Somatoforme Störungen Dr. med. Timo Specht Facharzt für Innere Medizin und für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Chefarzt und Ärztlicher Direktor, Fachklinik Aukrug Somatoforme Störungen: Übersicht Intro: „Medizinisch unerklärliche Symptome“ Störungsmodell Klinisches Bild und interaktionelle Schwierigkeiten Aktuelle und zukünftige Klassifikation Ätiologiemodelle Behandlung Therapeutische Haltung und Ziele Behandlungsansätze „Medizinisch unerklärliche Symptome“ MUS „Medically Unexplained Symptoms“: Eine inzwischen gängige Bezeichnung für andauernde und beeinträchtigende körperliche Beschwerden, die weder durch eine organ-, noch eine seelenmedizinisch nachweisbare Störung erklärt werden können. Riesige Gruppe von Patienten in der Primär- (etwa 25%) und Sekundär-Versorgung (etwa 45%) (Creed 2009, u.v.a.m.) „Somatisierung“: Meint eine schwerer betroffene Untergruppe definiert durch zahlreiche MUS „Medizinisch unerklärliche Symptome“ MUS Hohe Komorbidität – seelisch wie körperlich: - 3x so häufig bei Menschen mit organmedizinischer Erkrankung (Harter et al 2007)! - Lineare Korrelation der Anzahl der MUS mit komorbider depressiver und/oder Angst-Störung (Kisely et al 1997) - Studie mit „high-utilizing MUS“-Pat: 23% hatten somatoforme Störung, 60% depressive oder AngstStörung (Smith et al 2005) „Medizinisch unerklärliche Symptome“ MUS Ausgeprägter Zusammenhang von Anzahl der MUS mit Gesundheitsbezogener Lebensqualität Arztbesuchen / Inanspruchnahme Krankschreibung / Arbeitsfehltage Komorbidität (organ- und seelenmedizinisch) Kosten für Gesundheitssystem Folgekosten für Gesellschaft (Henningsen & Creed 2009) „Medizinisch unerklärliche Symptome“ MUS Schwieriges, aber wenig beachtetes Problem, das neben subjektivem Leiden zu viel unnötiger (organmedizinischer) Diagnostik, unindizierter medikamentöser und invasiver Therapie, Krankschreibung, sowie hohen Folgekosten führt. MUS selbst ist jedoch keine sinnvolle medizinische Kategorie Betonung des Körper-Seele-Dualismus, unscharfe Negativ-Definition, nur allgemeine HandlungsEmpfehlungen möglich, nicht unerklärlich – nur undiagnostiziert Somatoforme Störungen Typisch ist: • Hoher subjektiver Leidensdruck durch körperliche Beschwerden • Aufsuchen eines Körpermediziners • Körperbezogene Ursachenüberzeugung • Wiederholte Präsentation körperlicher Symptome trotz ausführlicher unauffälliger Diagnostik • Hartnäckige Forderung nach weiteren medizinischen Untersuchungen Somatoforme Störungen Schwierig sind: • Die Differenzialdiagnose • Das Beenden der apparativen Diagnostik • Den Patienten für einen integrierten Behandlungsansatz zu gewinnen • Die oft problematische Interaktion mit dem „schwierigen Patienten“ Somatoforme Störungen F45 „Polysymptomatische Gruppe“: Vielzahl von Symptomen mit teilweise wechselndem Fokus • Somatisierungsstörung F45.0 • Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.1 „Oligosymptomatische Gruppe“: Umschriebene (Organ, Körperbereich), überwiegend stabile Symptomatik • Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.3 • Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.4 • Sonstige Somatoforme Störung F45.8 Und: Im Vordergrund steht die Angst bzw. Überzeugung an einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden (aber nicht die körperlichen Symptome). • Hypochondrische Störung F45.2 „Das ist eigentlich eine Angst-Störung“ „Somatoform“ im weiteren Sinne im ICD10 F48.0 F54 Im Kapitel F: Dissoziative Störung der Bewegung und Empfindung (Konversionsstörung, pseudoneurol. „Ausdruckskrankheit“) Neurasthenie (Leitsymptom Erschöpfung) Psychosoziale Einflußfaktoren auf somatische Erkrankungen M79.0 G93.3 K58 K30 „Funktionelle“ Störungen: z.B. Fibromyalgie Chronique Fatigue Syndrom Reizdarmsyndrom Non-Ulcer Dyspepsie F44.4-7 Somatische Verlegenheitsdiagnosen: z.B. Borreliose, Asthma, Lumboischialgie … Pseudo-Somatische „Diagnosen“ (Nicht im ICD10): z.B. Multiple Chemical Sensitivity, Umwelt, Nahrungsmittel, Amalgam, Pilze, Gebäude, Elektrosmog, Silikonbrustimplantate … Schwächen der aktuellen Klassifikation Betonung des Dualismus‘ entweder somatogen oder psychogen (MUS) Negativ-Kriterium der medizinischen Unerklärbarkeit ist in der Praxis oft schwierig – i.B. nach langem Verlauf, Komorbidität und Chronifizierung. MUS ignoriert letztlich die Gruppe der Somatoformen Störungen. Hohe Komorbidität bei geringer Trennschärfe der SFS untereinander, und ggü. Funktionellen Störungen und anderen seelischen Erkrankungen. Unscharfe Einschluss- und Ausschlusskriterien. Therapieansätze fokussieren i.B. auf maladaptiven und dysfunktionalen Umgang mit Beschwerden (Unerklärbarkeit dabei nicht entscheidend) Probleme im Sozial- und Versicherungsrecht Abgrenzung zur Aggravation und Simulation) (Unerklärbarkeit, Alternative: „Complex Somatic Symptom Disorder“ Wegfall des Kriteriums der medizinischen Unerklärbarkeit Möglichkeiten der „Sowohl-als-auch“-Klassifikation zusätzlich zu Angst, Depression, Funktionellen und organischen Störungen Zentrales Kriterium: Maladaptive Bewältigung körperlicher Beschwerden, z.B. überzogene Erkrankungsbefürchtungen, fixierte organmedizinische Ursachenüberzeugung, erhöhte körperbezogene Selbstaufmerksamkeit, Schonung, hohe med. Inanspruchnahme, Teufelskreise … Alternative: „Complex Somatic Symptom Disorder“ Drei Hauptkriterien: A: Körperliche Beschwerden Eines oder mehrere mit erheblicher Beeinträchtigung von Befinden und Alltagsbewältigung B: Ausgeprägte, beschwerdebezogene Gedanken / Gefühle / Verhalten Körperbezogene Ängste, überzogene Befürchtungen zur Bedrohlichkeit der Beschwerden, exzessiver Zeit- und Energieeinsatz (2 von 3) C: Chronifizierung > 6 Monate Symptomatik kann wechseln! Optionale Spezifizierung danach, ob körperliche Beschwerden, körperbezogene Ängste oder Schmerzen klinisch im Vordergrund stehen Ätiologiefaktoren somatoformer Störungen (mod. n. Boll-Klatt) Unspezifische Faktoren Individuell Spezifische Faktoren Genetische Faktoren Belastungsfaktoren in der Kindheit Armut, Vernachlässigung, Verlust eines Elternteils, Missbrauch Somatische Vor-/ Grunderkrankungen Primärer Krankheitsgewinn Entlastung vom inneren Konfliktdruck, Minderung der innerseelischen Angst durch Symptombildung Gestörte Stress- und Schmerzverarbeitung durch frühe Bindungsstörung / Trauma, neuroanatomische Überlappung zur Emotionsregulation, Disposition Frühe Störung der Beziehung zum Körper Somatosensorische „Amplifikation“ Modelllernen Interaktionell Sekundärer Krankheitsgewinn Objektive Vorteile der Krankenrolle, Genesungsschutz durch soziale Entlastung, z. B. Krankschreibung, Rente, verstärktes Interesse und Zuwendung der Umwelt Iatrogene Faktoren Wiederholte interaktionelle Frustration, Nichterkennen psychischer Beschwerden, Überdiagnostik, Überbewertung von Bagatellbefunden, somatische Fixierung, „sekundärer Behandlergewinn“ Soziokulturell Höhere gesellschaftliche Akzeptanz körperlicher Krankheit, Einfluss von Entschädigungsbegehren, „Kampf um Legitimität“, „Beziehungsstörung im Gesundheitswesen“ Medien Verbreitung von Erklärungsmodellen für unspezifische Körperbeschwerden (Amalgam, Elektrosmog) Ätiologiefaktoren somatoformer Störungen Die Störung des „Körpers im Kopf“ Nicht der Körper ist gestört, sondern die zentrale Repräsentanz des Körpers im Gehirn („Als-ob-Schleifen“, Damasio 1994) Störungen der Systeme zur Stress- und SchmerzVerarbeitung (HPA-Achse, serotonerges System, LC-NEAchse, endogene Opioide, sensibilisierte „Pain-Matrix“) Neuroanatomische Überlappungen zu den Arealen der Emotions-Verarbeitung (z.B. anteriorer cingulärer Cortex) Therapeutische Haltung Das wesentliche Material für die Therapie ist (zunächst)… … die ausführliche Schilderung der körperlichen Beschwerden … und die daran geknüpften Beziehungsepisoden. Zuhören! Nicht Handeln, nicht Deuten! (Keine Suche nach der „eigentlichen seelischen Ursache“) Über 50% der Patienten mit MUS geben spontane Hinweise zum psychosozialen Kontext! Therapeutische Haltung Signalisieren Sie Wahrnehmung für Leidensdruck, Entgegennehmen (und „Kontextualisieren“) der Symptomklage Relativieren Sie hohe Ansprüche wie Symptombeseitigung (kleine Schritte, Bewältigung statt Heilung…) Aktiv-stützend, geduldig-interessiert Sowohl-als-auch-Haltung: Ernstnehmen der Beschwerden und Interesse an psychosozialen Aspekten Ziele Stabilisierung der primärärztlichen Behandlungsbeziehung Verhinderung von Chronifizierung und Schädigung durch nicht indizierte Diagnostik und Therapie Bio-Psycho-Soziale Erweiterung des Krankheitsmodelles Verbesserung der Lebensqualität, Beschwerdelinderung incl. Komorbidität (Depression, Angst…) Fördern: Körperliche Aktivität, Affektdifferenzierung, Interesse an Umwelt, Psychotherapiemotivation Reduzieren: Körperliche Selbstaufmerksamkeit, Schonung Verständnis für symptomauslösenden psychosozialen Kontext erarbeiten und Bewältigungskompetenz entwickeln n. Schäfert & Henningsen 2005 Zur Therapie „Tangentiale Gesprächsführung“: Zusammenhänge zwischen körperlichen Beschwerden, seelischem Erleben und psychosozialer Belastung werden eher beiläufig angesprochen „Bei vielen Menschen mit körperlichen Krankheiten führt seelische Belastung im Alltagsleben zu einer Verstärkung der Beschwerden. Kennen Sie das auch?“ Brücken bauen z.B. mit verständlicher Aufklärung über mögliche (akzeptable) Störungsmodelle, die psychosoziale Aspekte einbeziehen („Stress“, Teufelskreis). Zunächst keine Deutungen oder Konfrontationen. Arbeit an der subjektiven Krankheitstheorie Ausloten und Erweitern von Vorstellungen zur Ursachenüberzeugung durch Edukation und Verknüpfung von Symptomen mit (inneren oder äußeren) belastenden Lebensereignissen. Das „Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit“ erleben Patienten als sehr entlastend. Immer wieder aufs Neue: Wegen des Musters der Beziehungsgestaltung über Körpersymptome – dadurch aber auch immer wieder neues Material zur Reflexion des psychosozialen Kontextes.