Kasuistik interaktiv 9 Ertrinkungsunfall eines Kleinkinds im Gartenteich Dominique Singer einem Stimmritzenkrampf gekommen war Überblick ■ ■ ■ („trockenes Ertrinken“) – durch sekundäre 3-jähriger Junge, der Anfang April nach kurzer unbeaufsichtigter Phase bewusstlos im Teich des Nachbargartens treibend vorgefunden und von seiner Mutter – ihrerseits Kinderkrankenschwester – reanimiert wird. Durch den herbeigerufenen Notarzt bei bestehender Asystolie Fortsetzung der Reanimation, Intubation und Verabreichung von Adrenalin, daraufhin Wiederherstellung des Spontankreislaufs. Bei Aufnahme im Schockraum Körpertemperatur um 29 °C, bradykarde Herzaktion, stabiler Blutdruck. Sofortige Übernahme auf die pädiatrische Intensivstation, dort nach weiterer Stabilisierung und 3-tägiger therapeutischer Hypothermie von 33–34 °C langsame Wiedererwärmung und Beatmungsentwöhnung mit konsekutiver neurologischer Restitutio ad integrum. Regurgitation von Wasser (aus dem prall gefüllten Magen) zustande. Die ältere Vorstellung, durch Kopftieflage Wasser aus den Atemwegen entfernen zu können, gilt als obsolet. Die Rettung von Schiffbrüchigen auf See sollte möglichst in horizontaler Lage erfolgen, weil beim vertikalen Herausziehen aus dem Wasser durch den Wegfall des hydrostatischen Umgebungsdrucks und die kältebedingte Einschränkung der Gefäßregulation ein orthostatischer Kollaps („Bergungskollaps“) droht, der bei stark unterkühlten Erwachsenen sogar Auslöser ■ ■ ■ ■ ■ T des hypothermen Kammerflimmerns sein Wie stellt sich die Epidemiologie weil die Kinder im Frühjahr wieder ver- kann. Für solche Fälle, in denen erwachsene von Ertrinkungsunfällen dar? mehrt ins Freie geschickt werden, zum Schiffbrüchige oder auch Lawinenopfer mit anderen, weil natürliche Gewässer nach erhaltenem Spontankreislauf aufgefunden den Wintermonaten noch kalt sind und ge- und erst dann – durch Positionswechsel rade bei Kleinkindern zu einer raschen – in und medizinische Manipulationen – in diesem Fall protektiven – Auskühlung füh- einen Kreislaufstillstand geraten, wurde ren. Daher gehen solche Ertrinkungsunfälle früher der Begriff „Bergungstod“ geprägt. Die Häufigkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab. Es gibt 2 Häufigkeitsgipfel im Kleinkindes- und im Adoleszentenalter. Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen als das weibliche. Das weibliche Geschlecht ist häufiger betroffen als das männliche. Schon im Kleinkindesalter ist ein Geschlechtsunterschied erkennbar. Epidemiologie Ertrinkungsunfälle kommen mit 2 Häufigkeitsgipfeln, einem ersten bei Kleinkindern, die gerade laufen gelernt haben und ihre Umgebung „erkunden“, und einem zweiten bei Jugendlichen – nicht selten unter Alkoholeinfluss – vor. Es besteht eine deutliche „Knabenwendigkeit“, d. h. Bevorzugung des männlichen Geschlechts, die nicht nur im Adoleszenten-, sondern bemerkenswerterweise schon im Kleinkindesalter nachweisbar ist. Der Fall eines 3-jährigen Jungen ist in diesem Sinne also besonders typisch. Auch die Jahreszeit – Anfang April – ist nicht uncharakteristisch für den geschilderten Verlauf, zum einen, oft günstiger aus als vergleichbare Ereignisse in spätsommerlich-lauwarmen Gewässern oder temperierten „Spaßbädern“. ■ ■ ■ ■ ■ T Was ist bei der Rettung von Ertrinkungsopfern zu beachten? Zur Entfernung von Wasser sollte die Kopftieflage eingehalten werden. Schiffbrüchige werden am besten senkrecht aus dem Wasser gezogen. Bei Rettung aus akzidenteller Hypothermie droht der „Bergungstod“. Ertrunkene Kleinkinder haben eher ungünstige Reanimationsaussichten. Ertrunkene Kleinkinder haben eher günstige Reanimationsaussichten. Rettung Die mit Ertrinkungsunfällen oft einhergehende Aspirationspneumonie kommt entweder durch primäre „Inhalation“ oder – auch wenn es zunächst zu Reanimationsaussichten Kleinkinder haben nach Ertrinkungsunfällen in kalten Gewässern besonders günstige Reanimationsaussichten. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die Kältegegenregulation regelrecht „überfahren“ wird, sodass eine langwierige Stoffwechselsteigerung ausbleibt. Außerdem reagieren Kleinkinder auf asphyktische Ereignisse rasch mit einer bradykarden Kreislaufzentralisation („Tauchreflex“), durch die der O2-Verbrauch weiter gedrosselt wird. Beide Faktoren führen dazu, dass ein relevanter O2-Mangel erst eintritt, wenn die Körpertemperatur bereits stärker abgesunken ist, sodass sich der protektive Effekt der Hypothermie besonders günstig auswirken kann. Schließlich geraten Kleinkinder (u. a. wegen ihrer geringeren Herzmuskelmasse) meist nicht ins kälteinduzierte Kammerflimmern, sodass Notfallmedizin up2date 7 ⎢ 2012 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ■ 10 Kasuistik interaktiv Tabelle 1 Stadieneinteilung der akzidentellen Hypothermie. Die klinischen Symptome erlauben eine Abschätzung der Unterkühlungstiefe und triggern unabhängig von einer Temperaturmessung die notwendigen Basismaßnahmen. Diese an die Algorithmen der Seenot- und Bergrettungsorganisationen angelehnten Maßnahmen gelten für die Erstversorgung akzidenteller Hypothermien „in Reinkultur“ mit begrenzten Mitteln (Schiffbruch, Lawine). Stehen andere Schädigungsmechanismen im Vordergrund (Ertrinkung, Erstickung), kann ein invasiveres Vorgehen notwendig werden. Symptome Stadium/Temperatur Basismaßnahmen Blässe Erregungsstadium („Exzitation“) Entfernung nasser Kleidung Unruhe ca. 36–33 °C thermische Isolation Kältezittern Betreuung, Beobachtung Somnolenz Erschöpfungsstadium („Lethargie“) Desorientierung ca. 33–30 °C Atemdepression Lagerung, Immobilisation klinische Überwachung (ggf. SpO2) → Wiedererwärmung oberflächlich Bewusstseinsverlust Lähmungsstadium („Paralyse“) Sicherung Atemwege Reflexlosigkeit (Pupillen) ca. 30–27 °C EKG-Monitoring, CPR-Bereitschaft → Wiedererwärmung an der HLM (Erwachsene) Bradykardie oder oberflächlich (Kinder) Atemstillstand Vita reducta/minima („Scheintod“) Intubation und Beatmung Pulslosigkeit < 27 °C CPR (außer Spontankreislauf) → Wiedererwärmung an der HLM (Kammerflimmern, tiefe Bradykardie, Asystolie) CPR = Cardio-Pulmonary Resuscitation; HLM = Herz-Lungen-Maschine keine komplette Ischämie eintritt, sondern ein „Spüleffekt“ auf Gewebeebene erhalten bleibt. Dies steht im Gegensatz zu Erwachsenen, bei denen es nicht nur durch Gegenwehr und Kältegegenregulation zu einer ungünstigeren metabolischen Ausgangssituation, sondern schon bei ca. 27 °C oft zum Kammerflimmern kommt. So sind auch bei den großen historischen Schiffskatastrophen die meisten Opfer nicht ertrunken, sondern in Wirklichkeit „erfroren“. ■ ■ ■ ■ ■ T Wie erfolgt die Erstversorgung von Ertrinkungsopfern am Unfallort? Die umgehende Temperaturmessung ist therapieentscheidend. „No one is dead until warm and dead.“ Bei Kindern ist eine „chest compression only“-Reanimation ausreichend. Es besteht die Indikation zur Intubation und Beatmung. Bei tiefer Hypothermie ist die Defibrillation oft erfolglos. Notfallmedizin up2date 7 ⎢ 2012 Hypothermie und Hypoxie Da medizinische Thermometer einen eingeschränkten Messbereich haben und es den „idealen“ Messort nicht gibt (z. B. zeigt die Rektaltemperatur, da das Rektum durch die extreme periphere Vasokonstriktion in dieser Situation zur Körperschale zählt, meist deutlich zu niedrige Werte an), erfolgt die Abschätzung der Körpertemperatur – etwa bei aus dem Wasser geborgenen Schiffbrüchigen – klinisch anhand der Stadieneinteilung der akzidentellen Hypothermie (Tab. 1). Nach echten Ertrinkungsunfällen (mit längerdauernder Submersion) werden die Symptome der Hypothermie ohnehin von den Zeichen der Hypoxie überlagert. Da beide (etwa die Einschränkung der Pupillomotorik) aber teilweise deckungsgleich sind und die Hypothermie einen Schutzeffekt vor der Hypoxie ausgeübt haben kann, gilt für alle unterkühlten Patienten, die keine offensichtlich mit dem Leben unvereinbaren Verletzungen aufweisen, die Prämisse „No one is dead until warm and dead“. Reanimation und Intubation Auch eine tiefe Bradykardie oder Asystolie ist bei in unseren Breiten (d. h. in nicht allzu kalten Gewässern) ertrunkenen Kindern meist als Zeichen eines längerdauernden Sauerstoffmangels und damit einer ungünstigen Prognose zu werten. Wie im Kindesalter generell, ist auch hier – im Gegensatz zum primär kardial bedingten Herzstillstand älterer Erwachsener, bei dem eine „chest compression only“-Wiederbelebung ausreichend sein kann – die Beatmung ein essenzieller Bestandteil der kardiopulmonalen Reanimation. Anders als bei noch langsam spontanatmenden Schiffbrüchigen oder Lawinenopfern, bei denen gelegentlich im Hinblick auf die mögliche Auslösung von Kammerflimmern die zwingende Intubationsindikation infrage gestellt wird, ist zur Sicherung des Atemwegs und wegen der meist bereits beginnenden Aspirationspneumonie die Intubation geboten. Eine Ausnahme gilt nur bei Kindern, die unmittelbar nach einem Sturz wieder aus dem Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ggf. O2-Zufuhr Wasser herausgezogen worden und zwar dern sind nach Ertrinkungsunfällen in eis- da es gerade ohnehin unterkühlte Klein- erregt, aber nicht komatös sind, und bei kalten Gewässern gute Erfahrungen mit der kinder rasch in einen so tiefen Hypother- denen durch eine unter oberflächlicher extrakorporalen Wiedererwärmung be- miebereich bringen kann, dass eine kon- Analgosedierung erzwungene Intubation richtet worden. Allerdings ist zu bedenken, ventionelle Wiedererwärmung nicht mehr bei gefülltem Magen tatsächlich Sekundär- dass gerade Kleinkinder weit weniger zum ohne weiteres möglich ist. komplikationen ausgelöst werden können. kälteinduzierten Kammerflimmern neigen, Katecholamine und Defibrillation Im vorliegenden Fall hat die umgehende Einleitung der Wiederbelebung durch die fachkundige Mutter sicher zu dem günstigen Ausgang beigetragen, auch wenn durch die nach Ertrinkungsunfällen oft sehr bradykarde Herzaktion das Risiko einer formal „unnötigen“ Herzmassage besteht. Die Gabe von Katecholaminen ist in Hypothermie wegen der veränderten Pharmakodynamik und -kinetik umstritten, kann jedoch – speziell wenn eine vagotone Komponente (Würgen, Erbrechen, Intubation) beteiligt ist – zur symptomatischen Beschleunigung der Herzfrequenz beitragen. Wenn es bei älteren Kindern oder Erwachsenen, sei es kälte- oder hypoxiebedingt, zum Kammerflimmern gekommen ist, bleibt die Defibrillation bei Temperaturen unter 30 °C oft erfolglos, sodass dann ein Transport unter laufender Reanimation angetreten werden muss. ■ ■ ■ ■ ■ T Wie sollte man beim Transport von Ertrinkungsopfern vorgehen? Es sollte stets die nächstgelegene Klinik angesteuert werden. Es sollte stets ein Zentrum mit extrakorporaler Zirkulation angesteuert werden. Auf dem Transport sollte mit der externen Wiedererwärmung begonnen werden. Auf dem Transport sollten weitere Kühlmaßnahmen eingeleitet werden. Von verschmutzten Gewässern sollte eine Wasserprobe mitgebracht werden. Zielklinik Nachdem bei Erwachsenen in tiefer Hypothermie (< 30 °C) jederzeit ein nicht defibrillierbares Kammerflimmern auftreten kann, hat es sich bewährt, solche Patienten (in erster Linie handelt es sich um Lawinenopfer) grundsätzlich in ein Zentrum zu transportieren, in dem die Wiedererwärmung am extrakorporalen Bypass vorgenommen werden kann. Auch bei Kin- sodass die zeitaufwändige und invasive Gewässerprobe Auch wenn es „skurril“ Prozedur des Anschlusses einer Herz-Lun- erscheinen mag, kann das Mitbringen einer gen-Maschine solchen Fällen vorbehalten – später oft nur noch mühsam zu beschaf- bleiben kann, in denen bei sehr tiefer Hy- fenden – Wasserprobe aus einem verun- pothermie (< 27 °C) eine manifeste Kreis- reinigten Gewässer zur mikrobiologischen laufinsuffizienz besteht. In den meisten an- (und gelegentlich auch forensischen) Auf- deren Fällen genügt es, eine qualifizierte klärung beitragen. Da Patienten nach Er- Kinderintensivabteilung anzusteuern, trinkungsunfällen mitunter eine abszedie- zumal eine unnötige Verlängerung des rende „Metastasierung“ von aspirierten Transportwegs gerade bei Kleinkindern Mikroorganismen (z. B. Pilzen) zeigen, lässt mit einem weiteren Auskühlungsrisiko sich durch einen entsprechenden Wasser- verbunden ist. befund ggf. frühzeitig die Indikation zu einer kalkulierten (z. B. antimykotischen) Wärmemanagement Eine solche weitere Auskühlung zu vermeiden, ist auch das Hauptziel des Wärmemanagements auf dem Transport, das im Übrigen stark von der konkreten Situation geprägt ist. So werden gering oder mäßig hypotherme Patienten abgetrocknet und zugedeckt, um sich endogen „warmzittern“ zu können. Bei tieferen Hypothermien hingegen ist trotz isolierender Decken und angewärmter Infusionslösungen aufgrund der Umverteilung der Wärme im Körper ein weiterer Abfall der Körperkerntemperatur („after drop“) oft kaum zu vermeiden. Andererseits sind Versuche einer exogenen Erwärmung nicht ungefährlich, da es durch das Aufbringen von Wärme zu einer Vasodilatation mit Blutdruckabfall kommen kann. Besondere Erfahrungen aus der Berg- und Seenotrettung, wo mit tief hypothermen Patienten lange Transportwege unter ungünstigen Umgebungsbedingungen zurückgelegt werden müssen, und die daher besondere Wärmeprotektionsmaßnahmen erfordern, bleiben davon unberührt. Angesichts der günstigen Effekte der therapeutischen Hypothermie nach Herzstillstand im Erwachsenenalter und Asphyxie im Neugeborenenalter werden auch Ertrinkungsopfer nach erfolgter Reanimation heute gelegentlich schon im Rettungswagen mit „Ice Packs“ versorgt. Dieses Vorgehen ist jedoch – abgesehen davon, dass es nicht „evidenzbasiert“ ist – auch nicht unproblematisch, Therapie untermauern. T Welches ist das korrekte Vorgehen bei der Aufnahme von Ertrinkungs- opfern im Schockraum? ■ ■ ■ ■ ■ Erwachsene werden direkt in den HerzOP weitergeleitet. Zur neurologischen Beurteilung ist eine rasche Wiedererwärmung indiziert. Zur Hirnprotektion ist eine therapeutische Hypothermie indiziert. Ein Scoring-System kann über die Prognose Auskunft geben. Es sollte immer erst ein CT des Schädels angefertigt werden. Extrakorporale Wiedererwärmung und therapeutische Hypothermie Die Entscheidung, ob ein tief unterkühlter Patient unmittelbar nach Ankunft im Schockraum zur extrakorporalen Wiedererwärmung in den „Herz-OP“ weitergeleitet werden soll, hängt bei Erwachsenen wegen der oft schon bestehenden oder unmittelbar drohenden Herzrhythmusstörungen und wegen der Langwierigkeit und Komplikationsanfälligkeit einer externen Wiedererwärmung hauptsächlich von der Körpertemperatur (< 30 °C) ab. Bei (Klein)Kindern hingegen kann sie – abgesehen von seltenen sehr tiefen Hypothermien < 27 °C – eher von der tatsächlichen hämodynamischen Stabilität/Instabilität abhängig gemacht werden (vgl. oben). Wenn bei einem Notfallmedizin up2date 7 ⎢ 2012 11 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Kasuistik interaktiv Kasuistik interaktiv Kleinkind, wie im vorliegenden Fall, eine de) Herzfrequenz und ein messbarer Blut- 140 druck vorliegt (durch periphere Vasokonstriktion und Viskositätszunahme des Blutes besteht in dieser Phase oft eine „relative Hypertonie der Hypothermie“!), ist auch bei Temperaturen zwischen 27 und 30 °C eine externe Wiedererwärmung auf der pädiatrischen Intensivstation vertretbar. 160 140 Herzfrequenz 120 120 100 100 80 80 Blutdruck (systol./diastol.) 60 60 40 40 20 20 A In keinem Fall besteht die Indikation zu einer extrakorporalen Wiedererwärmung bei Temperaturen zwischen 33 und 34 °C, die heutzutage als Zieltemperaturen für eine therapeutische Hypothermie gelten. Auch wenn damit die abschließende neurologische Beurteilbarkeit herausgescho- B C 38 38 36 36 34 nasopharyngeal 32 34 32 rektal 30 ben wird und dieses Vorgehen noch nicht 30 0 evidenzbasiert ist, wird man derzeit allen 2 4 6 34 36 38 Zeit (h) 40 42 44 46 48 Patienten nach erfolgter Reanimation, die bereits hypotherm in der Klinik eintreffen, den möglichen Benefit einer 48–72-stündigen therapeutischen Hypothermie („postresuscitation care“) nicht vorenthalten Abb. 1 Zweizeitiger Wiedererwärmungsverlauf bei dem vorgestellten Patienten: A = initiale Wiedererwärmung aus tiefer akzidenteller Hypothermie; B = therapeutische Hypothermie von 33–34 °C; C = endgültige Wiedererwärmung auf normotherme Werte. Man erkennt u. a. die „relative Hypertonie der Hypothermie“, einen Herzfrequenzanstieg in Phasen der Wiedererwärmung sowie das Vorauseilen der Kopf- (Nasopharyngeal-) vor der Rektaltemperatur bei erhaltener Hirnperfusion. wollen (Abb. 1). Prognose Die Prognoseabschätzung ist schwierig und oft eher anhand der individuellen Anamnese (Lebensalter, Wassertemperatur, Submersionszeit, Kreislaufsituation am Unfallort) als aufgrund einzelner Laborwerte (Laktatazidose, Hyperkaliämie) möglich. Nicht selten stellt sich erst im Verlauf heraus, ob durch die „Erstickung“ unter Wasser bereits ein irreversibler hypoxisch-ischämischer Schaden aufgetreten ist, der sich entweder kurzfristig oder auch erst bei der endgültigen Wiedererwärmung in einem Hirnödem und/ oder Multiorganversagen zu erkennen gibt. ■ ■ ■ ■ ■ T Was gilt für die Intensivbehandlung Wasser aspiriert oder ingestiert worden von ertrunkenen Kindern? sein müssten. Gelegentlich findet sich nach Es besteht ein relevanter Unterschied zwischen Süß- und Salzwasserertrinken. Auch bei inital wenig beeinträchtigter Atmung droht ein „sekundäres Ertrinken“. Die Tympanaltemperatur kann einen wertvollen Monitoring-Parameter darstellen. Zu den Sekundärkomplikationen kann auch eine Pankreatitis gehören. Es können sich fatale (Pilz)Abszesse im Gehirn entwickeln. Süßwasserertrinken eine milde Hämolyse, erkennbar an einer flüchtigen Hämoglobinurie. Dagegen kann es bei Schiffbrüchigen, die in einer „life vest“ längere Zeit in der Gischt treiben, allein durch das Einatmen des Salznebels („Spray“) zu einem osmotisch bedingten Lungenödem kommen. Unabhängig von den zugrundeliegenden osmotischen Effekten kann sich nach Ertrinkungsunfällen auch bei anfänglich nicht oder wenig beeinträchtigter Atmung innerhalb von Stunden ein ARDS entwickeln (sog. „sekundäres Ertrinken“), wes- Weitere Untersuchungen Eine routinemäßige primäre CT-Untersuchung ist in der Regel nicht indiziert, wenngleich immer an mögliche Begleitverletzungen (durch den Sturz ins Wasser) gedacht werden muss. Mitunter werden Ertrinkungsunfälle im Schulkindes- und Jugendlichenalter übrigens durch das Auftreten epileptischer Anfälle beim Schwimmen verursacht, was bei der weiteren neurologischen Abklärung zu berücksichtigen ist. Notfallmedizin up2date 7 ⎢ 2012 Süß- vs. Salzwasserertrinken Entgegen den detailreichen physiologischen Erörterungen in manchen Lehrbüchern bestehen in der klinischen Intensivbehandlung nach Ertrinkungsunfällen zwischen Süß- oder Salzwasser meist keine relevanten Unterschiede. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als tierexperimentelle Untersuchungen gezeigt haben, dass für eine Manifestation der unterschiedlichen osmotischen Effekte unrealistisch große Volumina an halb auch asymptomatische Kinder nach scheinbar glimpflich abgelaufenen „Badeunfällen“ sicherheitshalber für rund einen Tag überwacht werden sollten. Temperaturmonitoring Neben der Nasopharyngeal- oder Ösophagealtemperatur hat sich zum weiteren Temperaturmonitoring auf der Intensivstation auch die Tympanaltemperatur bewährt, zum einen, weil sie die Körperkerntemperatur korrekter Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 160 Herzfrequenz (1/min), Blutdruck (mmHg) stabile (wenn auch kältebedingt bradykar- Temperatur (°C) 12 Kasuistik interaktiv widerspiegelt als die in dieser Situation zur 13 Fazit Körperperipherie gehörende Rektaltemperatur, zum anderen, weil aus dem Voraus- Der vorgestellte Fall zeigt, dass gerade Klein- eilen oder Nachhinken der Tympanal- ge- kinder nach Ertrinkungsunfällen in kalten genüber der Rektaltemperatur, neben der Gewässern alle Voraussetzungen dafür mit- transkraniellen Doppler-Sonografie, Auf- bringen, dass es bei einem reibungslosen In- schlüsse über die erhaltene oder kompro- einandergreifen aller Rettungsmaßnahmen mittierte Hirnperfusion gewonnen werden zu einem günstigen Ausgang kommt (Abb. 2). Leider enden viele Ertrinkungsunfäl- können (Abb. 1). le dennoch tragisch mit dem Tod oder einer Über den Autor Prof. Dr. med. Dominique bleibenden Behinderung der nur kurz aus den Augen gelassenen Kinder, was die Notwendigkeit primärpräventiver Maßnahmen (rigorose Absperrung möglicher Gefahrenquellen, lückenlose Überwachung in risikobehafteten Situationen, frühzeitiger Schwimmunterricht) unterstreicht. Abb. 2 Der beschriebene Patient nach erfolgter Rehabilitation (mit freundlicher Genehmigung der Eltern). Weiterführende Literatur Baumeier W. SARRRAH: Search and Rescue, Resuscita- Singer ist Physiologe und tion and Rewarming in Accidental Hypothermia. Kinderarzt. Er leitet die Sektion Neonatologie und http://www.sarrrah.de Pädiatrische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. E-Mail: [email protected] Bierens JJLM, ed. Handbook on Drowning: Prevention, Rescue, Treatment. Berlin: Springer; 2006 Burford AE, Ryan LM, Stone BJ et al. Drowning and neardrowning in children and adolescents: a succinct review for emergency physicians and nurses. 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Darüber hinaus können sich, speziell nach Stürzen vom Kleinkindern in verunreinigte Gewässer („Ententeich“) und selbst nach einer zunächst scheinbar guten neurologischen Erholung, sekundäre Pilzabszesse auf ischämisch vorgeschädigten Hirnarealen entwickeln.