Kalligraphie und Religion Kalligraphie und

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Kalligraphie und Religion
Eine Untersuchung zum Verhältnis
zwischen Schrift und Glauben
Maturarbeit von M.Irina Zindel
Gymnasium Oberwil, Klasse 3LMR
Betreut von Irina Bossart
April 2009
-1-
Abbildung Titelblatt:
Basmallah eines Strausses
Dō – Der Weg
Unziale
-2-
„ All ancient systems, however, hold one idea in common:
writing is divine, inherently holy, with powers to teach the
highest mysteries; writing is the speech of the gods, the
ideal form of beauty.”
-3-
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................ 4
1
Vorwort..................................................................................................................... 6
2
Einleitung................................................................................................................. 7
3
Kalligraphie kurz vorgestellt.................................................................................... 9
4
Allgemeines zur Schrift.......................................................................................... 11
5
4.1
Entstehung der Schrift ................................................................................. 11
4.2
Entwicklung der Schrift ............................................................................... 12
4.3
Funktion der Schrift in der Gesellschaft .................................................... 13
4.4
Grundlegende Unterschiede der ausgewählten Schriften......................... 14
Christliche Kalligraphie......................................................................................... 15
5.1
Schriftgeschichte in Europa......................................................................... 15
5.2
Schriftenvielfalt in Europa........................................................................... 18
5.2.1
Die Unziale ............................................................................................. 18
5.2.2
Das Initial................................................................................................ 20
6
5.3
Arbeitsmaterialien und Schreibhaltung ..................................................... 21
5.4
Schriftbild und Ornamentierung ................................................................ 22
Die islamische Kalligraphie................................................................................... 24
6.1
Einführung und historischer Abriss ........................................................... 24
6.2
Schrift, Koran und Architektur .................................................................. 25
6.3
Aufbau der arabischen Schrift .................................................................... 27
6.4
Schriftenvielfalt............................................................................................. 27
6.4.1
Kufi ......................................................................................................... 28
6.4.2
Weitere Schriftstile ................................................................................. 30
7
6.5
Der Schreiber und seine Werkzeuge........................................................... 31
6.6
Schrift und Ornament .................................................................................. 34
6.7
Islamische Kalligraphie heute...................................................................... 36
Die Buddhistische Kalligraphie............................................................................. 37
7.1
Schriftgeschichte ........................................................................................... 37
7.2
Zen-Kalligraphie (Zensho)........................................................................... 39
7.2.1
Zen-Buddhismus..................................................................................... 39
7.2.2
Zensho/Bokuseki ........................................................................................ 40
7.2.3
Die vier Schätze des Gelehrten – Pinsel, Tusche, Reibstein, Papier ...... 41
7.2.4
Zen-Kalligraphie in der Praxis................................................................ 43
8
Kalligraphie - ihr religiöser, meditativer, spiritueller Aspekt .............................. 46
8.1
Christliche Kalligraphie ............................................................................... 47
8.2
Islamische Kalligraphie................................................................................ 48
-4-
8.3
9
Buddhistische Kalligraphie.......................................................................... 51
Vergleich ................................................................................................................ 52
10
Schlusswort ........................................................................................................ 59
11
Bibliographie...................................................................................................... 60
11.1
Fachliteratur.................................................................................................. 60
11.2
Internetquellen .............................................................................................. 63
11.3
Zeitung ........................................................................................................... 63
11.4
Abbildungsverzeichnis.................................................................................. 64
12
Glossar................................................................................................................ 65
13
Selbständigkeitserklärung ................................................................................. 66
14
Anhang ............................................................................................................... 67
14.1
E-Mail-Verkehr mit A. Haenggi.................................................................. 67
-5-
1 Vorwort
Die Wahl des Themas für die Maturarbeit war ein sehr langwieriger, schwieriger Prozess. Das
Einzige, was für mich feststand, war, dass ich eine praktische, handwerkliche Arbeit, ohne viel
Bücherlesen (v.a. nicht fremdsprachige) in Angriff nehmen wollte. Alle meine entsprechenden
Ideen stellten sich dann aber als unbrauchbar oder zu wenig spezifisch heraus oder waren
schlichtweg vergessen. Nun packte ich – gemeinsam mit der Hilfe meiner Betreuerin Irina
Bossart - diese Entscheidung der Themenwahl erneut mit vielen Gesprächen, Mind-Maps und
Ideen an. Daraus entwickelte sich das Thema der vorliegenden Arbeit.
Seit längerer Zeit habe ich eine Vorliebe für schöne Schriften. Fasziniert von der Ästhetik
hauptsächlich der arabischen, chinesischen und japanischen Schriftzeichen, wurde mir bewusst,
dass sich meine Arbeit mit der Kalligraphie befassen könnte. Die Frage, in welchem
Zusammenhang die Religion mit der Kalligraphie steht, ergab sich während eines Gesprächs.
Dadurch, dass ich mehr über diesen Bezug erfahren wollte, formulierte ich sehr vage einen
ersten Versuch einer Fragestellung. In mehreren Maturarbeits-Gesprächen versuchten Frau
Bossart und ich, beide des Themas unkundig, unsere Vorstellungen und Fragen uns gegenseitig
zu vermitteln.
Die erste Fassung der Fragestellung beinhaltete noch einen praktischen Teil der Maturarbeit und
meine Absicht war es, mich auf die arabische, chinesische und christlich-mittelalterliche
Kalligraphie zu konzentrieren. Nachdem ich mich jedoch gründlich in das Thema eingelesen
und Vorträge besucht hatte, wurde mir bewusst, dass ich meinen Fokus auf die buddhistische,
die islamische und die christlich-mittelalterliche Kalligraphie stellen musste, um den Bezug zur
jeweiligen Religion herstellen zu können.
Auf den praktischen Teil musste ich schliesslich verzichten, weil das für mich in Frage
kommende Angebot an Kalligraphie-Kursen sich auf einen Wochenend-Kurs beschränkte, den
ich dann aus gesundheitlichen Gründen nicht besuchen konnte. Meine Maturarbeit wurde eine
theoretische Arbeit, mit viel Bücherlesen, insbesondere englischer und französischer Bücher...
An dieser Stelle möchte ich Irina Bossart dafür danken, dass sie mir mit Rat und Tat zur Seite
stand und mich über all die Monate hin unterstützte.
Auch möchte ich meinen Dank an Frau A. Haenggi aussprechen, die mir hilfreiche Auskünfte
über das Ausführen von Kalligraphien gab und mir einen Einblick in die Praxis verschaffte.
-6-
2 Einleitung
Diese Maturarbeit möchte einerseits Einblick in die Kunst des Schönen Schreibens, der
Kalligraphie verschaffen mit Hilfe ausgewählter, repräsentativer Beispiele und andererseits
ihren möglichen Bezug zur jeweiligen Religion untersuchen.
Als Grundlage zum Thema der Kalligraphie werden wesentliche Informationen zu Schrift,
Schriftentwicklung und ihre Bedeutung in der Gesellschaft gegeben. Weltgeschichtlich gesehen
ist die Schrift als Trägerin dreier Weltreligionen von besonderer Wichtigkeit.
Nachfolgend wird die christliche, die islamische und die buddhistische Kalligraphie vorgestellt,
in ihre gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge gebracht und anschliessend werden
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Traditionen verglichen.
Aufgrund der enormen Vielfalt an verschiedenen Kalligraphie-Stilen in allen drei
geographischen Räumen, wird jeweils exemplarisch ein aussagekräftiges Beispiel dargestellt. In
der Annahme, dass die Religionen des Christentums, des Islam und des Buddhismus
hinreichend bekannt sind, werden in dieser Arbeit keine grundlegenden Informationen dazu
gegeben.
Untersucht wird auch, inwiefern der Schreibprozess Ausdruck religiösen Handelns ist. Des
Weiteren wird die Frage erörtert, wie sich der Glaube in seinem Inhalt und seiner Form im
Ausdruck der Kalligraphie widerspiegelt oder umgekehrt gefragt, was eine Kalligraphie über
den Glauben in Inhalt und Form aussagt. Vorweg: Darüber liess sich keine einschlägige
Literatur finden, sodass ich mich entschloss, zu diesen Fragen eigene Gedanken zu wagen.
Hierbei muss erwähnt werden, dass der in dieser Abhandlung zentrale Begriff Religion weiter
gefasst wird. Er umfasst nicht nur die „gewissenhafte Beobachtung des religiösen Kults“,
sondern auch die Verbindung zu einem „sinngebenden Jenseits“1 (in Form von Glauben) und
den überweltlichen und meditativen Aspekt (z.B. Mystizismus*), welcher in allen Kulturen in
unterschiedlicher Ausprägung vorhanden ist. Es wird u.a. auch die Wirkung, welche das fertige
Werk auf den Betrachter ausübt, nicht ausser Acht gelassen. Kalligraphie ist immer auch
kultureller Ausdruck und Kultur ist immer stark geprägt von der jeweiligen Religion.
Zwischen den Themen Kalligraphie, Religion und Philosophie bestehen zahlreiche
Verbindungen. Die hier vorliegende Maturarbeit beschränkt sich auf die christliche, die
islamische und buddhistische Kalligraphie und ihren jeweiligen Bezug zur Religion.
Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Arbeit das Verhältnis zwischen der Kalligraphie,
der Religion, dem Schreibakt und dem Produkt untersucht.
1
Zit. nach Brockhaus (1984), Band 18, 118f.
* Die mit einem Asterisk gekennzeichneten Begriffe sind im Glossar erläutert.
-7-
Diese Abhandlung möchte einen Überblick über die drei ausgewählten Kalligraphien
verschaffen, interthematische Bezüge herstellen und verzichtet bewusst auf die detaillierte
Behandlung einzelner Werke.
Die notwenigen Informationen wurden hauptsächlich aus der deutschen, französischen und
englischen Fachliteratur zusammengestellt und durch Zeitungsartikel, Vorträge und
Informationen aus dem Internet ergänzt. Das Lesen eines fachlich fundierten Romans über eine
islamische Kalligraphin ermöglichte einen weiteren Zugang zum Thema. So konnten in die
wissenschaftlichen Informationen persönliche Erfahrungen einer kalligraphischen Künstlerin
eingeflochten werden. Dies war umso wertvoller, als ich keine praktische Erfahrung sammeln
konnte.
Das Kapitel über den Vergleich zwischen den Kalligraphien und ihren jeweiligen Bezug zur
Religion unterscheidet sich insofern von der restlichen Arbeit, als dass es zwar auch auf
wissenschaftlich fundiertem Wissen basiert, jedoch aus dem Lesen errungenen Eindrücke
wiedergibt und nicht in allen Einzelheiten exakt wissenschaftlich belegt werden kann.
Da dieses Kapitel Bezug nimmt auf die zuvor untersuchten religiösen und kalligraphischen
Informationen, lassen sich Überschneidungen und Wiederholungen kaum vermeiden.
Angefügt werden müssen noch kleine Anmerkungen zum Text. Einerseits sind die Quellen, auf
welchen der Abschnitt hauptsächlich basiert, jeweils am Ende des Abschnittes vermerkt, und
andererseits bedeutet die in den Fussnoten notierte Abkürzung ‚ff.’, dass Informationen von der
angegeben Seite bis zum Ende des jeweiligen Kapitels im zitierten Buch benutzt wurden.
Das Ziel diese Maturarbeit ist, zum einen kalligraphisch oder ästhetisch Interessierten
fächerübergreifendes Wissen zu vermitteln und zum anderen Religionskundigen Zugang zu
einer weiteren, bis anhin eventuell unbekannte Facette des Fachs zu verschaffen.
-8-
3 Kalligraphie kurz vorgestellt
(grch: kalos (καλοσ) = schön; graphein (γραφειν) = schreiben)2
„Kalligrafie ist Gestaltung mit Schrift; ist bildgewordene Sprache.“3
Unter dem Begriff Kalligraphie versteht man die Kunst des schönen Schreibens oder die
Schönschrift selbst4. Im Gegensatz zu den Gebrauchsschriften stehen hier die ästhetischen sowie
die religiösen Aspekte im Vordergrund5. Das Wort „Kalligraphie“ beinhaltet jedoch nicht nur
die reich ausgeschmückten, verschnörkelten mittelalterliche Manuskripte, wie in Europa oftmals
als erstes assoziiert wird, sondern auch eine Vielfalt an verschiedenen islamischen und
asiatischen Kalligraphien, in welchen der Schwerpunkt darauf liegt „möglichst gleichförmig
und regelmässig, eben ’schön’ zu schreiben“6. In den abendländischen Kulturen wird die
Kalligraphie als eigenständige Kunst angesehen, welche gleichwertig neben der Malerei und der
Grafik existiert.7 Auch in den ostasiatischen Traditionen ist das kalligraphische Schreiben eine
„Kunstübung von fast unbegrenzter Variations- und Ausdrucksfähigkeit, die gleichwertig neben
der Malerei besteht“8. So ist es naheliegend, diese Schriftzeichen nicht nur als
Bedeutungsträger, sondern auch als abstrakte Kunst zu bezeichnen, wobei die perfekte,
ästhetische Ausgewogenheit wichtiger ist, als die Lesbarkeit der Zeichen.9 In der Kalligraphie
sind zwei unterschiedliche Arten von ‚Bedeutungsvermittlung’ grundlegend; einerseits die
offensichtliche Bedeutung des Inhalts eines Wortes und andererseits die Bedeutung der
Ästhetik, des Ausdrucks, den das Schriftbild vermitteln kann.10 Ein wichtiger Aspekt des
kalligraphischen Schreibens ist auch die Selbstentwicklung; ein Kalligraph sollte nicht bloss
sklavischer Imitator sein, sondern auch seine eigenen inneren Anlagen ausbilden und
weiterentwickeln.11 Die Kalligraphie umfasst nämlich wesentlich mehr, als bloss die
mechanische Beherrschung des schönen Schreibens. Verlangt wird eine richtige geistige
Ausrichtung, die Schulung des Wissens und des Auges, als auch die Beherrschung der
Gestaltungstechniken.12
Sie nimmt in Gebieten wie z.B. im arabisch-islamischen Raum, in welchen es verboten ist
lebende Wesen direkt abzubilden, einen sehr hohen Stellenwert ein, da nur mit Hilfe dieser
2
Vgl. Pott (2005), 9.
Zit. aus Pott (2005), 20.
4
Vgl. Brockhaus (1984), Band 11, 131.
5
Vgl. Brockhaus (1984), Band 19, 291.
6
Zit. nach Klopfenstein (1992), 7.
7
Vgl. Kunze (1992), 279.
8
Zit. nach Klopfenstein (1992), 7.
9
Vgl. Klopfenstein (1992), 8.
10
Vgl. Kunze (1992), 34.
11
Vgl. Fong (1996), 60.
12
Vgl. Kunze (1992), 225.
3
-9-
kalligraphischen Zeichen das Göttliche ausgedrückt werden kann.13 Auch in China und Japan
wird der Kalligraphie eine deutlich höhere Wertschätzung entgegengebracht, als z.B. im
Europa. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sie im Islam, in China und Japan heutzutage am
höchsten entwickelt ist14.
Kalligraphie ist „die Poesie der Schrift“15
13
Vgl. Haarmann (2002), 71
Vgl. Brockhaus (2005), Band 5, 3007.
15
Zit. nach Kunze (1992), 284.
14
- 10 -
4 Allgemeines zur Schrift
Schrift
Definition
Schrift:
„durch
Zeichnen,
Malen,
Kerben,
Ritzen,
auch
mit
eigenen
Schreibwerkzeugen [...], erzeugtes graph. Zeichensystem als Kommunikationsmittel, das
sprachl. Mitteilungen aus der Hörbarkeit in die Sichtbarkeit umsetzt und dauernd verfügbar
macht.“16
Die Vielfalt der Schriften und Schriftsysteme, die sich im Laufe der Geschichte entwickelten, ist
enorm
gross.17
In
allen
Erdteilen
unterlagen
bzw.
unterliegen
die
schriftlichen
Kommunikationsmöglichkeiten einem langen und individuellen Prozess. Dessen Resultat
unterscheidet sich erheblich in Form, Aussehen, kulturellem Hintergrund, Schreib- bzw.
Leserichtung, Gebrauchsmöglichkeiten und ihrem jeweiligen Stellenwert in der Gesellschaft.
Folgendes Kapitel möchte einen Einblick in ausgewählte „Schrifträume“18 dieser Erde
verschaffen.19
4.1 Entstehung der Schrift
Lange hielt man die Runenzeichen als die erste existierende Schrift überhaupt. Aufgrund der
Funde von Tontäfelchen aus der Zeit um 3200 a.c. stiess man jedoch auf die noch älteren
Schriften Mesopotamiens und Ägyptens. Neuste Erkenntnisse ergaben sogar, dass sowohl in
Ägypten als auch in Europa noch ältere Schriftbelege vorhanden sind. Die ältesten
Schriftdokumente – nach heutigem Wissenstand – stammen aus der Zeit um 5300 a.c. aus
Südosteuropa.20
Den ersten schriftlichen Zeugnissen vorangegangen war die mündliche Tradition, welche einem
ständigen Wandel ausgesetzt war, was zu einer Sinnveränderung führen konnte.
Damit man von einer eigentlichen Schrift sprechen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein.
Zum einen müssen auf irgend eine beliebige Art Zeichen angebracht werden, sei es durch
Kratzen, Malen oder Ritzen, zum anderen müssen diese Zeichen mit einer Bedeutung oder
einem Inhalt versehen werden und somit den Zweck einer Mitteilung erfüllen. In den Vorstufen
zur Schrift ist typischerweise immer nur eine der beiden Merkmale vorhanden. In der
16
Zit. aus Brockhaus (1984), 287.
Die genaue Anzahl der Schriften ist unbekannt. Zur Fülle der verschiedenen Schriften vergleiche Faulmann (1989).
18
Begriff übernommen von Kiening (2008).
19
Für weiterführende Informationen zur Entwicklung nicht erwähnter Schrifträume vergleiche Haarmann (2002).
20
Diese neusten Forschungen revidieren die bisher allgemein anerkannte These „Ex oriente lux“ (‚Licht aus dem
Osten’) und setzen an ihre Stelle das gegensätzliche „Ex occidente lux“ (‚Licht aus dem Westen’), welches somit den
Beginn des Schriftgebrauchs ins Abendland verlagert. Trotzdem darf die wichtige Beeinflussung durch Afrika und
Asien nicht vergessen werden, jedoch erfolgte diese erst später, im 2. Jahrtausend a.c.. Vgl. Haarmann (2002), 9, 114.
17
- 11 -
Gegenstandsschrift21 ist nur der sinngebende Aspekt vertreten, bei der sogenannten
‚zeichnerischen Vorstufe’ nur der darstellende.
Ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung der Schrift war sicherlich der magisch-religiöse,
wobei jedoch diskutiert wird, wie wichtig sein Einfluss war.22 Man kann allerdings mit
Sicherheit davon ausgehen, dass niemals die Schrift nur zur Bewahrung von Informationen
diente, sondern immer einen kreativen und ästhetischen Aspekt beinhaltete. In Kulturen, in
welchen diese Ästhetik sehr ausgeprägt ist, hat sich Schreiben zu einer eigenen Kunstform
entwickelt. Im arabisch-islamischen Raum oder auch in China und Japan ist die Kunst der
Kalligraphie immer noch sehr angesehen, ziemlich weit verbreitet und gilt beispielsweise in
Ostasien als „selbstverständliche Komponente ihrer traditionsreichen Schriftkultur und ihres
kulturellen Gedächtnisses“23.24
4.2 Entwicklung der Schrift
Die ersten Schriftzeichen waren bildliche Darstellungen. Der Nachteil dieser anfangs benutzten
Piktographie25 war, dass die bildliche Aufzeichnung nie mit dem sprachlichen Ausdruck genau
in Übereinstimmung gebracht werden konnte, da dem Zeichner stets ein gewisser Spielraum bei
der Gestaltung zur Verfügung stand. Dies bedeutet, dass den Gegenständen keine eindeutigen,
selbstständigen Zeichen zugeordnet wurden.26 Deswegen wurde diese Piktographie zunehmend
eingeschränkt, reduziert, bzw. in Einzelheiten zerlegt. Ein weiterer Grund zu dieser Wandlung
war wohl die verstärkte Gewichtung auf die Genauigkeit der Darstellung; diese war besonders
wichtig bei religiösen oder historischen Aufzeichnungen, welche möglichst unverändert an die
nächste Generation weitergegeben werden sollten. Diese Aufgabe wurde in alten Zeiten im
Allgemeinen vom Priesterstand übernommen.
Es ist anzunehmen, dass es ursprünglich nicht eine allzu grosse Anzahl Zeichen gab, da die
meisten Abbildungen religiösen bzw. historischen Inhalts waren und noch nicht für die Vielfalt
des alltäglichen Lebens genutzt wurden. Die Schriften unterliegen einem ständigen Wandel zu
einer einfacheren Form, oder einer Beschränkung vieler Zeichen auf eines, dem geeignetsten.
Damit u.a. abstraktere Begriffe mit Schrift erfasst werden konnten, wandelte sich die Schrift
21
z.B. Knotenschrift, Kerbzahlen Vgl. Brockhaus (2005), Band 8, 5599.
Ob der Schrift ursprünglich nur dieser Aspekt des Magisch-Religiösen zugrunde lag und sie sich später durch
Zweckwandel zu einem Mitteilungsmittel wandelte, oder ob es zu Beginn der Spieltrieb war, der den Menschen zum
Zeichnen bzw. Schreiben bewegte, bleibt offen. Vgl. Jensen (1969), 17.
23
zit. nach Haarmann (2002), 71.
24
Vgl. Haarmann (2002), 7ff., 71; Jensen (1969), 17.
25
auch Ideenschrift oder Inhaltsschrift genannt; eine Art Bilderschrift. Vgl. Jensen (1969), 33, 43ff.
26
Als Beispiel möge man sich vorstellen, dass zwei Zeichner den Auftrag des Zeichnens eines Hundes erhalten. Der
eine gezeichnete Hund ist gross und dick, der andere klein und schlank. Obgleich beide denselben Auftrag
aufzeichneten, sind zwei völlig unterschiedliche Resultate hervorgegangen – und die Frage, ob der Hund lang- oder
kurzhaarig ist, bleibt dabei immer noch unklar.
22
- 12 -
von einer Wort-Bildschrift27 zu einer Wort-Lautschrift. Dies erfolgte durch die Phonetisierung,
welche die Bilder von der Schrift trennte. Diese „Verlagerung des Zeichenwertes vom optischen
auf das akustische Gebiet“28 stellt den bedeutungsvollsten Schritt der Schriftentwicklung dar.
Mit der Zeit entwickelte sich die Schrift über die Silbenschrift29 weiter zur Einzellautschrift
bzw. Buchstabenschrift, weil die Grundlagen der reinen Silbenschrift relativ komplex sind.
Einerseits dürfen nicht übermässig viele verschiedene Silben vorkommen, andererseits sind
Konsonantenhäufungen unpraktisch. Dieser letzte Entwicklungsschritt hat sich nicht in allen
Kulturen vollzogen.30
Allerdings können die Schriften oftmals nicht eindeutig eingeteilt werden, da die Übergänge
fliessend sind, wie beispielsweise die Keilschrift, welche eine gemischte Wort-/Silbenschrift
war.31
Die Vielfalt der verschieden beschreibbaren Materialien, die für das Erstellen von Schrift
benutzt wurden, ist immens. Sie reicht von Stein, Keramik, Ton, verschiedenen Metallen,
Knochen und Elfenbein über Papyrus, Holz, Rinde, Palmblätter und Leder zu Pergament,
verschiedenen Textilien und schliesslich zu Papier; wobei auch der Gebrauch von Papier in
jüngster Zeit den digitalen Technologien den Vorrang lässt.32
Schrift bzw. das Schreib- und Lesevermögen war in den ursprünglichen Zivilisationen der
religiösen und politischen Elite der Gesellschaft vorbehalten.33
4.3 Funktion der Schrift in der Gesellschaft
Viele archäologische Funde lassen darauf schliessen, dass der Schriftgebrauch und die Religion
in Alteuropa in sehr engem Zusammenhang standen. Die Schrift galt als religiöses Medium,
welches oftmals bei Ritualen und religiösen Zeremonien angewendet wurde, wie z.B.
Weiheinschriften. Es war ein „Instrument der Priesterschaft, der Spezialisten“34 zur Kontrolle
der korrekten Durchführung der Riten. Auch in Altchina war der Schriftgebrauch anfänglich nur
für das Orakelwesen, von dem nur der Kaiser und Angehörige der Herrscherfamilie profitierte,
vorgesehen. Diese herausragende Bedeutung kam der Schrift zu, da sie als viel beständiger und
kraftvoller angesehen wurde als das gesprochene Wort. Bis heute hat die Schrift in der Kultur
der Chinesen einen besonderen Status inne, der nicht nur den praktischen Nutzen, sondern auch
27
ein Bild drückt ein ganzes Wort aus; z.B. die Schriften der Eskimo und Indianer und die ursprüngliche Formen der
chinesischen und altägyptischen Schrift. Vgl. Brockhaus (1984), Band 19, 287ff.
28
Vgl. Jensen (1969), 45.
29
Jedes Schriftzeichen gibt eine ganze Silbe wieder; z.B. japanische Schrift.
30
Diese aufgezeigte Schriftentwicklung bildet nur ein Raster, wobei jede Schrift ihre eigene Ausprägung hat.
31
Vgl. Brockhaus (1984), Band 19, 287ff.; Jensen (1969), 33, 43ff.
32
Vgl. Haarmann (2002), 57-70; auch für weiterführende Informationen zu den jeweiligen Beschreibstoffen.
33
Vgl. Haarmann (2002), 17f.
34
zit. nach Haarmann (2002), 22.
- 13 -
einen magischen Aspekt vertritt. Ebenso war im altislamischen Raum die Kalligraphie,
abgesehen vom religiösen Aspekt, eine aristokratische Kunst. In jeder Dynastie wurde ein
spezieller künstlerischer Stil entwickelt, dessen Ziel die Festigung der Legitimation und der
politischen Machtansprüche war.35
Aus heutiger Sicht weiss man, dass Schrift und staatliche Ordnung nicht zwingend aneinander
gebunden sind, in der Regel Hochkulturen aber nicht ohne Schrift existierten.36
4.4 Grundlegende
Grundlegende Unterschiede der ausgewählten
Schriften
Die drei ausgewählten Schriften sind in grundlegender Hinsicht verschieden. Einerseits ist auf
den ersten Blick sichtbar, dass unterschiedliche Schreib- und Leserichtungen Tradition sind,
andererseits unterscheiden sie sich auch in ihrem Aufbau.37
Anders als die uns bekannte Schreib- bzw. Leserichtung der christlichen Schriften, sind sowohl
einige asiatische Schriften, als auch die islamischen anders angeordnet. Bei den chinesischen
und japanischen Schriften wird in Spalten von oben nach unten geschrieben, wobei die Spalten
von rechts nach links angeordnet sind. Noch eine weitere Variante bietet die islamische Schrift,
welche sich von rechts nach links entwickelt, oben an der Seite beginnend.
Die christliche Schrift ist eine Buchstabenschrift, aus Konsonanten und Vokalen bestehend. Die
Islamische setzt sich auch aus Buchstaben zusammen, ist jedoch eine Konsonantenschrift mit
Vokalzeichen.38 Im asiatischen Raum sind ganz unterschiedlich aufgebaute Schriften
vorhanden. Die untersuchte buddhistische Schrift ist eine Zeichenschrift; es werden
Bedeutungszeichen verwendet.
35
Vgl. Khatibi/Sijelmassi (1996), 186.
Vgl. Haarmann (2002), 17f., 21ff.
37
Zu den religiösen, meditativen, spirituellen Unterschieden vergleiche Kapitel 9
38
Ausführlichere Informationen dazu folgen im Kapitel 6.3
36
- 14 -
5 Christliche Kalligraphie
5.1 Schriftgeschichte in Europa
Grundlage aller abendländischen Schriften sind die griechischen Alphabete, die auch von den
Etruskern verwendet wurden. Das etruskische Alphabet wiederum übte einen grossen Einfluss
auf die lateinische Sprache bzw. Schrift aus. Durch die Verbreitung der römischen Kirche
wurde die lateinische Schrift auf weiten Teilen der Erde populär, wobei sich in der Ostkirche
die Kyrilliza durchsetzte und diese die osteuropäischen Schriften beeinflusste.39
In der Antike war Schrift sehr verbreitet. Aufgrund des allgemeinen Reichtums der
Gesellschaft, konnten sich viele Menschen eine gute Ausbildung leisten und somit lesen und
schreiben, was zu einem sozial hohen Bildungsstand führte. Der Beruf der Schreiber und
Kopisten wurde häufig ausgeübt, wobei auch der Privatsekretär, oft Sklave eines wohlhabenden
Herrn, der die ihm diktierten Briefe und literarischen Werke niederschrieb, ein weit verbreiteter
Beruf war. Bis zum Zerfall des römischen Reiches galten die lateinische Sprache und somit
auch die römische Schriftkultur in weiten Teilen Europas als Zeichen einer überlegenen
Zivilisation. Nach einer turbulenten Zeit – Untergang des römischen Reiches, Erklärung des
Christentums als Staatsreligion – ging die bisherige Schriftkultur beinahe ganz verloren. Es
existierten nur noch wenige Schreiber und Latein wurde zunehmend eine Sprache, die nur von
einer Elite verstanden wurde. Dadurch sank das allgemeine
Bildungsniveau, das einfache Volk stütze sich zunehmend
auf die Vorschriften der Kirche, was der Bibel ein enormes
Gewicht
verlieh.
Wegen
des
Verbots
und
der
„Massenvernichtung“ der antiken Bücher gewannen die
biblischen Schriften und somit auch die Schreibkundigen an
Bedeutung und Ansehen.40
Schrift
war
im
christlichen
Mittelalter
etwas
Geheimnisvolles. Sie beinhaltete Mysteriöses, war in Latein
geschrieben, einer Sprache, die ausser Mönchen wenigen
Abb.: 1 Mittelalterliche
Buchmalerei; Die heiligen drei
Könige
zugänglich und somit verschlüsselt blieb. Sie beschäftigte
sich mit Unerklärlichem, Göttlichem. Schrift oder das
39
Spezifische Informationen zu behandelten Schriften siehe im jeweiligen Kapitel.
Vgl. Brockhaus (1984), Band 19, 288f.
40
Vgl. Kunze (1992), 29-40; auch für weiterführende Informationen zur Schrift in der Geschichte/Schriftgeschichte.
- 15 -
Vermögen Schreiben zu können stellte im Mittelalter41 Macht oder auch Reichtum dar. Die
Schriftstücke, vorwiegend Bibeln, waren reich geschmückt; kostbare Materialien wurden
verwendet. Diese grosse Bedeutung kommt der Schrift bzw. der Kalligraphie wohl zu, wegen
der Bestimmung der Heiligen Schrift, welche einerseits göttliche Offenbarung und somit für alle
Gläubigen von grosser Wichtigkeit ist, andererseits wegen ihrer Rolle, die sie in der Liturgie*
innehat. Daher sind die Bibelhandschriften die prächtigsten und prunkvollsten Kalligraphien, in
welche enorm viel Zeit zur Herstellung investiert wurde. Denn in der christlichen Kalligraphie
war es nicht nur wichtig, die Bibel korrekt abzuschreiben und den Inhalt bzw. die Informationen
zu vermitteln, sondern auch den Leser durch die Ästhetik auf einer anderen, ‚höheren’ Ebene zu
berühren.
Dank der grossen Nachfrage an Bibeln, erlebte die westliche Kalligraphie im Hochmittelalter
ihre Blütezeit.42
Der Beruf „Schreiber“, bzw. „Kalligraph“ wurde von spezialisierten Mönchen in Schreibstuben,
sogenannten Skriptorien, ausgeführt. Diese Skriptorien befanden sich im Innern der
Klostermauern, meist in einem befestigten Turm oder an den Kreuzgang angrenzend. Das
Verfassen
einer
Bibel
war
eine
sehr
zeitaufwendige und angesehene Tätigkeit, welche
in den Klöstern stark gefördert wurde. Das
Kopieren einer einzigen Bibel konnte je nach
Aufwand ein Lebenswerk für einen Mönch
bedeuten. In grösseren Klöstern wurde, um die
Effizienz
zu
fördern,
eine
Arbeitsteilung
vollzogen. Je nach Begabung des Mönches,
übernahm er eine andere Aufgabe. Zu Beginn
Abb.: 2 Mittelalterliches Skriptorium
verfasste der Kalligraph den Text und fügte
kleine Vermerke als Anweisungen für den nachfolgenden Illuminator, der die Miniaturen* und
Verzierungen anbrachte, hinzu.43
Den Anfang eines Tagewerks bildete ein kurzes Gebet. Nach der Abfassung der Manuskripte
wurden diese von älteren Mönchen Korrektur gelesen, um Fehler, die nachher weiterkopiert
werden könnten, zu vermeiden. Einwandfrei kopierte Bibeln hatten einen immensen Wert.
Aufgrund der intensiven Christianisierung und der zahlreichen Klostergründungen vergrösserte
sich die Nachfrage an Bibeln und religiösen Manuskripten erheblich. Deshalb wurden im
8.Jahrhundert in Klöstern auch Nicht-Mönche zu Ausbildung aufgenommen und private
41
oder auch heute noch in gewissen Kulturkreisen.
Vgl. Kunze (1992), 29-40 ; Glaser (2008), 129ff.; http://de.wikipedia.org/wiki/Westliche_Kalligrafie (14.01.09).
43
Vgl. Kunze (1992), 259.
42
- 16 -
Skriptorien eröffnet. Diese Laien-Schreiber gewannen durch die Wandlung der klösterlichen
Schulen zu Universitäten im 12. und 13.Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Es fand im
Bereich der Bildung eine Verlagerung von der kirchlichen zur profanen Wissensvermittlung
statt. Problematisch war nun, dass mit der Quantität an neuen Büchern die Qualität abnahm.
Zudem verlor die Kalligraphie dadurch ihr kontemplatives Verhältnis zur Schrift. Diese
Verlagerung zur Profanisierung bewirkte im Schrifttum eine gewaltige Veränderung. Durch den
erhöhten Bedarf an Büchern musste die Effektivität gesteigert und somit flüssiger geschrieben
werden; die Buchstaben mussten kleiner und enger geschrieben werden, damit das Buch für den
Transport handlicher war.44 Zeit und Materialkosten konnten dadurch eingespart werden.45
Durch die der Erfindung des Buchdrucks von Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die
zuvor bedeutungsvolle Kalligraphie zunehmend an den Rand gedrängt.46 Nun wurde die Schrift
in ihre zuvor kaum getrennten Aspekte von Form und Inhalt geteilt. Die Typographie hatte den
Informationsaspekt im Vordergrund, während sich die Kalligraphie vorwiegend auf das
Gestalterische, Dekorative konzentrierte. Durch diese Wandlung verlor die Kalligraphie das
Ansehen als Universalkunst, welche einst die bedeutendste Grundlage gebildet hatte zur
Erschaffung eines Buches – dem wichtigsten Kulturgut. Mittlerweile wurden die Kalligraphen
meist nur noch zum Anbringen von Verzierungen wie Initiale, Seitenverzierungen oder Bilder
in den gedruckten Büchern engagiert, was immer noch den aufwändigsten Teil der Herstellung
der Bücher darstellte.47 Jedoch geriet die Kalligraphie durch diese zunehmende Einschränkung
der Verwendung allmählich in Vergessenheit.
Zur Zeit des Humanismus verlor die Kirche an Bedeutung, dadurch, dass sie nicht mehr das
Monopol über Schriften besass.48 Man griff wieder zu den antiken Texten, welche die Schriften
im Humanismus beeinflussten.49
Erst im 19. und 20. Jahrhundert kam die Kunst des „Schönen Schreibens“ erneut auf und wurde
einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglich gemacht.50
Heutzutage ist es eine Kunst, die oftmals im Stillen gepflegt wird, aus persönlichem Interesse
und zur Entspannung von den täglichen Belastungen. Die Kalligraphie kann auch als
44
Vgl. Kunze (1992), 78.
Vgl. Drogin (1980), 7ff.; Goede (1989), 40 ; Kunze (1992), 29-40.
46
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Kalligraphen einen festen Status in der Gesellschaft einnahmen und es
deshalb für die Drucker zu Beginn schwierig war, sich in der Wirtschaft zu etablieren. Deswegen wurden eine Zeit
lang noch die handgeschriebenen Bibeln den gedruckten vorgezogen. Vgl. Kunze (1992), 111ff.
47
Solche Drucke, welche vor dem Jahre 1501 entstanden, werden Inkunabeln (Wiegendrucke) genannt. Für
weiterführende Informationen zu den Inkunabeln vergleiche Kunze (1992), 113f. und Pott (2005), 22.
48
Kunze (1992),40ff.; auch für weiterführende Informationen zu Humanismus und Schrift.
49
Vgl. Kunze (1992), 29-40, 111ff.
50
Wichtige Persönlichkeiten zur Wiederbelebung der Kalligraphie waren William Morris (*1834 Walthamstow;
†1896 London) und Edward Johnston (*1872 San José, Uruguay; †1944 Sussex). Für weiterführende Informationen
zu ihnen, dem Wiederaufkommen der Schrift und der Schriftentwicklung bis heute vergleiche Kunze (1992), 121ff.;
Vgl. Brockhaus (1984), Band 15, 18.
45
- 17 -
meditatives Mittel mit therapeutischen Wirkungen eingesetzt werden.51 Sie wird jedoch oftmals
freier gestaltet und hält sich nicht mehr an die vorgegebenen Strukturen, sondern erhebt mehr
den Anspruch einer Komposition von künstlerischem Wert, bei der die Ästhetik klar dem
Informationsgehalt vorgezogen wird. Es werden hauptsächlich Bilder verfasst, bei denen
kalligraphische Formen als gestalterisches Hilfsmittel beigezogen werden.52
5.2 Schriftenvielfalt
Schriftenvielfalt in Europa
Im Mittelalter war die Vielfalt an verschiedenen, kalligraphischen Schriften beachtlich gross.
Sie reicht unter anderen von der Antiqua über die Fraktur zu den Karolinger Minuskeln, wobei
die Unziale die bedeutendste war. Erwähnen sollte man allerdings auch die reich geschmückte
Initiale, welche jeweils den Anfang einer Seite bzw. eines Kapitels verzieren.
5.2.1 Die Unziale
Die Unziale53 ist ursprünglich eine Majuskelschrift*, welche sich in den ersten Jahrhunderten
p.c. entwickelt hatte. Sie war stark beeinflusst von frühen griechischen Schriften und der
römischen Majuskelkursive und hatte ihre Ursprünge im römisch-lateinischen Raum, was der
Unziale ihre fachlich korrekte Bezeichnung gab, nämlich
Lateinische Unziale, bzw. Römische Unziale. Gemäss
einer
anderen
Quelle54
entstand
die
Unziale
im
nordafrikanischen Raum, wo sich die christliche Kirche
bereits im 3. Jahrhundert – in Rom erst zu Beginn des 4.
Jahrhunderts – etablierte. Die Schreiber suchten nach einer
geeigneten prunkvollen lateinischen Schrift, die der
Wichtigkeit ihrer neuen Religion angepasst war. Da jedoch
viele
Schriftstücke
abgefasst
wurden,
mussten
sie
möglichst flüssig geschrieben werden können. Da es mit
einer Schreibfeder leichter fällt runde statt gerade Formen
Abb.: 3 Die Unziale
zu ziehen, passten sie die ursprüngliche römischlateinische Schrift an diese Kriterien an, indem sie die eleganten Rundungen der griechischen
Schrift integrierten. Als später in Rom die christliche Religion übernommen wurde, übernahmen
die römischen Schreiber auch die Unziale. Durch die Christianisierung verbreitete sich
allmählich die Unziale in ganz Europa.
51
Vgl. Kunze (1992), 128.
Vgl. Kunze (1992), 29-40.
53
lat. uncia: bedeutet der zwölfte Teil eines Pfundes oder Fusses. Zit. nach Goede (1989), 33.
54
Vgl. Drogin (1980), 93.
52
- 18 -
Die Unziale bildete sich seit dem 4. Jahrhundert bis ins 9. Jahrhundert „zu einer formalen
Buchschrift für besonders prachtvolle Kodizes55“56 aus. Jedoch wurde sie später auch reich
verziert als Initiale verwendet. Insbesondere in kostbaren liturgischen Pergament-Handschriften
wurde die Unziale angewandt. Als Schrift der ersten Christen und später der Mönche erfuhr die
Unziale ihre Blütezeit im 5. Jahrhundert, wobei sie, wie bereits erwähnt, hauptsächlich für
kirchliche Texte benutzt wurde. Sie wurde bis ins 10. Jahrhundert
angewandt, existierte jedoch auch bei den Karolinger Minuskeln57
weiter als Titelschrift oder um die ersten Linien des Kapitels zu
schreiben. Des Weiteren bildete die Unziale eine wichtige
Grundlage für die gotischen Grossbuchstaben, sowie auch für die
Initiale.58
Beeinflussungen und Veränderungen erfuhr die Unziale, wie viele
andere Schriften, in den Skriptorien. Diese Umgestaltungen
betrafen hauptsächlich die Art die Feder zu halten, da durch eine
kleine Veränderung das Schriftbild erheblich beeinflusst werden
kann. Im 5. Jahrhundert erfuhr die Unziale erneut eine Wandlung,
wobei sich unter anderem die sogenannte Römische Halbunziale
herausbildete, welche vorwiegend in den Klöstern der britischen
Abb.: 4 Bibelausschnitt
geschrieben in Unziale
Inseln beliebt war59. Die Majuskeln transformierten sich nun zu Minuskeln60, welche unseren
Kleinbuchstaben stark ähneln. Sie zeichnet sich u.a. aus durch die markanten, keulenartigen
Ober- und Unterlängen. Später wurde sie jedoch von den Karolinger Minuskeln abgelöst. Beide
Kalligraphien werden mit einer Breit- oder Bandzugfeder61 geschrieben, welche sich durch eine
breite, waagrechte oder leicht abgeschrägte, Federkante auszeichnet.62
Die Unziale hat in der Schriftkunst eine besondere Stellung eingenommen. Seit dem 4.
Jahrhundert wurde sie für anspruchsvolle, meist religiöse Zwecke eingesetzt und war für das
Verfassen von banalen Texten beinahe undenkbar. Diesen besonderen Rang hatte sie u.a.
sicherlich wegen ihres überaus ästhetischen Schriftbilds erlangt. Die Betonung von Rundungen
55
auch Kodex oder Codex genannt; im Buchwesen: „Buchform der Spätantike und des MA. Mit Handschriften auf
Papyrus- bzw. Pergamentblättern zw. Zwei Holzdeckeln, die mit Leder und Metal überzogen sein können.“ Zit. aus
Brockhaus (2005), 3230.
56
zit. nach (2005), 64.
57
(auch Carolina genannt) Eine um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert entstandene Schrift, welche aus der
Verschmelzung regionaler Halbunzial-Schriften, der Römischen Minuskel und der Römischen Kursive
hervorgegangen war. Sie wurde aufgrund einer Reform Karls des Grossen eingeführt zur Vereinheitlichung und
Erneuerung des Schrift- und Buchwesens, da bis dahin selbst gut ausgebildete Personen grosse Schwierigkeiten
hatten, die Schriften, bzw. Kalligraphien aus anderen Regionen zu entziffern. Nie zuvor gab es eine solch umfassende
Schriftreform in Europa. Vgl. Pott (2005), 68.
58
Vgl. Goede (1989), 33; auch für weiterführende Informationen zum Schriftbild.
59
Vgl. Goede (1989), 37.
60
Minuskel hat zwei Bedeutungen: 1. Kleinbuchstabe; 2. bezeichnet im Schriftwesen eine Schriftart, welche im
Gegensatz zu den Majuskeln unterschiedlich lange Ober- und Unterlängen aufweist und somit das Schriftbild
erheblich verändert. Vgl. Brockhaus (2005), 4079.
61
Vgl. dazu Kapitel 5.3.
62
Vgl. Schenk (1989), 58 und Pott (2005), 18.
- 19 -
und das breitlaufende Schriftbild mit deutlichem Zeilenabstand verliehen der Unziale eine stark
„ornamentale Wirkung“63. „L’Onciale est une écriture d’allure majestueuse, voire pompeuse.“64
Obwohl im vorangegangen Text erwähnt wurde, dass die Unziale eine Majuskelschrift ist, muss
man diese Aussage relativieren. Denn obschon die Buchstaben unseren Grossbuchstaben stark
ähneln und sie teilweise sogar als die letzte Schrift der Geschichte, welche nur aus
Grossbuchstaben besteht, bezeichnet wird, werden die Buchstaben den Vorschriften des
Zweilinien-Systems, welche Grundlage für die Majuskeln sind, nicht gerecht, wegen ihren
langen Ober- und Unterhälsen.65 In der Unziale werden alle Buchstaben gleich gross
geschrieben und es sind keine Abstände zwischen den Wörtern vorhanden. Kurze Unterbrüche
im Text werden mit einem Punkt auf halber Höhe gekennzeichnet, ein grösserer Unterbruch mit
einem Doppelpunkt mit oder ohne Gedankenstrich.66 Der Anfang eines Satzes, eines
Paragraphen oder eines Kapitels wird durch eine einzelne Letter, eine vergrösserte,
ausgeschmückte Unziale oder ein Initial67, geschmückt.68
5.2.2 Das Initial
Das vom lateinischen „initium“ stammende Wort, bedeutet Anfang. So ist es selbsterklärend,
dass das Initial zu Beginn einer Seite oder eines Kapitels steht. Durch seine oftmals
überproportionale Grösse und den reichen Verzierungen kann es die ganze Seite schmücken.
Die unterschiedlichen Grössen der Initiale
gliederten den Text. So kennzeichnet z.B.
ein kleineres Initial den Beginn eines
Verses, ein grösseres den eines Psalms.
Wegen den in das Initial integrierten
Bildern und Ornamenten kann es einerseits
als höchste kalligraphische Kunst oder
aber als Gemälde schlechthin angesehen
werden. An diesen Kunstwerken erkennt
man besonders gut, dass die Schrift
ursprünglich von Bildern abstammt und
Abb.: 5 Inital P
der ästhetische Wert für die Kalligraphie
63
zit. nach Pott (2005), 64.
„Die Unziale ist eine Schrift mit einem majestätischen, ja sogar pompösen Aussehen“. Vgl. Sabard et all. (1995),
24.
Vgl. Pott (2005), 64ff.; Sabard et all. (1995), 23ff.
65
Vgl. Goede (1989), 35.
66
Vgl. Drogin (1980), 96; auch für weiterführende Informationen zur Interpunktion der Unziale.
67
Vgl. späteres Kapitel 5.2.2.
68
Vgl. Pott (2005), 64, 92.
64
- 20 -
immer noch grundlegend ist. Obwohl für den Betrachter die Ästhetik von Interesse ist, ist
trotzdem der Informationsgehalt von grosser Bedeutung, da er fundamental wichtig ist als
Bestandteil des Textinhaltes. Durch die Gestaltung des Initials kann der künstlerische Aspekt
und die Kreativität des Künstlers gut dargestellt werden. Das Initial kann von verschiedenen
Schriften inspiriert, bzw. beeinflusst werden, die persönliche Handschrift spielt eine grössere
Rolle. Dies machte jedes Exemplar der Bibel auch nach Erfindung des Buchdruckes, als meist
nur noch diese Initiale von Kalligraphen verfasst wurden, zu einem Unikat. Der Auftraggeber
einer Bibel konnte anhand eines Musterbuches das gewünschte Initial frei auszuwählen. Ebenso
waren die Möglichkeiten ein solches Initial zu kreieren sehr vielfältig existierte; es konnte u.a.
geschrieben, gezeichnet, konstruiert, gemalt, illustriert, gedruckt, geprägt oder gestanzt sein.
Nur die talentierten Kalligraphen beherrschten die Kunst des Erstellens
einer Initiale; es fand eine Arbeitsteilung statt zwischen dem
Kalligraphen, der für den Text zuständig war und demjenigen, der die
aufwändigen Buchstaben gestaltete.
Zur Zeit der Gotik war die Verwendung der Initiale sehr populär und
auch heutzutage werden meist die Initiale mit denjenigen aus der Zeit
der Gotik assoziiert. Doch je nach Epoche veränderten sich die Initiale
dem Stil der Zeit entsprechend.69
Abb.: 6 Initial Q
5.3 Arbeitsmaterialien und Schreibhaltung
Wie bereits erwähnt, war für die Unziale hauptsächlich die Breitfeder, auch Bandzugfeder
genannt, gebräuchlich, welche eine sehr kontrastreiche Strichstärke erzeugt. Dieser so genannte
Wechselstrich weist senkrechte, waagrechte, schräge oder runde Striche auf, die in ihrer
Strichbreite stark variieren. Die Feder kann aus vielen verschiedenen Materialien bestehen wie
z.B. aus Holz, Rohr, Bambus, dem Kiel einer Vogelfeder oder seit den letzten Jahrhunderten
auch aus Metall.70 Dazu wird eine schwarze Tinte verwendet; farbige wurde üblicherweise nur
zurückhaltend eingesetzt, meist nur zum Herausheben von speziellen Textstellen, Überschriften
oder aber für Initiale, damit sie als Ergänzung zur Schrift wirkte.71 Bei der Qualität der Tinten
wurde möglichst darauf geachtet, dass diese lichtecht sind, sich also unter Lichteinfluss nicht
verfärbten. Die Verwendung des Pinsels war weniger üblich mit Ausnahme des Malens der
goldenen Schriftzügen und den Initiale.
Der von Ägypten, Syrien und Mesopotamien importierte Papyrus war bis zu Beginn des
Mittelalters der wichtigste Schriftträger im römisch-lateinischen Raum, der den Vorteil hatte,
69
Vgl. Goede (1989), 91ff.; Pott (2005), 92ff.
Für weiterführende Informationen zur Vielfalt der Arbeitsmittel vergleiche Kunze (1992), 145ff.
71
Vgl. Kunze (1992), 266ff.; auch für weiterführende Informationen zur Farbe in kalligraphischen Werken.
70
- 21 -
Tinten und Tuschen vor dem Ausfliessen zu hindern und so konnten präzise Arbeiten
angefertigt werden. Im 2. Jahrhundert a.c. befahl Eumenes II.72 am Hof zu Pergamon wegen des
Exportverbotes von Papyrus aus Ägypten, eine neue, den Papyrus ersetzende Schreibunterlage
zu entwickeln. Daraus entstand das aus tierischer Haut hergestellte Pergament, der Vorläufer
des Papiers. Pergament ist gegen Luftschadstoffe resistent, jedoch feuchtigkeitsempfindlich.
Sowohl Papyrus wie auch Pergament wurden anfänglich in Rollenform aufbewahrt, bis
schliesslich im 4. Jahrhundert das leicht faltbare Pergament gebunden und in Kodexform
gebracht wurde. Für besonders wertvolle, bedeutungsvolle Texte wurde das Pergament
purpurrot gefärbt und mit Gold- und Silbertinte beschrieben oder mit Blattgold verziert. Im 13.
Jahrhundert übernahm das Papier73 die Rolle des Pergamentes und ist bis heute die
gebräuchlichste Schreibunterlage.
Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel des Schreibers war das Messer, zum Schärfen der
Feder und zum Wegkratzen von Schreibfehlern.
Der christliche Kalligraph verfasst seine Arbeiten auf einem Stuhl am Tisch sitzend. Das
Schreibpult, das im Mittelalter üblich war, verfügte über eine schräggestellte Schreibfläche, was
mehrere Vorteile mit sich brachte.74 Einerseits erleichterte sie die Übersicht über den zu
schreibenden Text, die Tinte floss nicht zu rasch aus der Feder und darüber hinaus verbesserte
es die Haltung des Kalligraphen. Zwischen Pult und Papier wird als Schreibunterlage z.B. ein
vegetabil gegerbtes Kalbsleder gelegt.
Um ein
gleichmässige
Schrift
gestalten
zu können,
schreibt der Kalligraph als
75
Lockerungsübungen vor seiner Arbeit mehrere Buchstaben.
Obgleich sich in einer Schreibstube mehrere Mönche befanden, war das Schreiben eine
einsame, stille Arbeit, bei der sich der Mönch tief in seine Arbeit und Texte vertiefen konnte.76
5.4 Schriftbild und Ornamentierung
Das Schriftbild lebt – in jeder Schrift – auch vom inneren Rhythmus des Wortbildes. Durch die
ständige Abwechslung zwischen Geraden und Kurven wird bewusst Monotonie vermieden und
ein ansprechender Eindruck des Textbildes erzeugt.77 Für die Ästhetik ist nicht nur dieser
innere Rhythmus von grosser Bedeutung, sondern auch der Schreibrhythmus. Denn wesentlich
für ein gleichmässiges Schriftbild ist ein regelmässiger Takt. Gewisse Vorschriften zu
72
Eumenes II. Soter: „König von Pergamon (seit 197), * vor 221 v.Chr., † 159 v.Chr.; Verbündeter Roms. Unter ihm
erlebte das Pergam. Reich seine grösste Blüte (u.a. Bau des Pergamonaltars).“ Zit. aus Brockhaus (2005), 1601.
73
Für weiterführende Informationen zur Papierherstellung vergleiche Schenk (1989), 35-38.
74
Für weiterführende Informationen zur Gestaltung des Arbeitsplatzes vergleiche Goede (1989), 28.
75
Vgl. Drogin (1980), 12.
76
Vgl. Goede (1989), 1ff., 28; Kunze (1992), 145ff.; Schenk (1989), 30-35;
http://de.wikipedia.org/wiki/Westliche_Kalligrafie (14.01.09).
77
Vgl. Kunze (1992), 67, 200.
- 22 -
Proportionen müssen – in jeder Schrift – eingehalten werden, um ein harmonisches Gesamtbild
erzeugen zu können. Durch diese Eigenschaften versucht der Schreiber, den kalligraphischen
Text für den Leser möglichst einfach erfassbar zu machen.78
Fand in der Antike eine klare Abgrenzung zwischen der Schrift und den Ornamentierungen
statt, so änderte sich dies im Mittelalter und ornamentale Elemente wurden mit dem
Geschriebenen verflochten.
In der Kalligraphie kann sich die Ornamentik auf besondere Ausformungen einzelner
Buchstaben und geometrische Muster beschränken oder auf ganze Bildkompositionen
ausweiten. Teilweise wurden die Seiten auch mit zoomorphen* Darstellungen geschmückt. 79
Abb.: 7 Mittelalterliche Buchmalerei
78
79
Vgl. Kunze (1992), 182ff., 197.
Vgl. Kunze (1992), 249, 255f.
- 23 -
6 Die islamische Kalligraphie
Kalligraphie
„Le calligraphe tenant son roseau encré de noir et calligraphiant sur son papier blanc,
détruit cet espace blanc, absolu, pour créer des formes et d’autres espaces.“ 80
6.1 Einführung und historischer Abriss
Der Stellenwert, den das Buch im Islam innehält, ist äusserst bemerkenswert.81 Schon im 12.
Jahrhundert überstieg die Zahl der Bücher im islamischen Kulturraum diejenige des
westeuropäischen Raumes bei weitem. Zum Vergleich: eine Bibliothek in Westeuropa
beinhaltete maximal fünfhundert Bücher, im Vatikan möglicherweise ein wenig mehr – in
mehreren Städten des Orients existierten Bibliotheken oder auch Privatsammlungen mit mehr
als 10.000 Exemplaren. Religion und Wissen nehmen im Islam eine sehr bedeutende Rolle ein,
was folglich das Verfassen und Lesen von Büchern stark förderte.82
Die arabische Schrift und Kalligraphie existierten schon vor dem Aufkommen und der
Verbreitung der islamischen Religion, erhielten aber durch den Koran erst ihre bedeutende
Stellung; dieser blieb denn auch lange das einzige arabische Buch.83 Dieses „am häufigsten
gelesene und abgeschriebene Buch der Islamischen Welt“84 durfte und darf nur in seiner
Originalsprache überliefert bzw. verbreitet werden, da es für die Muslime die göttliche
Offenbarung darstellt. Deshalb erstaunt es nicht, dass der Schreibakt des Kopierens an sich
schon eine sakrale Handlung war und schon früh die wesentlichsten kalligraphischen
Vorschriften festgesetzt worden waren.85 Aufgrund der Ausdehnung des arabischen
Herrschaftsbereichs und des Übersetzungsverbotes verbreitete sich die arabische Sprache und
Schrift schnell im ganzen islamischen Kulturkreis. Durch diese Dominanz der arabischen
Sprache wurden sowohl die persischen Sprachen wie auch das Türkische in arabische Lettern
80
„Der Kalligraph, seine mit schwarzer Tinte gefüllte Schilfrohrfeder in der Hand haltend und in Schönschrift auf
sein weisses Papier schreibend, zerstört diesen weissen, absoluten Raum um Formen und andere Räume zu
erschaffen.“ Zit. aus Massoudy (1981), 55.
81
Dieses Kapitel ist oft auch im Präsens geschrieben, da die Kalligraphie auch heute noch im Islam eine grosse
Bedeutung innehat.
82
Die frühe arabische Literatur setzt sich zusammen aus Aufzeichnungen mündlicher Überlieferungen,
Übersetzungen fremdsprachiger Werke, Niederschriften des allgemeinen Wissens und literarischen Texten der
frühislamischen Zeit. Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 36.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
83
Vgl. Haarmann (2002), 74 und Massoudy (1981), 57.
84
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34.
85
Vgl. Carboni (1995), 86.
- 24 -
transkribiert. Dadurch bildete sich im ganzen islamischen Raum ein einheitliches Alphabet
heraus.86
Im 13. Jahrhundert verringerten sich das Verbreitungsgebiet der arabischen Sprache und damit
auch die Menge an neuen Manuskripten. Ausserdem wurden durch die christliche Kirche
unzählige Bücher vernichtet. Obwohl im 17. Jahrhundert noch kalligraphische Bücher verfasst
wurden, erlangten diese nicht mehr das frühere Niveau in ihrem künstlerischen Ausdruck. Die
Verbreitung des Buchdruckes, ein Resultat des Kulturkontaktes durch Handel und
Industrialisierung mit der westlichen, christlichen Welt, erlebte erst im 19. Jahrhundert im
islamischen Raum seinen Aufschwung. Durch diese Erfindung stagnierte die Produktion
arabisch-islamischer Manuskripte und folglich verringerte sich auch die Bedeutung der
einfachen Schreiber; die Kalligraphie allerdings konnte ihren Status mehr oder weniger halten.87
6.2 Schrift, Koran und Architektur
Vermutlich gehen die Anfänge der ersten Aufzeichnungen des Korans auf das 8. und teilweise
auf das 7. Jahrhundert zurück, jedoch sind nur wenige schriftliche Zeugnisse aus jener Zeit
erhalten. Anfänglich wurde die arabische Schrift nur für Koranabschriften benutzt.
Der Islam gilt als erste Religion, bei welcher unterschieden wurde, zwischen denjenigen, welche
befähigt waren, dem heiligen Charakter des Korans mit ihren Schriftkünsten gerecht zu werden,
und jenen, die dieser Bestimmung nicht mächtig waren. Sowohl für den religiösen, als auch für
den ästhetischen Aspekt war es von zentraler Wichtigkeit, dass der Koran in bestmöglicher,
vollkommener Form kopiert wurde. Diese Tatsache löste die Entwicklung einer immensen
Auswahl verschiedener Stilrichtungen der islamischen Kalligraphie aus, zudem leistete aber
auch die bereits erwähnte Abneigung gegen jegliche Art figürlicher Darstellungen ihren
Beitrag.88
Nachdem der Koran erstmals im 7. Jahrhundert niedergeschrieben worden war, kopierten
unzählige Kalligraphen diese verbindlichen, heiligen Worte, welche wie bereits erwähnt so
schön wie möglich kopiert wurden. Denn im Glauben der Muslime konnte man mit dem
Kopieren des Korans himmlische Entlöhnung erlangen. Einst soll der Prophet auch Folgendes
gesagt haben: „Wer den Basmallah-Vers gut schreibt, wird ohne Schwierigkeiten ins Paradies
kommen“.89 Der Basmallah-Vers ist eine kurze Formel, die zu Beginn beinahe jeder Sure* steht
und übersetzt bedeutet „Im "amen Allāhs, des Barmherzigen, des Mitleidvollen“90.
86
für weiterführende Informationen zu der Ausbreitung der arabischen Schrift siehe Akimuschkin et all. (1995), 57f.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff., 46ff.; Gosciniak (1991), 27ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
88
Vgl. Haarmann (2002), 71.
89
Zit. nach NZZ, 27.05.2008, „Mit Schilfrohrfeder und Computer“.
90
“bi-ism Allāh al-Raḥmān al-Raḥῑm”; Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 53.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
87
- 25 -
Die arabisch-islamische Kalligraphie erhielt besonders auch auf den Gebäuden als
architektonische Verzierung einen grossen Stellenwert. Man trifft sie heute noch auf Elementen
wie Bögen, Fenster, Türen u.ä. in Moscheen und anderen religiösen Gebäuden an. Diese
Kalligraphien können gemalt oder geschnitzt werden und diese wirken als Einladung zur
Meditation. Sie dienten und dienen als Vermittlungsmedium zwischen dem Menschen und dem
Absoluten.91 Auf diese Weise konnte die Botschaft des Korans für alle Menschen zugänglich
gemacht werden; nicht nur für die
Gelehrten, wie es die Manuskripte
bedingten,
sondern
sogar
für
Analphabeten, die von der Ästhetik und
der monumentalen Grösse beeindruckt
waren und dadurch die Botschaft Allahs
erahnen konnten.92 Die grosse Moschee
in Bursa in der Türkei beispielsweise ist
geschmückt
durch
Kalligraphien,
welche
gigantische
durch
ihre
Reinheit äusserst ausdrucksvoll sind.93
Die älteste kalligraphische Inschrift
befindet sich in Jerusalem, in der AlAqsa Moschee, welche im Jahre 691 p.c.
fertiggestellt wurde. Dargestellt in KufiSchrift ist ein Koran-Vers, der teilweise
noch lesbar ist.
Zu Beginn wurden nur an Friesen* an bedeutsamen Stellen der Moschee kalligraphische
Inschriften angebracht, mit der Zeit
wurden
diese
jedoch
ein
immer
Abb.: 8 Gebetsnische in einer Moschee in Isfahan
(Iran), Fries mit Kalligraphien
wichtigerer Bestandteil der Ornamente
und bedeckten ganze Wände, Decken und Säulen. Eine gleichmässige geometrische Form
rahmte die eigentlichen Kalligraphien ein, welche sich meist ähnlich einem schmalen Band über
mehrere Meter erstrecken konnten. Vorschriften über die Ausarbeitung, Ausführung und
Anordnung der architektonischen Kalligraphie bildeten sich heraus.
Da die Mohammedaner den Koran auswendig kannten, genügten wenige bekannte Zeichen und
sie erkannten die dargestellte Textstelle. Dadurch wurde die Schrift ein heiliges Symbol.94
91
Vgl. Haarmann (2002), 74 und Massoudy (1981), 102.
Vgl. Massoudy (1981), 33.
93
Diese Moschee namens Ulu Jami wurde zwischen 1394 und 1413 erbaut – nicht für den Sultan, sondern für das
Volk. Vgl. Massoudy (1981), 144.
94
Vgl. Massoudy (1981), 153.
92
- 26 -
Der Zweck dieser Gebäude ist es, Allāh und den Propheten Mohammed zu glorifizieren und
durch die Pracht der Kalligraphien die ‚Imposanz’ des Gebäudes und gleichzeitig das Ansehen
des Auftraggebers zu erhöhen. Im Laufe der Zeit wurden auch profane Gebäude mit
Kalligraphien geschmückt, welche teilweise auch weltlichen Inhalts waren, wie z.B. Namen von
Kalifen oder Gedenkinschriften für historische Ereignisse.95
6.3 Aufbau der arabischen Schrift
Die arabische Schrift, hauptsächlich aus Konsonanten bestehend, wird waagrecht von rechts
nach links geschrieben, ferner werden die Vokal- und diakritischen* Zeichen ober- und
unterhalb der Schriftlinie notiert. Diese diakritischen Punkte dienen zur Unterscheidung
ursprünglich gleich geschriebener Buchstaben. Z.B. kann das Zeichen ( ‫ ) د‬ohne diakritische
Zeichen B, T, Y, N und Th bedeuten. Fügt man anschliessend noch eines der drei kurzen
Vokale oder ein anderes Zeichen hinzu, kann es sogar als BA, BI, BOU, TA, TI, TOU etc.
gelesen werden. Damit die zum Islam konvertierten Menschen die Möglichkeit hatten, den
Koran lesen zu können, musste durch diese Zeichen Klarheit geschaffen werden. Eine weitere
besondere Eigenschaft der arabischen Schrift ist, dass 22 der 28 Buchstaben zusätzlich
umgestaltet werden, je nach dem welche Position sie im Wort einnehmen – ob am Anfang, in
der Mitte oder am Ende. Diese Besonderheiten der arabisch-islamischen Schrift erschweren
sowohl dem Schreiber, als auch dem Leser die Arbeit erheblich und verlangen eine grosse
Konzentration. Werden bestimmte Buchstaben oder Punkte übersehen, kann dies den ganzen
Inhalt verändern. Teilweise werden jedoch bewusst Punkte zur Vereinfachung weggelassen,
was jedoch zu verschiedenen Textauslegungen führen kann. Nur noch in Koranabschriften,
Prachtexemplaren und Lehrbüchern wird eine komplette Schreibweise verwendet.96
6.4 Schriftenvielfalt
Die arabische Schrift lässt sich in zwei Grundtypen unterteilen.97 Einerseite in die
Monumentalschrift, andererseits in die Kursivschrift. Erstere traf man vorwiegend auf
islamischen Inschriften und im Koran an, letztere wurde für alltägliche Schriftzwecke benutzt.
Es entwickelte sich sowohl aus der Monumentalschrift eine Vielfalt von verschiedenen
Schrifttypen, welche in ei
95
Vgl. Khatibi/Sijelmassi (1996), 194.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff.; Khatibi/Sijelmassi (1996),191ff.; Massoudy (1981), 144; Schimmel (1992), 320, 50.
96
Für weiterführende Informationen zu den diakritischen Zeichen vergleiche Khatibi/Sijelmassi (1996), 92f.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff., 56f.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
97
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 58ff.; auch für weiterführende Informationen zu den jeweiligen Schriftarten.
- 27 -
nem Überbegriff „Kufī“ genannt werden, als sich auch aus der Kursiven an die zwanzig
weiteren Schriftarten bildeten. Kufi war der erste bedeutende Stil der arabischen Schrift, der für
das Kopieren des Korans üblich war. Ihr Name erhielt sie nach der Stadt Kufa im Irak.98
6.4.1 Kufi
Aufgrund ihrer Beeinflussung durch die Monumentalschrift ist die typische Kufi eher eckig
aufgebaut und wird wie alle semitischen Schriften von rechts nach links geschrieben und hatte
vorwiegend den Anspruch auf Ästhetik als auf Grammatik und Simplizität. So kann z.B. jeder
der 28 Konsonanten aufgrund seiner Position innerhalb des Wortes das Aussehen ändern. Ihr
Schriftbild fällt insbesondere durch den kurzen vertikalen und langen horizontalen Duktus, die
Linienführung, auf.99 Erst im Laufe der Zeit kamen die diakritischen* Zeichen, welche in rot,
grün oder Gold gezeichnet wurden, dazu.100
In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhundert
erreichte die Kufi-Schrift den Höhepunkt ihrer
Vollkommenheit,
wobei
sie
sich
dem
puristischen* Umfeld in ihrer strengen Form
anpasste. Diese streng geometrische Kufi-Schrift
wurde von den Kalligraphen für unzählige
Variationen von „Allah“ und „Mohammed“
verwendet. Im Laufe der Zeit bis ins 12.
Jahrhundert rückte zunehmend der ornamentale
Aspekt in den Vordergrund. Neue geometrische
Formen entwickelten sich und zunehmende
Kombinationsmöglichkeiten von Verzierungen
standen
zur
Weiterentwicklung
Verfügung.
dieses
Aus
der
Schrifttyps
entwickelten sich dann zwei verschiedene
Schriftarten – die sogenannte westliche und
Abb.: 9 Koranausschnitt in östlicher Kufi
östliche Kufi. Das östliche Kufi in eleganter
Form zeichnete sich durch ihre senkrechten Oberlängen und ihrer betont schrägen Richtung aus
und verschaffte so dem Schriftbild eine lebhafte und dynamische Note. Es wird bis heute
98
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff., 58ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
Für weiterführende Informationen zu den verschiedenen Schriftarten vergleiche Gosciniak (1991), 28ff.
100
Zu den 28 Buchstaben des arabischen Alphabetes kann auch noch das Lam-Alif gezählt werden. Dies ist ein
zusammengesetzter Buchstabe aus dem Lam ( ‫ ) د‬und dem Alif ( ‫) ا‬, der durch seine grosse Vielzahl an Variationen
und Formen in der Kufi-Schrift eine ästhetisch sehr wichtige Rolle einnimmt. Vgl. Massoudy (1981), 114.
Vgl. Gorsciniak (1991), 28ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
99
- 28 -
vorwiegend für Überschriften der einzelnen Koranabschnitte verwendet. Im Gegensatz zu
diesem archaischen Stil steht das westliche Kufi, welches die vertikale Grundlinie durchbrach,
kursive Form annahm und die scharfen Ecken der östlichen abrundete.
Neue, noch mehr vereinfachte Kufi-Schriftformen fanden ihren Eingang in der Architektur
schon im frühen Mittelalter, da die rechteckigen Backsteine und Ziegel einen idealen
Untergrund für dieses Schriftbild formten.
Seit dem 13. Jahrhundert ist die Kufi-Schrift nicht mehr sehr gebräuchlich und wird heutzutage
meist nur noch in seiner rechteckigen Form für dekorative Inschriften und Koranüberschriften
benutzt. Für moderne, kalligraphische Malerei ist Kufi aber immer noch eine sehr beliebte
Grundlage.101
Wie bereits erwähnt, wurde die Kufi-Schrift hauptsächlich für das Kopieren des Korans, für
religiöse Inschriften und allgemein wichtige Texte verwendet. Jedoch war sie wegen der vielen
Kanten auch gut geeignet für Inschriften auf Stein, Holz, Keramik oder metallischen
Gegenständen, wie z.B. Münzen. Die genau vorgegebenen Formen, welche für das Kopieren
des Korans zwingend waren, erlebten auf Holz und Keramik eine ausserordentliche Flexibilität.
So wurden z.B. die langen Vertikalen noch zusätzlich verlängert und endeten in ornamentalen
Blütenranken oder es wurden die Zwischenräume zwischen hohen Buchstaben mit üppigen
Dekorationen ausgeschmückt.
Die Grösse der Lettern bzw. des Korans kann variieren. Jedoch sind die meisten Exemplare
gross, da der Prophet Mohammed einst gesagt haben soll, dass die Lettern ausgedehnt
niedergeschrieben werden sollten, um die vollkommene Majestät des Wort Gottes ausdrücken
zu können. Trotzdem sind ausnehmend kleine Ausgaben vorhanden, die vermutlich den
gelehrten Reisenden gedient hatten. Die ersten in Kufi geschriebenen Korane beinhalteten meist
nur drei bis fünf Zeilen auf einer Seite, was zu sehr umfangreichen Werken führte, da der Koran
114 Kapitel beinhaltet. Aus diesem Grund unterteilte man ihn in dreissig Teile – für jeden Tag
im Monat jeweils einen. Zu ihrer Aufbewahrung wurden mit Inschriften verzierte Holz- und
Metallkisten angefertigt.102
101
102
Vgl. Gorsciniak (1991), 28ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
Vgl. Fussnote 101.
- 29 -
6.4.2 Weitere Schriftstile
Neben der Kufi-Schrift bestehen, abgesehen von den unzähligen Variationen und Schulen, noch
vier andere Hauptstile der arabischen Kalligraphie.103 Die einfach und flüssig schreibbare,
kursive "askhi-Schrift (auch "eschi oder "eskhi genannt), die häufig für die Überschrift von
Suren* und für architektonische Arabesken* verwendet wurde, im 10/11. Jahrhundert die KufiSchrift verdrängte und die Grundlage für das heutzutage gebräuchliche Schrift-Arabisch
bildet104; die elegante Ta’liq-Schrift, welche eine Weiterentwicklung der "askhi-Schrift
darstellte und vorwiegend für profane Texte und Dichtkunst verwendet wurde; der im westislamischen Raum aufgekommene maghrebinisch-andalusische Stil, der sich aus dem
archaischen Kufi entwickelt hatte und beeinflusst wurde durch die Vermischung der
andalusischen und nordafrikanischen Stile; und zuletzt noch die Zoomorphe Schrift*, bei der
Bilder aus kalligraphischen Schriftelementen – mit Hilfe aller Schrifttypen – gezeichnet und
dadurch im bilderfeindlichen Islam
gekonnt
„lebendige“
Lettern
integriert wurden. Allerdings ist es
trotzdem
verboten,
solche
verspielten Werke in Moscheen als
anzubringen.105
Ausschmückung
Dazu dienten ausschliesslich die
bereits
erwähnten
geometrischen
Schriftbilder, die auf ornamentale
Weise „Allah“ und „Mohammed“
darstellen.106
Die
Abb.: 10 Tughra des Sultans Süleyman der Grosse
verschiedenen
unterscheiden
sich
Stilrichtungen
schon
in
kleinsten Rundungen. So ist z.B. der
Punkt, der als Masseinheit der Proportionen, als diakritisches Zeichen*, als Zahl “eins“ oder
auch als Interpunktionszeichen verwendet wird, in der "eskhi als Quadrat geschrieben, in der
103
Es muss jedoch beachtet werden, dass andere Quellen andere Einteilungen bevorzugen. So werden oftmals auch
die Thoulthi-, die Riqa- und die Diwani-Schrift genannt. Es bildeten sich allmählich neue Style heraus wie z.B. der
moderne Kufi-Stil oder der moderne Naskhi-Stil. Je nach Zweck und Region wird der eine oder andere Stil
bevorzugt. Vgl. Massoudy (1981), 59-69.
Für weiterführende Informationen zu den jeweiligen Schriftstilen vergleiche Khatibi/Sijelmassi (1996), 77-89, 96-99
und James (1988), 15.
104
Vgl. Brockhaus (2005), 3434.
105
Diese Abneigung im Islam Abbildungen gegenüber ist stark verankert, obwohl im Koran kein Verbot darüber
existiert. Vgl. Massoudy (1981), 118.
106
Vgl. Gosciniak (1991), 28ff.; Massoudy (1981), 85; Schimmel (1992), 3-20, 50.
- 30 -
Kufi-Schrift jedoch rund. 107 Der Kalligraph versucht in seinen Kompositionen oder Schriften
möglichst ein Gleichgewicht zwischen gefüllten und leeren Flächen zu bilden.108 Dabei stellt der
Punkt in seiner Funktion als Verzierung ein wichtiges Hilfsmittel dar.109
Eine spezielle Komposition stellt die Tughra dar – ursprünglich die Unterschrift des Sultans, die
vergleichbar mit einem Siegelabdruck ist. Die Grundstruktur aller Tughras bleibt gleich,
während der Text, also der jeweilige Namen des Sultans ändert. So ähneln sich diese Signaturen
stark und man kann oftmals erst beim ‚Entfalten’ der einzelnen Buchstaben die Unterschiede
sehen. Der Text einer Tughra setzt sich aus dem Titel ‚Mahmud el-muzaffer daima’, was soviel
bedeutet wie der ‚ewig siegreiche Khan’, sowie aus dem Namen des jeweiligen Sultans
zusammen.110
Im Schriftbild nehmen Metrik und Geometrie einen hohen Stellenwert ein, was der Schrift
zusätzlich einen ornamentalen Charakter verleiht.
Durch Wiederholungen, unterschiedliche Anordnungen und Dehnungen kann im Schriftbild ein
„musikalischer Rhythmus“111 erzeugt werden. Dehnungen beispielsweise bewirken Ruhe und
Stille – Kontraktionen vermitteln Bewegung, stören die Ruhe. 112
Ohnehin wird die islamische Kalligraphie oftmals mit der Musik verglichen. Beide haben ihre
festen Regeln, Systeme und präzisen Methoden und lassen dennoch dem Künstler Raum für
eigene Kreativität. Bei beiden Künsten ist jedoch mehr als nur die Beherrschung dieser
Grundlagen erforderlich. Sowohl ein Kalligraph als auch ein Musiker muss über eine gewisse
Individualität und Genialität verfügen. 113
6.5 Der Schreiber und seine Werkzeuge
Man vermutet, dass der soziale Status der einfachen Kopisten, die abschrieben ohne dem
Anspruch des Verstehens gerecht zu werden, niedrig war. Jedoch ist anzunehmen, dass die
Anerkennung grosser Kalligraphie-Meister in der Gesellschaft hoch war, ihre Arbeit als
hochqualifiziert galt und sie gut bezahlt waren. Dieser Beruf war aufgrund der über
Jahrhunderte kontinuierlichen, grossen Nachfrage an Büchern ziemlich beliebt, verlangte jedoch
auch einige Eigenschaften, die der Schreiber beherrschen musste. Dazu zählte Bildung,
Schnelligkeit, fehlerfreies Abschreiben und eine deutliche, sorgfältige Handschrift, die eine
107
Vgl. Massoudy (1981), 42, 44.
Vgl. Massoudy (1981), 94.
109
Vgl. Fussnote 106.
110
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 53ff. ; Carboni (1995), 86; Massoudy (1981), 24ff.; Schimmel (1992), 3-20, 50.
111
„un rythme musical“. Zit. nach Massoudy (1981), 85.
112
Vgl. Gosciniak (1991), 28ff.; Massoudy (1981), 85; Schimmel (1992), 3-20, 50.
113
Vgl. James (1988), 15.
108
- 31 -
leichte Lesbarkeit ermöglichte. In späteren Zeiten gehörte es zur guten Erziehung eines noblen
Herren, in der Kunst der Kalligraphie ausgebildet zu werden – in gewissen Familien kam dieses
Privileg sogar den Damen zu.114
Die Schreiber arbeiteten gewöhnlich in Hof- oder Staatsbibliotheken, wo sie neben
Koranabschriften auch weltliche Texte verfassten. Schreibstuben, wie sie in europäischen
mittelalterlichen Klöstern üblich waren, kannte man in den Moscheen und Medresen* nicht.115
Als Beschreibstoffe dienten zu Beginn Pergament und Papyrus, welche jedoch im 10.-11.
Jahrhundert durch das Papier verdrängt wurden. Das Papier wurde aus feinsten Fasern wie z.B.
Baumwolle oder Seide hergestellt und anschliessend mit einem glatten Stein (Achat oder Jade)
poliert.116 Zum Schreiben wurde und wird heute noch eine Rohrfeder mit gespreizter Spitze, die
sogenannte qualam oder Kalem – vom griechischen kalamos (καλαµοσ, dt. Halm) – benutzt.
Sie wird auch als mizbar ‚Schreibwerkzeug’ bezeichnet und geniesst eine hohe Wertschätzung
ein. Es sind unzählige, detaillierte Abhandlungen über den korrekten Umgang und die
Geheimnisse des richtigen Gebrauchs der Kalem vorhanden.117 Diese Feder wird unmittelbar
vor der Anwendung schräg zugespitzt und mit einem kleinen Einschnitt versehen, damit ein
regelmässiger Tintenfluss entsteht.118 Neben der Schilfrohrfeder werden heutzutage auch
Metallfedern benutzt, obgleich diese in ihren Anwendungsmöglichkeiten eingeschränkter sind.
Des Weiteren ist das Tintenfass bzw. ein längliches Kästchen mit dem ganzen Tintenzubehör,
das dawāt, in der Feder und Tinte aufbewahrt werden, ein wichtiges Schreibutensil. Eine grosse
Vielfalt an Tinten steht zur Verfügung, welche sich je nach Herkunft, Schwärze bzw. Farbe und
Glanz unterscheiden, wobei jede mit grosser Sorgfalt, meist vom Kalligraphen persönlich,
zubereitet wird.119 Die Tintensorten – hergestellt nach einer Vielzahl überlieferter, geheimer
Rezepte – können grob in zwei Gruppen unterteilt werden. Zum einen in die eisenhaltigen
Nusstinten, welche sich im Laufe der Zeit von Blauschwarz in Rotbraun verfärben und zum
anderen die Tinten aus Russ, bei welchen die tiefschwarze Farbe unverändert erhalten bleibt
und der Tusche sehr ähnelt. Seltener sind auch noch Tinten in verschiedenen Farbtönen (rote,
gelbe, blaue und violette) gebräuchlich, doch im Allgemeinen wurden die Schriften mit braun
oder schwarz gefärbter Tinte geschrieben.120
114
Früher nahm der Sultan stets seinen persönlichen Kalligraphen und Maler in seine Schlachten mit, der seinen
Namen unsterblich machen sollte. Der Kalligraph des im Kampf besiegten Gegners stand nach der Schlacht dem
Sieger zu. Vgl. Massoudy (1981), 153.
115
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff., 50; Schimmel (1992), 3-20, 50.
116
Vgl. James (1988), 17.
117
Vgl. Rodari (1988), 47.
118
Für weiterführende Informationen zur Feder und ihrer Herstellung vergleiche Massoudy (1981), 14-21.
119
Für weiterführende Informationen zu der Vielfalt der Tintesorten vergleiche Massoudy (1981), 28ff.
120
Für weiterführende dazu Informationen zum Schreibmaterial vergleiche Akimuschkin et all. (1995), 53ff.; Carboni
(1995), 86.
- 32 -
Überdimensionierte Buchstaben werden mit Hilfe zweier Bleistifte, die an zwei Seiten eines
Holzstücks befestigt werden, vorgeschrieben und anschliessend mit Pinsel und Tinte
ausgefüllt.121
Als Vorbereitung des Schreibprozesses wird das Blatt anfangs mit einem klebrigen Präparat
bestrichen, in einen Teesud eingetaucht und anschliessend mit einer Schutzschicht überzogen.
Nachdem das Blatt trocken ist, wird es mit einem Feuerstein glattpoliert bis die Oberfläche
seidenweich ist, liniert und schliesslich kann es beschriftet werden.122
Beim Verfassen der Kufi-Schrift muss der Kalligraph genauen Schreib-Vorgaben gerecht
werden, was eine lange und schwierige Ausbildung voraussetzt. Eine grosse Bedeutung für eine
schöne Schrift kommt dabei der Schreibhaltung zu. Auf dem Boden sitzend, kommt dabei die
linke Hand mit dem zu beschreibenden Papier auf dem linken Knie zu liegen, während mit der
rechten Hand geschrieben wird. Dadurch kann die Schrift abgerundet werden, da das Knie eine
leicht nachgiebige Unterlage darstellt. Seltener wird auch auf einem niedrigen Tisch, am Boden
sitzend geschrieben. Heutzutage haben einige Kalligraphen die Angewohnheit angenommen auf
einem Stuhl am Tisch sitzend Kalligraphien zu verfassen. Die richtige Position der Hand ist
Voraussetzung für ein gutes kalligraphisches Werk. Die Feder sollte nur mit drei Fingern fest
und trotzdem biegsam, gelenkig gehalten werden. Der kleine Finger und der Aussenrist des
Handgelenkes stützen sich leicht ab, wodurch sie der Hand Halt geben können.
Während des Akts des Kalligraphierens sollte sich der Künstler mit dem Blick auf die
Federspitze, mit dem Geist jedoch auf den Inhalt konzentrieren. Um sich auf die
Schreibutensilien einzustimmen, zur Lockerung der Hand und zur geistigen Vorbereitung
verfasst der Kalligraph zu Beginn einige Übungsarbeiten welche ihn in einen ruhigen, jedoch
trotzdem sehr wachsamen Zustand versetzen sollen. Einige Kalligraphen unterbrechen ihre
Arbeit mit dem Satz: „Je n’arrive pas à trouver mon Alif“123, wenn sie bei den Übungen nicht in
die richtige Stimmungslage kommen oder sich im Umfeld nicht wohlfühlen und somit nicht die
angestrebte Perfektion ihrer Arbeiten erreichen können.
Das „Schöne Schreiben“ bedeutet für den Kalligraphen höchste Konzentration.124 Um die
angestrebte Eleganz, Geschmeidigkeit und Kraft im Ausdruck zu erlangen und die Bewegung
seiner Hand nicht zu stören, hält er den Atem an, mit dem Ziel, den Buchstaben in aller Freiheit
121
Vgl. Massoudy (1981), 22f.
Vgl. Ghata (2007), 16.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 53ff. ; Carboni (1995), 86; Schimmel (1992), 3-20, 50.
123
„Mir gelingt es nicht meinen Alif zu finden“, Alif ( ‫ =) ا‬erster Buchstabe des arabischen Alphabets und
Darstellung des Menschen. Zit aus Massoudy (1981), 27.
124
Vgl. Massoudy (1981), 55.
122
- 33 -
atmen zu lassen. „[...] le calligraphe traditionnel imagine sa lettre d’origine divine et la veut
parfaite.“125
Nach einer langen Zeit intensiven Studiums aller zur Kalligraphie gehörigen Künste wurde dem
Schüler schließlich erlaubt, sein Werk zu signieren. Die ijāza (die Befugnis zu unterschreiben)
entspricht sozusagen einem akademischen Titel.126
6.6 Schrift und Ornament
Allgemein stehen dem Kalligraphen beim Verfassen von arabisch-islamischen Schriften viele
Möglichkeiten für Verzierungen zur Verfügung. Um dem Schriftbild einen ornamentalen
Charakter zu verleihen, können beispielsweise die Buchstaben verschieden gross geschrieben
werden, speziell angeordnet sein oder sie können unterschiedlich stark in die Länge gezogen
werden – je nach Tempo des Schreibflusses. Auch kann der Kalligraph teilweise zwischen
unterschiedlichen Schreibformen für denselben Buchstaben wählen oder kleine Zeichen oder
Akzente hinzufügen, um den Anspruch des angestrebten Schriftbilds erfüllen zu können.127
Beim Erstellen von Kompositionen verfasst der Kalligraph zunächst eine Grundstruktur, die er
erst anschliessend mit diakritischen Zeichen*, Akzenten und ornamentalen Punkten
ausschmückt.128
Die Kalligraphie an sich kann ornamental ausgeführt werden oder Kalligraphie und Ornament
verbinden sich, wobei der Schriftinhalt sekundär wird. Bei diesen Verzierungen wird
unterschieden in einerseits Pflanzen- und Tierornamente und andererseits in geometrische
Muster, wobei zu den jeweiligen Ornamentierungen verschiedene, passende Schriften
verwendet werden.129 Die Kufi-Schrift ergänzt ideal geometrische Ornamente, während für die
pflanzlichen Dekorationen die Thoulthi –Schrift beigezogen wird.130
In Büchern wird nicht nur das Titelblatt oft reich verziert, sondern zum Teil auch die
Kapitelüberschriften. Dazu dienen u.a. zum einen farbige Tinten, flüssiges Gold und Silber und
zum anderen geometrische Muster oder auch vereinfachte Pflanzen- oder Tierornamente,
sogenannte Arabesken. Diese Verzierungen wurden im frühen Mittelalter jedoch noch sehr
bescheiden gehalten und kamen erst im Laufe der Zeit auf.131
125
„[...] der traditionelle Kalligraph stellt sich sein Zeichen in seinem göttlichen Ursprung vor und möchte es perfekt
[wiedergeben]“. Zit. aus Massoudy (1981), 55.
126
Vgl. Fussnote 110.
127
Vgl. Massoudy (1981), 72.
128
Vgl. Massoudy (1981), 78.
129
Vgl. Massoudy (1981), 106.
130
Für weiterführende Informationen zur Geometrie und den Proportionen in der Kalligraphie vergleiche
Khatibi/Sijelmassi (1996), 46-51).
131
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 66.
- 34 -
Obwohl üblicherweise Texte mit Farben, Gold und Illustrationen verziert wurden, waren der
Text an sich und die Schönheit der Schrift, der Kalligraphie das Wesentliche.132 Die
Illustrationen und Miniaturen* spielten eine zweitrangige Rolle als visuelle Erläuterungen und
hatten auf den Wert des Manuskriptes nur wenig Einfluss. „Als schönster Schmuck eines
handgeschriebenen Buches galt die Schrift selbst, deren gekonnter Ausführung man grosse
Bedeutung beimass.“133
Abb.: 11 Basmallah in Form eines Löwen
Bei einer weiteren Art der Dekoration, die vor allem bei den Sufis* beliebt ist, werden die
Buchstaben wie in einem Spiegel angeordnet – die Schriftzeichen auf der linken Seite des
Bildes sind die Spiegelung der Buchstaben der rechten Seite. Der Inhalt dieser Werke sind
religiöse Texte und haben meist einen sehr ausgeglichenen und ruhigen Ausdruck. Sie werden
erstellt um die Wände der Gebäude der Sufis zu zieren.134
132
Vgl. Carboni (1995), 86.
zit. aus Akimuschkin et all. (1995), 58.
Vgl. Akimuschkin et all. (1995), 34ff., 53ff.; Carboni (1995), 86; Schimmel (1992), 3-20, 50.
134
Vgl. Massoudy (1981), 132.
Vgl. Gosciniak (1991), 28ff.; Massoudy (1981), 85; Schimmel (1992), 3-20, 50.
133
- 35 -
6.7 Islamische Kalligraphie heute
Bis auf den heutigen Tag spielt die Kalligraphie im islamischen Raum eine grosse Rolle. Sie ist
überall präsent – kein Gebäude, sei es Café, Geschäft oder Werkstatt ist nicht geschmückt mit
Kalligraphien, die einen religiösen Text, den Namen eines Heiligen oder ein Sprichwort zum
Inhalt haben. Wertvolle Unikate bekannter Meister werden billige Massenware, sind schlecht
gedruckt und für wenig Geld erhältlich.
Die Werke traditioneller Kalligraphen spielen heutzutage jedoch nur noch eine marginale Rolle.
Diese Kunst wird je länger je mehr vom Buchdruck verdrängt, der gewisse Schriftstile wie z.B.
"askhi und Kufi ziemlich gut imitieren kann, wobei „la beauté et la souplesse“135 dabei verloren
gehen.
Für Auswanderer kann das Ausüben von islamischen Kalligraphien auch einen „Weg zurück
zum kulturellen Erbe“ bedeuten, als „Brückenschlag zwischen West und Ost“.136 Die islamische
Kalligraphie bringt heutzutage auch die verschiedenen Kulturen näher. Sie verbindet nichtmuslimische Kalligraphie-Interessierte mit muslimischen Kalligraphen und kann somit zu
Kulturkontakt führen.137
135
„die Schönheit und die Geschmeidigkeit“. Zit. nach Massoudy (1981), 162.
Zit. nach NZZ, 27.05.2008, „Mit Schilfrohrfeder und Computer“.
137
Vgl. NZZ, 27.05.2008, „Mit Schilfrohrfeder und Computer“.
Vgl. Massoudy (1981), 153, 162.
136
- 36 -
7 Die Buddhistische
Buddhistische Kalligraphie
Wie bereits erwähnt gibt es auch im Buddhismus bzw. in der buddhistisch geprägten Kultur eine
grosse Vielzahl verschiedener Schriften bzw. Kalligraphien. Deswegen wird in diesem Kapitel
die Zen-Kalligraphie exemplarisch für die übrigen vorgestellt.138
7.1 Schriftgeschichte
Die Schrift nahm schon bei den Konfuzianern* einen hohen Stellenwert ein und die
Schreibkunst war mit einem hohen sozialen Status verbunden. Seit dem 2. Jahrhundert p.c.
entwickelten sich Schrift und Schreibtechnik zügig weiter und zur selben Zeit wurden sie auch
von taoistischen* Einflüssen geprägt. Das Lese- und Schreibvermögen blieb bis zur Tang-Zeit
(618- 907 p.c.) hin in Asien ein Privileg der Elite. In diesen Kreisen war die Beherrschung der
Kunst der Kalligraphie sehr angesehen. Zu dieser Zeit war die Kalligraphie kaum trennbar von
der alltäglichen Schreibkunst, denn jede schriftliche Niederlegung wurde so ästhetisch und
kunstvoll wie möglich verfasst. Auch der Inhalt wurde sehr sorgfältig ausgewählt oder kurz
gesagt, die literarischen Abfassungen waren Kunstwerke.139
Die ursprünglich chinesische Kalligraphie, die im 14./15. Jahrhundert von der japanischen
Kultur übernommen wurde und Shodô (‚schodō’) genannt wurde, bildete die Grundlage für die
Zen-Kalligraphie.140 Shodô bedeutet übersetzt ‚Weg der Schrift’ und dadurch ist angedeutet,
dass in der japanischen Kalligraphie der Lernprozess, die innere Ausrichtung und die
Konzentration im Vordergrund stehen und nicht das eigentliche Resultat. Auch ist nicht in erster
Linie die Schönheit, das Regelmässige und das Dekorative wichtig, sondern Shodô kann
vielmehr als ‚Kunst der Pinselstriche und ihre Verteilung in der Fläche’ verstanden und als
„Grundlage und Ausdruck einer abstrakten Kunstform“141 gesehen werden und wird heutzutage
gleichrangig mit der Kunstmalerei gestellt.142
138
Neben der Zen-Kalligraphie gibt es im asiatischen Raum weitere Traditionen, die mit der Schrift und der Religion
in enger Verbindung stehen, z.B. Shakyō (‚Schakiō’), das Kopieren der Sutren. Vgl. (1981), 97; auch für
weiterführende Informationen zu Shakyō.
139
Vgl. Sakamoto (1998), 14f., 27; Stevens (1981), 134ff.
140
Für weiterführende Informationen zur Schriftentwicklung in China und Japan vergleiche Klopfenstein (1992), 7ff.
141
zit. nach Klopfenstein (1992), 8.
142
Für weiterführende Informationen vergleiche auch Kunze (1992), 281.
- 37 -
Eine gute kalligraphische Arbeit zeichnet sich aus durch Gleichgewicht, Harmonie,
Ausdruckskraft und Lebhaftigkeit.
Über die Zeit hinweg trennte sich die alltägliche Schrift vom Shodô je länger je mehr, wobei
sich eigene, dem Zweck entsprechende Schriften herausbildeten. 143
Als schliesslich die Schrift einer breiteren Schicht zugänglich war, bildete sich daraus eine
Bildungselite, welche die Schriftkunst bis zum 19. Jahrhundert stark beeinflusste. Parallel dazu
bildete sich eine Traditionslinie von Künstlern, die eine unkonventionelle Schreibweise
pflegten, welche eine „Wilde, Magische, Naturverbundene“144 Note hatte. Auch die ZenKalligraphie liess sich davon beeinflussen. 145
Auch heute noch ist die Kunst der Kalligraphie im asiatischen Raum ziemlich weit verbreitet.
Sie bringt einen „meditativen Zug ins Leben“ und ermöglicht „ein Gegengewicht gegen die
einseitig auf materiellen Nutzen und schnelle Ergebnisse ausgerichtete Wertvorstellungen der
modernen Leistungsgesellschaft“.146 Viele der zeitgenössischen Kalligraphen haben neben der
Schreibkunst auch Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte studiert, was die enge
Verbundenheit dieser Gattungen aufzeigt.
Shodô wird nicht nur von beruflichen Meistern oder Hobbykalligraphen ausgeführt, sondern
auch von Mönchen in Klöstern, wo sie, wie die Berufs- und Hobbykalligraphen an
‚Kalligraphie-Wettbewerben’ teilnehmen. Dabei ist jedoch nicht der äussere Erfolg das Ziel des
Mönches, sondern das Training in Konzentration und Meditation und die schlichte Freude an
der Sprache und Schriftkunst.
Die Rolle, welche die japanische Schriftkunst in ihrer Kultur heutzutage noch innehat, ist
bemerkenswert. Nahezu jede Familie hat als Einrichtungsgegenstand eine kalligraphische
Arbeit in Form einer Bilderrolle oder einer Schriftrolle.147 Von allen traditionell japanischen
Künsten148 kommt der Kalligraphie die grösste Bedeutung zu.149
Kalligraphie, als Zusammenspiel von Schreibkunst und Wortwahl ist „Training für Körper und
Geist gleichermassen“150.
143
Vgl. Chang/Miller (1990), 33.
Vgl. Stevens (1981), 134ff.; Klopfenstein (1992), 7ff.
144
zit. nach Klopfenstein (1992), 8.
145
Vgl. Fussnote 139.
146
beide zit. nach Klopfenstein (1992), 9.
147
Die bis heute erhaltenen kalligraphischen Werke sind oftmals solche Schriftrollen, genannt Kakejiku, die in der
Teezeremonie eine zentrale Bedeutung einnahmen und immer noch einnehmen. Vgl. Stevens (1981), 173.
148
Vergleiche dazu die Fussnote 156.
149
Shodô, die teilweise auch als Volkskunst angesehen wird, ist sogar oftmals in den Schulen als Freifach angeboten.
Für weiterführende Informationen zur enormen Gewichtung der Kalligraphie im heutigen Japan vergleiche Sakamoto
(1998), 14.
Vgl. Stevens (1981), 134ff.; Klopfenstein (1992), 7ff. ; Sakamoto (1998), 14f. 27.
150
Zit. nach Sakamoto (1998), 27
- 38 -
7.2 ZenZen-Kalligraphie (Zensho)
7.2.1 ZenZen-Buddhismus
Der Zen-Buddhismus
151
ist eine im 6. Jahrhundert in China entstandene Schulrichtung des
Mahayana152-Buddhismus, die stark vom Daoismus153 beeinflusst war. Begründer dieser Schule
ist Bodhidharma154. Im 13. Jahrhundert gelangte Zen nach Japan, wo es eine neue Ausprägung
erhielt. Der Kern der religiösen Praxis des Zen ist das Zazen155, eine Sitzmeditation bzw.
sitzende Kontemplation, die Körper und Geist zur Ruhe bringen soll. Deshalb wird der ZenBuddhismus auch oftmals als Meditations-Buddhismus bezeichnet. Zazen möchte hauptsächlich
die „Versenkung“, das Leben in der vollständigen „Hingabe an die Wahrheit“ erreichen, wobei
jeder Zen-Schüler durch einen Zen-Meister unterstützt, angeleitet, zurechtgewiesen und
körperlich gezüchtigt wird.
Die Lebenspraxis und die Weisheiten standen in einer wechselseitigen Beziehung zu
verschiedenen Kunstarten, unter anderem auch zur Kalligraphie.156 „Es [der Zen-Buddhismus,
Anm. I.Z.] ist der Versuch, auf dem Weg der Selbsterfahrung zum Selbstverständnis und zu
einem tieferen Verständnis aller Dinge zu kommen.“157
Abb.: 12 Zeichen der Zen-Kalligraphie: Enso
jap., Umschrift von Sanskrit Dyāna „meditative Versenkung“.
Mahayana: (Sanskrit: grosses Fahrzeug) Der Buddhismus darf grob, wenn auch nicht vollständig in folgende drei
Hauptrichtungen eingeteilt werden, welche sich mit der Zeit herausgebildet haben: „Hinayana“ (das kleine Fahrzeug),
„Mahayana“ (das grosse Fahrzeug), „Vajrayana“ (das diamantene Fahrzeug). Vgl. Brockhaus (2005), 3821; Trutwin
(1998), 77.
153
Daoismus (Taoismus): „philosoph. Lehre und Religion in China. Der philosoph. D. ist eine im 4. und 3. Jh. v.Chr.
entstandene Richtung der chines. Philosophie, [...]. Der religiöse D., eine weit in vorchristl. Zeit zurückreichende
Religionsform mit Göttern und Geistern, Exorzismus und Wahrsagerei, besass spätestens seit dem 2. Jh. n.Chr. feste
Kulturformen, Gemeinden und Mönchswesen, oft in Wettbewerb mit dem gleichzeitig aufkommenden Buddhismus.“
Zit. aus Brockhaus (2005), Band 2, 1089.
154
Bodhidharma (jap. Daruma): (ca. 470 – 543), indischer buddhistischer Mönchsgelehrter. Vgl. Brockhaus (2005),
Band 1, 668.
155
Zazen: jap: za = sitzen; zen = Ausgleich von Körper und Geist, Wirklichkeit und Wahrheit; Sitzende Position mit
verschränkten Beinen. Vgl. Brockhaus (2005), 7234,7254.
156
weitere bekannte Bsp.: Bühnenkunst (Nō), Blumensteckkunst (Ikebana), Dichtkunst (Haiku), paradoxe Fragen
(Koan), Kampfsportarten oder Bogenschiessen (Kyudō). Vgl. Brockhaus (2005), 7254.
157
Zit. aus Trutwin (1998), 95.
Vgl. Brockhaus (2005), Band 10, 7234, 7254.
151
152
- 39 -
7.2.2 Zensho/Bokuseki
Zen-Kalligraphie,
„Bokuseki“
umfasst
158
im
Kalligraphie
oder
auch
üblicherweise
oder moderner „Zensho“ genannt,
Allgemeinen
hauptsächlich
die
mittelalterlicher
chinesischer
und
japanischer Zen-Priester. Zensho kann in verschiedene
Teilbereiche klassifiziert werden, welche ein ZenMeister durch seine religiöse Ausbildung beherrschen
lernte. Wichtig ist jedoch, dass man im Zen-Geist
schreibt, denn dies ist die Voraussetzung für Zensho.
Ein Ziel des Zensho ist die Erleuchtung durch die
kalligraphische Praxis, welche jedoch nur sehr
schwierig zu erlangen ist und nur durch mehrere Jahre
langes physisches und spirituelles Üben. An der
Fliessbewegung der Tinte erkennt man den Charakter
und die Persönlichkeit des Kalligraphen und in
welchem Ausmass er erleuchtet ist.159 In der
vollständigen Erleuchtung „zerstört die Einheit von
Kalligraphen, Pinsel, Tinte, und Papier alle relativen
Dimensionen“160. Zen-Kalligraphie wird als Gemälde
des
Geistes
verstanden;
die
Zen-Zeichen
sind
161
lebendig.
Die Geschichte der Zen-Kalligraphie ist gewiss
verwandt mit der Entstehungsgeschichte des ZenBuddhismus, jedoch kann man annehmen, dass die
Zen-Kalligraphie vor der Zen-Schule entstand. 520
p.c.
gründete
Bodhidharma
in
China
eine
buddhistische Schule für Meditation. Jedoch lebte z.B.
der grosse Zen-Kalligraph Wang Xizhi ungefähr 200
Jahre vor Bodhidharma.162 Demnach ist es nicht
zwingend, dass man dem Zen-Buddhismus angehören
muss, um Zen-Kalligraphie ausüben zu können. Auch
Abb.: 13 Zen-Kalligraphie
158
„Spuren von Tinte“, zit. nach Stevens (1981), 143
Vgl. Götze (1989), 10.
160
Vgl. Stevens (1981), 147 – „[…]the unity of calligrapher, brush, ink, and paper destroys all relative dimensions.“.
161
Vgl. Stevens (1981), 134ff.
162
Vgl. Brockhaus (1984), Band 24, 280.
159
- 40 -
heutzutage gibt es noch manche Zen-Kalligraphen, welche keine Anhänger des ZenBuddhismus sind. Doch im Normalfall wird Zensho von Zen-Mönchen in China und Japan in
Dōjōs (‚Dōschō’) 163 ausgeführt.
Von den ersten Kalligraphen sind keine schriftlichen Zeugnisse vorhanden. 164
7.2.3 Die vier Schätze des Gelehrten – Pinsel, Tusche, Reibstein,
Papier 165
Die Schreibutensilien sind die notwendige Hilfe, die ein asiatischer Kalligraph zum Verfassen
seiner Kunstwerke braucht. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschaffenheiten können diese
Materialien grossen Wert besitzen. Beispielsweise sind handgefertigte Exemplare eines
Meisters oft äusserst kostbar.166
Pinsel
„Kein Werkzeug ist so flexibel wie der Pinsel“167; ein Grund, der den Pinsel zu einem solch
beliebten Schreibutensil macht.
Heutzutage werden Pinsel aus Haarbüschel von u.a. Schaf, Wiesel, Hase und Dachs hergestellt,
wobei die Kombination der Tierhaare für die Qualität des Pinsels massgeblich ist. Dazu werden
die Haare hinten zusammengebunden und in Bambus oder Holz eingefasst. Für die Qualität
eines guten Pinsels spricht, dass er im feuchten Zustand eine feine Spitze bildet, seine
Biegsamkeit, Weichheit, Elastizität und seine Fähigkeit, flüssige Tusche aufzunehmen und
wieder abzugeben. Damit Kalligraphen gewünschte Variationen ihrer Arbeiten erreichen
können, besitzen sie eine Vielfalt an verschiedenen Pinselarten mit unterschiedlicher Grösse,
Feinheit und Geschmeidigkeit.168
Tusche
Aus dem Russ von verbranntem, harzreichem Kieferholz wird Tusche hergestellt, in
Brikettformen gegossen, getrocknet und mehrere Jahre im Dunkeln gelagert. Auch bei der
Tusche ist die Qualität wichtig, welche sich hauptsächlich durch die richtige Lagerdauer im
Dunkeln auszeichnet. Die asiatischen Meister benutzen für ihre Arbeit sogenannte
Tuschebriketts und nicht etwa flüssige Tusche, wie sie im Westen bekannt ist. Briketts sind im
163
Dōjō (jap. Do = Weg; Jo = (heiliger) Ort); Unter Dōjō versteht man dementsprechend den Ort, an dem man den
Weg zur Weisheit übt bzw. erlernt. Dōjō werden z.B. die Buddhistischen Klöster , Kampfsportartschulen oder auch
einfach Stätten der Meditation genannt. Vgl. http://www.chi-dojo.de/html/glossar.html, (04.01.09).
164
Vgl. Stevens (1981), 134ff.; Klopfenstein (1992), 7ff.; Sakamoto (1998), 14f. 27.
165
Werden auch „Die vier Schätze des Studienzimmers“ genannt. Vgl. Klopfenstein (1992), 56ff.
166
Für genauere Angaben und Geschichtliche Hintergründe des jeweiligen Materiels vergleiche Klopfenstein (1992),
56ff.
Vgl. Klopfenstein (1992), 56ff.; Sakamoto (1998), 10f.
167
zit. aus Pott (2005), 19.
168
Vgl. Klopfenstein (1992), 56ff.; Sakamoto (1998), 10f.
- 41 -
Vergleich zu flüssiger Tusche einiges hochwertiger und können nach Belieben des Kalligraphen
angerieben werden.
Der Kalligraph kann durch die Menge der aufgenommenen Tusche unglaublich viele Nuancen
der Farbe Schwarz erzeugen.169
Reibstein
Der rechteckige oder rundliche Reibstein dient als Behälter zur Zubereitung der Tusche. Er ist
meist aus Naturstein oder Schiefer hergestellt und umschliesst eine Vertiefung, in der das
Tuschebrikett durch Zugabe von Wasser unmittelbar vor der Anwendung angerieben wird. Dies
sollte mit ruhiger Hand, möglichst gleichmässig, ausgeübt werden, damit der Geist sich
möglichst gut auf die bevorstehende Arbeit einstimmen kann. Diese innere Sammlung ist eine
wesentliche Voraussetzung für konzentriertes Schreiben.
Oftmals sind diese Reibsteine reichlich verziert und kostbar, da sie das widerstandsfähigste
Schreibutensil des Kalligraphen darstellen und nicht mit der Zeit abgenützt werden. Jedoch
misst sich der Wert eines Reibsteines auch an seiner Qualität in Bezug auf das
Anreibevermögen einer guten Tusche, welche sich durch den idealen Härtegrad und die richtige
Rauheit oder Glätte auszeichnet.170
Papier
Für kalligraphischen Zwecke wird im asiatischen Raum nur hochwertiges, handgeschöpftes
Papier aus Maulbeerbaumrinde als Rohstoffkomponente verwendet. Die Farbe des Papiers sollte
neutral oder weisslich sein, damit die Tusche gut zur Geltung kommt. Die Weichheit des
Papiers ist bezeichnend für die Saugfähigkeit, welche ziemlich gross sein sollte, damit es den
zartesten bis stärksten Pinselstrich aushalten, bzw. auffangen kann.171
Schliesslich ist allerdings entscheidend, dass diese vier Grundmaterialien in idealer Form
aufeinander abgestimmt sind bezüglich ihrer Qualität und dem Ziel, das der Kalligraph
erreichen möchte. Nur wenn diese Abgleichung vollkommen ist, können gute, den
Vorstellungen
entsprechende
Schriftstücke
entstehen.
Schreibutensilien mit guter Qualität in Europa zu finden.
169
Vgl. Götzre (1989), 9; Klopfenstein (1992), 56ff.; Sakamoto (1998), 10f.
Vgl. Fussnote 168.
171
Vgl. Fussnote 168.
170
- 42 -
Allerdings
ist
es
schwierig,
7.2.4 ZenZen-Kalligraphie in der Praxis
Der Schreibakt ist in einen Rahmen eingebettet, der genaue Vorschriften beinhaltet, der
Schreibeakt selbst hat keine vorgeschriebene Standardprozedur. Folgende Vorgehensweise stellt
eine Annäherung des Vorbereitungsaktes dar.
Der Kalligraph beginnt seine Arbeit zur geistigen Vorbereitung mit einer Zazen-Meditation.
Anschliessend wird eine Hülle zur Abdeckung des Bodens ausgebreitet, ein Stapel alter
Zeitungen auf die linke Seite und ein grosses, leeres Blatt vor den Kalligraphen gelegt, welches
mit zwei Gewichten an gegenüberliegenden Ecken am Boden befestigt wird. Auf der rechten
Seite unten liegt ein Tintenstein und ein grosser Pinsel, rechts oben befindet sich die
Kopiervorlage.172
Abb.: 14 Meister der Zen-Kalligraphie Ōmori Rōshi
Um die bestmögliche Konzentration zu erlangen, sollte als Körperhaltung die japanische
Sitzform, genannt „seiza“, angewendet werden, bei welcher man auf den Fersen sitzt. Eine
andere Möglichkeit wäre, am Tisch stehend zu zeichnen; am wenigsten empfohlen wird jedoch
am Tisch sitzend Zen-Kalligraphie auszuführen.
Sind alle Vorbereitungen getroffen, verbeugt sich der Kalligraph in der Sitzstellung.
Anschliessend hebt er den mit Tinte gefüllten Pinsel über den Kopf und spricht die Worte „in
the world of mu“173 und atmet tief ein. Darauf folgend zeichnet er in einem Zug einen grossen
diagonalen Strich über das Blatt von der linken, unteren Ecke nach rechts oben. Als Alternative
172
Vgl. Stevens (1981), 183ff.
„in der Welt des Mu“; mu = dt. nichts, bzw. „Abwesenheit von etwas“. Vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Mu_Philosophie; (02.01.09).
173
- 43 -
kann er zu Beginn das Zeichen „ichi“ schreiben, was „eins“ bedeutet, wobei die Hauptsache
dieser Eröffnungsstriche ist, dass sie langsam und bedächtig geschrieben werden, als würde man
mit einem schweren Schwert (gemeint ist hier allgemein ein Gewicht) zeichnen. Nach dieser
Eröffnung, legt der Kalligraph ein neues Blatt vor sich hin, um mit der eigentlichen
Schönschrift beginnen zu können. Der Kalligraph muss genauen Vorgaben zu Pinselstrich,
Duktus und zum angestrebten Gleichgewicht innerhalb jedes Zeichens folgen. Die Zeichen
sollen in einer rhythmischen Lebendigkeit geschrieben werden, jedes Zeichen – auch wenn es
wiederholt wird – sollte Individualität ausdrücken. Ist ein neues Zeichen auf das Blatt gebracht,
wird es ausgewechselt, damit nicht mehr als ein Zeichen auf einem Blatt ist, d.h. beim Zensho
wird anders als z.B. beim Kopieren der Bibel oder des Korans, nicht ein gesamter Text kopiert,
sondern ein in sich vollkommenes, einzelnes Zeichen. Dieses Zeichen muss nicht zwingend
verständlich sein174, viel wichtiger dabei ist die ‚Reinheit’, die diese Werke ausdrücken.
Abschliessend verbeugt sich der Kalligraph erneut tief, nachdem er beliebig viele Zeichen
erschaffen hat. In der Zen-Kalligraphie ist es Tradition, dass die Übungsblätter vernichtet
werden, verbrannt oder vergraben.175
Anfänger sollten sich mindestens während drei Jahren mit den Zeichen Ichi und Enso
auseinandersetzen. Wie bereits erwähnt bedeutet Ichi „eins“ und ist ein waagrechter
„Eröffnungsstrich“. Im Gegensatz dazu steht „Enso“ (jap. Kreis), das Symbol für Unendlichkeit
und Endlosigkeit. Ob dieser Kreis rund ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle; es ist ein
Zeichen, das Einfachheit und Tiefgang in sich vereint und deshalb häufig als visuelles Symbol
für Zen verwendet wird.
Einerseits scheint sich der Kalligraph an feste Vorlagen und Regeln beim Schreiben halten zu
müssen, andererseits ist jedes Werk vom Ausdruck her derart unterschiedlich, dass dies auf eine
ziemlich grosse Freiheit des individuellen Gestaltens schliessen lässt.
Bei Zensho wird höchste Konzentration verlangt; jeder Strich sollte mit solchem Mut, Schwung,
Fluidität und Achtsamkeit geschrieben werden, als wäre es der letzte des Lebens. Es wird auch
als „shinken shobu“, „a fight to the finish“ 176, bezeichnet. Einige Zensho-Meister imitieren was
sie zeichnen, z.B. das Brüllen eines Drachens.177
Hat ein Kalligraph seine Arbeit beendet, setzt er als Zeichen, dass er die Verantwortung für sein
Werk übernimmt, den Signaturstempel unter seine Arbeit. Bis ein Künstler diesen Schritt bei
einer Arbeit vollzieht, können mehrere Wochen vergehen.178
174
Zumindest nach Omōri Reshi, einem bekannten Zen-Meister. Vgl. Stevens (1981), 184.
Aus der Literatur wird nicht ersichtlich, ob wirklich nur die Übungsblätter oder auch die fertigen Werke vernichtet
werden. Einerseits fand man keine Werke früher Kalligraphen und andererseits wurden in späterer Zeit die
Kunstwerke gesammelt.
176
zit. nach Stevens (1981), 184; “ein Kampf zum Ende”.
177
Vgl. Stevens (1981), 183ff., 188ff.; Willetts (1981), 185-190.
178
Vgl. Fussnote 168.
175
- 44 -
Die Kunst des Zensho ist schwierig zu erlernen und braucht jahrelange Erfahrung, die auf der
Grundlage des Kopierens kalligraphischer Schriften berühmter Meister basiert. Dabei wird der
Kalligraph vertraut mit den verschiedenen Pinselarten, Tinten, Bewegungen und Techniken, die
für das Kalligraphieren notwenig sind. Beherrscht er diese, darf er sich seinen eigenen
Interpretationen hingeben. Zur Ausbildung gehört auch das Erlernen der ästhetischen Prinzipien
und der kritischen Beurteilung, wie auch Kenntnisse über die künstlerischen Vorfahren des
eigenen Meisters.179
179
Vgl. Chang/Miller (1990), 31; auch für weiterführende Informationen zur Ausbildung.
Vgl. Fussnote 177.
- 45 -
8 Kalligraphie - ihr religiöser, meditativer,
spiritu
spiritueller Aspekt
In vielen mystischen Erzählungen wird behauptet, Schrift sei von den Göttern gegeben worden,
dass „Schrift von ihrem Ursprung her aufgeladen sei mit heiliger Macht“180. In den alten
Hochkulturen bildeten Religion und Schrift eine enge, machtvolle Einheit. Schrift war nur
wenigen Eingeweihten zugänglich, deshalb haftete ihr etwas Geheimnisvolles an.181 Jedoch
wurden nicht nur die Zeichen an sich, sondern auch die Schreibhandlung in magische,
übernatürliche Zusammenhänge gebracht.182 „Das von berufener Hand Geschriebene ist in der
Lage, den Willen Gottes oder der Heiligen zu beeinflussen, die bösen Mächte wie Teufel und
Dämonen zu beschwören, zu bannen, zu bezwingen.“183
Der Zusammenhang zwischen der Kunst der Kalligraphie und der Religion bzw. dem
Spirituellen ist in jedem untersuchten Schriftraum in seiner individuellen Ausprägung
vorhanden. Sei es, dass Kalligraphie als meditatives Mittel angesehen wird, sei es, dass sie in
erster Linie als Kunst des Kopierens der heiligen Schriften verstanden wird oder aber als
direkter Ausdruck der göttlichen Worte, als Kopie des Raunen Allāhs.184
Wichtig zu erwähnen ist, dass sowohl im Buddhismus, als auch im Christentum und im Islam
verschiedene Kalligraphien existieren, welche unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es gibt eine
Vielfalt an ‚profanen’ Kalligraphien, welche in keinem direkten Zusammenhang mit Religion,
Meditation oder Spiritualität stehen, beispielsweise Kalligraphien für Institutionen und Ämter.
Im Gegensatz dazu ist eine unglaubliche Auswahl an spezifischen Kalligraphien vorhanden,
welche nur oder hauptsächlich für das Schreiben religiöser Texte verwendet werden oder wie in
der Zen-Kalligraphie den Anspruch auf meditative Versenkung erfüllen. Folgendes Kapitel
möchte nicht auf die ‚profanen’ Kalligraphien eingehen, sondern die Verbindung der in einem
‚heiligen’ Zusammenhang stehenden Kalligraphien mit der Religion, der Meditation und dem
Spirituellen untersuchen.
„Calligraphy was a high art, largely a sacred art, and doubtless an art that required
untiring devotion, „soft“ character, and love.”185
180
Zit. nach Stein (2006), 107.
Vgl. Stein (2006), 108.
182
Zur Beziehung Magie und Religion vergleiche Hartung (1993), 109ff.
183
Zit. aus Hartung (1993), 124.
184
„[...]das Raunen Allahs zu kopieren, [...]“. Zit. nach Ghata (2007), 22.
185
„ Die Kalligraphie war eine hohe Kunst, weitgehend eine heilige Kunst und zweifellos eine Kunst, welche eine
unermüdliche Hingabe, eine „sanften“ Charakter und Liebe erforderte.“ Zit. aus Schimmel (1992), 55f.
181
- 46 -
8.1 Christliche Kalligraphie
Kalligraphie und „die Gestaltung von Büchern allgemein standen zunächst im Dienst der
Verbindung zum Überweltlichen in Gottesdienst und Andacht“186. Das Hauptgewicht der
mittelalterlichen Schreibtätigkeit lag auf dem Kopieren der Bibeltexte, in zweiter Linie wurden
jedoch u.a. auch Texte der Kirchenväter kopiert, christliche Dichtung und Philosophie
niedergeschrieben.187
Augrund der zunehmenden Bedeutung, welche die biblischen Schriften im Mittelalter erlangten,
wurden auch die Ansprüche an den einzelnen Schreiber grösser. Dabei sollte er mit grösster
Achtsamkeit schreiben, damit unter keinen Umständen auch nur ein kleinstes Element durch
Unaufmerksamkeit entweiht wurde. Jede einzelne Letter wurde als Kostbarkeit behandelt,
wobei der Kalligraph mit grösster Ehrfurcht der Vorlage und dem zu beschreibenden Pergament
entgegentrat. Dabei ist nicht nur der Inhalt des Geschriebenen, sondern auch die Darstellung,
von besonderer Wichtigkeit. Sie musste den göttlichen Aspekt der Heilsverkündung erfüllen.
In der benediktinischen Regel ‚ora et labora’ konnte der schreibende Mönch seine kopierten
Bücher am Tage des Jüngsten Gerichts als gute Tat in die Waagschale legen.188 Die
Beschäftigung mit Kalligraphie, bzw. mit dem Kopieren der heiligen Schrift war in den
Tagesablauf, zwischen Gebeten, häufig einbezogen. Zu Beginn des Kopierens setzte der Mönch
die Abkürzung einer Gebetsformel an die linke, obere Ecke des Blattes.189
Dadurch dass die Mönche die Kunst des Schreibens beherrschten, waren sie in den Augen der
Bevölkerung Magier und wurden deshalb oft darum gebeten Amulette mit Schriftzeichen
anzufertigen.
Jeder Mensch nimmt im Alltag – bewusst oder unbewusst – je nach dem, was er kopiert oder
schreibt, eine spezifische Haltung gegenüber dem zu Schreibenden ein, verwendet
unterschiedliche, dem Zweck entsprechende Materialien und schreibt in einer angebrachten
Schrift. Dies wird den mittelalterlichen Mönchen nicht anders ergangen sein. Der Respekt mit
dem die Mönche der Bibel entgegentraten, wirkte sich wohl auch auf die Schreibhaltung aus.
Durch die grosse Konzentration, die ein fehlerfreies, korrektes Schreiben verlangte, entstand ein
kontemplatives Verhältnis des Kalligraphen zur Schrift. Möglicherweise wurde dies noch
verstärkt hervorgerufen durch den ‚musikalischen Rhythmus’ in den ein guter Kalligraph beim
gleichmässigen Abschreiben gelangte. Man könnte also sagen, dass der Mönch durch sein
rhythmisches Schreiben in eine Art meditative Monotonie versank.
186
Zit. aus Glaser in Kiening (Hg.) (2008), 130.
Vgl. Glaser (2008), 131.
188
Vgl. Herberichs/Wetzel (2008), 280.
Vgl. Hartung (1993), 114ff., 119ff.
189
Vgl. Drogin (1980), 12.
187
- 47 -
Wie bereits erwähnt galt im Mittelalter die Schrift als etwas Mysteriöses, Verschlüsseltes,
welches nur wenigen Leuten zugänglich war. Die meisten mittelalterlichen Schriften waren
religiösen und somit auch mysteriösen, unerklärlichen Inhalts und wurden in Latein verfasst.
Nur wenige Menschen konnten damals Schreiben und Lesen– geschweige denn in lateinisch.
8.2 Islamische Kalligraphie
Heilig war nicht nur der Inhalt des Korans, sondern auch der Koran selbst sollte in einer
göttlichen Form wiedergegeben werden. Aus diesem Grund erlangte die Kalligraphie im
islamischen Raum eine derart grosse Bedeutung.
Die Kalligraphie war bereits zur Zeit des Propheten Mohammed eine heilige Kunst, denn in der
ersten Erleuchtung Mohammeds wurde ihm verkündet, er solle « réciter au nom de votre
Seigneur…
190
plume » .
qui
Die
enseignait
grundlegende
par
la
Rolle,
welche die Schrift einnimmt, leitet sich ab
vom Glauben an den heiligen Koran als
„parole littérale émanant de Dieu“191. Die
Kalligraphie ist die Mutter aller Künste.
Sie‚übersetzt’ das Unausdrückbare, das
unvergleichliche Mysterium, welches die
einzigartige Essenz Gottes darstellt –
„[...], elle a reçu dès l’origine la mission
sacrée
de
traduire
l’Inexprimé,
l’incomparable Mystère contenu dans
l’essence unique de Dieu“.192
Abb.: 15 Schriftzeichen von Mohammed (aussen)
und Ali (innen)
Durch die Achtung, die der Kalligraphie
entgegengebracht wird, ist es nicht verwunderlich, dass dem Kalem, der Feder, eine besondere
Verehrung zukommt.193 Die Geheimnisse der Zubereitung der Tinte wurden sorgfältig gehütet
und nur an eingeweihte Schüler weitergegeben. Die Kalligraphie wurde, gleich wie die Poesie
und die Kenntnisse der Traditionen, seit der Zeit der Propheten nur über eine festgelegt Linie
von Meistern gelehrt. Diese Linie geht zurück auf die Zeit des Propheten Mohammed und
190
„im Namen eures Herrn... der mit der Feder unterrichtete, ... rezitieren“ Sure 96, zit. nach James (1988), 13.
„das buchstäbliche Wort, das von Gott ausgeht“ Zit. nach James (1988), 13.
192
„[...], sie erhielt vom Ursprung an den heiligen Auftrag, das Unausgesprochene, das Unvergleichliche Mysterium,
das in der einzigartigen Essenz Gottes enthalten ist, auszudrücken.“ Zit. nach Rodari (1988), 47.
193
Vgl. Rodari (1988), 47.
191
- 48 -
insbesondere zu seinem Schwiegersohn und vierten Nachfolger `Alῑ ibn Abῑ Ţālib, der auch
einer der besten Kalligraphen je war. Bis zum heutigen Tag verweist ein guter Kalligraph auf
eine direkte ‚Abstammungslinie’, die bis zu einem Meister aus dem 15. oder 16. Jahrhunderts
zurückreicht.194
Wie auch im Christentum kopiert der islamische Kalligraph religiöse Wahrheiten, gibt
Textstellen des Korans in kalligraphischen Elementen wieder. Die Kalligraphie versucht, den
Koran in seiner vollen Pracht, dem Inhalt gleichwertig, wiederzugeben und sie erfüllt auch in
dieser
bilderfeindlichen
Bedürfnisse –
Kultur
alle
ornamentalen
wie z.B. die Ausschmückung von
architektonischen Gebäuden, Haus- und Wandschmuck.
Die Kalligraphien an den Wänden von religiösen
Gebäuden
wie
Moscheen
dienen
neben
„Mein Gott hört nicht,
sondern liest in den
Arabesken“
(Ghata (2007), 102)
ihrer
ornamentalen Funktion auch als Einladung zu Meditation und zur Verherrlichung Allāhs.
Der hohe Stellenwert des Wissens, des Buches und somit auch der Schrift in der islamischen
Kultur wirkt sich positiv auf die Bedeutsamkeit der Kalligraphie aus.
Ähnlich wie im Christentum ist das Kopieren des Korans an sich schon eine sakrale Handlung,
da der Koran die heilige Grundlage dieser Religion ist.
Die meisten islamischen, kalligraphischen Werke waren religiösen Inhalts insofern, als dass
„Unsere Körper treten in
Verbindung mit dem
Göttlichen, vielleicht mit
dem Tod selbst.“
(Ghata (2007), 124)
wenn nicht der Koran an sich kopiert wurde, der
Basmallah-Vers195
in
einer
seiner
unzähligen
kalligraphischen Varianten zum Ausdruck gebracht
wurde. Die Grösse Allāhs kommt auch in der
Schriftgrösse zum Ausdruck.196
Die Bedeutung der Schreibutensilien ist nicht zu unterschätzen, wie Yasmine Ghata in ihrem
Roman „Die Nacht der Kalligraphen“ beschreibt: „[...]meine Werkzeuge [...], die mir zur
verlängerten Hand, zu zugreifenden Fingern, zu treuen und gehorsamen Gefährten geworden
waren, [...]“197. Auch betont sie, dass in allen Werkzeugen, den ‚Komplizen ihrer Kühnheit’,
Leben stecke, die gemeinsam mit ihr einen ‚virtuosen Kampf’ der Buchstaben führen.198 Eine
Eigentümlichkeit der islamischen Kalligraphen ist ihre Angewohnheit, dass sie nie auf feuchte
194
Vgl. James (1988), 13ff.
Basmallah-Vers: vergleiche Kapitel 6.2.
196
Vgl. Stein (2006), 125.
197
zit. aus Ghata (2007), 8.
198
Vgl. Ghata (2007), 17.
195
- 49 -
Tinte blasen, um den Trocknungsprozess zu beschleunigen, denn dies würde bedeuten, dass
man die göttliche Präsenz vertreiben würde.199
Die besondere Relation, die den islamischen Kalligraphen mit dem Kalem*, dem Propheten und
dem zu Schreibenden während des Schreibaktes verbindet, ist bemerkenswert. Dies erläutert Y.
Ghata im folgenden Zitat passend: „[...]dann überliess ich meine Hand der Sprache des
Propheten und dem kalem, [...]“200
Für das perfekte Verfassen kalligraphischer Werke
muss die innere Ausrichtung stimmen, weshalb
Einstimmungs- und Lockerungsübungen gemacht
werden. Ein altes arabisches Sprichwort lautet:
„Sie [...] befinden sich
ausserhalb der Zeit,
ausserhalb von sich
selbst.“ (Ghata (2007), 124)
„PURITY OF WRITING is purity of the soul“201. Das
bedeutet in anderen Worten, dass der Kalligraph nicht ein sturer Kopist oder Verfasser von
Schriften ist, sondern, dass er einen direkten Bezug zur Schrift und dem Schreibprozess hat,
dass sich ein Teil des Kalligraphierens auf einer höheren, rational nicht erfassbaren Ebene
abspielt.
Der Kalligraph, der den Koran zu kopieren wünschte, musste in einem Zustand der rituellen
Reinheit sein, da „nur der Gereinigte ihn [den Koran, Anm. I.Z.] berühren soll“202.
J. Gatha beschreibt mehrmals einen Schreibzustand, der beinahe als Dialog zwischen der
Kalligraphin und den Buchstaben angesehen werden kann.
Die Religion scheint in der islamischen Kalligraphie besonders stark vertreten zu sein, was auch
die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen Kalligraphen, welche die göttliche Präsenz
erfassen und in ihren kalligraphischen Werken zum Ausdruck bringen konnten, und denjenigen,
welchen dies nicht gelang, verdeutlicht. Auch die himmlische Entlöhnung, die einem guten
Kalligraphen bevorsteht, zeigt, dass die Kalligraphie nicht nur ein motorisches Schreiben ist,
sondern in einem engen Zusammenhang steht, mit dem Überweltlichen, Göttlichen.
Ein aussagekräftiges Beispiel für die heilige Kraft der Schrift kann auch darin gesehen werden,
dass kurze Texte, wie einzelne Suren*, mehr oder weniger geschmückt, als rollenförmige
Amulette verwendet wurden.203
199
Vgl. Ghata (2007), 14.
Zit. nach Ghata (2007), 16.
201
Zit. aus Meier (1992), 3.
202
Koran, Sure 56:78. Vgl. Schimmel (1992), 20.
203
Vgl. Kaplony (2008), 228.
200
- 50 -
8.3 Buddhistische Kalligraphie
Der religiös-meditative Inhalt beim Schreiben von kalligraphischen Schriften drückt sich von
Innen her aus. Während die meisten anderen buddhistischen Kalligraphien präzis definierte
Formen zur Grundlage haben, versucht die Zen-Kalligraphie die gleichen tiefen Wahrheiten in
einfachen alltäglichen Zeichen auszudrücken. Das Schreiben im Zen-Geist ist viel wichtiger als
sich in theoretischen Überlegungen und Mystizismus* zu verlieren. Der Zen-Kalligraph
reduziert alle Zeichen zu einer möglichst einfachen Form, oder wie J. Stevens sagt: „Zen
calligraphy is perfect simplicity“204.
Die Kalligraphie im Zen-Buddhismus stellt eine
spezielle Art der Meditation dar. Der Kalligraph
drückt
seinen
inneren
Zustand
und
seine
Gefühlslage durch diese Zeichen aus. Die ganzen
Vorbereitungen und Riten scheinen im Zensho
eine sehr grosse Bedeutung zu haben. Die innere
und äussere Haltung des Kalligraphen nimmt eine
zentrale Rolle ein, was unter anderem sichtbar
wird
in
der
besonderen
Vorbereitung
des
Reibsteins, welche zur inneren Sammlung dient.205
Obgleich das Resultat zügig vollbracht wird und
einfach erlernbar zu sein scheint, sind mehrere
Jahre intensiven Studiums Voraussetzung, um eine
ausdrucksstarke
kalligraphische
Arbeit
zu
verfassen.
Wie schon erwähnt ist ein wichtiges Ziel des
Abb.: 16 Zeichen für Buddha
Zensho die Erleuchtung durch die Ausübung der
Kalligraphie. Da der kundige Betrachter den Grad der Erleuchtung wahrnehmen kann, darf man
davon ausgehen, dass Werke von Meisterkalligraphen eine Wirkung im spirituellen Empfinden
des Betrachters auslösen.
Die Zen-Kalligraphie stellt einen sehr individuellen Weg der Meditation dar, weshalb nur wenig
über die Beziehung des Kalligraphen zum Spirituellen schriftlich festgehalten wird.
Die kalligraphischen Werke der Zen-Mönche werden auch als „genialisch-rauhe, oft wilde und
magische Tuschespuren“206 bezeichnet.
204
„Zen Kalligraphie ist perfekte Schlichtheit“. Zit. aus Stevens (1981), 147.
Vgl. Stevens (1981), 147.
205
Die Prozedur der Vorbereitung und inneren Sammlung ist im Kapitel 7.2.4 beschrieben.
- 51 -
9 Vergleich
In den Schriftreligionen besitzt „die Schrift als Medium der göttlichen Offenbarung“ eine
„transzendente Dimension“.207 So hat die Bibel eine Doppelbedeutung, einerseits besteht sie aus
heiligen Texten, andererseits ist sie selbst „sichtbares Zeugnis göttlicher Offenbarung“.208 Durch
die schriftliche Niederlegung der heiligen Texte und Glaubensinhalte wurde über Zeit und
Raum hinweg, eine religiöse Zusammengehörigkeit erschaffen.209
Kiening drückt es so aus, dass „[...] in der Schrift sich das Gotteswort manifestieren soll [...]“,
und dass die Aufgabe der Kalligraphie darin bestehe, „[...] diese immer wieder aufs neue zu
dynamisieren [...]“210. Anders ausgedrückt werden durch die Kalligraphie und die Ornamente
die heiligen (christlichen) Schriften mit neuer Energie belebt.211 Es lässt sich vermuten, dass
diese Aussage auch für die islamische Schrifttradition zutrifft.
Eine grundlegende Verschiedenheit der Zen-Kalligraphie zur islamischen oder christlichen ist,
dass sowohl der Islam, als auch das Christentum eine Schriftreligion sind und der Schwerpunkt
ihrer kalligraphischen Werke auf dem Kopieren ihrer heiligen Büchern beruht – zumindest zu
Beginn ihrer ‚Kalligraphie-Tradition’. Der Zen-Buddhismus hingegen hat weder ein Buch als
Grundlage seiner spirituellen Glaubensrichtung, noch hat die Zen-Kalligraphie präzis definierte
Formen zur Grundlage. Analog dazu versucht der Zen-Kalligraph die gleichen tiefen
Wahrheiten in einfachen alltäglichen Zeichen auszudrücken. Eine zentrale Bedeutung nimmt
dabei die Idee des Gleichgewichts ein, welche ganz allgemein eine Grundlage des fernöstlichen
Denkens ist. Ziel ist es, jeden Buchstaben so zu gestalten, dass er sich im absoluten
Gleichgewicht befindet.212
Allgemein kann man sagen, dass der christliche Kalligraph die kleinste Beziehung zu einem
göttlichen oder spirituellen Medium hat. Zwar kopiert er göttliche Schrift und nimmt auch klar
eine andere innere Haltung gegenüber den heiligen Texten an, jedoch ist er viel weniger
verbunden mit dem Göttlichen, als der Zen-Kalligraph oder der
islamische Kalligraph. Im Islam stehen der Kalligraph, seine Hand und
die Schrift in einem ständigen Bezug zu Allāh. Wie bereits erwähnt ist
„Gott führt
meine Hand“
(Ghata (2007), 142)
diese grosse Bedeutung, welche der Kalligraphie im Islam zukommt
206
Zit. nach Sakamoto (1998), 28 und nach Klopfenstein (1992), 9.
Zit. nach Hediger (2008), 212.
208
Zit. nach Herberichs/Wetzel (2008), 277.
209
Vgl. Herberichs/Wetzel (2008), 281.
210
Beide Zitate zit. aus Kiening (2008), 44.
211
Dies lässt sich möglicherweise mit Neu-Interpretationen eines Musikstückes vergleichen. Je nach Musiker kann
dasselbe Stück einen völlig neuen Charakter und Aussagekraft erhalten.
212
Für weiterführende Informationen zum Gleichgewicht der Zeichen vergleiche Willetts (1981), 187-189.
207
- 52 -
nicht besonders verwunderlich in einer Religion, welche eine Abneigung gegen bildliche
Darstellungen hat. So ‚ersetzen’ kalligraphische Arbeiten, welche vorwiegend den BasmallahVers213 zum Inhalt haben, die fehlenden Bilder und flechten gleichzeitig durch den heiligen
Vers einen religiösen Aspekt ein. Durch die Abwesenheit der religiösen Malerei und
Bildhauerei verdichteten sich die künstlerischen Ausdrucksformen des Religiösen in der
Kalligraphie.
Im Zen-Buddhismus nimmt die Kalligraphie als Bestandteil der meditativen Tradition eine
wichtige Stellung ein und steht so in engem Zusammenhang mit dem religiös-spirituellen
Leben. In der Zen-Kalligraphie fliesst sehr viel Energie und Persönliches in die Zeichen. Wesen
und Gefühlszustand des Kalligraphen werden viel sichtbarer in der buddhistischen Kalligraphie;
dies ist besonders auffallend im Vergleich zur
Christlichen, in der sich der Kalligraph sehr
streng an die vorgegebenen Strukturen halten
muss. Auch in der arabisch-islamischen
Kalligraphie stehen dem Kalligraphen viele
Möglichkeiten zu Abänderungen und Verzierungen zur Verfügung.
Während es in der christlichen Kalligraphie
somit teilweise schwer fällt die Handschriften
einzelner Kalligraphen auseinander zu halten,
kann ein auch nur wenig geübtes Auge die
unterschiedlichen Werke der islamischen und
buddhistischen Kalligraphien einem Künstler
Abb.: 17 Basmallah in Form eines Vogels
zuordnen. Das könnte mit ein Grund dafür
sein, dass die mittelalterlichen Schreiber der Christlichen Texte meist anonym waren und im
Gegensatz dazu die Kalligraphen im buddhistischen und islamischen Raum mit Namen
bekannte Künstler waren, deren Werke gezielt gesammelt wurden.
Eine weitere Ursache für die Anonymität der christlichen Schreiber könnte auch in der Tatsache
liegen, dass im Christentum die Mönche wohl für ihr persönliches Seelenheil im Kloster waren,
Ziel und Zweck der Kirche aber nicht im Individuellen lag. In den Skriptorien stand nicht der
meditative, religiöse Aspekt im Vordergrund, sondern vielmehr die Produktion, und in diesem
Zusammenhang auch das Ansehen, der Einfluss und die Verbreitung der Kirche.
213
Basmallah-Vers: vergleiche Kapitel 6.2.
- 53 -
In der Zen-Kalligraphie hingegen ist die grundlegende Absicht eine andere. Sie wird nicht als
Wissensvermittlung oder Überlieferung heiliger Texte verwendet, sondern dient als
Meditationsmittel und als Hilfe zur inneren Weiterentwicklung. Demzufolge sind diese
kalligraphischen Arbeiten in erster Linie nicht für Aussenstehende bzw. Betrachter bestimmt,
was ein fundamentaler Unterschied zur christlichen, aber auch zur islamischen Kalligraphie
darstellt.
Die Wirkung des fertigen Produktes auf den Betrachter ist sowohl im Zen-Buddhismus, als auch
im Islam deutlich stärker und nimmt eine zentralere Rolle ein, als im Christentum. Dies hängt
möglicherweise auch mit dem oben genannten Grund zusammen, dass die Zen-Kalligraphen
und die islamischen mehr Individualität in die Kalligraphie einfliessen liessen.
Zusammenfassend und vereinfacht kann über das Verhältnis des Schreibaktes zum Produkt
gesagt werden, dass die Gewichtung in den drei untersuchten Kalligraphien ziemlich
unterschiedlich ist. Während in der christlichen Kalligraphie dem Produkt deutlich die grössere
Bedeutung zukommt, ist in der Zen-Kalligraphie der Schreibakt zentraler. In der islamischen
Kalligraphie ist der Schreibakt dem Produkt gleichwertig.
So unterschiedlich die drei Kalligraphien sind, so verschieden ist auch die Schreibhaltung des
jeweiligen Kalligraphen. Während der christliche Kalligraph auf einem Stuhl am Tisch sitzend
schreibt, verfasst sowohl der islamische Kalligraph, als auch der Zen-Kalligraph seine Werke
direkt auf dem Boden sitzend. Bei der Zen-Kalligraphie ist der Schreiber in der Seiza (‚sesa’)Haltung214 und schreibt auf das vor ihm am Boden liegende Blatt, nach einer ausführlichen,
rituellen Vorbereitung. Anders sitzt der islamische Kalligraph mit gekreuzten Beinen am Boden
und stützt die Schreibunterlage auf dem Knie ab, wobei viele islamischen Kalligraphen
heutzutage die sitzende Haltung an einem Tisch bevorzugen.215 Die Schreibhaltung ist
wesentlich um jegliche Verspannung im Körper während des Schreibens zu vermeiden.
„Das Wort des
Allerhöchsten ist nie gut
genug geschrieben.“
(Ghata (2007), 60)
„L’ennemi essentiel de l’art d’écrire est la lourdeur
des traits.“216 In einem engem Zusammenhang mit
dem Schreibfluss steht auch das bewusste Atmen;
nachdem der Schreiber den Atmen kurz angehalten
hat, lässt er die Buchstaben während des Ausatmens
217
entstehen.
Zur Einstimmung verfasst der islamische Schreiber Übungsstücke – einerseits um die Hand zu
lockern, andererseits um sich geistig vorzubereiten. Auch der christliche Kalligraph entspannt
214
Vgl. Kapitel 7.2.4.
Vgl. Lalou (1995), 92.
216
„Der wesentlichste Feind der Schreibkunst ist die Schwere der Striche“. Zit. aus Lalou (1995), 93.
217
Vgl. Lalou (1995), 126.
215
- 54 -
seine Hand durch Übungen, von einer geistigen Vorbereitung ist jedoch nicht die Rede.
Verständlicherweise werden für diese drei sehr unterschiedlichen Schriften auch verschiedene,
dem Zweck entsprechende Materialien benutzt, wobei je nach Stil der Schrift die Vielfalt der
Materialien auch wieder enorm gross ist.
Christliche Mönche beklagen sich oftmals über die mühevolle, langwierige Arbeit des
Abschreibens. Ab und zu sind diesbezügliche Vermerke mit Klagen über das beschwerliche
Schreiben an den Rändern oder unterhalb des Textes anzutreffen. Beispielsweise schreibt ein
Kopist des 14. Jahrhunderts, nachdem er sein Werk beendet hatte: „[...] longissima,
prolixissima, et tediosissima scribenti; Deo gratias, Deo gratias et iterum Deos gratias.”218 Etwas
Vergleichbares kann man weder in der Zen-Kalligraphie, noch in der islamischen Kalligraphie
finden.
Sowohl in der islamischen Tradition der Schönschreibekunst, als auch in der christlichen wird
Kalligraphie in Verbindung gebracht mit Musik, meist aufgrund der Rhythmik des Schreibens.
So ist es naheliegend, dass der Kalligraph, ähnlich einem Musiker, in eine Art Trance bzw.
Meditation fallen kann, hervorgerufen durch den Rhythmus, die Ästhetik in der Schrift bzw. in
der Musik und durch die Verschmelzung des Künstlers mit dem Instrument. Auch der
buddhistische Kalligraph erreicht durch die rhythmischen Bewegungen seines Pinsels eine
geistige Einheit in seiner Kalligraphie wie der Musiker mit seiner Musik.219
Wie auch andere Kunstarten, z.B. die Malerei, kann die
Kalligraphie als Produkt oder Spiegelbild des Inneren,
des Eigenlebens verstanden werden. Ein chinesisches
Sprichwort bringt dies zum Ausdruck: „Calligraphy is
the picture of the mind.“220 Obgleich diese Ausprägung
bzw. Einfliessung der Gefühlslage unterschiedlich
stark erfolgte, ist sie in allen drei Kalligraphien
vorhanden.
Auch die Beziehung der Schriftzeichen an sich zur
Abb.: 18 Schüssel mit KufiKalligraphie
Ornamentierung ist in den ausgewählten Kalligraphien
unterschiedlich. In der Zen-Kalligraphie ist das
Zeichen selbst Dekoration. Die Zeichen sind schlicht gehalten, keine zusätzlichen Verzierungen
werden angebracht. In der christlichen Kalligraphie werden die Buchstaben an sich zwar nicht
218
„[...], sehr lange, sehr langatmig und für den Schreiber sehr mühselig; Gott sei Dank, Gott sei Dank und wiederum
Gott sei Dank.“ Zit. aus Drogin (1980), 12.
219
Vgl. Chang/Miller (1990), 30.
220
Vgl. Stevens (1981), 133.
- 55 -
für ornamentale Zwecke umgeformt, jedoch schmücken Ranken und bildliche Darstellungen die
Schrift. Hingegen werden in der islamischen Kalligraphie die Zeichen zu ornamentalen
Zwecken verändert – die Buchstaben selbst werden zum Ornament.
- 56 -
Im Vergleich der untersuchten Schriften erlangte die islamische Kalligraphie wohl die grösste
Ausbreitung. Im Laufe der Zeit war sie nicht mehr nur in Texten oder auf Gebäuden vertreten,
sondern auch auf Gegenständen des täglichen Gebrauchs, wie z.B. Schüsseln, Tellern oder
Vasen. Somit war die Kalligraphie für jedermann sichtbar, was ihr dadurch erneut eine grosse
Bedeutung zuschrieb wodurch ihre Bedeutung noch einmal gestärkt wurde. Dies lässt sich auch
daher erklären, dass der Islam eine Religion ist, die im Alltag aller Muslime sehr präsent ist. Ein
interessanter Unterschied zur christlichen Kalligraphie, welche nur für Texte, vorwiegend
heilige, verwendet wurde und somit nur ausgewählten Leuten zugänglich war.
Die Frage, ob das Aussehen der kalligraphischen Zeichen an sich eine Aussage über die
dazugehörige Religion zulasse, kann nicht beantwortet werden, da bisher diese Relation
ununtersucht blieb. Die Kalligraphen bzw. die Fachliteratur gehen nicht darauf ein, was
vielleicht damit zusammenhängt, dass sie sich in der Regel nur mit Schriften aus einem
Kulturraum befassen.
Jedoch lassen sich Vermutungen aufstellen: Die buddhistischen Zeichen, welche als
Einzelzeichen eine ästhetische und zugleich religiös-spirituelle Wahrheit ausdrücken, sind
geschwungen, kraftvoll, fliessend, rund und stehen in sich im Gleichgewicht. Entsprechend sind
diese Aspekte auch im Zen-Buddhismus bzw. in den Zen-Buddhisten erkennbar. Die im
Zentrum des Zen stehende Meditation vermittelt innere Kraft und führt zu einem ‚seelischem
Gleichgewicht’. Ähnlich wie die Zeichen strahlen Zen-Buddhisten auch oftmals eine außergewöhnliche Lebenskraft und Lebendigkeit aus.
Die islamischen Zeichen hingegen sind verschlungener, ineinanderfliessend, allumfassend, sehr
komplex und oftmals riesig dargestellt. Die Kalligraphie – vorwiegend die auf Gebäuden – neigt
zudem dazu, den gesamten Raum, der ihr zur Verfügung steht, zu erfüllen. Auch hier lässt sich
eine Parallele zur Religion, dem Islam ziehen: Allāh ist im islamischen Alltag der Allmächtige,
der Grosse, der mit seiner Präsenz alles durchdringt.
Das mittelalterliche Christentum, schliesslich, ist inhaltlich an eindeutige, im Neuen Testament
festgelegten
Vorgaben
gebunden,
deren
Einhaltung
durch
strenge
hierarchische
Kirchenstrukturen gewährleistet wird. Dementsprechend sind die christlichen Buchstaben in
sich selber klar strukturiert, und ebenso innerhalb der Satzstruktur nach strengen Regeln
eingeordnet. Ihre Formen sind kantig und geradlinig. Auch die Dekorationen müssen genau
vorgegebenen Anweisungen folgen, für individuelle Kreativität bleibt dabei wenig Platz.
- 57 -
Heutzutage ist die islamische Kalligraphie
immer noch eine sehr verbreitete Kunst. Im
Gegensatz dazu wird die christliche Kalligraphie nur noch von Liebhabern der Schönschrift gepflegt oder als stress-befreiendes
Mittel eingesetzt. Sie wird im Allgemeinen
derzeit viel freier gestaltet. Dieser unterschiedliche Stellenwert der Kalligraphie im
islamischen und christlichen Raum hängt
womöglich auch mit der gegenwärtigen,
unterschiedlichen Präsenz der Religionen in
den Kulturen zusammen. Auch in Asien ist die
Kalligraphie noch weit verbreitet, beispielsweise beim Neujahrsfest.221
Im Unterschied zu früher sind es nun v.a.
Frauen, die diese Kunst ausüben.
Eine moderne Kalligraphin gibt ein schönes
Beispiel
dafür,
wie
Kalligraphie
angewendet wird:
heute
Abb.: 19 Moderne Kalligraphie ‚nonverbal’
von Gottfried Pott
“Well, calligraphy is not the only, but one of my hobbies. But it is for me, the best way to “fly
away” from everyday triviality. Through the concentration, I can think more clearly and thus
easily know what’s important in life.”222
221
Vgl. Interview A. Haenggi Kapitel 14.1.
„Kalligraphie ist nicht die einzige, aber eine meiner Freizeitbeschäftigungen. Aber es ist für mich der beste Weg
um „wegzufliegen“ aus der täglichen Gehaltlosigkeit. Durch die Konzentration kann ich klarer denken und so
einfacher erkennen was im Leben wichtig ist.“ Zit. aus Interview A. Haenggi Kapitel 14.1.
222
- 58 -
10 Schlusswort
Kalligraphie und Religion stehen in einer engen Beziehung zueinander. In allen drei
untersuchten Kalligraphien – so unterschiedlich sie in vielerlei Hinsicht sind – stellt das
Verfassen von Kalligraphien nicht blosses Abschreiben dar, sondern wird mit einer meditativen,
religiösen Versenkung in Zusammenhang gebracht.
Dieser Bezug ist in der islamischen Kalligraphie besonders ausgeprägt. Einerseits drücken
Kalligraphien aus dem arabischen Kulturraum meist einen religiösen Inhalt aus, andererseits
betonen islamischen Kalligraphen, dass Allāh beim Kalligraphieren präsent sei, und dass die
Schreiber während des Schreibaktes im richtigen inneren Gefühlszustand sein müssen. Die
Kalligraphie nimmt auch einen wichtigen Stellenwert in der Schmückung von religiösen
Gebäuden ein und ist somit auch im Alltag präsent.
Im Zen-Buddhismus gilt Kalligraphie als Weg der Meditation und Ziel ist es, die Erleuchtung
durch die kalligraphische Praxis zu erlangen. Dadurch ist die grosse Bedeutung, die ihr – v.a. im
meditativen Bezug – zukommt, selbsterklärend.
In der christlich-mittelalterlichen Kalligraphie ist der religiöse Bezug deutlich geringer. Der
Schreibakt war weniger bedeutend als das Ergebnis. Und trotzdem unterscheidet sich die
Kalligraphie deutlich von der alltäglichen Schrifttradition. Zum einen wurden diese
vorgestellten Kalligraphien nicht für profane Texte verwendet, und zum anderen gelangten die
Kalligraphen durch die hohe Konzentration teilweise auch in einen meditativen Zustand.
Auch heutzutage noch kommt der Kunst der Kalligraphie eine grosse Bedeutung zu und ist
vielerorts anzutreffen; auf Gebäuden im islamischen Raum oder als stressabbauende Kurse in
Europa – in Asien war die Kalligraphie bis vor wenigen Jahren sogar noch Pflichtfach an den
Schulen.223
Durch die Ästhetik der islamischen und asiatischen Zeichen und der Tatsache, dass ich diese
Zeichen nicht verstehe und sie somit für mich etwas Geheimnisvolles in sich trugen,
faszinierten mich die asiatischen und islamischen Kalligraphien seit Beginn sehr. Die christliche
Kalligraphie hingegen hatte einen langweiligen Beigeschmack des Bekannten. Als ich mich
jedoch genauer mit ihr befasste, entdeckte ich ihren speziellen Reiz und durch mein erworbenes
Wissen über die Schriftgeschichte in Europa, eröffnete sich mir einen neuen Zugang zu ihr.
Trotz anfänglichen Bedenkens faszinierte mich die Kalligraphie immer wieder aufs Neue durch
ihre Vielfältigkeit, ihre Ästhetik und ihren tieferen Sinn. In einem nächsten Schritt habe ich die
Absicht einen Kalligraphie-Kurs zu besuchen, um die erforschten Aspekte auch praktisch zu
erfahren.
223
Vgl. Interview A. Haenggi Kapitel 14.1.
- 59 -
11 Bibliographie
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http://de.wikipedia.org/wiki/Mu_Philosophie (02.01.09).
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- 63 -
11.4 Abbildungsverzeichnis
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Seite 1:
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Abb.: 1
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Abb.: 2
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Abb.: 3
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Abb.: 4
http://www2.tuberlin.de/fb1/AGiW/Auditorium/HiHwAltG/SO5/Bilder/Unciale.gif (02.04.09).
Abb.: 5
http://www.wikiweise.de/wiki/Initiale%20((Typografie)) (02.04.09).
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_id=13&sort=2a&page=2 (03.04.09).
Abb.: 7
http://www.planet-wissen.de/pw/showdocument
,,,,,,,,,,,,,,,,,,,B4ACD91C0A025D35E034080009B14B8F,,,.html (02.04.09).
Abb.: 8
Schimmel Annemarie. Islamic Calligraphy. New York 1992. S. 31.
Abb.: 9
Schimmel Annemarie. Islamic Calligraphy. New York 1992. S. 10.
Abb.: 10
Schimmel Annemarie. Islamic Calligraphy. New York 1992. S. 53.
Abb.: 11
Massoudy Hassan. Calligraphie arabe vivante. Paris 1981. S. 118.
Abb.: 12
http://www.musethno.uzh.ch/de/ausstellungen/2003/kalligraphie/
presseunterlagen/ presseunterlagen.html (03.04.09).
Abb.: 13
Stevens John. Sacred Calligraphy of the East. Colorado 1981. S. 178.
Abb.: 14
Stevens John. Sacred Calligraphy of the East. Colorado 1981. S. 186.
Abb.: 15
Massoudy Hassan. Calligraphie arabe vivante. Paris 1981. S. 107.
Abb.: 16
Stevens John. Sacred Calligraphy of the East. Colorado 1981. S. 198.
Abb.: 17
Massoudy Hassan. Calligraphie arabe vivante. Paris 1981. S. 121.
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Schimmel Annemarie. Islamic Calligraphy. New York 1992. S. 8.
Abb.: 19
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Abb.: 20
http://www.schriften-lernen.de/Schrift/Arab/Arab9a.htm (04.04.09).
- 64 -
12 Glossar
Arabeske:
stilisiertes Blattrankenornament in der islamischen Kunst.
Diakritisches Zeichen:
Zeichen über, unter oder innerhalb eines Buchstabens zur
weiteren Unterscheidung bes. von Buchstaben in
Alphabetschriften und von Lautsymbolen in Lautschriften,
z.B. Betonungszeichen, Trema.
Fries:
in der Baukunst ein bandartiger Streifen zur Gliederung und
zum Schmuck einer Wandfläche.
Kalem:
Rohrfeder mit gespreizter Spitze (siehe Kapitel 6.5).
Konfuzianismus:
die auf Konfuzius zurückgehende, neben dem Daoismus und
dem Buddhismus die einflussreichste philosophische
Richtung in China und Ost-Asien.
Liturgie:
Im christlichen Sprachgebrauch die Bezeichnung für Form
und Inhalt der gottesdienstlichen Feier.
Majuskel(-schrift):
Grossbuchstaben (-schrift).
Medresen:
die traditionelle islamische Hochschule.
Miniatur:
Bildschmuck in Handschriften, davon abgeleitet auch kleines,
oft medaillonförmiges Bild auf Gebrauchs- und
Ziergegenständen.
Minuskel(-schrift):
Kleinbuchstaben (-schrift).
Mystizismus:
Bezeichnung für eine geistige Haltung, welche die
Möglichkeit von Wunderbarem und Geheimnisvollem betont.
Purismus:
Streben nach Reinheit, Echtheit, Authentizität; strikte
Reinheit der Motive.
Skriptorium:
Schreibstube in mittelalterlichen Klöstern, in der
handgeschriebene Bücher hergestellt wurden.
Sufi
Anhänger des Sufismus. Der Sufismus ist eine Asketischmystische Richtung des Islam, welcher eine Verinnerlichung
des Islam erstrebt.
Sure:
Abschnitt des Korans.
Zoomorph:
Die Gestalt eines Tieres aufweisend.
Alle Definitionen stützen sich auf Brockhaus (2005) und Brockhaus (1984).
- 65 -
13 Selbständigkeitserklärung
„Ich erkläre hiermit, dass ich diese Arbeit selbständig durchgeführt und keine anderen
als die angegebenen Quellen, Hilfsmittel und Hilfspersonen beigezogen habe. Alle
Textstellen in der Arbeit, die wörtlich oder sinngemäss aus Quellen entnommen
wurden, habe ich als solche gekennzeichnet.“
Datum:
Unterschrift:
……………………
……………………
- 66 -
14 Anhang
14.1 EE-MailMail-Verkehr
Verkehr mit A. Haenggi
Liebe Frau Haenggi
Ich weiss nicht, ob Sie Sich noch an mich erinnern können. Ich besuchte Sie einmal im
Papiermuseum und erzählte Ihnen von meiner Maturarbeit, welche ich über
Kalligraphie verfasse. Wir hatten einen kurzen E-Mail-Kontakt, in welchem Sie sich
dazu bereit erklärt hatten, mir einige Fragen zu beantworten. Wir verabredeten, dass ich
mich im neuen Jahr erneut melden würde, da ich dann in das Thema eingearbeitet sein
würde und meine Fragen präzise formulieren könnte. Nun wollte ich, falls Sie immer
noch einverstanden sind, auf das Angebot zurückkommen.
Vorausschicken muss ich jedoch noch, dass ich mein Thema ein wenig abänderte und
nicht mehr über die chinesische Kalligraphie schreibe, sondern über die ZenKalligraphie. Auch wenn Ihnen diese vielleicht nicht bekannt ist (?), wäre ich dennoch
froh um ihre Antworten, die mir sehr hilfreich wären.
Fragen:
•
•
•
•
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Ist Ihnen in Ihrer Kalligraphie einen Bezug zur Religion, Spirituellem,
Meditativem bekannt?
Hatten Sie selbst einmal eine besondere Erfahrung mit Kalligraphie gemacht
(z.B., dass Sie durch die Konzentration in einen meditativen Zustand kamen)?
Ist Ihnen die Zen-Kalligraphie bekannt oder gar vertraut? Wenn ja, wissen Sie
etwas über die Zen-Kalligraphie heutzutage, ihre Verbreitung und ihren
Stellenwert in der Gesellschaft?
Welchen Stellenwert allgemein hat die Kalligraphie heutzutage in Asien? In
welchen Bereichen trifft man sie noch an? Lernen noch viele die Kunst der
Kalligraphie, oder sind es nur noch wenige Interessierte?
Was macht für Sie die Kunst der Kalligraphie einzigartig? Weshalb betreiben
Sie dieses Hobby?
Abschliessend hätte ich noch eine persönliche Frage. Im Papiermuseum durfte ich ja
einige Photos von Ihnen während des Schreibens aufnehmen. Dürfte ich diese teilweise
in meine Arbeit integrieren?
Ich wäre froh um eine baldige Antwort, damit ich Ihre Informationen möglichst gut in
meiner Arbeit verwerten kann.
Herzlichen Dank im Voraus für Ihre Mühe.
Mit freundlichen Grüssen
Irina Zindel
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Dear Irina,
Sorry for the late answer. I have been extremely busy these days. It is easier for me to
write in English and I hope you don’t mind.
I have heard of Zen calligraphy, but I do not know much about it. Zen is for me a
synonym of
Buddhism. I am a catholic. I really don’t know if I am able to help you with my
limited knowledge and experience. I just try my best.
Fragen: Answer
- ·Ist Ihnen in Ihrer Kalligraphie einen Bezug zur Religion, Spirituellem, Meditativem
bekannt? Yes. Calligraphy for me is way of meditation. Very often when I write texts
from Bible and when I concentrate on writing, I feel that I am closer to God.
- ·Hatten Sie selbst einmal eine besondere Erfahrung mit Kalligraphie gemacht (z.B.,
dass Sie durch die Konzentration in einen meditativen Zustand kamen)?
Yes.
- ·Ist Ihnen die Zen-Kalligraphie bekannt oder gar vertraut? Wenn ja, wissen Sie etwas
über die Zen-Kalligraphie heutzutage, ihre Verbreitung und ihren Stellenwert in der
Gesellschaft?
I have heard of Zen Calligraphy, but do not know much about it. Sorry!
(Maybe you can find some information online.)
- ·Welchen Stellenwert allgemein hat die Kalligraphie heutzutage in Asien? In welchen
Bereichen trifft man sie noch an? Lernen noch viele die Kunst der Kalligraphie, oder
sind es nur noch wenige Interessierte?
As far as I know, in China, Taiwan, Hong Kong, and Japan, Calligraphy is a wellappreciated art. And at least in the Chinese society, calligraphy is alive and it is
everywhere. For example, during the Chinese New Year, you can see New Year springcouplet stands on the street. But it is a pity that children nowadays are not learning
calligraphy in primary school any more. When I was a child, calligraphy is a
compulsory course. We had calligraphy three times a week. Now it is only one of the
extracurricular activities, which takes place once a week.
- ·Was macht für Sie die Kunst der Kalligraphie einzigartig? Weshalb betreiben Sie
dieses Hobby?
Well, calligraphy is not the only, but one of my hobbies. But it is for me, the best way
to “fly away” from everyday triviality. Through the concentration, I can think more
clearly and thus easily know what’s important in life.
H.C. Angela Haenggi-Yu
www.wretch.cc/blog/ahaenggi
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„Die Schriftzeichen bewirken viel mehr als nur die
Übermittlung von Bedeutungen; Kalligraphie ist
Seismograph der inneren Welten und Gefühle. Das
Faszinierende an der Kalligraphie sind die
Vielschichtigkeit und die momentane Stimmung und
Spontaneität dieser Kunst, welche die Kräfte des Geistes
und des Körpers herausfordern und im Bild sichtbar
werden lassen.“
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