondere
auch depressive Episoden, Krankheitswert haben und einer Behandlung bedürfen.
Aus unserer Untersuchung können wir folgern, dass neben einer vertieften Ausbildung von Hausärzten
und im Sozialbereich Tätigen auch
Informationen über psychische Leiden, insbesondere die Depression,
und die entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten sowohl in der
Bevölkerung wie auch unter Professionellen erfolgen müssen.
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Rössler: Lay recommendations on how
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Christoph Lauber
Psychiatrische Univ.-Klinik Zürich
Sozialpsychiatrische Forschungsgruppe
Militärstrasse 8, Postfach 1930
CH-8021 Zürich, Schweiz
e-mail: [email protected]
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 103 – 107
Die Bewertung von Depression und
Schizophrenie als psychische Krankheit und
deren Einfluss auf die Hilfeempfehlung
Carlos Nordt, Luis Falcato, Christoph Lauber und Wulf Rössler
Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich
Schlüsselwörter
Psychische Krankheit – Einstellung –
Gesundheitsverhalten – Schweiz – Allgemeinarzt – Kultur – öffentliche Meinung –
Behandlung
Key words
Mental disorder – attitude – health behaviour – Switzerland – general practitioner –
culture – public opinion – treatment
Die Bewertung von Depression und Schizophrenie als psychische Krankheit und deren
Einfluss auf die Hilfeempfehlung
Hintergrund/Fragestellung: Ratschläge aus dem sozialen Umfeld
beeinflussen psychisch Kranke bei
ihrer ersten Kontaktaufnahme mit
Fachpersonen. Wir untersuchten die
Frage, wieweit die subjektive Bewertung eines depressiven oder schizophrenen Menschen als „psychisch
krank“ die Hilfeempfehlung prägen.
Methode: Im Rahmen einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage
über psychische Erkrankungen in der
Schweiz wurde den Befragten in
einer Fallbeschreibung entweder eine
schizophrene oder depressive Person
vorgestellt. Die Befragten mussten
beurteilen, ob die geschilderte Person
psychisch krank sei oder eine normale Reaktion in einer schwierigen
Lebenssituation zeige. Aus einer
Liste von neun potentiellen Hilfsangeboten wollten wir wissen, was als
erste bzw. zweite Anlaufstelle empfohlen wird.
Ergebnisse: Es zeigten sich
Unterschiede in der Einschätzung der
Vignetten: während über zwei Drittel
der Befragten die schizophrenen
Symptome als psychisch krank bezeichneten, wurde die depressive Person von einer Minderheit so einge-
ordnet. Der Hausarzt wurde durchwegs als erster Ansprechpartner vorgeschlagen, gefolgt vom Psychologen und Psychiater. Ein sprachregionaler Unterschied zeigte sich bei den
Befragten, welche vermuteten, es
läge eine psychische Krankheit vor:
In der deutschen und französischen
Schweiz wurden Hausärzte häufiger
empfohlen als in der italienischen
Schweiz. Wurde die Falldarstellung
als psychische Krankheit gesehen, so
wurde der Psychiater in allen Sprachregionen
häufiger
empfohlen.
Psychologen scheinen dagegen in der
ganzen Schweiz sowohl für psychische Krankheiten wie auch für die
Bewältigung von Lebenskrisen zuständig zu sein.
Schlussfolgerung: Dem Hausarzt
kommt als Anlaufstelle für psychisch
Kranke je nach kulturellem Kontext
eine andere Bedeutung zu. In der ganzen Schweiz werden Psychiater in
erster Linie als Spezialisten für psychische Krankheiten wahrgenommen, dies im Gegensatz zu den
Psychologen.
Assessment of Depression and
Schizophrenia as mental illness
and its influence on the help-seeking recommendations
Background: Mentally ill persons
are influenced by their social environment when contacting mental
health professionals for the first time.
This study examine how much the
subjective assessment whether a
depressive or schizophrenic person is
regarded as mentally ill by the public
is influencing lay recommendations.
Method: In Switzerland we conducted a representative opinion survey (n=1737) on public attitude to
mental illness, psychiatric treatment,
and the institutions involved. A vignette was presented depicting a case
of either depression or schizophrenia.
The interviewees were asked whether
they regarded the described person as
being mentally ill or expressing a normal reaction in a difficult life situation. Out of a list of nine proposals for
help we further questioned to indicate their first and their second recommendation.
Results: Two thirds of the respondents regarded the schizophrenic person as mentally ill whereas the
depressive person was mainly considered as expressing a normal reaction
in a difficult life situation. The preferred help proposal was the general
practitioner (GP). Those who considered the person in the vignette as
mentally ill proposed different
recommendations depending on the
lingustic area of Switzerland: GP’s
were more recommended in the German and in the French part than in the
Italian part. If the person was regarded as mentally ill, psychiatrists were
more proposed. Psychologists were
proposed independently of the evaluation of the vignette.
Conclusions: Depending on the
cultural context GP’s have a different
function regarding the contact for
mental illness. In Switzerland, psychiatrists are considered as specialists
for mental disorders whereas psychologists are proposed independently of
the nature of the disorder.
104
Nordt, Falcato, Lauber und Rössler
Einleitung
Etwa 50% der Bevölkerung leiden zumindest einmal in ihrem Leben
an einer psychischen Krankheit, die
der fachlichen Behandlung bedarf
[1]. Obwohl in der Schweiz und anderen westlichen Ländern ein breites
und differenziertes medizinisches,
psychotherapeutisches und soziales
Hilfesystem besteht, begeben sich
Schätzungen zufolge fast zwei Drittel
der Personen mit einer psychischen
Erkrankung nicht in Behandlung [2].
Ein wichtiger Grund dafür besteht in
der großen Diskrepanz zwischen den
Vorstellungen der Fachleute und der
Allgemeinbevölkerung über Ursachen und wirksame Behandlungsmöglichkeiten psychischer Krankheiten [3, 4]. Zur Verbesserung dieser
Situation wurde vorgeschlagen, die
Bevölkerung im korrekten Erkennen
spezifischer psychischer Krankheitsbilder zu schulen [5]. Unserer Meinung nach kann es aber nicht darum
gehen, die gesamte Bevölkerung zu
Spezialisten auszubilden. Viel wäre
schon erreicht, würden psychische
Störungen als auffällig und zur
Abklärung nötig erkannt.
Wie andere [6] gehen wir davon
aus, dass dem sozialen Umfeld der
Betroffenen eine zentrale Rolle für
die Vermittlung des Kontaktes zum
Hilfesystem zukommt. Im Umfeld
des Betroffenen werden bestimmte
Verhaltensveränderungen wahrgenommen, als auffällig erachtet und
unter Umständen als „krank“ bezeichnet. Diese Kategorisierung teilt
eine prinzipiell kontinuierlich abgestufte Abweichung von der Norm
anhand eines subjektiv festgelegten
Schweregrades in „normal“ und
„krankhaft“. Die Kategorisierung als
„krank“ dürfte das Umfeld dazu veranlassen, vermehrt die Kontaktaufnahme mit einer Fachperson zu empfehlen. Wenn das Vorliegen einer psychischen Krankheit angenommen
wird, so beeinflusst dies die wahrgenommene Zuständigkeit von Spezialisten wie Psychologe und Psychiater.
Als Generalist hat der Hausarzt eine
besondere Stellung in der Gesundheitsversorgung: er ist Vertrauensperson und primäre Anlaufstelle für alle
mit der Gesundheit verbundenen Probleme und übernimmt die Abklärung
und Überweisung an die Spezialisten.
Für die Patienten unterliegt der Kontakt zum Hausarzt – im Gegensatz
zum Kontakt zur Psychiatrie – keiner
Stigmatisierung.
Unser Konzept beinhaltet also die
Annahme, dass die empirisch gefundenen Unterschiede der Hilfeempfehlungen zu verschiedenen Fallbeschreibungen [6] massgeblich vom
subjektiv wahrgenommenen „Schweregrad“ der psychischen Krankheit
abhängen. Bei einer Fallbeschreibung
eines Schizophrenen, im Vergleich
zur Beschreibung eines Depressiven,
wird der Kontakt mit einem Psychiater deshalb häufiger empfohlen, weil
bei ersterer Fallbeschreibung häufiger vermutet wird, dass eine psychische Krankheit vorliegen könnte, und
nicht weil die in der Vignette dargestellte Diagnose richtig „erkannt“
wird. Die Symptome der Schizophrenie, z.B. Wahn oder Halluzinationen,
weichen stärker von der kulturellen
Norm ab und werden subjektiv eher
als schwere psychisch Krankheit
wahrgenommen. Wir postulieren,
dass sich die für die Allgemeinbevölkerung relevanten Unterschiede zwischen den diagnostischen Vignetten
auf den subjektiv wahrgenommenen
Schweregrad der Fallbeschreibung
beziehen und dadurch die Hilfeempfehlungen geprägt werden.
Im Rahmen einer repräsentativen
Bevölkerungsumfrage über Einstellungen zu psychischer Krankheit,
psychiatrischer Behandlung und psychiatrischen Institutionen wurde nach
der Fallbeschreibung einer Depression bzw. Schizophrenie die subjektive Zuschreibung „psychisch krank“
versus „normale Reaktion in einer
schwierigen Lebenssituation“ erfragt
und aus einer Liste mit neun potentiellen Helfern eine erste und zweite
Hilfeempfehlung erhoben. Da unsere
Untersuchung in der italienischen,
französischen
und
deutschen
Schweiz durchgeführt wurde und die
Vermutung nahe liegt, dass der soziokulturelle Kontext die Einstellung zu
psychischen Krankheiten und die Hilfeempfehlungen massgeblich beeinflusst, wurden die Daten sprachregional getrennt untersucht.
Wir haben folgende empirisch zu
prüfende Hypothesen abgeleitet:
1. Die Fallbeschreibung der Schizophrenie wird häufiger als „psychisch krank” bezeichnet, weil die
Symptome der Schizophrenie
mehr von der kulturellen Norm
abweichen als diejenigen der
Depression.
2. Der Hausarzt wird häufiger empfohlen, wenn die Fallbeschreibung als psychische Krankheit
denn als normale Reaktion in
einer schwierigen Lebensphase
angesehen wird, da er als Generalist als primäre Anlaufstelle für
alle mit der Gesundheit verbundenen Probleme wahrgenommen
wird.
3. Spezialisten wie Psychologen und
Psychiater werden insbesondere
dann empfohlen, wenn das Vorliegen einer psychischen Krankheit
angenommen wird, und weniger,
wenn der Befragte von einer normalen Reaktion in eine schwierige Lebensphase ausgeht, weil beide Berufsgruppen in erster Linie
als Spezialisten für psychische
Krankheiten
wahrgenommen
werden und die Kontaktaufnahme
für den Patient stigmatisierend
sein kann.
4. Im Sinne einer Nullhypothese
wird angenommen, dass keine
sprachregionalen Unterschiede
bestehen.
Methode
1737 Personen der schweizerischen Wohnbevölkerung im Alter
zwischen 16 und 76 Jahren – eine
repräsentative
Stichprobe
der
105
Die Bewertung von Depression und Schizophrenie als psychische Krankheit ...
Schweizer Bevölkerung – wurden
telefonisch befragt [7]. Um Vergleiche zwischen den Sprachregionen
statistisch absichern zu können, wurden überproportional viele Bewohner
der italienischen (N=426) und der
französischen (N=520) Schweiz verglichen zur Deutschschweiz (N=791)
einbezogen. In einer Vignette wurde
den Befragten ein depressiver oder
ein schizophrener Mann geschildert,
dessen Krankheitsbild den DSM-IIIR-Kriterien entsprechen. Der Hälfte
der Interviewten wurde die Frage
gestellt, ob sie die dargestellte Person
als psychisch krank bezeichnen würden, oder ob sie dies als eine normale
Reaktion in einer schwierigen Lebenssituation erachteten. Um die Einstellung der Behandlungsratschläge
zu erheben, baten wir darauf alle
Befragten, aus 9 potentiellen Berufsgruppen oder Therapieformen diejenigen Vorschläge anzugeben, welche
sie als hilfreich empfänden. Danach
wurde gefragt, welches ihr erster und
zweiter Rat an die geschilderte Person wäre, um so die sequentielle
Abfolge der Hilfeempfehlungen festzuhalten. Folgende Möglichkeiten
standen zur Auswahl: Psychologe,
Sozialarbeiter, telefonische Beratung,
Psychiater, Naturheilpraktiker, Hausarzt, Pfarrer, alleine mit der Situation
zurechtkommen und eine Hospitalisation in einer psychiatrischen Klinik. Um Unterschiede statistisch zu
prüfen, wurde der Chi-Quadrat-Test
verwandt.
Resultate
Wie Tabelle 1 zeigt, wurde die in
der Schizophrenie-Vignette dargestellte Person in allen drei Sprachregionen von mehr als zwei Drittel der
Befragten als psychisch krank bezeichnet bzw. wurde das in der Vignette beschriebene Verhalten von
einem Drittel bis einem Fünftel der
Interviewten als „normale Reaktion
in einer schwierigen Lebenssituation“ angesehen. Die DepressionsVignette wurde im italienischsprachigen Teil der Schweiz von 26 % als
psychische Krankheit eingeordnet,
in deutschen und französischen
Schweiz von über 40 %.
Tab. 1: Erkennen der Depressions- und Schizophrenie-Vignetten als psychische Krankheit,
nach Sprachenregionen geordnet
Deutsche Schweiz
(N=374)
psychisch krank
Französische Schweiz
(N=270)
psychisch krank
Italienische Schweiz
(N=200)
psychisch krank
Depression
42 %
46 %
26 %
Schizophrenie
67 %
80 %
72 %
Missing in allen Fällen unter 3 %
Tab. 2: Erste und zweite Hilfeempfehlung, nach Sprachregionen geordnet
Hausarzt
Psychologe
Psychiater
Telefonische Beratung
Pfarrer
Naturheilpraktiker
Sozialarbeiter
Psychiatrische Klinik
Alleine zurechtkommen
Kein Ratschlag
Deutsche Schweiz
(N=791)
Französische Schweiz
(N=520)
Italienische Schweiz
(N=426)
1. Rat
2. Rat
1. Rat
2. Rat
1. Rat
2. Rat
40 %
25 %
13 %
4%
3%
3%
2%
1%
1%
1%
9%
22 %
19 %
5%
7%
4%
5%
3%
1%
5%
38 %
24 %
12 %
2%
2%
1%
4%
1%
1%
1%
14 %
19 %
16 %
4%
5%
3%
5%
3%
1%
3%
33 %
25 %
11 %
8%
4%
2%
5%
1%
1%
3%
12 %
25 %
13 %
5%
5%
2%
8%
3%
2%
6%
106
Nordt, Falcato, Lauber und Rössler
In allen drei Sprachregionen wurde der Hausarzt als erste Hilfeempfehlung am häufigsten angegeben, als
zweite Hilfeempfehlung aber deutlich weniger genannt (Tabelle 2).
Ebenso wird der Psychologe als erste
Hilfeempfehlung etwa doppelt so
häufig wie der Psychiater genannt.
Als zweite Hilfeempfehlung wird in
der deutschen und französischen
Schweiz der Psychiater beinahe so oft
wie der Psychologe angegeben. Alle
anderen Hilfeempfehlungen werden
von weniger als 10 % der Befragten
genannt.
Tabelle 3 zeigt einen erheblichen
sprachregionalen Unterschied: In der
deutschsprachigen Schweiz wurde
der Hausarzt mehrheitlich von den
Personen empfohlen, welche die Fallbeschreibung als psychisch krank
einordneten (Chi-Quadrat <0.001), in
der italienischen Schweiz zeigt sich
das Gegenteil (Chi-Quadrat <0.01).
In der französischen Schweiz wird
zur Konsultation beim Hausarztes
unabhängig von der Einordnung
geraten.
Die Hilfeempfehlung des Psychologen ist in allen drei Sprachregionen
der Schweiz unabhängig von der
krankheitsbezogenen Beurteilung.
Dagegen ist Empfehlung des Psychiaters in allen Sprachregionen
signifikant häufiger (Chi-Quadrat
<0.001), wenn die Fallbeschreibung
als psychische Krankheit eingeordnet
wurde.
Statistisch signifikante Unterschiede der Hilfeempfehlungen bezüglich der drei Sprachregionen zeigten sich in einem der sechs Konfigurationen von Tabelle 3. Die Befragten,
welche eine psychische Krankheit
annahmen, empfahlen in der italienischen Schweiz den Hausarzt deutlich
weniger als in den anderen Landesteilen (Chi-Quadrat <0.001).
Diskussion
Zusammenfassend können wir
festhalten, dass über zwei Drittel der
Befragten die in der Schizophrenievignette dargestellte Person als psychisch krank beurteilt haben. In
der deutschen und französischen
Schweiz bezeichneten mehr als die
Hälfte die geschilderte depressive
Symptomatik als normale Reaktion in
einer schwierigen Lebenssituation,
jedoch drei Viertel der Befragten in
der italienischen Schweiz. In allen
drei Sprachregionen wird der Hausarzt am häufigsten als erster
Ansprechpartner für die geschilderte
Situation genannt, gefolgt von
Psychologen bzw. Psychiatern. In der
Deutschschweiz ist die Einschätzung,
dass jemand psychisch krank ist, ein
zusätzlicher Grund, zum Hausarztbesuch zu raten. Die Befragten der italienischen Schweiz sind diesbezüglich anderer Meinung, denn der Hausarzt wird mehrheitlich empfohlen,
wenn es sich aus der Sicht der Befragten nicht um eine psychische Krankheit handelt. Diesbezügliche sprachregionale Unterschiede bei Psychologen und Psychiatern wurden nicht
gefunden.
Unsere erste Hypothese, dass die
Schizophrenievignette häufiger als
die Depressionsvignette als „psychisch krank“ bezeichnet wird, bestätigt sich in allen drei Sprachregionen.
Die zweite Hypothese, dass der Hausarztbesuch vermehrt empfohlen wird,
wenn eine „psychische Krankheit“
vorzuliegen scheint, bestätigt sich
einzig in der deutschsprachigen
Schweiz. Jedoch wird der Hausarzt in
allen drei Sprachregionen am häufigsten als erste Hilfeempfehlung angegeben. Dies erhärtet unsere Annahme
[8], dass der Hausarzt als erste Fachperson mit psychischen oder psychiatrischen Leiden in Kontakt kommt.
Wir nehmen an, dass der Hausarztbesuch häufig als erster Rat angegeben
wird, weil dieser als Generalist für
Tab. 3: Empfehlung des Hausarztes, Psychologen und Psychiaters (1. und 2. Hilfeempfehlung)
nach Einordnung der Vignette, nach Sprachenregionen geordnet
Deutsche
Schweiz
Französische
Schweiz
Italienische
Schweiz
P
(Chi-Quadrat)
Hausarzt
Psychisch Krank (N=471)
Normale Reaktion (N=373)
57 %
40 %
54 %
52 %
32 %
51 %
0.001
NS
Psychologe
Psychisch Krank (N=471)
Normale Reaktion (N=373)
41 %
49 %
47 %
47 %
52 %
45 %
NS
NS
Psychiater
Psychisch Krank (N=471)
Normale Reaktion (N=373)
37 %
19 %
37%
13 %
32 %
13 %
NS
NS
107
Die Bewertung von Depression und Schizophrenie als psychische Krankheit ...
alle medizinischen Probleme zuständig ist. Dass er nicht als Spezialist für
psychische Krankheiten wahrgenommen wird, zeigt sich darin, dass er im
zweiten Ratschlag deutlich weniger
genannt wird als die fachspezifischen
Helfer. Dies würde auf eine niedrigschwellige, nicht stigmatisierende
Triagefunktion des Hausarztes im
Sinne eines „Gatekeeper“ hinweisen.
Daneben zeigt sich, dass ein stufenweises Vorgehen in der Problembewältigung empfohlen wird. Erfolgt
eine Weiterweisung, wird derjenige
Spezialist empfohlen, dem am ehesten Fachkompetenz zugestanden
wird.
Die dritte Hypothese, dass sowohl
Psychologen wie auch Psychiater bei
der Annahme einer psychischen
Krankheit häufiger empfohlen werden, trifft nur für letztere zu. Es
scheint in der ganzen Schweiz die
Idee vorzuherrschen, dass ein Psychologe sowohl für psychische Krankheiten wie auch bei der Bewältigung
von Lebenskrisen zuständig ist. Dies
könnte auch erklären, weshalb die
Psychologen deutlich mehr empfohlen wurden als die Psychiater. Dieser
Befund steht im Gegensatz zu deutschen Untersuchungen, in denen sich
gezeigt hat, dass eher Psychiater als
Psychologen empfohlen wurden [6].
Sprachregionale Besonderheiten
wurden in der italienischen Schweiz
festgestellt: Zum einen wird die Person, die in der Depressionsvignette
geschildert wird, deutlich weniger als
psychisch krank erkannt, zum andern
wird der Hausarzt signifikant weniger
als erste Anlaufstelle bei vermuteter
psychischer Krankheit genannt. Wir
interpretieren diese Resultate als kulturell bedingt. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die geschilderten
Depressionssymptome nicht den kulturspezifischen Symptomen der
Depression entsprechen. U. W. gibt es
keine Untersuchung, welche die Rolle des Hausarztes in der psychiatrischen Grundversorgung der italienischen Schweiz beleuchtet. Ein zur
übrigen Schweiz unterschiedliches
Gesundheitssystem besteht im Tessin
nicht. Was auch immer die Ursachen
für die soziokulturellen Unterschiede
sein mögen, ist gemäß unseren Daten
zu vermuten, dass Personen mit psychischen Störungen in der italienischen Schweiz weniger einer fachlicher Behandlung zugeführt werden,
da einerseits die Bevölkerung psychische Krankheitssymptome weniger
erkennt und andererseits der Hausarzt
weniger als „Gatekeeper“ für psychische Krankheiten zuständig ist.
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Psychiatrische Univ.-Klinik Zürich
Sozialpsychiatrische Forschungsgruppe
Militärstrasse 8, Postfach 1930
E-Mail: [email protected]
109
Kommentar
„Die Psychiatrie braucht Menschen, keine Leute“
Wilma Kantschieder, Oberdorf 24, A-6073 Sistrans, Österreich
Vorbemerkungen des Herausgebers:
Dieser Kommentar ist ein Brief,
der mich einige Tage vor Drucklegung dieses Themenheftes erreichte.
Es handelt sich um eine wahre Begebenheit, welche die Stigmatisierung
psychisch Kranker betrifft und die
somit nicht außergewöhnlich sondern
leider alltäglich ist; in einer Hinsicht
ist sie aber außergewöhnlich – dazu
später. Neben den Produkten der
Printmedien ist es besonders das
Fernsehen, das zur Verfestigung des
Stigmas psychisch Kranken beiträgt –
„Bildwelt schafft Weltbild“. Durch
Seifenopern, Fernsehserien oder
Spielfilmen findet permanent – fast
alltäglich – eine Diskriminierung psychisch Kranker statt. Als Tobias
Moretti als Kommissar in der Fernsehserie „Kommissar Rex“ vor einigen Jahren Dank einem als psychisch
krank bezeichneten Serienmörder aus
der Serie aussteigen konnte, sahen
über 2 Millionen Österreicherinnen
und Österreicher zu. Unser nachfolgender Einspruch wurde von den im
ORF dafür Verantwortlichen „abgeschmettert“; es handle sich nur um
ein dramaturgisches Mittel um Spannung zu erzeugen; Zuseher könnten
sehr wohl differenzieren und diese
Geschichte als Fiktion erkennen.
Nicht so offensichtlich meine Mutter,
die diesen Film sah und mich besorgt
um meine Sicherheit sofort anrief;
trotzdem ich „erst“ seit etwa einem
viertel Jahrhundert unbeschadet in
der Psychiatrie arbeite.
Auch die Werbung verwendet
manchmal mit psychischer Erkrankung und Psychiatrie vergesellschaftete negative Stereotype, wahrscheinlich um Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Frau Kantschieder fühlte sich –
und mit ihr sicher viele tausend
Menschen in Österreich – durch die
Werbefolge einer Möbelfirma zu tiefst
verletzt, gekränkt und abgewertet. Sie
wandte sich an die Psychiatrie, suchte Verbündete und Unterstützung. Sie
erbat Rückruf, wurde jedoch nicht
zurückgerufen. Sie wandte sich an
HPE, die, in solchen Angelegenheiten
erfahren, meinte, dass man diesbezüglich beim ORF oder der Werbewirtschaft wenig erreichen würde.
Daraufhin machte sie sich, nicht entmutigbar, alleine auf den Weg und
erreichte es; der Werbespot wurde
zurückgezogen. Für mich ein Beispiel
für Empowerment. Ich glaube dazu
brauchte es Courage; auch beim ORF
und der Firma, die diesen Werbespot
zurückzog.
Ein paar Gedankensplitter zu
Um-Welt-Vergiftung und Um-WeltSchutz im psychiatrischen Bereich:
Wider das Schweigen
Sollten Klinikleiter, Professoren,
Ärzte und Therapeuten, die in der
Psychiatrie tätig sind, nicht Stellung
beziehen, sich persönlich verwenden
wenn Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker ganz offen
über den Bildschirm im ORF läuft?
Schreiben Sie nicht Information, Aufklärung, Entstigmatisierung auf ihre
Fahne?
Da wurde in der Werbung des
ORF (= öffentlich, rechtlich) folgender Spot der Firma MÖBEL LUTZ
gesendet: Bilder von Menschen in
einer Zwangsjacke, mit der Bezeichnung „untragbar“ bedacht – abgeführt
von zwei Kraftprotzen in weißen
Kitteln. Monate später wird in einem
zweiten Werbespot wieder die besagte
Zwangsjacke verwendet und diesmal
an das Wort „Wahnsinn“ gekoppelt.
Ist das nicht ein Anlass, dem
gegenzusteuern ist? Ist das etwas was
wir/Sie einfach so stehen lassen sollten? Bedenken Sie die Wirkung dieser
Bildsprache und Schlagworte
• Zwangsjacke
• untragbar
• abführen
• Wahnsinn
oder sind Sie der Meinung, dass
Sie dafür nicht zuständig sind? Halten
Sie es nicht auch für Ihre Aufgabe, das
Wort gegen diese Form der Diskriminierung zu ergreifen?
Ich habe mit den Menschen der
Werbeabteilung des ORF und der
werbenden Firma Gespräche geführt.
Ich habe versucht Ihnen zu verdeutlichen, welche Verletzungen dieser
Spot mir und anderen zufügt und mir
einfach erlaubt hinzuzufügen, dass
Ärzte der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck gegebenenfalls
schriftlich gegen diese Art von Werbespots auftreten würden. Ich habe mir
das einfach erlaubt, im Glauben, Sie
würden dies sicher tun. Anfangs hat
man versucht mich zu beruhigen. Der
Spot ziele darauf ab lustig zu sein; ein
Produkt kreativer Werbefachleute.
Dann hat man mich eindringlich
ersucht nichts zu unternehmen; man
wolle in den entsprechenden Gremien
des ORF und der Firmenleitung meine Argumente und Bedenken vorbringen. Was mich dann überraschte, war
der Anruf des Chefs der Werbeabteilung, der mir mitteilte, dass seine
Firma noch am selben Abend beschlossen habe, besagten Spot aus
dem Programm zu nehmen. Ebenso
versprach die Dame der Werbeabteilung des ORF, sich persönlich dafür
einzusetzen, dass die berechtigten
Einwände psychisch Kranker in Zukunft stärker berücksichtigt werden,
man das Recht auf Schutz ihrer Würde
beachten und diesem Gesichtspunkt
in Zukunft mehr Gewicht zumessen
werde.
Nach meiner Einschätzung hat die
Äußerung Klinikvorstände, Professoren, Ärzte und andere in der Psychiatrie Tätige würde notfalls auch schriftlich Position beziehen sicher Wirkung
gezeigt, beeindruckt. Ich frage mich
aber war das meine Gutgläubigkeit,
mein Wunschdenken? Hätte ich wirklich damit rechnen dürfen? Hätte ich
mich notfalls auf Sie berufen dürfen?
Muss ich das wirklich in Frage stellen?
Die Psychiatrie braucht Menschen, keine Leute.
ORIGINAL
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 110 – 114
Ist das www für die Anti-Stigma
Kampagne nutzbar?
Hubert Sulzenbacher1, Christine De Col1, Karin Lugger2 und Ullrich Meise1,2
1Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
2Gesellschaft für Psychische Gesundheit Tirol, Innsbruck
Schlüsselwörter
psychische Erkrankung – Stigma – AntiStigma Kampagne – Internet
Key words
mental illness – stigma – anti-stigma
campaign – Internet
Ist das www für die Anti-`
Stigma Kampagne nutzbar?
Dieser Beitrag untersucht ausgehend von der Frage, ob und wie die
Anti-Stigma Kampagnen bisher das
Medium Internet einsetzen, die
grundsätzliche Nutzbarkeit des Internets für die Anti-Stigma Kampagne.
Bei der Suche nach Internetseiten
wählten wir den Weg eines unbefangenen Internetusers und bedienten
uns in einem ersten Schritt allgemeiner Suchdienste. Die weitere Suche
erfolgte dann über die in gefundenen
Internetseiten angegebenen Links.
Es wurden dabei verschiedenste
Möglichkeiten für die Anti-Stigma
Kampagne wie beispielsweise Informationsvermittlung, Helpline, Gedankenaustausch, StigmaWatch oder
auch Ankündigung und Organisation
gemeinschaftlicher Aktivitäten gefunden.
Als problematisch stellen sich die
thematische Suche im Internet ganz
allgemein sowie die Dominanz englischsprachiger Websites heraus,
ebenso wie die geringeren Möglichkeiten des Internetzugangs sozial
benachteiligter Personen.
Zweifellos ist das Internet ein
interessantes Medium für die AntiStigma Kampagne, potentielle Betreiber sollten allerdings die Grenzen
der Möglichkeiten des Mediums
nicht übersehen und auch ihre moralische Verantwortung bedenken.
In how far is the word-wideweb useful for an anti-stigma
campaign?
This contribution is based on an
examination of the question whether
and how anti-stigma campaigns have
used the Internet medium to date, and
how useful the Internet can be for the
anti-stigma campaign.
In our search for Internet sites we
took the approach of an impartial
Internet user and began by employing
general search engines. Further searches followed via links found on these Internet sites. As a result, a variety
of possibilities for the anti-stigma
campaign were identified such as
information provision, help lines,
exchange of ideas, StigmaWatch,
along with the announcement and
organisation of joint activities.
The problem of thematic searches
arises widely throughout the Internet,
as does the dominance of English
language web sites and the limited
possibilities of access to the Internet
for the socially disadvantaged.
Einleitung
Die Vision vom Internet stammt
spätestens aus dem Jahr 1962, als
J.C.R. Licklider seine Vorstellung des
„galactic network“ als einer globalen
Verbindung von Computern, über
welche jeder Daten und Programme
von jeder Seite erhalten könne, veröffentlichte. Die erste Nachrichtenübertragung über eine Telephonleitung
zwischen zwei weit voneinander entfernten Computern fand 1965 statt
[20]. Seit 1969 entwickelte eine Forschungsabteilung des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums ein
Computernetzwerk aus ursprünglich
vier Universitätscomputern, das
Arpanet, welches 1972 mit nunmehr
bereits vierzig vernetzten Computern
erfolgreich der Öffentlichkeit präsentiert wurde [38].
Damit waren zwar die Grundlagen der Computervernetzung gelegt,
die enorme Ausbreitung des Internets
wurde allerdings erst durch eine weitere Entwicklung, nämlich jene des
Personal Computers, ermöglicht:
Erste Entwicklungsschritte finden
sich auch hier bereits in den Sechzigerjahren, der große Durchbruch ist
wohl im Jahr 1977 mit der Markteinführung des Apple II zu datieren [29].
Waren bisher hauptsächlich von
Computerfachleuten bediente universitäre Großcomputer am Netzwerk
angeschlossenen, so entstand mit der
zunehmenden Verbreitung der Heimcomputer ein riesiger neuer Markt
mit neuen Interessen und Forderungen (Unterhaltungsmedien, ansprechendes Design, leichte Bedienbarkeit).
1984 waren erstmals mehr als tausend Computer an das Netzwerk
angeschlossen [16], seither beträgt
die Verdoppelungsgeschwindigkeit
der Anzahl der angeschlossenen
Computer etwa ein Jahr. Im Jahr 2001
sind weltweit über 100 Millionen
Computer an das Internet angeschlos-
111
Sulzenbacher, De Col, Lugger und Meise
sen [38], über welche mehr als 1,6
Milliarden Websites erreichbar sind
[14].
1998 startete die World Psychiatric Association ein weltweites Programm gegen Stigmatisierung und
Diskriminierung als Folge von Schizophrenie. Eine der Aktionen innerhalb dieses Programms war das
Erstellen einer Website, die sich mit
verschiedenen Aspekten des schizophren Erkrankten anhaftenden
Stigmas beschäftigen sollte [37].
Der Gedanke, eine Anti-Stigma
Kampagne auch mit Hilfe des Internets zu führen, erscheint naheliegend:
Immerhin ermöglicht das Internet,
mit vergleichsweise sehr geringen
Ressourcen an Personal, finanziellen
Mitteln und Know-how eine schier
unübersehbare Anzahl von Interessierten zu erreichen.
Wir möchten nun in diesem
Artikel der Frage nachgehen, ob das
Internet tatsächlich für die Anliegen
der Anti-Stigma Kampagne geeignet
ist, ob die potentiellen Adressaten
erreichbar sind, welche Informationen vermittelt werden können und
welche Möglichkeiten das Internet
generell bietet.
Es ist dabei nicht unsere Absicht,
in diesem Artikel einzelne Internetseiten, die sich mit dem Stigma psychischer Erkrankungen auseinandersetzen, vorzustellen; dies würde
lediglich zu einer Katalogisierung
und Evaluierung vorhandener Websites führen. Stattdessen wollen wir
versuchen, generell die Möglichkeiten des Mediums Internet für die
Anti-Stigma Kampagne aufzuzeigen.
Daher sind die angegebenen Literaturverweise stets nur als Beispiele,
nie als vollständige Aufzählung,
anzusehen.
Methodik
Dieser Artikel wurde zur Gänze
auf der Grundlage von im Internet
erhältlichen Informationen verfasst,
das Literaturverzeichnis enthält demnach ausschließlich Internetseiten.
Ausgangspunkt dieser Vorgangsweise war der Gedanke, dass ja auch
viele der potentiellen Adressaten
einer Anti-Stigma Kampagne kaum
Zugang zu der in teuren psychiatrischen und soziologischen Fachzeitschriften enthaltenen und für medizinische und sozialwissenschaftliche
Laien oft schwer verständlichen
Fachliteratur erhalten.
Bei der Suche nach Internetseiten
zur Anti-Stigma Kampagne wählten
wir den Weg eines unbefangenen,
psychiatrisch nicht vorgebildeten
Internet-Users: Wir verwendeten also
im ersten Schritt allgemeine Suchdienste (insbesondere google), wobei
die Suchbegriffe absichtlich unscharf
formuliert wurden (beispielsweise
„stigma“, „mental health“). Die weitere Suche erfolgte dann über die in
den gefundenen Internetseiten angegebenen Links.
Wenn nun eine Arbeit ausschließlich auf Recherchen im Internet
basiert, müssen dabei verschiedene
methodische Fragestellungen aus der
Welt geschafft werden, welche bei
der „üblichen“ wissenschaftlichen
Arbeit mit Zeitschriftenartikeln
längst geklärt sind:
So gibt es unseres Wissens beispielsweise bis zum jetzigen Zeitpunkt keine verbindlichen Zitierungsregeln für Webpages. Wir wählten nun folgende Vorgangsweise:
Waren Titel und Autor einer Quelle
aus dem Internet eindeutig zu identifizieren, so wurde im Literaturverzeichnis dementsprechend zitiert (die
in Klammern gesetzten Jahreszahlen
bezeichnen dabei das letzte Update
der jeweiligen Quellen und damit
nicht unbedingt den Zeitpunkt ihrer
Erstveröffentlichung) und danach die
URL (Uniform Ressource Locator)
angegeben. Waren Titel, Autorenschaft oder der Zeitpunkt des letzten
Updates (bzw. der Entstehung) der
zitierten Quelle nicht eindeutig, so
wurde auf die unklaren Daten bei der
Literaturangabe verzichtet; es erfolg-
te dann nur die Angabe der jeweils
gesicherten Daten zusammen mit der
URL. In Fällen, in denen auf eine reine Funktionsseite, beispielsweise
einen Suchdienst, verwiesen wurde,
erfolgte im Literaturverzeichnis
lediglich die Angabe der URL.
Nun ist zwar eine Internetadresse
durch die Angabe der URL genau
definiert [12], der Inhalt kann aber
vom Eigentümer der Webpage zu
jedem Zeitpunkt nach Belieben verändert werden. In jenen Fällen, in
denen es uns nicht möglich war, den
Zeitpunkt des letzten Updates einer
Internetseite zu eruieren, entspricht
daher unsere Angabe im Literaturverzeichnis der Seite, wie sie sich im
Herbst 2001 präsentierte.
Die Anordnung der Quellen im
Literaturverzeichnis erfolgt alphabetisch, wobei in jenen Fällen, in welchen der Verantwortliche für den Seiteninhalt nicht bestimmt werden
konnte, der Name der Domain der
jeweiligen Adresse [11] für die Stellung der Reihenfolge im Alphabet
verwendet wurde.
Ergebnisse
Orientierung im Internet:
Das Internet ist ein riesiger Datendschungel, in dem man, um sich
auch nur einigermaßen zurechtfinden
zu können, auf die Unterstützung von
Suchdiensten, Internetkatalogen und
Links, Querverweisen von einer
Website zu anderen, angewiesen ist.
Am häufigsten werden für die
Suche von Datenmaterial wohl Suchdienste verwendet: Dabei wird allerdings ein Internet-User zu quantitativ
völlig unterschiedlichen Ergebnissen
gelangen, je nachdem, welchen Suchdienst er verwendet: Gibt er beispielsweise in die Suchmaschine
google den Suchbegriff „Stigma“ ein,
so erhält er weit über zweihunderttau-
112
Ist das www für die Anti-Stigma Kampagne nutzbar?
send Ergebnisse [15], derselbe Suchbegriff erbringt dagegen bei manchen
anderen Suchmaschinen kaum tausend Treffer. Auch die Qualität der
gefundenen Ergebnisse hängt stark
von der verwendeten Suchmethode
ab [18].
Einige Suchdienste bieten Suchkataloge an, die nach Themengebieten, manchmal zusätzlich auch nach
Sprachen oder Ländern geordnet
sind; diese Kataloge sind allerdings
häufig schlecht redigiert (als löbliche
Ausnahmen seien hier der leider kein
eigenes Stigmaverzeichnis enthaltende Katalog der Webpage Internet
Mental Health [22] sowie die katalogisierte Linksammlung der Webseite
Mindinfo [25] erwähnt).
Dagegen sind die von den verschiedenen Anti-Stigmaseiten angebrachten Links teilweise recht gut
recherchiert, sodass man über diese
Links zumindest die Seiten der großen in der Anti-Stigma Kampagne
engagierten Organisationen leicht
auffinden kann.
Sprachbarrieren:
Personen ohne passable Englischkenntnisse sind von sehr vielen Internetseiten durch die Sprachbarriere
ausgeschlossen: Gibt man beispielsweise in die Suchmaschine lycos den
Suchbegriff „schizophrenia“ ein, so
erhält man über zweihunderttausend
Treffer; ändert man nun den Suchbegriff in „schizophrenie“, werden nur
mehr etwa sechzehntausend Ergebnisse, also gerade einmal 8 Prozent
der englischsprachigen Suche, gefunden [23].
Zugangsbeschränkungen
zum Internet:
Ein weiteres Problem stellt die
generelle Zugangsmöglichkeit zum
Internet dar. Diese hängt in hohem
Maß vom Ausbau der Informationstechnologie in den unterschiedlichen
Weltregionen ab: So wird das Internet
in den Industrieländern von mehr als
einem Drittel der Bevölkerung
genutzt, während in vielen Staaten
der Dritten Welt nicht einmal jeder
Tausendste Zugang zum Internet hat
[28].
Schließlich muss auch der Ausschluss vom Internetzugang als Folge
der beträchtlichen Kosten für die
Anschaffung und Nutzung bedacht
werden, insbesondere auch deshalb,
weil einer der wichtigsten Ansprechpartner einer Anti-Stigma Kampagne,
nämlich die Gruppe der von psychischer Krankheit Betroffenen, häufig –
und gerade auch als Folge der Stigmatisierung – einen sozialen Abstieg
durchmacht: So ist in den USA beispielsweise zirka ein Drittel der
Obdachlosen psychisch krank – und
dies bei einer sehr engen Definition
von psychischer Krankheit, in der
etwa Abhängigkeitserkrankungen
nicht mitgezählt werden [27].
•
Wer betreibt Anti-Stigmaseiten?
Die Anti-Stigma Kampagne im
Internet lebt von ihrer Vielfalt: So
betreiben internationale [37] und verschiedene nationale psychiatrische
Organisationen [36] Anti-Stigmawebsites; daneben gibt es große, zum
Teil aus Selbsthilfegruppen, Angehörigenvereinigungen oder auch Stiftungen hervorgegangene Wohlfahrtseinrichtungen [32, 33, 26]; und
schließlich beteiligen sich auch kleine Gruppen und Einzelpersonen,
Professionelle [10, 22] wie Betroffene [6, 8, 31], an der Bekämpfung des
Stigmas psychischer Erkrankungen.
•
Helpline:
Im Internet werden verschiedenste Möglichkeiten der Krisenintervention angeboten, so beispielsweise die Vermittlung von
professioneller Hilfe [9] oder eine
„email-Seelsorge“ [2]. Es besteht
sogar die Möglichkeit einer Online-Psychotherapie [1].
•
StigmaWatch:
Schon seit vielen Jahren versuchen Globalisierungskritiker, moralisch inkorrekte Vorgangsweisen internationaler Konzerne
durch deren Veröffentlichung einzudämmen: Die Hoffnung dabei
ist, dass Firmen angesichts des
möglichen Imageschadens infolge fragwürdiger Geschäftspraktiken auf diese Möglichkeiten der
Möglichkeiten des Internet:
Grundsätzlich bieten sich im
Internet vier Bereiche an, die für eine
Anti-Stigma Kampagne genutzt werden könnten.
•
Informationsvermittlung:
Im Internet werden verschiedenste stigmarelevante Informationen angeboten: Es finden sich
Beschreibungen psychischer Erkrankungen [3, 17, 19] und thera-
peutischer Ansätze [7, 13, 35],
Erfahrungsberichte von Betroffenen [8, 31] und Angehörigen [6]
sowie Informationen über Aktivitäten innerhalb der Anti-Stigma
Kampagne [26].
Gedankenaustausch – die online
community:
Internetforen und Chatrooms
ermöglichen eine anonyme Kontaktaufnahme zwischen Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten. Angesichts der Hemmungen
der meisten psychisch Kranken
und ihrer Angehörigen, über ihre
Schwierigkeiten zu sprechen oder
psychiatrische Beratung und Hilfe
vor Ort aufzusuchen, stellt das
Medium Internet für Betroffene
die wohl interessanteste und
wichtigste Neuerung in der Kommunikation dar.
Discussion- und Messageboards
oder Chatrooms wurden von uns
beispielsweise auf der Webpage
von Mental Help Net [10], auf der
Webpage der britischen SANE
[33], auf Mental Health in the UK
[24] und auf Health-Center [34]
gefunden, deutschsprachige Foren betreiben die BayerischeAnti-STigma-Aktion BASTA [5]
und das Psychiatrienetz [19].
Sulzenbacher, De Col, Lugger und Meise
Gewinnmaximierung verzichten.
StigmaWatch ist eine analoge
Einrichtung der Webpage von
SANE Australia mit dem Zweck,
in Medien beobachtete Stigmatisierungen von psychisch Kranken
zu sammeln und auf der Website
zu veröffentlichen, um damit in
weiterer Folge einen gewissen
Druck auf die betroffenen Medien
oder Firmen auszuüben, in Hinkunft etwas behutsamer vorzugehen [32]. NAMI in Nordamerika
und BASTA in Deutschland verfolgen eine ähnliche Vorgangsweise [5, 26].
Diskussion
Grundsätzlich sollte sich wohl
jede Internetseite, die sich mit psychischen Erkrankungen beschäftigt,
auch als "Anti-Stigmaseite” verstehen. Es ist aber leider so, dass auch
im Internet über psychische Erkrankungen häufig eher akademisch
doziert wird, sodass viele dieser Webpages sicher nicht zur Anti-Stigma
Kampagne gezählt werden können.
In die Irre führt aber auch der entgegengesetzte Weg, nämlich nur jene
Webseiten zu untersuchen, die sich
explizit der Stigmabekämpfung verschreiben, da sich viele Internetseiten
mit psychiatrischem Stigma beschäftigen, ohne dies ausdrücklich zu
ihrem Thema zu machen.
Damit ist eine der größten Schwierigkeiten einer effektiven Nutzung
des Internets angesprochen, nämlich
die Selektion der tatsächlich relevanten Quellen aus dem unübersehbaren
Datenangebot. Diese Schwierigkeit
beruht dabei nicht nur auf der schwer
zu organisierenden Vielfalt innerhalb
der offenen Architektur des Internets,
sondern auch auf den unterschiedlichen potentiellen Adressaten der
Anti-Stigma Kampagne: So werden
psychisch Kranke, Angehörige, Therapeuten, Kampagnenbetreiber oder
Journalisten aufgrund verschiedener
Bedürfnisse auf Internetseiten der
Anti-Stigma Kampagne stoßen und
diese zu gänzlich unterschiedlichen
Zwecken verwenden.
Zweifellos ist aber das Internet für
eine Anti-Stigma Kampagne nutzbar
– und es wird auch genutzt: So liefert
die Suchmaschine google beispielsweise auf die Eingabe des Suchbegriffs „stigma mental health“ über
70.000 Ergebnisse [15].
Dabei unterscheiden sich die einzelnen Seiten in quantitativer wie in
qualitativer Hinsicht beträchtlich.
Dies beeinträchtigt die effiziente
Suche nach relevanten Informationen, sodass man als Internetuser
geneigt ist, eine straffere Organisation der stigmarelevanten Websites zu
fordern: So wäre beispielsweise die
Erstellung eines nach sprachlichen,
geographischen und inhaltlichen
Gesichtspunkten
katalogisierten
Linkverzeichnisses denkbar (eventuell mit einem „Gütesiegel“ zur
Qualitätskontrolle der aufgelisteten
Internetseiten), über welches jeder
Benutzer leicht die für ihn interessanten Internetseiten finden könnte.
Das Fehlen einer derartigen zentralen Anti-Stigmahomepage gibt
andererseits aber die Möglichkeit,
Informationen ohne zwischengeschaltete Filter und Zensur zu erhalten. Dies ist angesichts der zum Teil
sehr divergierenden Interessen der an
der Anti-Stigma Kampagne Beteiligten ein nicht zu unterschätzender Vorteil: So ist beispielsweise nur schwer
vorstellbar, dass etwa jener Pharmakonzern, welcher als Hauptsponsor
der Anti-Stigma Kampagne der WPA
[37] auftritt, bereit wäre, ein Linkverzeichnis finanziell zu unterstützen,
wenn auf diesem Verzeichnis auf eine
Internetseite verwiesen würde, auf
welcher das bekannteste Produkt
eben dieses Konzerns kritisiert wird
[30].
Das Medium Internet bietet verschiedenste Möglichkeiten für die
Anti-Stigma Kampagne wie beispielsweise Informationsvermittlung,
Helpline, Gedankenaustausch, Stig-
113
maWatch, Ankündigung und Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten
und vieles mehr. Dabei sollte allerdings die Tatsache, dass viele dieser
Möglichkeiten bereits genutzt werden, potentielle Betreiber der AntiStigma Kampagne im Internet nicht
abschrecken.
So liegt etwa ein Großteil der verfügbaren Daten nur auf Englisch vor.
Dies mag bei Fachinformationen, die
sich an Professionelle richten, oder in
international tätigen Organisationen
vertretbar sein; wenn Betroffene
allerdings die Ansprechpartner sind
oder gutes Englisch gefordert ist (beispielweise im Internet-Chat), ergeben
sich für Personen, deren Muttersprache nicht Englisch ist, erhebliche
Schwierigkeiten.
Ein viel größeres Problem stellen
die Zugangsbedingungen zum Internet dar: So lässt sich, weltweit gesehen, eine sehr enge Beziehung
zwischen der Möglichkeit der Internetnutzung und dem individuellen
Wohlstand herstellen. Dieses Ungleichgewicht, dessen Opfer ja sehr
häufig psychisch Kranke sind, lässt
sich wohl nur über tiefgreifende
gesellschaftliche und wirtschaftliche
Veränderungen beheben – auch die
Anti-Stigma Kampagne sollte sich
diesem Problem stellen.
Zweifellos eröffnet das Internet
Initiatoren von Anti-Stigma Kampagnen enorme Möglichkeiten: Insbesondere hinsichtlich der weltweiten
Vernetzung ähnlich gelagerter Gruppen und Initiativen sowie des effektiven Gedankenaustauschs zwischen
psychisch Kranken, Angehörigen und
Therapeuten ist das Internet anderen
Kommunikationsmedien weit überlegen.
Die Möglichkeiten sollten dabei
allerdings auch nicht überschätzt
werden: So erscheint etwa zweifelhaft, ob ein Internet-chat oder eine
Online-Psychotherapie den Face-toFace-Kontakt zwischen Patient und
Therapeut ersetzen kann.
Das Betreiben von Internetseiten
bringt allerdings auch eine moralische Verantwortung mit sich, deren
114
Ist das www für die Anti-Stigma Kampagne nutzbar?
sich die Betreiber stets bewusst sein
sollten: So scheint es uns doch einigermaßen verantwortungslos, wenn
etwa auf einem Linkverzeichnis zum
Thema „Suizid und Depression“ [21]
neben Internetseiten, auf welchen
Krisenhilfe angeboten wird, auch
eine Seite, welche „nützliche Hilfe
für einen effizienten Abgang“ anbietet, angegeben ist [4].
Insgesamt hinterläßt unsere
Recherche, die viele Stunden beanspruchte, den Eindruck, dass das
Potential, welches im Internet für die
Anti-Stigma Kampagne liegt, bisher
nur in beschränktem Maße genutzt
wurde [37].
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html
Arge-Versorgungsforschung
A-6020 Innsbruck
KOMMENTAR
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 115 – 116
Stigma – ein Kommentar aus
gerontopsychiatrischer Perspektive
Johannes Wancata
Universitätsklinik für Psychiatrie, Wien
Die Stigma-Forschung hat sich in
den letzten Jahren vor allem mit psychischen Erkrankungen des Erwachsenenalters beschäftigt. So haben
zahlreiche Studien das Stigma und die
Diskriminierung von SchizophrenieKranken beforscht [1, 5]. Hier bestätigten sich beispielsweise die Ergebnisse früherer Studien, dass ein
beträchtlicher Teil der Bevölkerung
einen Schizophrenie-Kranken nicht
für eine Arbeitsstelle empfehlen würde. Das Wissen um diese Ergebnisse
führte in zahlreichen Ländern zu den
von der World Psychiatric Association
initiierten „Anti-Stigma-Kampagnen“, um die Bevölkerung über schizophrene Psychosen aufzuklären und
um die Einstellung der Bevölkerung
zu den Kranken zu ändern [9, 11].
In Österreich hat sich aber – so
wie in anderen Industrieländern – die
Altersstruktur der Bevölkerung dramatisch verändert. Vor allem seit der
Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch
die Sterblichkeit bei den über 60-Jährigen zurückgegangen, sodass der
Anteil der älteren Bevölkerung
immer größer geworden ist. Für die
Zukunft sagen Bevölkerungsprognosen eine noch stärkere Zunahme des
Anteils älterer Menschen in Österreich voraus: innerhalb der nächsten
30 Jahre wird mit einer Zunahme der
über 60-Jährigen um eine Million
(von 1,7 auf 2,7 Millionen) gerechnet
und die Zahl der über 80-Jährigen
wird voraussichtlich von 286.000 im
Jahr 2000 auf eine knappe Million im
Jahr 2050 steigen [12].
Durch diese demographischen
Veränderungen wird sich das Spektrum der psychischen Erkrankungen
ändern: Einerseits wird es zu einer
dramatischen Zunahme der Absolutzahlen von Demenzerkrankungen
kommen (Anstieg auf etwa das 2,6fache der Krankenzahlen innerhalb
von 50 Jahren [13]). Andererseits
werden Krankheiten, die in allen
Altersgruppen vorkommen (z.B.
Depressionen, Suchterkrankungen,
Angststörungen), in einem zunehmenden Anteil die Altenbevölkerung
betreffen. Die Frage, ob die zunehmende Überalterung auch bei diesen
Krankheiten zu Veränderungen der
Absolutzahlen führen wird, kann bis
heute nicht eindeutig beantwortet
werden [4, 10], der Anteil älterer
Menschen mit diesen Erkrankungen
wird aber deutlich zunehmen.
Demenzen, also Erkrankungen,
die nahezu ausschließlich in der
Altenbevölkerung vorkommen, standen in den jüngsten Diskussionen um
Stigmatisierung und Diskriminierung
nicht im Rampenlicht. Wenn man die
Ergebnisse der vergleichsweise geringen Zahl von Allgemeinbevölkerungsstudien über die Einstellung zu
Demenzkranken betrachtet, zeigt
sich, dass auch diese in nicht geringem Ausmaß für gefährlich (18,6 %)
oder unberechenbar (52,9 %) gehalten werden [3]. Angehörige von Demenzkranken müssen immer wieder
die Erfahrung machen, dass man sich
über ihre kranken Familienmitglieder
lustig macht [14].
Demenzerkrankungen
spielen
außerdem eine zentrale Rolle bei der
Entstehung von Kosten aufgrund von
Pflegebedürftigkeit [2, 7]. Dies trägt
dazu bei, dass in absehbarer Zeit die
Versorgung Demenzkranker in Österreich jährlich einige Milliarden Euro
kosten wird. In der Diskussion um
begrenzte Ressourcen im Gesundheits- und Sozialsystem werden zunehmend die Hauptverursacher der
Kosten zu „Buhmännern“. Die zunehmende Zahl von Publikationen,
die sich mit „physician-assisted suicide“ bei „mental incompetence“ im
Alter [6] beschäftigen, eröffnet eine
neue Diskussion über „lebensunwertes Leben“. Ausländische Studien
zeigen, dass manche diagnostischen
und therapeutischen Interventionen
bei Demenzkranken in deutlich geringerem Ausmaß als bei psychisch Gesunden gesetzt werden [8]. Es drängt
sich die Frage auf, ob hier nicht auch
Vorurteile oder fehlendes Wissen eine
beträchtliche Rolle spielen – Themen,
die zum Aufgabengebiet der StigmaForschung gehören.
Immer wieder hört man von Kollegen die Meinung, dass es ja nicht
verwunderlich sei, wenn ein älterer
Mensch mit verschiedenen körperlichen Leiden depressiv sei – so als
gehöre Depressivität beim alten Menschen zum Normalzustand. Sowohl
das Faktum, dass Depressionen Erkrankungen sind, als auch die Tatsache, dass sie gut behandelt werden
können, werden hier offensichtlich
ignoriert. Personen, die meinen, dass
116
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002
eine Entzugsbehandlung bei einem
65-Jährigen „vergebliche Liebesmüh“ sei, dürften übersehen, dass die
durchschnittliche Lebenserwartung
in dieser Altersgruppe in Österreich
noch 18 Jahre beträgt [12]. In die
gleiche Kategorie gehören Diskussionen, ob ältere Menschen einen Anspruch auf neuere und nebenwirkungsärmere, aber oft teurere Psychopharmaka haben. Die Hintergründe für derartige Äußerungen zu
untersuchen, wären weitere Aufgaben
der Stigma-Forschung.
Eine neuere britische Untersuchung fand, dass die über 65-Jährigen
die Gefährlichkeit von manchen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Sucht signifikant
geringer einschätzen als jüngere
Menschen [3]. Es stellt sich die Frage, ob dieser Trend, dass ältere Menschen manche psychische Erkrankungen weniger negativ als jüngere beurteilen, auch für andere Länder
zutrifft. Weiters wäre zu untersuchen,
welche Mechanismen hier eine Rolle
spielen und ob diese für die Bekämpfung von Stigma und Diskriminierung von Bedeutung sind.
In den letzten Jahren wurden
wichtige Kampagnen durchgeführt,
die versuchten, die Stigmatisierung
und Diskriminierung psychisch
Kranker zu vermindern. Zahlreiche
interessante Studien lieferten die
theoretischen Grundlagen dafür und
begleiteten diese Kampagnen. Wenn
man die demographische Entwikklung betrachtet, zeigt sich, dass psychische Alterserkrankungen eine zunehmend größere Rolle spielen werden. Diese Erkrankungen wurden bisher aber nur in relativ geringem
Ausmaß beforscht. Außerdem sind
bei psychischen Alterserkrankungen
zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen, die bei jüngeren Altersgruppen
weniger bedeutsam sind. Kampagnen
mit dem Ziel das Stigma der psychischen Erkrankungen im Alter zu
bekämpfen, fanden bislang nicht
statt. Sowohl Forscher als auch die
für die psychosoziale Versorgung
Verantwortlichen sind gefordert, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit
als bisher zu widmen.
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Angermeyer M., H. Matschinger: Social distance towards the mentally ill: resluts of representative surveys in the
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R. Schmid, W. Rössler, V. Günther: „…
nicht gefährlich, aber doch furchterregend“ – ein Programm gegen Stigmatisierung von Schizophrenie in Schulen.
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Wancata J., B. Kaup, M. Krautgartner:
Die Entwicklung der Demenzerkrankungen in Österreich vom Jahr 1951 bis
zum Jahr 2050. Wiener Klinische
Wochenschrift 113, 172-180 (2001)
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Wancata J., J. Windhaber, A. Friedmann, P. Fischer, M. Rainer, A.
Wuschitz, J. Schneider, J. Murray, A.
Mann, S. Banerjee: Die Pflege von
Demenzkranken durch ihre Partner.
Gemeindenahe Psychiatrie 19/ Heft 3,
3-15 (1998)
Univ.-Prof. Dr. Johannes WANCATA
Universitätsklinik für Psychiatrie,
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie und Evaluationsforschung
1090 Wien, Währinger Gürtel 18-20
[email protected]
KOMMENTAR
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002, S. 117 – 119
Stigma hat Tradition –
Zum historischen Hintergrund der Stigmatisierung
Hartmann Hinterhuber
Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
Lebten psychisch Kranke je in
einer Gemeinschaft, die mit ihnen
ihre Sorgen, ihre Not und ihr Leid
teilte, die sie nicht ächtete, die für sie
Verantwortung übernahm? Im Altertum erschien der psychisch Kranke
als die Inkarnation des Fremden:
„Alienus mente“ lesen wir in antiken
und mittelalterlichen Schriften: der
Fremde ist nicht Teil der Gesellschaft,
ist von der Gemeinschaft ausgeschlossen. In vielen europäischen
Sprachen lebt der lateinische Terminus des „Fremden“, des „Ausgeschlossenen“ als „alien“, als „alienats“ und „alienation“ in der Definition des psychisch Kranken fort.
Fremd ist der, der infolge seines
Andersseins sein Dasein nicht in
lebendiger Verbindung mit seinen
Mitmenschen austragen kann. Fremd
in diesem weiteren Sinne ist das „Verrückte“, Uneinfühlbare, Befremdliche, das aus der mitmenschlich
gemeinsamen Realität Herausgerükkte. (Scharfetter). Der „Irre“ ist der
Verirrte, der sich am Irrweg Befindende, jenes Weges der aus der
Gesellschaft herausführt.
Psychiatrische
Erkrankungen,
ganz besonders schizophrene Störungen, waren in der Tat in Zeiten fehlender therapeutischer Möglichkeiten
ein ungeheures und unbezwingbares
Unglück. Angehörige und karitative
Verbände waren – wenn das Ausmaß
der Störung eine gewisse Grenze
überschritten hatte – rasch überfordert. Kloster-, Stifts- und Stadtspi-
täler konnten sich nur jenen widmen, deren Verhaltensauffälligkeiten
besonders gemeinschaftsgefährdende
Züge aufwies. Für viele wurden Hütten oder Käfige an den Ausfallstraßen
der Städte und Märkte errichtet;
andere schweiften durch die Täler,
verspottet, verlacht und immer wieder aufs Neue vertrieben. Noch in der
Mitte des 19. Jahrhunderts lesen wir
in einem Bericht eines engagierten
Arztes aus dem südlichen Tirol:
„... und das sahen wir, nicht ohne
davon schmerzlich beeindruckt zu
werden, einige von diesen Ausgestoßenen: Sie irrten, sich selbst überlassen, herum und schweiften ohne Ziel,
übel zugerichtet, auf Straßen, Plätzen
und in den Wäldern herum.“ Der
Begriff des Irrsinnes war sehr weit
gespannt und schloss nicht nur die
heute als psychische Störungen definierten Syndrome ein, sondern darüber hinaus jedes die Norm überschreitende Verhalten. So sah noch
der § 61 des Strafgesetzbuches des
Jahres 1787 vor, dass jeder, „der die
Religion verleugnet und so tief sinkt,
dass er dem Allmächtigen frevelhaft
flucht, als Irrer angesehen werden
und in einem Irrenhaus als Gefangener gehalten werden muss, bis man
sicher ist, dass er sich gebessert hat.“
Im „Mann ohne Eigenschaften“
schreibt Robert Musil: „Psychisch
Kranke leiden nicht nur an mangelnder Gesundheit, sondern auch an
einer minderwertigen Krankheit.“
Und Franz Kafka ergänzt: „In meinen
Augen sind die Mauern, die Gesunde
und Kranke trennen, nur Sinnbild für
die Blindheit, für die wahre Lage der
Menschen, die dort und hier dieselbe
ist.“
Bedingt durch das negative
Numinosum, das seelische Erkrankungen beim Gesunden erzeugt und
die von der Gesellschaft befürchtete
kommunikative Anomie, die Unberechenbarkeit des psychisch Kranken,
fließen in allen Kulturen und zu allen
Zeiten irrationale Momente in die
Beurteilung des psychisch kranken
Menschen und – damit verbunden –
auch der Psychiatrie ein.
In der Betrachtung seelischer Not
begegnet uns stets die Gefahr vereinfachender und verkürzender Sichtweisen. Reduktionistische Tendenzen
finden wir in allen Gesellschaftsstrukturen, diese haben Schamanen
und Naturheiler, Ärzte und Psychologen durch die Geschichte begleitet.
Nicht selten haben in der Gegenwart und Vergangenheit Wissenschaftler – und besonders auch Psychiater –
am Mythos der Unberechenbarkeit
und der Unbehandelbarkeit des psychisch Kranken mitgewirkt und somit
einen Beitrag zur Stigmatisierung der
betroffenen Patienten geleistet.
Etymologisch leitet sich „Stigma“
aus dem Griechischen ab, dort bedeutet es „Brandmal“. Cicero gebraucht
den Terminus „Stigmatias“, um den
Gebrandmarkten zu kennzeichnen,
Plinius der Ältere verwendet den
Ausdruck „Stigmosus“, um einen
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002
Menschen, einen Verbrecher zu kennzeichnen, der mit Brandmalen versehen ist. In der wörtlichen Bedeutung
steht das Griechische „stigmein“ für
„Durchbohren, ein Loch anbringen“.
Heute wird das Wort „Stigma“ in der
Bedeutung verwendet, dass eine Person auf Grund eines echten oder vermeintlichen Defizits oder bestimmter
Merkmale geächtet und ausgegrenzt
wird. Im Plural gewinnen „Stigmata“
eine weitere Bedeutung: Die christliche Theologie versteht darunter in
Anlehnung an Galater 6,17 die von
Paulus „an seinem Leib getragenen
Malzeichen Jesu“, die seit dem ersten
beglaubigten Auftreten bei Franz von
Assisi bei rund 300 mystisch begabten Menschen als Leib-seelische
Identifizierung mit Christus beobachtet wurden.
Irrationalität und Emotionalität
prägen die Einstellung weiter Bevölkerungskreise gegenüber psychisch
Kranken. Die Vorurteile sind in unserer kulturellen Tradition fest verankert, die Wurzeln reichen weit
zurück: Eine religiöse Interpretation
seelischer Störungen betrachtete in
verschiedenen Kulturkreisen den
Kranken als einen Sündigen, der –
selbst unter Anwendung des Exorzismus – auf den richtigen Weg hingeführt werden müsse. Krankheit
wurde besonders von den romantischen Psychiatern vorwiegend als
eine Folge sündhafter Vergehungen
gesehen. J. Heinroth (1773–1843),
der wesentliche Exponent der „religiösen Psychiker“, interpretierte Geisteskrankheiten als Krankheiten der
Seele, die mit dem Verlust der Freiheit verbunden wären. Psychisch
Kranke sind nach dieser Sichtweise
für ihr Verhalten, ihr Handeln und
ihre Fehler aber verantwortlich, da sie
als Sünder von Gott mit dem Verlust
der Willensfreiheit hätten bestraft
werden müssen. Am Beginn des 19.
Jahrhunderts beherrschten spekulative und moralisierende Vorstellungen
die Gedankenwelt der deutschen Psychiater, obwohl zur gleichen Zeit an
anderen Orten, beispielsweise in
Frankreich, die Psychiatrie naturwissenschaftlichen Erklärungen geöffnet
wurde. Eine weitere Wurzel der Stigmatisierung psychisch Kranker liegt
in der Aufklärung, die psychisch Auffällige als offenkundige oder anlagemäßige Verbrecher bewertete. Erst
die humanitären Taten eines Vincenzo Chiarugi, des Sozialreformers der
habsburgischen Toskana, und – etwas
später – die Befreiung der Geisteskranken durch Philipp Pinel setzten
das Ende der „Gefängnispsychiatrie“.
Die Vorurteile, die ihre Wurzeln
in den genannten Traditionsströmen
haben, bestehen auch heute in unseren Ländern noch fort, gefördert
durch ein Fortbestehen von Argumenten nationalsozialistischer Propaganda, die neben den Kosten und der
befürchteten Degeneration des Volkes auch das Moment der „Gefährlichkeit“ benutzte, um den Mord an
über 150.000 psychisch Kranken zu
legitimieren. Den Boden für diese
mörderischen Theorien bildete noch
ein anderes Phänomen: Die sozialen
Folgen der Industrialisierung bedingten, dass in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Betreuung psychisch Kranker von der Hauskrankenpflege in große psychiatrische
Anstalten verlegt wurde. In Deutschland wurden zwischen 1880 und 1913
133 öffentliche psychiatrische Krankenanstalten errichtet. „Die wachsende Zahl der in öffentlichen Anstalten
verpflegten Irrsinnigen“ (Gruber und
Rüdin 1911) diente zur Illustration
der Richtigkeit der Degenerationslehre und zur Forderung, den Anteil der
Gesunden zu vermehren („positive
Eugenik“) oder die Kranken und
Schwachen „auszumerzen“ („negative Eugenik“). Diese Gedanken fielen
besonders bei den Nationalsozialisten
auf fruchtbaren Boden. In nicht zu
überbietender Menschenverachtung
begannen sie ihr teuflisches Vernichtungswerk.
Der Nationalsozialismus leitete
die gesellschaftlichen Strukturen
sowie die Zusammengehörigkeit der
Menschen aus der „völkischen“, auf
„Blut und Rasse“ ruhenden Identität
118
ab: Wer sich durch „Blut und Rasse“
legitimiert, war „Volksgenosse“; wer
sich nicht dadurch legitimieren konnte oder zu den „Minderwertigen“ und
„Degenerierten“ zählte, wurde mit
größter Brutalität aus der „völkischen
Blutsbrüderschaft“ ausgeschlossen
und vernichtet.
Der Sozialdarwinismus ist aber
mehr als bloß ein abgeschlossenes
Kapitel der jüngeren Ideengeschichte. Obwohl die Zeit, in der er das bewusstseinsbestimmende
Gewicht
einer Religion gehabt hat, längst verflossen ist, wirkt er – bald untergründig, bald auch manifest – fort und
zeigt gerade gegenwärtig Anzeichen
einer beängstigenden Wiedergeburt.
Am Beginn der 60er Jahre schrieb
John F. Kennedy: „Psychisch Kranke
dürfen nicht mehr länger durch das
Einsetzen von Kommissionen und
Unterkommissionen vertröstet werden, die Not und das Elend hunderttausender von Menschen fordern eine
Entscheidung, heute, sofort. Diesen
Mitbürgern dürfen Grundrechte nicht
vorenthalten werden, wenn die
Gemeinden und der Staat die Achtung vor sich selbst nicht verlieren
wollen.“ Diese Worte, vor 40 Jahren
formuliert, haben immer noch große
Aktualität, heute mehr denn je, auch
in unseren Ländern. Immer noch gilt
die Aussage der Verfasser der Deutschen Psychiatrie-Enquete: „In den
Gemeinden begegnet man häufig
ablehnenden Ansichten und abwehrenden Verhaltensweisen gegenüber
psychisch Kranken und Behinderten,
die nicht nur die Betroffenen und ihre
Angehörigen selbst verspüren, sondern auch die Mitarbeiter derjenigen
Einrichtungen, welche diese Personengruppe zu behandeln und zu
betreuen haben“.
Nach einer anregenden Diskussion über die Stigmatisierung psychiatrischer Patienten schrieb mir
Jules Angst in einem persönlichen
Brief 2001 folgende Sätze:
„Die Mehrzahl der Menschen
würde im Laufe des Lebens
119
Hinterhuber
mindestens einmal eine psychiatrische Diagnose erhalten, ließen
sie sich untersuchen. Nur wenn es
ebenso normal ist, eine psychische wie eine körperliche Störung
zu haben, ist die Stigmatisierung
überwunden. Je mehr man betont,
psychiatrische
Erkrankungen
seien alle schwer, chronisch und
beträfen nur einige wenige Prozente der Bevölkerung (was alles
nicht wahr ist), umso leichter fällt
es, psychisch Kranke als eine
inferiore Minderheit zu stigmatisieren. Die modernen epidemiologischen Studien ergeben mit
besserer Methodik immer höhere
Lebenszeit-Prävalenzen für psychische Störungen. Sie dürften
mehr als 2/3 der Menschen betreffen.“
Gewaltige Fortschritte kennzeichnen die jüngste Geschichte der Psychiatrie: Der Bogen reicht von der
Entwicklung spezifischer psychotherapeutischer Methoden bis zu den
modernen pharmakologischen Entdeckungen und den molekularbiologischen Erkenntnissen in der Ätiopathogenese vieler Krankheiten. Die
sozialpsychiatrischen Ambulanzen
haben die Bedeutung der psychiatrischen Krankenanstalten drastisch
eingeschränkt, die Zahl der ambulant
betreuten psychisch Kranken übersteigt um ein Vielfaches die der
stationär Aufgenommenen. Anstelle
der Zwangsmaßnahmen sind patientenorientierte Behandlungsprogramme getreten, der Kranke ist eine Persönlichkeit mit allen menschlichen
Rechten. Die Umsetzung einer menschengerechten Psychiatrie, die Verwirklichung der sich heute darbietenden therapeutischen Möglichkeiten
stellt eine der größten ethischen Herausforderungen für unsere Gesellschaft dar. Dazu zählen alle Anstrengungen, die Partizipationschancen
der von psychischer Erkrankung
Betroffener zu erhöhen.
Seit der Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin
kämpft diese um gesellschaftliche
Gleichstellung der psychisch Kranken
mit den körperlich Kranken, sie
kämpft um soziale Integrierung der
Betroffenen und gegen jede Form der
Diskriminierung der Kranken als
potentiell gefährliche Geistesgestörte.
Im Gesundheitsbericht 2001, veröffentlicht am 4. Oktober 2001, fordert die WHO die internationale Staatenwelt eindringlich auf, mehr Mittel
für die Behandlung und die Wiedereingliederung psychisch Kranker zur
Verfügung zu stellen. Wegen anha-
tender Stigmatisierung, Diskriminierung und Vernachlässigung lässt sich
zur Zeit nur ein Drittel der von psychischen Problemen betroffenen
Personen ärztlich behandeln. Die
WHO-Generaldirektorin Gro Harlem
Brundtland bekräftigt in ihrem
Bericht, dass eine psychische Erkrankung nicht auf persönliches Versagen
zurückzuführen sei und stellt klar:
„Wenn in diesem Zusammenhang
überhaupt von einem Versagen
gesprochen werden könne, dann nur
im Bezug auf den bisherigen Umgang
der Gesellschaft mit psychischen
Erkrankungen.“ Nach ihren Worten
ist es das Ziel des WHO-Berichtes
„den Teufelskreis von Vernachlässigung und Ignoranz gegenüber psychisch Kranken zu durchbrechen“: Es
ist an der Zeit, dass die Entscheidungsträger endlich den Umfang des
Problems zur Kenntnis nehmen und
an Lösungsmöglichkeiten arbeiten.
Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber
Universitätsklinik für Psychiatrie
Anichstraße 35
A-6020 Innsbruck
LAUDATIO
Neuropsychiatrie, Band 16, Nr. 1 und 2/2002
121
Hans Georg Zapotoczky
zum 70. Geburtstag
Hartmann Hinterhuber
Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck
Am 24.9.2002 unterbricht Univ.Prof. Dr. med. Hans Georg Zapotoczky nur kurz seine wissenschaftlichen
Arbeiten, seine Forschungen und seine Vortragstätigkeit, um einen runden
Geburtstag zu feiern: Sein alle mitreißender Schwung und sein jugendlicher Elan lassen vergessen, dass es
sein 70. Geburtstag ist!
Hans Georg Zapotoczky promovierte 1958 an der Medizinischen
Fakultät der Universität Wien zum
Doktor der gesamten Heilkunde, 1961
trat er in die von Prof. Dr. Hans Hoff
geleitete Psychiatrisch-Neurologische
Universitätsklinik Wien ein und wurde 1966 Facharzt für Psychiatrie und
Neurologie. Stets um ein umfassendes
medizinisches Wissen bemüht, war
Hans Georg Zapotoczky nicht nur
Mitarbeiter von Prof. Dr. Manfred
Bleuler an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich/Burghölzli, sondern auch von Prof. Dr. Isaac Marks
im Institute of Psychiatry in London
sowie bei Prof. Dr. Vic Meyer im
Middlesex-Hospital.
1982 wurde ihm der Titel eines
a.o. Professors für Psychiatrie verliehen, seit 1.5.1991 stellte sich Prof. Dr.
Hans Georg Zapotoczky als o. Universitätsprofessor der Medizinischen
Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz dem Aufbau der Univ.-Klinik für Psychiatrie zur Verfügung.
Ihm verdankt die österreichische
Psychiatrie vieles von seiner internationalen Reputation, das Land Steiermark ehrt ihn als Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie und als
Initiator vieler sozialpsychiatrischer
Projekte. Bis zu seiner Emeritierung
war Prof. Hans Georg Zapotoczky an
allen Orten seines Wirkens seinen
Assistentinnen und Assistenten ein
vorbildhafter, richtungsweisender,
stets zur konstruktiven Zusammenarbeit bereiter und von Menschlichkeit
geprägter Lehrer.
In der Psychiatrie sieht er nicht nur
die biologischen, psychologischen
und soziologischen Aspekte, er
berücksichtigt auch den philosophischen, kulturellen und religiösen Hintergrund unserer Disziplin. Wie kaum
ein anderer versteht es Hans Georg
Zapotoczky die verschiedenen Fachgebiete und Fachrichtungen zu versöhnen und zu verbinden, ihre Zusammenarbeit zu katalysieren, ohne aber
die Eigenständigkeit der einzelnen
Denkrichtungen in Frage zu stellen.
H. G. Zapotoczky erfuhr in Wien
eine profunde individualpsychologische Ausbildung, in England begann
ihn die Verhaltenstherapie zu faszinieren, zu deren wissenschaftlichen Fundierung er vieles beigetragen hat. So
war er von 1993 bis 1995 Präsident
der Österreichischen Gesellschaft zur
Förderung der Verhaltenstherapie und
Verhaltensmedizin.
Prof. Zapotoczky genießt das
uneingeschränkte Vertrauen der österreichischen Psychiater: Von 1998 bis
2000 bekleidete er das Amt des Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie,
während dieser Zeit setzte er entscheidende Weichenstellungen für die
Zukunft. Seine Arbeitskraft ist auch
heute für viele ein Vorbild, er ist zurzeit Präsident der Österreichischen
Gesellschaft für depressive Erkrankungen und Herausgeber der Zeitschrift „Psychopraxis“.
Prof. Zapotoczky ist Membre
correspondant de la Societe medicopsychologique de Paris, Korrespondierendes Mitglied der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Korrespondierendes
Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Ehrenmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und
Ehrenmitglied der Medizinischen Gesellschaft für Oberösterreich.
Die vielfältigen Anerkennungen
dokumentieren seine internationale
Geltung: Die Republik Österreich
würdigte seine vielen Verdienste und
zeichnete ihn mit dem Verdienstkreuz
Erster Klasse für Kunst und Wissenschaften aus.
Die Zahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten und der von ihm verfassten bzw. herausgegebenen Bücher
ist gewaltig und gebietet größte Bewunderung: Allein sein Verzeichnis
umfasst weit über 300 wissenschaftliche Arbeiten und 20 Publikationen
in Buchform.
Die Kraft zu all diesen Aktivitäten
findet er in seiner Familie, besonders
in seiner lieben Gattin, der auch unser
Dank gebührt.
Eine große Schar von Freunden
und Kollegen wünscht Hans Georg
Zapotoczky weiterhin viel Kraft und
Gesundheit für die Bewältigung seiner vielen Aufgaben und viel Freude
und Erfüllung in seinen Musestunden.
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