Trump ist überall

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Neuö Zürcör Zäitung
NZZ – INTERNATIONALE AUSGABE
Samstag/Sonntag, 12./13. November 2016 V Nr. 265 V 237. Jg.
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Trump ist überall
Alle fürchten sich vor Donald Trump. Doch Populisten vom Format des neuen amerikanischen Präsidenten gibt es in
Europa längst. Man muss lernen, die Ursachen ihres Aufstiegs zu bekämpfen. Von Peter Rásonyi
Die Welt erschrickt vor Donald Trump. Der Mann,
der bis am Mittwoch noch rund um den Globus
überwiegend als dümmliche Witzfigur verhöhnt
worden war, ist plötzlich der mächtigste Mensch
der Welt. Das löst Empörung aus, die sich zunächst
auf Amerika richtet. Wie konnte das Land des Fortschritts und der Träume, der jahrhundertelange
Garant von Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft, eine derart fragwürdige Gestalt zu seinem
Präsidenten wählen? Einen Mann, der über keine
politische Erfahrung verfügt, der kein konsistentes
Programm vorgelegt hat? Der notorisch Lügen verbreitet, bedeutende Bevölkerungsgruppen beleidigt, wichtige gesellschaftliche Grundwerte verhöhnt und wenig Respekt vor elementaren rechtsstaatlichen Prinzipien zeigt?
Enttäuschte Hoffnungen
Die Wahl sagt zunächst viel über die Missstände in
Amerika aus, die Präsident Trump erst möglich gemacht haben. Die sozioökonomischen Hintergründe seiner Wählerschaft sind oft beschrieben
worden. Grosse Teile der amerikanischen Gesellschaft empfinden ihre persönliche Lage als abgehängt, perspektivlos. Sie kommen wirtschaftlich
schon lange nicht voran, während andere an ihnen
vorbeiziehen. Diese Leute haben genug von einem
politischen System, das von zynischen Interessengruppen beherrscht, abgeschottet und blockiert
wird. Sie haben genug von eitlen metropolitanen
Eliten, die sich über die gewöhnlichen Bürger in
den weiten ländlichen Gebieten des Kontinents
bloss belehrend lustig machen, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen. Und sie haben genug von Politikern, die sich im Wahlkampf als die Vertreter des
Volkes darstellen, im Amt aber primär mächtige
Interessengruppen und sich selbst bedienen.
Vor acht Jahren ist der Demokrat Barack
Obama als Aussenseiter zum ersten schwarzen Präsidenten gewählt worden, weil er dank Charisma,
Talent und Herkunft dem begeisterten Volk glaubhaft machen konnte, er werde ihm den ersehnten
Wandel bringen. «Yes we can» lautete sein Wahlslogan. Doch Wirtschaftsinteressen, die Finanzkrise, die Blockade im Kongress haben sichergestellt, dass wenig davon Wirklichkeit wurde. Warum sollten die Bürger nun darauf setzen, dass ausgerechnet Obamas blasse Parteigenossin Hillary
Clinton, die scheinbare Inkarnation der arroganten, raffgierigen, hauptstädtischen Elite, den erwünschten Wandel bringen würde?
Aus dieser Warte ist verständlich, dass viele
Wähler Clinton ihr Vertrauen verweigerten und auf
die Alternative Trump setzten. Sie konnten ihre
Verbitterung über das politische System nicht deutlicher demonstrieren. Dass ausgerechnet ein schillernder Abenteurer wie Trump die erhoffte soziale,
wirtschaftliche und politische Erneuerung bringen
wird, ist wenig wahrscheinlich. Zu widersprüchlich
sind seine ökonomischen und politischen Ideen.
Doch immerhin ist seine Wahl ein gewaltiger Weckruf, der vielleicht die Basis für eine politische Revitalisierung des Landes legen wird. Die Erneuerungskräfte des Kontinents sind legendär.
Trump ist nicht allein. Auch in anderen Weltgegenden sind seine Gesinnungsgenossen im Vormarsch oder bereits an der Macht. Ein Viktor
Orban in Ungarn, ein Jaroslaw Kaczynski in Polen
haben mit süssen Versprechungen die Unzufriedenen in ihren Ländern um sich zu scharen vermocht.
Sie haben mit Wucht einen Angriff auf den liberalen Rechtsstaat lanciert, der Anlass zu Sorge gibt.
In England haben rechtsnationale Eliten die Abgehängten und Unzufriedenen im Namen einer
mythisch verklärten Entfesselung, aber auch von
Abschottung, Xenophobie und Hochmut eingesammelt. Mit deren Stimmkraft kam im Juni das
Volksmehr für den Brexit zustande. In Frankreich
hofft die rechtsnationale Marine Le Pen auf einen
Triumph in der bevorstehenden Präsidentenwahl.
Auch in den Niederlanden, in Schweden, Dänemark oder Deutschland sind neue rechtsnationale
Politiker und Parteien im Aufwind.
Vormarsch der Populisten
Sie werden von den herrschenden politischen und
medialen Eliten als Populisten verhöhnt und bekämpft. Doch der Wahltag in den USA zeigt erneut,
dass man sie ernst nehmen muss. Sie ernten auf ähnlichen Äckern wie Trump, was durch Fehlentwicklungen in der Vergangenheit gesät worden ist. Arrogante städtische Eliten, stockenden sozialen Aufstieg, strukturschwache Regionen, einen verstärkten globalen Wettbewerb durch zugewanderte
Arbeitskräfte und abwandernde Industrien gibt es
auch in Europa. Die Bürger sind auf der Suche nach
neuen Rezepten, Politikern und Parteien, die ihnen
wieder Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Wenn
die etablierten politischen Kräfte nicht auf sie
hören, tun es die sogenannten Populisten.
Was mit Trumps Triumph nun in den USA in
einem Schub kommt, kündigt sich in Europa schon
seit längerem in kleineren Schritten an. In grossen
Staaten wie Deutschland, Spanien oder Italien differenziert sich das Parteiensystem aus. Das erzeugt
neue Koalitionsmöglichkeiten. Der bevorstehende
Brexit setzt die Europäische Union unter Druck,
sich selbst neu zu definieren. Dass das gelingt, ist
allerdings ungewiss. Die Herausforderungen bleiben gross. Globalisierung und technischer Wandel
sind Fakten, welche die Wirtschaft weiterhin stark
verändern werden. Verlierer lassen sich zwar durch
soziale Netze auffangen, aber diese sind in Europa
bereits so eng gestrickt, dass ein grosser weiterer
Ausbau weder finanzierbar noch machbar ist, ohne
die Arbeitsmotivation zu stark zu unterminieren.
Beim Zugang zu Bildung, der wichtigsten Triebkraft für sozialen Aufstieg und die Bewältigung des
Strukturwandels, ist Europa schon in einer guten
Position. Trotzdem blüht überall die Unzufriedenheit. Sie ist nicht primär wirtschaftlich bedingt, genauso wenig wie Trumps Rezepte oder der Brexit
nachhaltige Wohlstandsgewinne versprechen. Die
Misere wurzelt vielmehr im verlorenen Vertrauen
in die Politik. Europa muss deshalb Wege finden,
die Unzufriedenen, Abgehängten, Desillusionierten wieder ins sichere Boot des demokratischen
Rechtsstaats zu holen. Hier müssen auch Kernfragen nationaler Identität und liberaler Grundwerte der Aufklärung stärker thematisiert werden:
Was macht eigentlich Europa aus?
Trumps Wahl lässt schwierige Jahre erwarten.
Der von ihm angekündigte Rückzug Amerikas von
der Weltbühne der Diplomatie und des Militärs ist
eine Einladung an die machthungrigen autoritären
Regime in Moskau und Peking, ihre Interessengebiete in Asien, im Nahen Osten, in Afrika und in
Europa noch forscher auszudehnen. Nicht nur
westliche Interessen, auch die Grundlagen des liberalen Rechtsstaats, von Frieden und Sicherheit geraten dadurch unter Druck. Das muss für Europa
Ansporn sein, rasch das Vertrauen in seine freiheitlichen Wurzeln zurückzugewinnen, bevor es von
eigenen Trumps dazu gezwungen wird.
Die Scherben kitten
In Washington demonstrieren Präsident Obama und sein gewählter Nachfolger Trump Einigkeit
win. Washington V Zehn, fünfzehn Minu-
ten waren für das Treffen einberaumt
worden. Es dauerte dann schliesslich fast
eineinhalb Stunden. Für eine tief gespaltene Nation, die aus den Niederungen
einer besonders hässlichen Wahlkampagne aufzutauchen versucht, ist dies keine
Bagatelle. US-Präsident Barack Obama
und der gewählte nächste Präsident,
Donald Trump, machten auch nach
ihrem ersten Zusammentreffen unter
vier Augen klar, dass sie sich ihrer Verantwortung für das Land bewusst sind.
Obama sprach von einem «exzellenten» Gespräch über organisatorische
Fragen, aber auch über aussen- und
innenpolitische Belange. Er wolle, dass
Trump Erfolg habe, weil nur das sicherstelle, dass auch die USA erfolgreich
sein würden. Trump nannte den Präsidenten, der schon bald sein Vorgänger
sein wird, einen «sehr guten Mann».
Obama hatte zuvor die unzweideutige Anweisung an seine Administration
ausgegeben, die Stabsübergabe reibungslos und professionell zu gestalten.
Er baut damit auf die Erfahrung, welche
das Ehepaar Obama vor acht Jahren
machte, als es von den Bushs nicht nur
mit Anstand und Höflichkeit, sondern
auch persönlicher Wärme willkommen
geheissen wurde.
Natürlich ist die nächste Amtsübergabe anders als die meisten zuvor. Damals übergab ein Politiker den Stab an
einen anderen Politiker. Jetzt dagegen
hat es Obama mit einem Mann zu tun,
der während Jahren grundsätzlich die
Legitimität seiner Wahl mit der falschen
Behauptung bestritten hatte, Obama sei
nicht in den USA geboren. Auf der
andern Seite hatte Obama nie einen
Zweifel an seiner Überzeugung aufkommen lassen, dass Trump nicht die nötigen
Eigenschaften für dieses Amt besitze.
Doch sowohl Obama als auch Trump legten am Donnerstag viel Wert auf den
Eindruck, dass diese und andere Verlet-
zungen und Differenzen nun im Interesse des Landes überwunden werden
müssten. Inwieweit diese Haltung auch
auf die Stäbe von Mitarbeitern und Beratern zutrifft, ist eine andere Frage.
Nicht nur die Tatsache, dass Trump
als Quereinsteiger besondere Herausforderungen meistern muss, macht diese
Amtsübergabe einzigartig. Das Besondere an Trumps Sieg ist ja auch, dass
nicht nur der neue Präsident und die
neue First Lady in zehn Wochen ins
Weisse Haus einziehen werden, sondern
ein Familienunternehmen. Nichts zeigte
das deutlicher als die Tatsache, dass
Trumps Schwiegersohn Jared Kushner
während des Treffens zwischen Obama
und seinem Nachfolger mit dem Stabschef des Weissen Hauses, Denis McDonough, einen symbolschweren Rundgang auf dem Südrasen absolvierte.
Auch die von gegenseitigem Respekt
geprägten Worte können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Amtsübergabe
für Obama wohl den bittersten Moment
seiner politischen Karriere darstellt. Sein
baldiger Nachfolger und die republikanischen Führer des Kongresses werden –
anders kann man ihre Äusserungen nicht
auslegen – die meisten der bekannten Errungenschaften seiner zwei Amtszeiten
infrage stellen oder zunichtemachen.
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Die dritte Generation
sind Einheimische
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NACH DER WAHL
* Eine grosse Aufgabe wartet auf
Trump: Wie können Langzeitarbeitslose zurückgeholt werden? Seite 3
* Trump und die Welt: was man ausserhalb der USA vom neuen Präsidenten erwartet. Seite 4,5
* Der «amerikanische Traum» ist mit
der liberalen Marktwirtschaft verbunden – Trump will das ändern. Seite 17
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weitere Angaben im Impressum Seite 37
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