Körperliche Beschwerden ohne passenden Befund

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05.06.2012
Körperliche Symptome ohne passenden Befund -­‐ Was tun? Prof. Dr. med. V. Köllner Psychosoma<sche Fachklinik Mediclin Bliestal Kliniken, 66440 Blieskastel [email protected] Ziele dieser Vorlesung: Bliestal Kliniken •  Fachkliniken für Innere Medizin, Orthopädie & Rheumatologie und Psychosoma<sche Medizin •  Psychosoma<k: 168 BePen, Tagesklinik, Ambulanz, Spezialsta<o-­‐nen für Pa<enten mit chronischen Schmerzsyndromen, arbeitsplatz-­‐bezogenen Störungen, Angst-­‐ und Traumafolgestörungen, Depression •  Enge Koopera<on mit der Uniklinik Homburg in Forschung, Lehre und Pa<entenversorgung Ziele dieser Vorlesung: •  mit Krankheitsbildern und den diagnos<schen Kriterien vertraut machen •  Entstehungsmodelle somatoformer Störungen klären •  Strategien für den täglichen Umgang mit dieser Pa<entengruppe vermiPeln •  Indika<onen und Wirkprinzipien der Verhaltenstherapie aufzeigen Lernen, somatoforme Störungen rechtzeitig zu erkennen!
Fallgeschichte Frau W.: •  47-­‐jährige, engagierte Bankkauffrau •  stellt sich beim Hausarzt vor wegen Übelkeit, Brechreiz, Appe<t-­‐ und Gewichtsverlust •  zunehmend Müdigkeit, Erschöpfung, •  innerhalb von 9 Monaten 3 Gastroskopien, 1 ERCP, 2CT, 1 MRT, mehrere Oberbauchsonographien und Labor-­‐
kontrollen, alle o. B. Vorgeschichte Frau W.:  ließ sich von Arbeit beurlauben, um MuPer zu pflegen, die an Pankreas-­‐Ca liP und versorgte gleichzei<g Mann und 2 Töchter.  sehr anstrengende Monate bis zum Tod der MuPer, bei der Pflege häufig Ekelgefühl.  Nach dem Tod der MuPer weiter Übelkeit und Erschöpfung, Arbeitsversuch scheitert  Lerngeschichte: Älteste Schwester, beide Eltern berufstä<g, hohe Leistungserwartung 1
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Frau W.... •  lässt sich zur Abklärung der Übelkeit untersuchen: kein path. Befund. •  Gedanke: „Bei der MuPer hat es auch so angefangen!“, ängstl. Selbstbeobachtung •  Nicht-­‐Akzep<eren der eigenen Erschöpfung: „Meine Müdigkeit muß Symptom einer schweren Erkrankung sein!“ •  Wechsel zwischen perfek<onis<scher Hausarbeit und Phasen der BePlägerigkeit. Frau W... •  Zulassen von Trauer und Erschöpfung, Wechsel ins sta<onäre Seong •  an<depressive Medika<on •  Lernen, etwas für sich zu fordern, auch wenn man nicht krank ist •  Familiengespräch mit Neuverteilung von Aufgaben •  Rückkehr in Teilzeit-­‐Berufstä<gkeit •  Ambulante Nachbehandlung über ein Jahr, in der 3-­‐Jahreskathamnese stabiler Therapieerfolg Somatoforme Störungen •  Etwa 5 -­‐ 11% der Bevölkerung leiden unter somatoformen Symptomen. •  Frauen sind häufiger betroffen als Männer (Ausnahme: Hypochondrie) •  Häufig familiäre und soziale Stressoren •  Verantwortlich für etwa 20% aller Arztkontakte (Doktorshopping) •  Behandlungskosten im Vergleich zur Normalbevölkerung um das 6(sta<onär)-­‐ bis 14-­‐
fache (ambulant) erhöht. Frau W... •  Pa<en<n sucht psychosoma<sche Klinik auf Anraten der Tochter (Internet) auf. •  Einlassen auf teilsta<onären psycho-­‐soma<schen Therapieansatz „zur Probe“ •  Erarbeiten alterna<ver Erklärungsmodelle der Beschwerden (Mitpa<enten als Modell) •  Einzel-­‐ und Gruppentherapie, Entspannungsverfahren, KunsPherapie, Körperwahrnehmung, Trainingstherapie, Somatoforme Störungen •  sind eine Gruppe von Krankheitsbildern, bei denen die Pa<enten wegen Körpersymptomen medizinische Hilfe aufsuchen, •  für die sich organmedizinisch keine oder keine vollständige Erklärung finden lässt. •  Verschiedene psychologische Mechanismen erklären die Symptomentstehung. •  Psychosoma<sche Grundversorgung und Psychotherapie sind die Behandlungsformen der Wahl. Soma<sierungsstörung (F45.0) •  Mindestens 2 Jahre mul<ple und wechselnde körperliche Symptome in verschiedenen Körperregionen. •  Andauerndes Leiden und häufige Arztbesuche. •  Keine oder nur unzureichende Akzeptanz, daß keine organische Ursache vorliegt. •  Häufigkeit 4 -­‐ 5 ‰ 2
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Undifferenzierte Soma<sierungsstörung (F45.1) •  Mul<ple körperliche Symptome, die nicht die diagnos<schen Kriterien von F 45.0 erfüllen, aber zu Leidensdruck und häufigen Arztkonsulta<onen führen. •  Betroffen sind 5 -­‐ 11% aller Pa<enten in Allgemeinpraxen Somatoforme autonome Funk<onsstörung (F45.3x) •  Vorliegen von Symptomen autonomer Erregung z. B. des # Herz-­‐ Kreislauf-­‐ oder resp. Systems oder # oberen oder unteren Gastro-­‐ intes<naltraktes oder des # Urogenitalsystems •  Keine Störung von Struktur oder Funk%on (?) des betroffenen Systems Dissozia<ve Störungen •  Differen<aldiagnose v.a. zu neurologischen Krankheitsbildern. •  Dissozia<ve Bewegungsstörung (Konversionsneuro<sche Lähmung) •  Dissozia<ve Gefühls-­‐ oder Sinnesstörung •  Dissozia<ve Fugue oder Stupor •  Dissozia<ve Krampfanfälle •  Dissozia<ve Iden<tätsstörung •  Enge Beziehung zu Trauma9sierung Hypochondrische Störung (F45.2) •  Im Vordergrund stehen nicht Körper-­‐
symptome, sondern die Angst, an einer bedrohlichen Erkrankung zu leiden. •  Sonderform: Körperdysmorphe Störung = Angst, daß ein Körperteil mißgestaltet ist. •  Häufige ärztliche Untersuchungen bringen kurzfris<ge Beruhigung und halten über nega<ve Verstärkung die Erkrankung aufrecht. Somatoforme Schmerzstörung (F45.4) •  Im Vordergrund stehen nicht mul<ple Körpersymptome, sondern chronische Schmerzen, deren Stärke durch den soma<schen Befund nicht hinreichend geklärt wird. •  Häufige Arztkonsulta<onen. •  Etwa 10% aller chronischen Schmerzpa<enten. Einteilung Somatoforme Störungen (nach Timmer & Rief, 2005)
Körperliche Beschwerden ohne
organische Grunderkrankung
Multiple Beschwerden
(auch in Anamnese)
Umschriebene körperliche Symptomatik
Starke Gesundheitsängste
Somatisierungsstörung
Somatoforme
autonome
Funktionsstörung
Somatoforme autonome
Funktionsstörung
Anhaltende
somatoforme
Schmerzstörung
Undifferenzierte
Somatisierungsstörung
Hypochondrie
Dysmorphophobie
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Differen<aldiagnosen • 
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organische Krankheitsbilder Komorbidität mit organischen Krankheitsbildern Panikstörung andere Angststörungen (v. a. GAS) Depressive Störungen (histrionische) Persönlichkeitsstörung Suchtproblema<k ar<fizielle Störungen (Artefakt, Münchhausen-­‐Syndr.) Simula<on Psychosen Erklärungsmodelle •  Sozialisation und Lerngeschichte
- Körper als Quelle von Unlust
oder Angst
- Zuwendung nur bei
Körpersymptomen
 häufig Vorgeschichte von
Vernachlässigung/ sexueller oder
gewalttätiger Mißhandlung
•  Einstellungen und Bewertungen
•  Aufmerksamkeitsfokussierung
•  chronisches Krankheitsverhalten
•  operante Verstärkung von
Rückversicherung
•  psychophysiologische
Rückkoppelung
(Henningsen et al., Lancet, 2007)
Teufelskreise bei somatoformen Störungen Körperliches
Schonverhalten
Bewertung als
Symptom einer
bedrohlichen
Erkrankung
Trainingsmangel
Dyspnoe und
Herzklopfen bei
geringer Belastung
Angst
Vermehrte Selbstbeobachtung
Wahrnehmung
körperlicher
Beschwerden
Anspannung
Verhalten als Ärz<n/Arzt 1 •  Nie ohne Hausarzt! •  Glaubhayigkeit der Beschwerden bestä<gen. •  Früh ansprechen, daß Beschwerden wahrscheinlich nicht durch eine schwere Erkrankung, sondern durch die Fehlwahrnehmung von Körperprozessen entsteht, wie sie unter Streß häufig vorkommt. Problem nicht gestellter Diagnosen: Pa<ent kommt mit körperlichen Symtomen eines Panikanfalls oder einer somatoformen Störung zur Diagnos<k ⇓ Organmedizinische Diagnos<k o. B. ⇓ Arzt: „Sie sind gesund!“ ⇓ Pa<ent hat keine Erklärung für seine Beschwerden erhalten, fühlt sich unverstanden und sucht bei neuen Beschwerden weiterführende Diagnos<k. Verhalten als Ärz<n/Arzt 2 •  Medizinische Diagnos<k entsprechend Leitlinien zügig durchführen •  Krankheitsbild benennen und Informa<on über Teufelskreismodell geben, Symptome des Pa<enten und Befunde (z. B. Sinustachykardie) damit verknüpfen •  Keine Bagatelldiagnosen, die den Pa<enten in einer soma<schen Sicht bestärken. •  Hinweis, dass es sich um eine häufige und gut bekannte Diagnose handelt •  Unnö<ge Eingriffe (häufige Wiederholung von Untersuchungen) vermeiden! 4
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Verhalten als Ärz<n/Arzt 3 •  Feste Termine vereinbaren, spontane Arztbesuche vermeiden. •  Zu gesunder Lebensführung (Bewegung, Ausdauertraining, Niko<nabs<nenz, Entspannungsverfahren) und Reflek<on über mögliche Beschwerdeauslöser mo<vieren (Was will Ihnen Ihr Körper damit sagen?) •  In der Mehrzahl der Fälle reichen Au{lärung und Gespräche im Rahmen der Psychosoma<schen Grundversorgung •  Es gibt keine 100%ige diagnos9sche Sicherheit! Au}au von Psychotherapiemo<va<on •  Behandlungsanliegen und Rahmenbedingun-­‐
gen (z. B. Arztkontakte, Krankschreibung, Rentenantrag) klären •  Was haben Sie bis jetzt alles versucht, damit es besser wird? •  Wie bewerten Sie diese Versuche? •  Was glauben Sie selbst, woher die Beschwerden kommen? •  Was glauben Sie, wie es weitergehen sollte? Psychotherapie •  Verhaltens-­‐ und Bedingungsanalyse (Mikro-­‐ und Makro-­‐Ebene), Protokoll führen lasen •  Entspannungsverfahren, evtl. Biofeedback •  Erarbeiten eines realis<schen Gesundheitsbegriffs •  Reduk<on von Rückversicherung und Kontrollverhalten •  Abbau von Schonverhalten, berufliche Reintegra<on Weiterführende Therapie •  Verhaltenstherapie oder psychodynamische Psychotherapie •  bei AU-­‐Zeit > 3 Wochen sta<onäre Rehabilita<on einleiten (Chronifizierung!) •  Medikamentöse Therapie: -­‐ v. a. bei Schmerz und gastrointes<naler Symptoma<k: Amitryp<lin ab 25 mg z.N. (bei komorbider Depression 75-­‐300mg) -­‐ bei ängstlich-­‐agi<erter Symptoma<k: Opipramol 50-­‐150 mg/Tag -­‐ Alterna<v: SSRI-­‐An<depressiva -­‐ keine Benodiazepine oder Neurolep<ka („Imap-­‐Spritze“) Au}au von Psychotherapiemo<va<on •  Erarbeiten eines (Kompromiß-­‐) Krankheitsmodells oder Therapiekonzeptes  „Nicht nur auf ein Pferd setzen!“  Alterna<ves vorgehen für eine befristete Zeit ausprobieren  bisheriges Vorgehen für eine befristete Zeit fortsetzen  „Was glauben Sie, wie es weiter geht, wenn sich nichts ändert?“ •  Pa<enten nicht zu der Entscheidung „Psyche oder Soma“ zwingen! Psychotherapie •  Familiengespräch •  kogni<ves Umstrukturieren hypochondrischer Ängste •  ungeklärte Konflikte bearbeiten •  Emo<onstraining, Konkordanztherapie •  soziales Kompetenztraining •  Streßreduk<on, Problemlösetraining •  Rückfallprophylaxe 5
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Fallgeschichte Herr F., 29 Jahre •  Ingenieur, 2 Jahre nach Studienabschluß •  arbeitet in einem größeren Industriebetrieb •  lebt seit Jahren in einer Partnerschay, die aktuell durch beruflichen Streß angespannt ist •  spielt semiprofessionell Fußball •  bei einer Feier nach einem Turnier im Ausland kommt es unter Alkoholeinfluß zu sexueller Interak<on mit Pros<tuierter Fallgeschichte Herr F., 29 Jahre •  Nach 1 Jahr Überweisung zur Psychotherapie •  kogn. Umstrukturieren angstauslösender Gedanken •  Abbau von Rückversicherungsverhalten •  Analyse aufrechterhaltender Bedingungen: Beziehungsfrage bleibt offen! Fallgeschichte Herr F., 29 Jahre Gedanke: „Habe ich mir AIDS eingefangen?“ Verhalten: HIV-­‐Test Kurzfris<ge Konsequenz: Beruhigung Verhalten: Informa<onssuche im Internet: „HIV-­‐
Tests sind unzuverlässig!“ •  Folge: Wechsel zwischen Beruhigung durch nega<ve Tests und angstauslösenden S<muli. •  Zunehmende ängstliche Selbstbeobachtung. •  Kein Sex mehr mit Freundin, Kinderwunsch wird aufgeschoben, Selbstvorwürfe • 
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Zum Nachlesen: •  Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007).
Management of functional somatic syndromes.
Lancet. 369: 946-955
•  Köllner V, Berg G, Kindermann I (2007).
Angststörungen und funktionelle somatische
Syndrome in der Kardiologie. DMW. 132:
2513-2524
•  Susan Mc Daniel et al.: Familientherapie in der Medizin. Carl Auer, Heidelberg •  W. Rief & W. Hiller: Soma<sierungsstörung und Hypochondrie. Hogrefe, Göongen 6
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