Tierethik als Thema der Theologie und des kirchlichen Handelns

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KJb 10 / p. 1 / 29.10.2012
KIRCHLICHES JAHRBUCH 2010
KJb 10 / p. 2 / 29.10.2012
KIRCHLICHES JAHRBUCH
für die Evangelische Kirche in Deutschland
2010
Begründet von Johannes Schneider
Herausgegeben von
Friedrich Hauschildt, Klaus-Dieter Kaiser
Claudia Lepp und Harry Oelke
137. Jahrgang
Lieferung 1
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
KJb 10 / p. 3 / 29.10.2012
DOKUMENTE ZUM
KIRCHLICHEN ZEITGESCHEHEN
Bearbeitet
von Karl-Heinz Fix
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
KJb 10 / p. 4 / 29.10.2012
Das Personen-, Orts- und Sachregister befindet sich
in der letzten Lieferung des Jahrgangs
Evangelische Kirche in Deutschland
ISBN 978-3-579-01606-1
ISSN 0075-6210
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: SatzWeise, Föhren
Druck und Einband: Hubert & Co, Göttingen
Printed in Germany
www.gtvh.de
KJb 10 / p. 5 / 29.10.2012
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
I. Kirchliche und theologische Grundsatzfragen . . . . . . . . . . . . .
1. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung von
Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften und die
evangelische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Von Joachim Ochel
1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Dokumentierte Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. »Schön, dass Sie (wieder) da sind!« Eintritt und Wiedereintritt in die
Kirche als Herausforderung für das kirchliche Handeln . . . . . .
Von Dr. Gerald Kretzschmar
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Empirie des Kircheneintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die offizielle Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Der Kircheneintritt im Spiegel empirischer Studien . . . . .
2.3 Die EKD-Kircheneintrittsstudie 2009 . . . . . . . . . . . .
3. »Schön, dass Sie (wieder) da sind! Eintritt und Wiedereintritt
in die evangelische Kirche« (EKD-Text 107) – Dokumentation .
3.1 Vorbemerkung zur Dokumentation . . . . . . . . . . . . .
3.2 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Fazit und Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anhang: Die Arbeit der Fachstelle für Kircheneintritt in München .
3. Tierethik als Thema der Theologie und des kirchlichen Handelns . .
Von Dr. Stefan Schleißing und Dr. Herwig Grimm
1. »Mitgeschöpflichkeit«, »Würde der Kreatur« und die Frage nach
dem ethischen Fundament der Mensch-Tier-Beziehung . . . . .
2. Stellungnahmen zur christlichen Mensch-Tier-Beziehung aus dem
Raum der evangelischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 »Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf« (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Auf der Suche nach einer Versachlichung der Debatte:
»Mitgeschöpflichkeit« als Thema von Initiativen zur MenschTier-Beziehung in den Landeskirchen . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Evangelische Akademie Bad Boll . . . . . . . . . . .
2.2.2 Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche . . . .
2.2.3 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers . .
2.2.4 Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der
Ludwig-Maximilians-Universität-München (TTN) . .
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3. Jenseits von Eden und mitten im Leben: Der evangelische Diskurs
aus Sicht der philosophischen Tierethikdebatte . . . . . . . . .
3.1 Mensch-Tier-Gott: Mitgeschöpf vs. Mensch-Tier-Beziehung
3.2 Die Erben Benthams: Der Gegenstand der philosophischen
Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Kirchliche Positionen und theologische Zugänge aus Sicht
philosophischer Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Instrumentalisierung als moralisches Defizit und Problem .
3.5 Ideale Ansprüche in einer nicht-idealen Welt: Instrumentalisierung als Grundkategorie der Mensch-Tier-Beziehung . .
3.6 Die Gebrochenheit der Welt als Ausgangssituation . . . . .
4. Ethik zwischen Sekte und Volkskirche: Anmerkungen zur
kirchlichen Dimension der Mensch-Tier-Beziehung . . . . . . .
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II. Öffentliche Verantwortung der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Aussetzung der Wehrpflicht und die Stunde der Freiwilligendienste.
Eine geschichtliche Zäsur und Herausforderung für Kirche und
Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Von Dr. Eberhard Pausch
1. Maßgebliche kirchliche Stellungnahmen bis zum Jahr 2009 . . . .
2. Die politische Entwicklung seit der Regierungsübernahme durch
die Koalition aus CDU/CSU und FDP im Jahr 2009 . . . . . . .
2.1 Wehrdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Zivildienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Kirchliche Äußerungen und Handlungen angesichts der aktuellen
politischen Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Das Votum der vier Leitenden Geistlichen im September 2010 .
3.2 Beschlüsse der EKD-Synode von Hannover im November 2010
3.3 Die Äußerung der beiden Bevollmächtigten im November 2010
3.4 Eine charakteristische Äußerung aus dem Bereich der freien
Wohlfahrtspflege im April 2011 . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Zwischenbilanz und Zukunftsvision: Der Kongress in der
Evangelischen Akademie zu Berlin . . . . . . . . . . . . . .
3.6 Schaffung neuer Institutionen im Raum der EKD . . . . . . .
4. Begleitmedien für Freiwillige: www.zivil.de, Taschenkalender . . .
5. Das Projekt »Friedensbildung / Bundeswehr in den Schulen« . . .
6. Ausblick: Ein evangelischer Kairos? . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Heimkinder und Evangelische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . .
Von Dr. Michael Häusler und Dr. Uwe Kaminsky
1. Die Debatte und ihr Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Befunde historischer Forschung zur Heimgeschichte evangelischer
Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Der Runde Tisch Heimerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Kirchliche Ereignisse und Entwicklungen
. . . . . . . . . . . . . .
1. Rücktritt einer Ratsvorsitzenden . . . . . . . . . .
Von Reinhard Mawick
1. 29. Oktober 2009: Eine besondere Wahl . . . . .
2. Seelsorge und Konflikt . . . . . . . . . . . . .
2.1 Trauer um Robert Enke . . . . . . . . . . .
2.2 Konflikt mit der Russisch-orthodoxen Kirche
2.3 Kampagne gegen eine Predigt . . . . . . . .
3. Der schnelle Rücktritt . . . . . . . . . . . . . .
4. Die öffentlichen Reaktionen . . . . . . . . . . .
5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kirche und Religion als Themen Sozialer Netzwerke . .
Von Sven Waske
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Internet-Nutzung 2011 . . . . . . . . . . . . . . .
3. Social Media . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Consumer – Prosumer – Produser – Producer . . . .
5. Religion, Glauben und Kirche als alltägliche Themen
6. Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die wirtschaftlichen Hilfen aus dem Bereich der Evangelischen Kirche
in Deutschland (EKD) in den des Bundes der Evangelischen Kirchen
in der DDR (BEKDDR) – vereinfacht darstellt . . . . . . . . . . . .
Von Uwe-Peter Heidingsfeld
1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Beteiligte Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 In der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 »Dreiergespräch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 »Sonderausschuss« der EKD . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3 Verwaltungsrat für die Bereitstellungshilfe . . . . . . .
2.1.4 Beteiligung durch Information und Beratung . . . . . .
2.1.5 Ausschuss für den Kirchlichen Bruderdienst . . . . . .
2.2 In der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 »Treuhänder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Leitende Juristen der Gliedkirchen des BEKDDR . . .
2.2.3 Bruderdienst-Ausschuss (Ost) . . . . . . . . . . . . .
3. Programme auf EKD-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Zeitlich begrenzte Großprogramme . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Sonderbauprogramme I und II . . . . . . . . . . . . .
Einschub: Der Berliner Dom – »Kröte« oder »Lokomotive«? .
3.1.2 Versorgungssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Auf Dauer gestellte Großprogramme . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 »Hilfsplan« der EKD . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Ostpfarrer-Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Kirchlicher Bruderdienst . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII
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4. Leistungen neben den Programmen der EKD . . . . . . . . .
4.1 Kirchliche Zahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Bundesmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Realisierungsformen und Fluss der Mittel . . . . . . . . . . .
5.1 Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Einfuhren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Auszahlungen in DM . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.3 Nutzung von Geschenkdiensten . . . . . . . . . .
5.3 Transfer: Beschaffung von Mark der Deutschen Notenbank
5.4 Valuta-Mark-Programm . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Schlussabrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Professor Dr. Gottfried Maron (1928–2010)
2. Prof. Dr. Wolf-Dieter Hauschild (1941–2010)
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3. Tierethik als Thema der Theologie
und des kirchlichen Handelns
Von Dr. Stefan Schleißing und Dr. Herwig Grimm
»Wir streicheln und wir essen sie« lautet der deutsche Titel eines jüngst erschienen
Sachbuchs des amerikanischen Psychologen Hal Herzog. 1 Darin geht er der höchst
widersprüchlichen Beziehung des Menschen zu den Tieren nach, die er vor allem
anhand der unterschiedlichen Behandlung von Heim- und Nutztieren anschaulich
macht. Herzog diagnostiziert eine tiefgreifende Spaltung zwischen dem emotionalen und dem rationalen Umgang mit Tieren, die nicht an objektiven Eigenschaften
der Tiere selber festgemacht werden kann, sondern als Folge einer Moralisierung
des Mensch-Tier-Verhältnisses zu verstehen ist, die jedoch auf der Ebene rationaler
Argumentation bemerkenswert inkonsistent ist. »Ich denke gerne über unsere Beziehung zu Tieren nach, weil sie eine Menge darüber aussagen, wer wir sind«, zitiert
Herzog den amerikanischen Verhaltensforscher Marc Bekoff. 2
Dass die Mensch-Tier-Beziehung vor allem im Zusammenhang der Anthropologie verstanden werden muss, ist für die theologische und kirchliche Würdigung des
Tieres insbesondere in der Neuzeit charakteristisch. Auch wenn ihre dogmatische
Verortung zumeist innerhalb der Schöpfungstheologie zum Thema wird, ist es doch
für den Neuprotestantismus bezeichnet, dass er die Fragen des ethischen Umgangs
mit dem Tier zunehmend in den Vordergrund rückt. Seit der Aufklärung kollidiert
dabei vor allem eine sensitivistische Begründung des »Glücks der Tiere« mit der
utilitaristischen Rechtfertigung ihrer Nutzung zum Zwecke des Menschen.
Der vorliegende Artikel beginnt mit einer Erinnerung an die durchaus wirkmächtigen Wurzeln der modernen Tierschutzdebatte im Protestantismus, an die
die modernen philosophischen Konzeptionen einer Rechtfertigung des MenschTier-Verhältnisses dann anknüpfen. In einem nächsten Abschnitt widmen wir uns
sodann zentralen Dokumenten und Initiativen innerhalb der evangelischen Kirchen
seit den 1980er Jahren, die sich vor allem mit den Problemen einer industrialisierten
Nutztierhaltung auseinandersetzten. Zwei zentrale Problembereiche werden hier
erkennbar, die Thema der beiden folgenden Abschnitte sind: Zum einen das Problem, wie mit Hilfe empirischer Fakten ethische Fragen der Mensch-Tier-Beziehung zu gewinnen sind. Diese Frage beherrscht die Diskussion um den moralischen
Status des Tieres, wie sie in der aktuellen philosophischen Tierethik diskutiert wird.
Die dabei zu beobachtenden Aporien werfen unserer Ansicht nach ein neues Licht
auf die theologischen Versuche einer Fundierung der Mensch-Tier-Beziehung, die
sehr viel deutlicher als der philosophische Mainstream eine anthroporelationale Begründung dieser Beziehung in der Perspektive einer »Ethik der Mitgeschöpflich1. Hal Herzog: Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren,
München 2012.
2. Ebda., 9.
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keit« ausgebildet haben. Dieser Ansatz macht freilich für die evangelischen Kirchen
ein – durchaus typisches – Problem virulent, das abschließend skizziert werden soll.
Angesichts der Schärfe der Auseinandersetzung stellt sich die Frage, wie bleibende
Differenzen in der ethischen Würdigung des Konfliktes und die Suche nach Kompromissen in der Sache so vorgenommen werden können, dass dabei die Zugehörigkeit zu einer Bekenntnisgemeinschaft nicht auf dem Spiel steht. Für die theologische
Ethik ist es ja seit jeher charakteristisch, dass ethische Fragen immer auch kirchenbildende Auswirkungen haben. Gerade bei dem höchst umstrittenen Thema der
Tierethik stellt sich darum das Problem, welche konfliktmoderierenden Potenziale
das Bekenntnis zum gemeinsamen Schöpfer in der Ethik aufzunehmen in der Lage
ist. In soziologischer Perspektive ist dies die Frage nach den Institutionen, die auf
dem Boden einer »gefallenen Schöpfung« Gewähr dafür tragen, die Einsicht in die
bleibende Sündhaftigkeit menschlicher Ordnung mit dem Prozess einer Fortentwicklung der ethischen Mensch-Tier-Beziehung zu vermitteln.
1. »Mitgeschöpflichkeit«, »Würde der Kreatur« und
die Frage nach dem ethischen Fundament der Mensch-Tier-Beziehung
In der theologischen Ethik führt das Thema der Mensch-Tier-Beziehung bisher
über weite Strecken ein bloßes Schattendasein. Ursächlich dafür dürfte vor allem
die durchweg anthropologische Fundierung der modernen Ethiken sein, die sich
mit ihrer zumeist phänomenologisch orientierten Anknüpfung an Fragen der
menschlichen Handlungsführung zugleich als Gesprächspartner für die philosophische Ethik empfehlen. »Es gibt keine Ethik der Tiere« konstatiert etwa Wolfgang
Trillhaas programmatisch in der Einleitung seiner »Ethik«. 3 Denn zu dieser gehöre
es,
daß man sich über seine Pflichten, über das sittlich Notwendige ebenso wie über das Zulässige oder auch Verbotene vernünftig verständigen
könne. 4 Vernünftige Kommunikabilität ist aber nur zwischen Menschen möglich,
was zumindest in den theologischen Ethiken dazu führt, Tiere zwar bisweilen als
Objekte menschlicher Fürsorge zu thematisieren, ihnen dabei aber keine eigene
ethische Dignität für die Erhellung der anthropologischen Grundsituation menschlicher Lebensführung zuzumessen. Lediglich dort, wo man sich – zumeist erst in
Ansätzen 5 – mit anwendungsorientierten Fragen befasst, wird »das Tier« zum Thema »der Ethik«. So widmet Martin Honecker in seinem über 700 Seiten umfassenden »Grundriß der Sozialethik« ganze neun Seiten diesem Thema. Ausgehend von
der Skizzierung der biblischen Sicht des Tieres behandelt er die beiden Fragen von
Tierschutz und Tierversuch, wobei sein Fazit im Hinblick auf den Charakter der
3. Wolfgang Trillhaas: Ethik, Berlin 31970, 22 f.
4. Ebda., 22.
5. Vgl. exemplarisch Ulrich H. J. Körtner: Evangelische Sozialethik, Göttingen 1999, der
sich mit der Rolle von Tieren vor allem im Kontext bioethischer Fragen der Gentechnik
beschäftigt.
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gegenwärtigen Auseinandersetzung durchaus dramatisch ausfällt und schon aus diesem Grund vielleicht eine ausführlichere Behandlung verdient hätte:
Eine Stellungnahme von Tierschutz und Tierversuchen sieht sich heute vor einen fundamentalen Dissens gestellt, vergleichbar mit einem Glaubensstreit. Eine ökonomisch-materialistische Wertung des Tieres steht im Gegensatz zu einer emotionalen Verbundenheit mit allem
Leben. Das rationale Kalkül mit dem Tier als Sache und eine emotionale Bindung an das Tier
als Mitgeschöpf geraten oft miteinander in Konflikt. 6
In seinen das Kapitel einführenden Bemerkungen konstatiert Honecker, dass erst
die gesteigerte Sensibilität für die Umwelt – exemplarisch nennt er hier Albert
Schweitzer – zu einer Aufmerksamkeit auf dieses Thema geführt habe, das ansonsten »im Umkreis des christlichen Glaubens eine verhältnismäßig neue Erscheinung«
sei. 7 Auch wenn dieses Urteil im Hinblick auf die theologischen Ethiken zutreffend
ist, zeigt sich vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Christentumsgeschichte doch
ein völlig anderes Bild.
Es ist das große Verdienst der römisch-katholischen Theologin Heike Baranzke, die zentrale Rolle des Protestantismus vor allem in England und Deutschland
bei der Herausbildung des neuzeitlichen Tierschutzbewusstseins zuletzt nachdrücklich herausgestellt zu haben. 8 Vor dem Hintergrund der 1992 vollzogenen
Aufnahme des (unbestimmten) Rechtsbegriffs »Würde der Kreatur« in die Schweizer Bundesverfassung, diskutiert sie in ihrer Dissertation die unterschiedlichen
ideengeschichtlichen Traditionen des kreatürlichen (Bonitas-Tradition) und des
menschlichen (Dignitas-Tradition) Würdeverständnisses in der abendländischen
Geistesgeschichte.
Mit einer erstaunlichen Stringenz zieht sich bis heute ein stark konfessionell gebundener
Unterschied im christlichen Verhältnis zu den Tieren durch die Positionen. Sowohl das
Schrifttum als auch die Aktivisten der Tier- und Vogelschutz- wie auch der protoökologischen Bewegungen gehören vornehmlich dem protestantischen Bekenntnis an und stehen
zugleich dem Gedankengut der Aufklärung nahe […]. Ausgehend von Martin Luthers 1529
formuliertem Bekenntnis im Kleinen Katechismus: »Ich gläube, daß mich Gott geschaffen
hat sampt allen Kreaturen«, ist dem lutherischen Protestantismus mindestens seit dem
6. Martin Honecker: Grundriß der Sozialethik, Berlin u. a. 1995, 276; vgl. zum Ganzen
268–276.
7. Ebda., 268.
8. Heike Baranzke: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik
(Epistema, Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie, 328), Würzburg
2002. Auf dem Gebiet der Theologie hatte bereits Eberhard Röhrig in seiner Dissertation
unter dem Titel »Mitgeschöpflichkeit: Die Mensch-Tier-Beziehung als ethische Herausforderung im biblischen Zeugnis, in der Theologiegeschichte seit der Reformation und in
schöpfungstheologischen Aussagen der Gegenwart« (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Theologie, 706), Frankfurt/M. u. a. 2000 auf die vielfältigen Verweise des Gedankens der »Mitgeschöpflichkeit« nicht nur in der Bibel, sondern vor allem seit der Reformationszeit herausgestellt. Seine Arbeit ist eine Fundgrube zum Auffinden diverser Positionen
auch außerhalb der Theologie bis in die Gegenwart. Leider listet Röhrig die bisweilen recht
knapp dargestellten Positionen nur kursorisch, ohne dabei systematische oder problemgeschichtliche Ambitionen zu verfolgen. Vgl. zum Verständnis des Topos »Würde der Kreatur« auch die Studie von Gotthard M. Teutsch: Die »Würde der Kreatur«. Erläuterungen zu
einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern u. a. 1995.
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17. Jahrhundert eine »meditative Hinwendung zur Natur nicht fremd.« […] Diese Haltung
wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten wesentlich durch protestantische Theologen
wie Lauritz Smith (18. Jh.), Christian Adam Dann (19. Jh.), Albert Schweitzer und Karl
Barth (20. Jh.) […] weitergetragen, und zwar bis zu den Protagonisten des wesentlich protestantisch geführten »Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung« der 1980er Jahre und den daher inspirierten protestantischen Stichwortgebern
und gegenwärtigen Befürwortern einer »Würde der Kreatur« bzw. »Würde der Tiere«. 9
Was freilich bei Martin Luther noch problemlos zusammendacht werden konnte,
wird in der Neuzeit zunehmend zum Problem: Die im Bekenntnis zum Schöpfer
ausgesprochene Gleichzeitigkeit des Geschaffenseins des Menschen »sampt allen
Kreaturen« und deren tägliche Inanspruchnahme aus Gründen der »Notdurft und
Nahrung« für Leib und Leben des Menschen wird in dem Maße begründungsbedürftig, als mit der Neuthematisierung des Verhältnisses von Vernunft und Natur
seit der Aufklärungszeit die Folgen des instrumentellen Verhältnisses zu den Tieren
die »Würde« der menschlichen »Vernunftnatur« selbst fraglich werden lassen. In
dieser Situation ist es nach Baranzke nun auffällig, dass vor allem die lutherisch-pietistische Tradition die biblische Bonitas-Tradition vor dem Hintergrund der spezifisch lutherischen Erbsündenlehre vitalisiert, um auf diesem Wege die schöpfungstheologische Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier auch ganz praktisch
einzuschärfen. In deren Folge kommt es in der Aufklärungszeit zu ersten konzeptionellen Ansätzen einer »Ethik der Mitgeschöpflichkeit« bei dem Tübinger Pfarrer
Christian Adam Dann (1758–1837) und dem dänischen Philosophieprofessor Lauritz Smith (1754–1794), der sich mit »der Würde der Thiere, und der Absicht ihres
Daseyns hier auf Erden« auseinandersetzt. 10
Bei Smith wie 30 Jahre später bei Dann finden sich die typischen reformatorischen Elemente, die der Formulierung praktischer Tierschutzforderungen wichtige Impulse gaben. Dazu
gehören die aus einer pessimistischen Anthropologie – der Mensch als Sünder – hervorgegangene Anthropozentrik- und Herrschaftskritik, das daraus entspringende Schuld- und
Verantwortungsgefühl für die leidende Schöpfung, die sich vor allem gegenüber den im
menschlichen Einflußbereich befindenden Haus- und Versuchstieren manifestiert und die
Hinwendung zum irdischen Dasein samt den das himmlische Friedensreich partiell vorwegnehmenden Aktivitäten praktischer Nächstenliebe, in die auch die empfindungsfähigen Tiere, wieder vor allem die Nutztiere, miteingeschlossen werden. Smith argumentiert allerdings
stärker von einer Schöpfungsordnung als egalitärer Glücksordnung her und betont die natur- bzw. gottgegebenen Anspruchsrechte der individuellen Tiere, während Dann die Tiere
untertänigst eine »Bitte« an ihre »vernünftigen Beherrscher« richten läßt und die seufzende
Kratur patriarchalisch der menschlichen Fürsorge und christlichen Caritas unterstellt. 11
Diese ideengeschichtliche Einordnung ist mehr als eine historische Reminiszenz,
denn sie setzt sich bis in die aktuellen Debatten um die Neubegründung einer ethischen Mensch-Tier-Beziehung gerade auch innerhalb der evangelischen Theologie
fort. Für diese ist charakteristisch, dass sie sich in der Spannung zwischen Schöpfung und Neuschöpfung, zwischen Protologie und Eschatologie entfaltet. Je nachdem, wie dieses Verhältnis in den kirchlichen Diskussionen z. B. um Tierrechte ge9. H. Baranzke, Würde (wie Anm. 8), 223.
10. Vgl. Laurids Smith: Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Thiere und der Pflichten des Menschen gegen die Thiere, Kopenhagen 21793.
11. H. Baranzke, Würde (wie Anm. 8), 278.
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fasst wird, fällt dann auch die Antwort auf die Frage aus, in welchem Maße »das
ängstliche Harren der Kreatur« (Röm 8, 19) Gegenstand ethischer Überwindung
und zukünftiger Versöhnung sein kann. In den Mittelpunkt rückt dabei gerade in
Tierschutzfragen die offensichtliche Unvermeidbarkeit von Kompromissen. Die
Frage, ob diese als »faule« oder aber ethisch vertretbare Kompromisse angesehen
werden können, deren kontinuierliche Verbesserung einer konstruktiven Weiterbearbeitung bedarf, hängt entscheidend von der theologischen Qualifikation des
Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung ab. Insofern kann man mit Baranzke
innerhalb der reformatorischen Tradition (mindestens) zwei Entwicklungslinien
identifizieren, je nachdem, ob sie eher auf die Frage des Tierrechts oder aber des
geforderten Tierschutzes fokussieren.
Die weitere Forschung wird zeigen müssen, ob vielleicht stärker zwischen einer eher lutherisch-orthodoxen und aufklärerisch beeinflussten Tierrechtsbewegung, die naturrechtlich
oder ordnungstheologisch argumentiert, und einer neupietistischen, von einer proleptischen
Eschatologie bestimmten Tierschutzbewegung, die vor allem an Barmherzigkeit, Mitleid
und Nächstenliebe appelliert, unterschieden werden sollte. 12
Dass die moderne Tierschutzbewegung entscheidende Impulse aus Trägergruppen der protestantisch-nonkonformistisch geprägten Mittelschichten erhalten hat,
wird auch in den Arbeiten von Rainer E. Wiedenmann herausgestellt, der für England die zentrale Rolle der Quäker und anderer puritanischer Sekten herausgestellt
hat. In methodischer Anknüpfung an Max Webers Studien über den Zusammenhang
von Erlösungshoffnung und moderner protestantischer Ethik hebt Wiedenmann
den Einfluss der methodisch betriebenen Ethisierung eschatologischen Denkens
hervor. Diese hatte entscheidenden Anteil an den für die moderne Tierschutzbewegung zentralen Tendenzen einer »Subjektivierung« (Empfindsamkeit für das individuelle Tier) und »Universalisierung« (Selbstzwecklichkeit des Tieres) des Tierrechtsgedankens. Als dritten Faktor der modernen Tierschutzbewegung benennt
Wiedenmann die Tendenz zur »Mundanisierung« der Mensch-Tier-Beziehung:
Für die moderne Tierschutzsemantik ist ein immanent »diesseitiger« und in diesem Sinne
»eindeutiger« Subjektbegriff kennzeichnend. Das Tiersubjekt hat einen mundanen ontologischen Status: Ein Pferd oder ein Hund ist ein Tier dieser Welt, die Frage, ob das Tier »in
Wirklichkeit« ein göttliches oder dämonisches Wesen einer religiösen Hinterwelt verkörpert
oder nicht, spielt keine Rolle. Auch im Hinblick auf andere Aspekte der Tierschutzsemantik
(wie Legitimationsgründe, Zwecksetzungen) ist festzustellen, daß die Bedeutung religiöser
bzw. hinterweltlicher Deutungskontexte zurücktritt – obschon entsprechende Anspielungen auf heute keineswegs fehlen (z. B. spricht § 1 des deutschen Tierschutzgesetzes vom
»Mitgeschöpf« Tier). 13
Inwieweit dieser Diagnose eines Funktionsverlustes religiöser Semantik für die
Formulierung des modernen Tierschutzgedankens zuzustimmen ist, wird im Fol12. Ebda., 278 f.
13. Rainer E. Wiedenmann: Protestantische Sekten, höfische Gesellschaft und Tierschutz.
Eine vergleichende Untersuchung zu tierethischen Aspekten des Zivilisationsprozesses, in:
KZfSS 48 (1996), 35–65, 38. Vgl. auch die Diskussion des Zusammenhangs von Wertbindung
und Liebessemantik bei den tierethische Motiven im nonkonformistischen Protestantismus
in: Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität, Wiesbaden 2009, 378–400.
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genden vor allem in Auseinandersetzung mit den philosophischen Begründungen
einer modernen Tierethik zu diskutieren sein. Die Frage, ob unter den Bedingungen
des weltanschaulich-neutralen Staates das »hinterweltliche« Deutungskonzept der
»Mitgeschöpflichkeit des Tieres« auf der rechtlichen Begründungsebene heute noch
angemessen ist, hat jedenfalls sowohl die Diskussion um die Aufnahme der »Würde
der Kreatur« in die Schweizerische Bundesverfassung (SBV, Art 24novies) 14 als auch
anläßlich der Erhebung des Tierschutzes zum Staatsziel in Art 20a GG geprägt. Im
Hinblick auf die tierethische Diskussion soll jedoch zunächst geklärt werden, wie
innerhalb der evangelischen Kirchen in Deutschland die Mensch-Tier-Beziehung in
der Zuordnung von Schöpfung und Erlösung zum Thema wird und welche ethischen Konsequenzen daraus für Fragen des Tierschutzes gezogen werden.
2. Stellungnahmen zur christlichen Mensch-Tier-Beziehung
aus dem Raum der evangelischen Kirchen
Das Thema des Tierschutzes und der Tiergerechtigkeit wurde spätestens seit den
1980er Jahren von Seiten der Evangelischen Kirchen in Deutschland und den Mitgliedskirchen – oft in ökumenischer Zusammenarbeit – immer wieder behandelt.
Dabei erfolgte die Bezugnahme auf die Mensch-Tier-Beziehung im Kontext der
Verantwortung für die Schöpfung 15, den Lebensschutz 16, im Hinblick auf die Gentechnik 17 und bei Fragen der Nutztierhaltung 18. Freilich bleibt bemerkenswert, dass
bis zum Jahre 1991
ein eigenständiger, die Probleme des Mensch-Tier-Verhältnisses im Zusammenhang bearbeitender Beitrag, der dem Gewicht der Frage nach dem Verhältnis zum Tier als Mitgeschöpf
gerecht wird und vor allem die Konsequenzen aus den vorliegenden grundsätzlichen Überlegungen für die verschiedenen Aufgabenfelder des Tierschutzes entfaltet,
14. Seit dem 17. Mai 1992 findet sich in der Schweizerischen Bundesverfassung der Ausdruck »Würde der Kreatur« als neuer Rechtsbegriff. »Der Bund erlässt Vorschriften über
den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt
dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung
und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.«, lautete Artikel 24novies
Abs. 3, seit der Novellierung der SBV am 18. April 1999 nun Art. 120 Abs. 2.
15. Vgl. z. B. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des
Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1985, Ziffern 34–35, 48, 51, 56–58 und 95.
16. Vgl. Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz
des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und
der deutschen Bischofskonferenz, Trier 1989, Ziffer 4n und 6 in II, Kapitel 3 und 4 in III.
17. Vgl. die EKD-Studie Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen
Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen,
Pflanzen und Tieren, Gütersloh 1991, Ziffern I, V a–d.
18. Vgl. Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und
Ökonomie Hunger und Überfluß. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche
in Deutschland für soziale Ordnung, Gütersloh 1984, Ziffern 78, 87, 89–92, 147.
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nicht geleistet wurde. 19 Offensichtlich ist die Möglichkeit eines Konsenses auf diesem Gebiet besonders schwierig. So konstatiert der Beauftragte für agrarsoziale Fragen der EKD, Clemens Dirscherl,
dass die ethische Diskussion um Tierschutz bezogen auf die Landwirtschaft von einer tiefen
Diskrepanz geprägt ist. Auf der einen Seite steht das zunehmende Wissen über Empfindungen, Bedürfnisse und Sozialverhalten von Tieren, gleichzeitig zeigt sich eine zunehmende
gesellschaftliche Entfremdung von Tieren innerhalb der modernen Nutztierhaltung, weil
innerhalb der urbanisierten Zivilisation im Alltag vieler Menschen die Begegnung mit Tieren
auf Haustiere in sehr emotionaler Zuwendung festzustellen ist bzw. Tiere als Unterhaltungsmedium z. B. in Zirkus, Wildparks, Tiergehegen oder Zoos erlebt werden. Zugleich werden
im Rahmen des alltäglichen Verbraucherverhaltens, insbesondere bei der Ernährung, Produkte gekauft und konsumiert, welche aus der Nutztierhaltung entstanden sind: Milchund Molkereierzeugnisse, Eier, Fleisch- und Wurstwaren in ihrem Rohzustand bzw. in vielfältigen Verarbeitungsketten. Diese Diskrepanz eines gespaltenen gesellschaftlichen Bewusstseins bietet gerade für die Kirchen Anlass zu einem ethischen Diskurs und im Rahmen
einer sozialethischen Bewertung auch nach gesellschaftlich verbindlichen Konfliktlösungen. 20
2.1 »Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf« (1991)
Wie versucht nun der Wissenschaftliche Beirat des Beauftragten für Umweltfragen
des Rates der EKD in seinem 1991 veröffentlichten »Diskussionsbeitrag« zum Thema »Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf« die »tiefe Diskrepanz« in theologischer und ethischer Sicht zu würdigen? Bereits das von Hartmut Löwe, dem damaligen Präsidenten des Kirchenamts der EKD, formulierte
Vorwort macht mit überraschend klaren Worten deutlich, dass innerhalb des Beirats, aber auch des Rates der EKD sehr kontrovers diskutiert wurde. Dabei fällt auf,
dass die Genese des Konflikts unter dem Topos »Fremdheit des Menschen in der
technischen Zivilisation« in einem doppelten Realitätsverlust verortet wird:
Die Fremdheit äußert sich auf der einen Seite in der Einschätzung der Tiere als bloßer Sachen, als Gebrauchs- und Verbrauchsgüter, ohne Respekt vor ihrem Eigenwert, auf der anderen als Verklärung des Verhältnisses von Menschen und Tieren, die den eschatologischen
Frieden schon in der Schöpfung realisieren möchte und für die Widersprüche in der von uns
vorgefundenen Welt blind ist. 21
Hartmut Löwe benennt die Findung des richtigen Maßes angesichts dieses Widerspruchs zwischen Verdinglichung und Verherrlichung des Mensch-Tier-Verhältnisses als das vorrangige Ziel. Damit positioniert sich die vermittelnde Linie jedoch
in auffallender Weise außerhalb dieses Widerspruchs – und damit in Absetzung von
einer eher ›schwärmerischen‹ Friedensethik. Weil innerhalb des Wissenschaftlichen
Beirats aber auch diese Position einer radikalen Friedensethik mit den Tieren bezo19. Zur Verantwortung des Menschen für das Tier. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der EKD (EKD-Texte 41),
Hannover 1991, Ziffern 4 und 6.
20. Clemens Dirscherl: Landwirtschaft. Ein Thema der Kirche (KJ 2006/2), Gütersloh
2011, 78.
21. Zur Verantwortung des Menschen (wie Anm. 19), 3.
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gen wird, ist es notwendig, die angestrebte Vermittlungsposition zugleich mit dem
Hinweis auszustatten, dass die »notwendigen Veränderungen nicht durch die Einsprüche einer schlechten Realität zu blockieren« sind (Vorwort). Die damit angezeigte Aufgabe der Formulierung einer ethisch verantwortbaren Position in Fragen
der Tierethik ist in der Perspektive des Vorworts allerdings mit der vorliegenden
Stellungnahme noch längst nicht realisiert, sondern zukünftigen Diskussionen vorbehalten.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat aufgrund der hier veröffentlichten
Ausarbeitung selber engagiert und kontrovers diskutiert. […] Vom Fortgang der Diskussion
erhofft er zu unser aller Nutzen mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt
zwischen Mensch und Tier vom biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der
radikalen Position einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, anders gesagt: in welcher
Weise ein Schöpfungspazifismus eschatologischer Hoffnung bleiben muß und wieweit er
schon jetzt das Handeln leiten soll.
Angesichts des großen Dissenses im Wissenschaftlichen Beirat hinsichtlich der
Reichweite eines solchen »Schöpfungspazifismus« in seiner Anwendung auf das
Verhältnis von Mensch und Tier, entschloss man sich bei der Abfassung der Stellungnahme, die Differenzen zwar ausdrücklich zu machen, dabei aber die »Generallinie«, also den Konsens zumindest bei der Mehrheit der Teilnehmer, nachdrücklich
herauszustellen. Blickt man auf die öffentliche Rezeption der Stellungnahme, dann
muss man mit Hermann Barth einräumen, dass dieses Anliegen »offenbar nur unzureichend gelungen ist.« In seinem Nachwort zur bald erforderlichen zweiten
Auflage des »Diskussionsbeitrags« im August 1992 zog Barth eine kurze Zwischenbilanz des angestoßenen Diskussionsprozesses, für den »nicht selten ein leidenschaftlicher, erregter Ton« kennzeichnend ist. 22
Der Diskussionsbeitrag selbst offenbart einen tiefgehenden Dissens unter seinen Autoren.
Er betrifft die Reichweite der Gewaltminderung gegenüber den Tieren, wird im II. Teil (Ziffer 17–19) prinzipiell verhandelt und im IV. Teil (Ziffer 20–48) mehrfach aufgegriffen. […]
In diesem Dialog zeigt sich bereits innerhalb des Beirats, daß der Dissens jedenfalls partiell
keineswegs unüberbrückbar ist und durch geduldiges Aufeinanderhören der Konsens innerhalb des Dissenses verbreitert werden kann (vgl. vor allem Ziffer 25ff, 34ff und 40f). Freilich
hat sich in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag auch gezeigt, daß dieses differenzierte
Vorgehen bei den Lesern Unklarheit und Verwirrung hervorrufen kann. Der Text, genau
gelesen, vertritt als Generallinie unmißverständlich die Position der Gewaltminderung, die
darauf aus ist, die Gewalt gegen Tier zu begrenzen und einzudämmen. Er gibt aber Raum
zur Selbstdarstellung auch der abweichenden Position des Gewaltverzichts, in der es darum
geht, die Gewalt gegen Tiere fortschreitend zu überwinden und aufzuheben, und er läßt –
ganz im Sinne seines Selbstverständnisses als eines für neue Einsichten offenen Diskussionsbeitrags – jedenfalls an einer Stelle (Ziffer 40) offen, »ob die radikale Position nicht eines
Tages die herrschende sein wird.« Mehrfach sind Spitzensätze der abweichenden Position
aus Ziffer 18 zum Gegenstand kritischer Anfragen an den Diskussionsbeitrag insgesamt gemacht worden. Daran wird erkennbar, daß es offenbar nur unzureichend gelungen ist, Generallinie und abweichende Position in ihrem Verhältnis verständlich zu machen. 23
22. Hermann Barth: Nachwort, http://www.ekd.de/EKD-Texte/tier_1991_nachwort.
html (letzter Aufruf 3. Mai 2012).
23. Ebda.
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Wie lassen sich nun aber die Unterschiede zwischen der »Generallinie« und der
»radikalen Position« im Beirat entlang der Aussagen in der Stellungnahme näher
beschreiben? Der Text beginnt zunächst in seiner »Einleitung« mit einer Zurückweisung der These, wonach der biblische »Herrschaftsauftrag« zum Hauptverursacher eines neuzeitlichen Naturverständnisses geführt habe, das »die Natur bloß
noch als Material zur Optimierung des menschlichen Nutzens« verstehe (Ziffer 2).
Hervorgehoben wird, dass eine Vielzahl von Traditionen für eine derartige Verkürzung im Umgang mit der Natur verantwortlich sind. In historischer Perspektive
zeige sich auf dem Boden des Christentums ein Umdenken »nicht erst in den letzten
20 Jahren«, was am Beispiel des dänischen Bischofs Hans Lassen Martensen (1808–
1884) und seiner Forderung, der Natur mit Humanität zu begegnen, sowie an der
Nennung des Züricher Theologen Fritz Blanke (1900–1967) festgemacht wird, der
das »Wort von der Mitgeschöpflichkeit« bereits 1959 – »lange bevor ›Umweltschutz‹ zum gängigen Begriff wurde« – geprägt habe (Ziffer 2).
Die »Generallinie« findet sich sodann im zweiten Kapitel unter der Überschrift
»Grundlegende Einsichten« entfaltet. Ausgehend vom geschöpflichen Sein von
Mensch und Tier, das beide »in Abhängigkeit und Angewiesenheit (Ps 104, 27–
30)« zusammenschließt (Ziffer 5), wird hervorgehoben, dass »die Mitgeschöpfe der
Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen eigenen Sinn und Wert« haben
(Ziffer 7). Eine »unveräußerliche Würde« sei aber allein dem Menschen als Gottes
Ebenbild vorbehalten, was seine Sonderstellung in der Natur und die ihm aufgetragene »Herrschaft über die Tiere und über die Erde insgesamt (1. Mose 1, 27 f.; Ps 8,
7–9)« rechtfertigte (Ziffer 8). Sodann hebt der Text die Notwendigkeit »zu einer
nüchternen, illusionslosen Sicht der kreatürlichen Welt« hervor, so dass keine Rede
davon sein könne, dass die Tötung tierischen Lebens zu Zwecken der Ernährung
oder zur Abwehr von Gefahren »in sich bereits Schuld und Belastung des Gewissens« sei, vielmehr als ein »Zeichen der – in der Sprache der Theologie – ›gefallenen‹
Welt« verstanden werden müsse (Ziffer 10). Freilich weise bereits die biblische Thematisierung der Mensch-Tier-Beziehung auf einen Umgang mit dem nichtmenschlichen Leben in Ehrfurcht hin, was unter Hinweis auf das Verbot des Blutgenusses
(1. Mose 9, 4) sowie auf Sprüche 12, 10 (»Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs;
aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig«) konkretisiert wird. Aber auch im
Neuen Testament wird die Stellungnahme fündig, wenn sie empfiehlt, die »Werke
des lebendigmachenden Geistes« nach Gal 5, 22 f.; Eph 5, 9 auf den Umgang mit
allem Lebendigen auszuweiten (Ziffer 11–12). Der Sache nach kommt auch die
Kantische Auslegung des Mensch-Tier-Verhältnisses zu ihrem Recht, wenn darauf
hingewiesen wird, dass »der Umgang von Menschen mit Tieren am Maßstab der
Humanität zu messen« sei, weil dabei die »Menschlichkeit des Menschen« auf dem
Spiel steht. »Sie bewährt sich zum Beispiel darin, daß er die Kräfte der Vernunft, die
ihm gegeben sind, einsetzt und den Empfindungen des Mitgefühls Raum gibt.«
(Ziffer 13) Schließlich wird unter Verweis auf Ps 24, 1 hervorgehoben, dass nach
biblisch-theologischer Sicht die Anwendung des Eigentumsbegriffs auf Lebewesen
dem »Respekt vor Gottes Rechtsvorbehalt auf seine Erde« unterzuordnen sei, was
in Ziffer 15 mit dem instruktiven Hinweis verbunden wird, dass
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noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ein Eigentum an Tieren nur im Außenverhältnis gegenüber den Bestreitern dieses Rechts, nicht aber im Innenverhältnis zu den
Tieren selbst kennt.
Im Hinblick auf die oben als besonders kontrovers benannte Einordnung des
Mensch-Tier-Verhältnisses »im Licht der Erwartung einer anderen, neuen Welt
und des Friedens in und mit der Schöpfung« wird konstatiert, dass »die kommende
neue Welt und darum auch der Frieden mit der Natur für den christlichen Glauben
das Werk Gottes« ist, gleichwohl aber »die neue Schöpfung auch im Verhältnis zu
den Tieren durch ein entsprechendes Handeln der Menschen zeichenhaft sichtbar«
werden könne (Ziffer 16).
»Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt?« ist das Thema des dritten Kapitels der Stellungnahme, in dem vor allem die Position einer »radikalen Ethik der
Mitgeschöpflichkeit« zu Wort kommt, die »Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und einzudämmen« anstrebt, »sondern in weiten Bereichen fortschreitend
zu überwinden und aufzuheben« fordert (Ziffer 17). Die »eschatologische Hoffnung« des Neuen Testaments verleihe »dem Denken und Handeln zugunsten der
Mitgeschöpfe eine starke Dynamik« und die daraus folgende »zugespitzte Ethik der
Mensch-Tier-Beziehung ist dabei nicht utopischer und unerreichbarer als die zwischenmenschliche Ethik der Bergpredigt.« Die daraus resultierende »Ehrfurcht vor
dem Leben« wird diesbezüglich nicht nur unter Hinweis auf Albert Schweitzer,
sondern auch auf den Kreuzestod Jesu hin festgestellt, dessen Sterben »als Erlösung
für die ganze, auch die außermenschliche Schöpfung (Kol 1, 20)« verstanden werden
müsse (Ziffer 18).
Eine Nutzung der Tiere ist nur zulässig, solange sie weder mit Schmerzen noch mit Leiden
zugunsten erhöhter Produktionsleistung für den Menschen verbunden ist und solange die
geschöpfliche Würde der Tiere gewahrt bleibt. Auch das Leben der Tiere ist grundsätzlich
geschützt. Die Tötung von Tieren ist lediglich als Akt der Barmherzigkeit geboten, um ein
nicht zu behebendes Leiden zu beenden, oder sie muß als Folge einer Notwehrhandlung und
in vergleichbaren Extremsituationen hingenommen werden. Die Ausübung von Gewalt ist
so lange mit Schuld verbunden, wie die handelnden Menschen nicht über das bisherige Maß
der Gewaltminderung hinausgehen und die erforderlichen Verzichtsleistungen auf sich nehmen. 24
Der Sache folgt aus dieser Position einer »radikalen Ethik« eine Ablehnung jeglichen tierischen Fleischkonsums vom Standpunkt der neutestamentlichen Sicht auf
das Tier als Mitgeschöpf. Denn als »Notwehrhandlung« ist die dem Verzehr notwendige Voraussetzung der Tötung eines Tieres nur in Ausnahmesituationen zu
rechtfertigen. Begründet wird diese Position durch ihre Vertreter auch damit, dass
die Zuschreibung einer »Würde« dem Menschen eben nicht exklusiv zukommt:
Aber der Begriff der Würde ist nicht auf die Menschen zu begrenzen; die Tiere haben an der
allgemeinen geschöpflichen Würde teil.
In ausdrücklicher Absetzung von der »Generallinie« innerhalb des Beirats wird nun
festgestellt, dass die Tötung tierischen Lebens zu Zwecken der Ernährung
24. Zur Verantwortung des Menschen (wie Anm. 19), Ziffer 18, 13.
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solange mit einem Widerspruch belastet [ist], wie der Anspruch auf das Leben der Tiere
nicht kritischer als bisher überprüft wird. (Ziffer 18)
Abschließend konstatieren die Vertreter einer »radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit« einen unüberbrückbaren Dissens innerhalb des Wissenschaftlichen Beirats:
Die Auseinandersetzung über die Reichweite der Gewaltminderung hat aber auch eine
grundsätzliche [nicht nur quantitative, die Verf.] Komponente: Dabei geht um die Ermächtigung der Menschen zur Gewalt gegenüber den Tieren, wie sie sie in 1. Mose 9, 2 ausgesprochen ist. Diese Ermächtigung wird von der radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit als letztlich unvereinbar mit dem neutestamentlichen Liebesgebot und damit als ein zu
überwindender Zustand angesehen. In Teil II wird sie dagegen ausdrücklich als ein bleibendes Merkmal der kreatürlichen Welt festgehalten, um eine rigoristische Sicht und die damit
verbundene Überforderung zu vermeiden. 25
Vergleicht man nun die Ausführungen in Teil II und III der Stellungnahme, dann
erhält man den Eindruck, dass der Graben innerhalb der beteiligten Autorenschaft
größer ist, als das Nachwort von Barth dies vermuten lässt. Während die rigoristische Haltung daran festhält, dass das Töten von Tieren – auch wenn sie »innerhalb
der Klammer von liebender Sorge und hegendem Bewahren« verstanden wird (Ziffer 18) – letztendlich dem christlichen Liebesgebot widerspricht, heben die »grundlegenden Einsichten« mit ihrem Insistieren auf den Lebensbedingungen einer »gefallenen Welt« die Vereinbarkeit einer artgerechten Nutzung von Tieren und ihrem
Verzehr mit der Achtung eines eigenen Werts der Tiere hervor; ausdrücklich grenzen sie sich dabei von der Rede einer »Würde des Tieres« ab. Wie ein vermittelnder
Dialog über diese fundamentalen Differenzen aussehen könnte, bleibt insofern offen. Dieser wird auch dadurch erschwert, dass im vierten Kapitel (»Mitgeschöpfliches Verhalten konkret«) vor allem die kritischen Punkte im Umgang mit konkreten Fragen u. a. der Schlachtung und artgerechten Nutztierhaltung oder der
Züchtung, Jagd und bei Tierversuchen hervorgehoben werden. Hier wird u. a. nicht
nur der exzessive Fleischkonsum (Ziffer 26) oder die Inkaufnahme haltungsbedingter Schmerzen in der Nutztierhaltung kritisiert (Ziffer 31), sondern auch die rituelle
Schlachtung ohne Betäubung (Ziffer 28), Tierversuche (kontrovers, Ziffer 37) oder
die Pelzgewinnung als ethisch nicht zu rechtfertiger Luxus abgelehnt (Ziffer 40).
Nur sehr eingeschränkt wird dagegen auf diejenigen Verbesserungen im Umgang
mit Tieren eingegangen, die z. B. Landwirte oder Jäger in den zurückliegenden Jahren auf den Weg gebracht haben.
Die Stellungnahme formuliert den Ort der Verantwortungsübernahme für die
geforderte Praxis durchaus uneinheitlich. Während in Ziffer 23 hervorgehoben
wird, dass für »das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes […] im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befassten Berufe Verantwortung [tragen], sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft«, hebt Kapitel V (»Aufgaben von Kirche und Politik«) an erster Stelle hervor,
dass
Verbesserungen beim Schutz der Tiere […] im wesentlichen in die konkrete Verantwortung
derer gestellt [sind], die mit Tieren umgehen und sie und ihre Produkte nutzen. Diese per25. Ebda., Ziffer 19, 14.
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sönliche Verantwortung kann nicht an die strukturelle oder institutionelle Ebene abgegeben
werden. (Ziffer 49)
Angesichts dieser Inkonsistenz ist es nachvollziehbar, wenn Hermann Barth in seinem Nachwort auf die zahlreichen Einsprüche von solchen Personen verweist, die
beruflich mit Fragen des Tierumgangs zu tun haben, wie z. B. Landwirte, Jäger und
Angler:
Es ist […] verständlich wie berechtigt, wenn dieser Personenkreis einen Diskussionsbeitrag
der Kirche, »ihrer« Kirche, daraufhin abklopft, ob er seiner Lebenssituation, seinen Bemühungen, seinen Argumenten gerecht wird.
Barth konzediert hier in seinem Nachwort zur zweiten Auflage 1992 »Defizite«, die
durch eine mangelnde Einbeziehung relevanter Betroffener im Vorfeld zu erklären
seien. Aber er muss auch einräumen, dass die mangelnde Vorbereitungszeit im Vorfeld des Diskussionsbeitrags dazu geführt habe, dass im Text
einige Fehler und Ungenauigkeiten [enthalten sind], […] die bei einer Erörterung des Entwurfs mit Experten und Praktikern unschwer zu eliminieren gewesen wären. 26
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nicht nur aus Sicht zahlreicher
Gruppen, die berufsmäßig mit Tieren umgehen, der Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Rates erhebliche Widerstände – natürlich neben ebenfalls viel Zustimmung engagierter Tierschützer – provozierte, sondern sich auch innerhalb der Autorenschaft der Stellungnahme ein erhebliches Maße an Dissens bei der
theologischen und ethischen Einordnung der Mensch-Tier-Beziehung offenbarte.
Die Möglichkeit zur Findung einer gemeinsamen Position in der Frage der Verminderung von Gewalt an Tieren erschien nicht zuletzt deshalb schwierig, weil die von
allen Beteiligten intendierte Freisetzung einer »inneren Dynamik« bei der Gewaltminderung in Gestalt der Position einer »radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit«
vor allem auf eine gesinnungsethische Thematisierung des Tierschutzes hinsteuert,
ohne dass die Ebene der Sachfragen z. B. bei der Tierhaltung und Tiertötung ausreichend zur Sprache kommen könnte.
Die Rede von einem »Schöpfungspazifismus« hat aber nicht nur eine eschatologische, sondern auch eine ekklesiologische Dimension. Hier stellt sich die Frage:
Mit welchen Zielgruppen wollte der Wissenschaftliche Beirat des Beauftragten für
Umweltfragen des Rates der EKD eigentlich die Diskussion suchen? Nur mit den
engagierten Tierschützern, deren Problemwahrnehmung selbstverständlich eine öffentliche Verstärkung und Unterstützung verdienen? Oder auch mit den Akteuren,
die berufsmäßig (oder als Hobby) mit Nutztieren umgehen und die die Aspekte der
Mensch-Tier-Beziehung stärker im Hinblick auf die rechtlichen und ökonomischen
Bedingungen zu berücksichtigen haben? Freilich hätte der Dialog mit letzteren die
ethische Zuspitzung hin auf Gewissensfragen zugunsten einer Fokussierung auf
Problembeschreibungen auf der Sachebene bedeutet, womit sich der »Schöpfungspazifismus« anwendungsorientiert eher in der Form von Kompromissen bei der
Formulierung einer gemeinsamen Position niedergeschlagen hätte, und zwar einfach deshalb, weil die unterschiedlichen Perspektiven auf die Mensch-Tier-Beziehung am Ort der Praxis eine ethisch legitime Anerkennung auf andere Weise gar
26. H. Barth, Nachwort (wie Anm. 22).
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nicht möglich machen. Dass die Figur eines Kompromisses in konkreten Anwendungsfragen für untauglich gehalten wird, hebt der Beirat allerdings mit folgender
Feststellung deutlich heraus:
Es darf nicht sein, daß die Grundsätze und Ziele auf ein Podest von Denkschriften oder
feiertäglichen Erklärungen gestellt werden, auf dem Boden des alltäglichen Handelns aber
ein kompromißlerisches Sich-Arrangieren mit den gegenwärtigen Verhältnissen Platz greift.
Minimierung von Gewalt ist als Leitlinie nur dann annehmbar, wenn dabei nicht untragbare
Zustände in bedauerliche Notwendigkeiten umformuliert und Halbwahrheiten, mit denen
man bequem leben kann, schon als Lösungen ausgegeben werden. Es ist nicht Sache der
Kirche, die christliche Ethik dahingehend zu prüfen und anzupassen, wie sie mit der
menschlichen Schwäche und Bequemlichkeit verträglich ist. 27
2.2 Auf der Suche nach einer Versachlichung der Debatte:
»Mitgeschöpflichkeit« als Thema von Initiativen zur Mensch-Tier-Beziehung
in den Landeskirchen
Das Diskussionspapier des Wissenschaftlichen Beirats beim Umweltbeauftragten
der EKD aus dem Jahre 1991 machte unübersehbar deutlich, dass die nicht nur
ethischen, sondern auch theologischen Differenzen innerhalb des Protestantismus
beim Umgang mit Nutztieren erheblich waren. Zugleich war aufgrund der sich
anschließenden verhementen Kritik insbesondere von Vertretern der Landwirtschaft, aber auch von Jägern oder Forschern, die auf Tierversuche nicht verzichten
wollten, offenkundig, dass ein erheblicher Gesprächsbedarf bestand. Hintergrund
für eine stärker anwendungsnahe Diskussion zu Fragen des Tierschutzes war dabei
vor allem die Novellierung des Tierschutzgesetzes im Jahre 1987. In dessen Zweckbestimmung wurde nun ausdrücklich der Begriff des Tieres als »Mitgeschöpf« aufgenommen: »Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für
das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand
darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.« (§ 1 TSchG) In praktischer Hinsicht von noch größerer Bedeutung war aber
die in § 15 bestimmte Einrichtung von »Kommissionen zur Unterstützung der zuständigen Behörden bei der Entscheidung über die Genehmigung von Tierversuchen.«
Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder muss die für die Beurteilung von Tierversuchen
erforderlichen Fachkenntnisse der Veterinärmedizin, der Medizin oder einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung haben. In die Kommissionen sind auch Mitglieder zu berufen,
die aus Vorschlagslisten der Tierschutzorganisationen ausgewählt worden sind und auf
Grund ihrer Erfahrungen zur Beurteilung von Tierschutzfragen geeignet sind; die Zahl dieser Mitglieder muss ein Drittel der Kommissionsmitglieder betragen. Die zuständige Behörde unterrichtet unverzüglich die Kommission über Anträge auf Genehmigung von Versuchsvorhaben und gibt ihr Gelegenheit, in angemessener Frist Stellung zu nehmen. (§ 15,1
TSchG)
Damit war von Staats wegen eine Institutionalisierung des nicht nur veterinärmedizinischen, sondern auch tierethischen Diskurses vorgesehen, die dazu führte,
27. Zur Verantwortung des Menschen (wie Anm. 19), Ziffern 21, 15.
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dass sich die Grundsatzfragen der ethischen Bewertung insbesondere bei Tierversuchen nun im Modus einer Güterabwägung zu bewähren hatten, bei der z. B. nach
der Zumutbarkeit von menschlichem und tierischem Leid zu fragen war.
In den evangelischen Landeskirchen gab es bereits seit den 1980er Jahren zahlreiche Initativen, die sich dem Thema des Tierschutzes engagiert annahmen. Mit der
nun einsetzenden Verrechtlichung von Fragen des Tierschutzes, die mit der Aufnahme des Tierschutzes zum Staatsziel in Art. 20a GG im Jahre 2002 einen vorläufigen Höhepunkt fand, stieg der ethische Beratungsbedarf sprunghaft an. Im
Folgenden werden vier Initiativen exemplarisch skizziert, die die intensive Beschäftigung mit Fragen der Mensch-Tier-Beziehung auf der Ebene der Landeskirchen
dokumentieren:
2.2.1 Evangelische Akademie Bad Boll
Auf dem Höhepunkt der sehr emotional und polarisierend geführten sowohl öffentlichen wie innerkirchlichen Debatten um die Tierrechte und Tierschutz griffen
vor allem die Evangelischen Akademien in Deutschland das Thema auf. Hintergrund der Entstehung der regelmäßigen Tagungen zum Thema »Tierschutz« an der
Evangelischen Akademie Bad Boll waren die massiven Konflikte zwischen Tierversuchsgegnern und Wissenschaftlern in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in den 1980er Jahren. Die Initiatoren wollten, nachdem Planungen zu vergleichbaren Veranstaltungen in Tutzing, Loccum und Hofgeismar am Widerstand
ökologischer Tierschützer gescheitert waren, das Thema auf einer qualifizierten
Grundlage diskutieren. Gotthard M. Teutsch, Dozent an der Hochschule Karlsruhe
und zentraler Protagonist eines wissenschaftsbasierten Tierschutzes 28, entwickelte
1987 zusammen mit dem damaligen Studienleiter für Umwelt und Recht, Martin
Pfeiffer, das Konzept für eine Pioniertagung, die vom 2. bis 6. März 1988 in der
Evangelischen Akademie Bad Boll unter der Leitung von Martin Pfeiffer und Dr.
med. Jürgen Mohr stattfand. Unter der Themenstellung »Gerechtigkeit für Mensch
und Tier. Tierversuche auf dem Prüfstand ethischer Kriterien« formulierten die Veranstalter in ihrem Einladungsprospekt folgendes Anliegen:
Entsprechende Orientierungshilfen, die das gesteckte Ziel im Auge behalten, aber auch an
der Wirklichkeit nicht vorbeigehen, möchten wir mit dieser Tagung anbieten und Gelegenheit zu einem interdisziplinären Erfahrungs- und Meinungsaustausch über die aktuellen
Fragen der Tierversuchspraxis und die darauf bezogene Arbeit der Kommissionen nach
§ 15 TierSchG geben. 29
Von Beginn an war den Initiatoren dabei der Austausch sowohl mit Vertretern
aus der Tierschutzbewegung als auch mit Wissenschaftlern ein Anliegen. So wurde
die erste Tagung in Zusammenarbeit mit der Landestierärztekammer Baden-Württemberg durchgeführt und diese Tradition der Kooperation mit tierärztlichen Be28. Vgl.: Gotthard M. Teutsch: Lexikon des Tierschutzes, Göttingen 1987; ders.: Tierschutz: Texte zur Ethik der Beziehung zwischen Mensch und Tier (EZW-Arbeitstexte, 27),
Stuttgart 1988.
29. Protokolldienst 11/88 der Evangelischen Akademie Bad Boll, Anlage: Tagungsprogramm.
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rufsverbänden und Tierschutzorganisationen wurde auch in den folgenden Jahren
beibehalten. Typisch dabei war die Betonung einer intendierten »Sachlichkeit« der
Auseinandersetzung als Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog. Auf der ersten Tagung wurde von Pfeiffer auch ein Fernziel formuliert:
Dann mag es vielleicht sogar gelingen, weitgehend gemeinsam getragene Denkanstöße und
Empfehlungen für die verantwortungsschwere Arbeit derer zu formulieren, die in den Kommissionen darum zu ringen haben, welche Tierversuchsanträge warum ethisch verantwortbar sind oder eben nicht. 30
Ab 1994 stieg Dr. Helmut Geiger in die Tagungsleitung mit ein und führte zunächst noch zusammen mit Martin Pfeiffer die Tierschutztagungen in Bad Boll weiter. Geiger war Pfarrer und Studienleiter im Referat Politik und Recht der Evangelischen Akademie Bad Boll. Die Themen, die zunächst noch eng an den
Ausgangspunkt der Tierversuchs-Kontroverse geknüpft waren, weiteten sich im
Verlauf der 1990er Jahre aus, wobei das Grundanliegen, die »Gerechtigkeit für
Mensch und Tier« zu verwirklichen, erhalten blieb. Vom 9. bis 11. März 2012 lud
die Akademie Bad Boll schließlich zur 20. Jubiläumstagung mit Fachleuten aus Veterinärmedizin, Rechtswissenschaften, Biologie, Philosophie und Theologie ein, um
eine Bestandsaufnahme im Tierschutz vornehmen und einen Rückblick auf die vergangenen 24 Jahre seit der ersten Bad Boller Tierschutztagungen vorzunehmen. Die
intensiven Netzwerke, die dabei aufgebaut werden konnten, macht schon die Liste
der Kooperationspartner dieser Veranstaltung deutlich: Bundesverband der beamteten Tierärzte (BbT), Bundesverband gegen Missbrauch der Tiere e. V., Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt), Deutscher Tierschutzbund e. V. (DTSchB),
Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft (DVG), Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS), Internationale Gesellschaft für Nutztierhaltung (IGN) sowie
Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e. V. (TVT).
2.2.2 Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche
Auch in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche beschäftigte man sich
seit den 1990er Jahren intensiv mit Fragen des Tierschutzes, wobei hier insbesondere der Zusammenhang mit der Landwirtschaft zum Thema wurde. Im Jahre 1998
veröffentlichte die Kirchenleitung eine Stellungnahme zum Welttierschutztag, in
der sie unter dem Titel »Für ein Ethos der Mitgeschöpflichkeit« für die »Achtung
vor der Würde von Tieren in ihrer Eigenart« eintrat. Darin forderte sie gerechte
Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft und wollte die Landwirte unterstützen, die sich um artgerechte Tierhaltung und um Alternativen zur Massenproduktion bemühen. Auffällig ist, dass im Vorwort von Bischof Karl Ludwig Kohlwaage als »entscheidender Schlüssel für das Ethos der Mitgeschöpflichkeit« das
Konsumverhalten herausgehoben wird, das auf Seiten der Landwirte zu einem »Rationalisierungsdruck führe, der durch »eine unbedachte Verbrauchermentalität [verursacht ist], die nur an preiswerter Ware interessiert ist und sich um Gewalt gegen
Tiere nicht kümmert«. Bei der Erörterung der sieben Problemfelder und ihrer Miss30. Ebda., 2.
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stände (Artenschutz, Massentierhaltung, Tiertransporte, Tierversuche, Züchtung &
gentechnische Eingriffe, Jagd, Mißbrauch von Tieren für Luxus und Vergnügen)
wendete sich die Stellungnahme aber in erster Linie an Personen in Landwirtschaft
und Forschung.
Die öffentlichen Reaktionen auf das »Wort der Kirchenleitung« waren ähnlich
vehement wie diejenigen, die die Veröffentlichung des Diskussionsbeitrags des Wissenschaftlichen Beirats des EKD-Umweltbeauftragten 1991 begleitet hatten. Zahlreiche Mitglieder – vor allem ältere Landwirte – traten aus der Kirche aus und es
begann die Phase einer sehr emotional geführten Diskussion mit vielen Verwerfungen nicht nur innerhalb der Kirchen sondern auch mit den Landwirtschaftsverbänden. Die Kirchenleitung sah sich zu einer Reaktion herausgefordert und berief eine
Konsultationsgruppe aus Ehren- und Hauptamtlichen ein, die über drei Jahre lang
an der Erarbeitung einer erneuten Stellungnahme der Kirchenleitung arbeiteten, die
vom Fachreferenten für Kirche im ländlichen Raum des KDA, Ulrich Ketelhodt,
koordiniert wurde. Im Jahr 2005 erschien diese unter dem Titel »Zum verantwortlichen Umgang mit Tieren: Auf dem Weg zu einem Ethos der Mitgeschöpflichkeit«. 31 Im Vorwort des amtierenden Bischofs Dr. Hans Christian Knuth lassen sich
die Spuren der heftigen Auseinandersetzung erahnen, denen die Kirchenleitung mit
dem Leitwort »Kommunikation statt Eskalation« begegnen will.
Zum einen wird mit dem Papier ein wichtiger theologischer Diskurs um die Bedeutung der
Beziehung zwischen Mensch und Tier in unserem Glauben fortgesetzt. Zum anderen möchte das vorliegende Papier das Streben der Christinnen und Christen verdeutlichen, unermüdlich und in jeder Hinsicht dem Leben Raum zu geben, auch in der Beziehung zu den
Tieren. Daran vor allem möchten wir uns als Christinnen und Christen orientieren, ohne die
ökonomischen Sachzwänge auszublenden. Aber auch die Wirtschaft ist für den Menschen,
für das Leben – und für die Tiere – da, selbst wenn wir oft genug die Umkehrung erleben.
Das Wissen um Vergebung für unsere Unzulänglichkeit ist es, das uns hilft, die Situation, wie
sie ist, anzunehmen und die Spannung zwischen dem tiergerecht Wünschenswerten und
dem ökonomisch derzeit Möglichen zu ertragen. Erst dieses Wissen um Vergebung gibt die
Kraft, für die Verringerung dieser Spannung in der Praxis der Tierhaltung einzutreten. Diese
Haltung ermöglicht eine fruchtbare Wendung dieses Konfliktes – aber diese Haltung muss
für andere erkennbar sein. Sonst sind gegenseitige Abwertung, Misstrauen, Verachtung und
die dauerhafte Festschreibung des Konfliktes die unausweichlichen Folgen. Tierschützer, die
Landwirten jedes ethische Abwägen absprechen, disqualifizieren sich selbst – ebenso Landwirte, die behaupten, den Tieren ginge es gut, solange sie die vom Menschen erwünschte
Leistung erfüllen. 32
Die »Spannung ertragen« und als »Haltung erkennbar machen« – unverkennbar
bemüht sich diese Stellungnahme um eine Befriedung des öffentlichen Diskurses,
was auch schon dadurch erkennbar wird, dass Reaktionen unterschiedlicher Verbände (zum Teil mit deutlicher Kritik an dem Papier) im Anhang der Stellungnahme
mitabgedruckt worden sind. Programmatisch beginnt das Papier mit einer »Landwirtschaftlichen Einordnung« (S. 11 f.), was deutlich macht, dass man den methodischen Ausgang tierethischer Überlegungen beim »Ethos« der Landwirtschaft
31. Nordelbisches Kirchenamt (Hg.): Zum verantwortlichen Umgang mit Tieren. Auf
dem Weg zu einem Ethos der Mitgeschöpflichkeit, Kiel 2005.
32. Ebda., 7 f.
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ernst meint. 33 Darin wird sowohl auf das ökonomische und emotionale Dilemma
eingegangen, als auch die zentrale Verantwortung der Gesellschaft für die Produktionsbedingungen von Nahrungsmitteln hervorgehoben. Kennzeichnend für den
ethoszentrierten Ansatz der Stellungnahme ist, dass sie sich nur knapp bei grundsätzlichen Fragen zum Mensch-Tier-Verhältnis aufhält (S. 13) und die theologische
Positionierung vor allem entlang zentraler Bibelstellen vornimmt (S. 14–25), wobei
sie inhaltlich weitgehend der »Generallinie« im EKD-Diskussionspapier von 1991
folgt. Unter dem Stichwort »Tiergerechtigkeit und landwirtschaftliche Nutztierhaltung« (S. 26–28) geht das Papier auf die eigentlichen anwendungsethische Fragestellung ein, die sie im Ausgang von den »Bedürfnissen« von Tieren entwickelt.
Folgende vier Kriterien können im Verbund eine gute Gesundheit [des Tieres] anzeigen: (1)
rege Anteilnahme an der Umgebung, (2) ungestörtes soziales Verhalten gegenüber Artgenossen, (3) gute Fortpflanzungsfähigkeit und (4) Leistungsbereitschaft. Es geht also bei der
Tierhaltung immer um eine Abwägung, um die Verträglichkeit des künstlichen Haltungssystems für die Tiere. 34
Der Großteil der Stellungnahme widmet sich sodann zentraler Anwendungsfelder (S. 29–54) und behandelt z. B. die Nutztierhaltung nicht pauschal, sondern in
Unterscheidung nach den jeweiligen Tierarten. Gegenüber den materialen Ausführungen früherer kirchlicher Papiere zu tierethischen Fragen beeindruckt die Stellungnahme der Nordelbischen Landeskirche durch ihre Sachkunde, die sie in verständlicher Sprache entfaltet, was die Stellungnahme gerade auch für Personen
hilfreich macht, die einen kundigen Überblick für Fragen des Tierschutzes suchen.
Erkennbar ist dieses Papier darum bemüht, nicht nur die Probleme landwirtschaftlicher Nutztierhaltung, sondern auch ihre Fortschritte gegenüber früheren Missständen herauszuheben und vor allem diejenigen Faktoren namhaft zu machen, die
– rechtlich wie ökonomisch oder medizinisch – auf die praktischen Spielräume Einfluss nehmen.
Die Stellungnahme »Zum verantwortlichen Umgang mit Tieren« ist gegenwärtig
im kirchlichen Raum sicherlich dasjenige Papier, das die ethischen Fragestellungen
am differenziertesten zum Ausdruck bringt. Gleichwohl ist es erstaunlich (und für
die Brisanz des Themas höchst bezeichnend), dass ihre Veröffentlichung insbeson33. Zum Verständnis eines »ethoszentrierten Ansatzes«: Im Unterschied zu solchen ethischen Orientierungen, die bestimmte Kriterien des Handelns, Eigenschaften von Tieren
oder auch allgemeine christliche Werte als unmittelbar normativ für Fragen der MenschTier-Beziehung ansehen, gewinnt ein Ansatz beim »Ethos der Beziehung« seine handlungsleitende Orientierung im Ausgang vom vorfindlichen Ort gelebter Praxis und dem Sinn von
geteilten Lebensformen, die daraufhin befragt werden, ob die intendierte Sinnorientierung
im Handeln – das Gute als Ziel und Zweck – durch die tatsächliche Praxis befördert oder
aber konterkariert wird. Entscheidend ist, dass die dabei diskutierten Handlungsorientierung dem intendierten Zweck nicht äußerlich sind, sondern am Ort des Handelns als bereits
»angelegt zum Guten« behauptet werden können. Eine Sicht von Nutzierhaltung, die – z. B.
– im ökonomischen System der Landwirtschaft prinzipiell die Tendenz zur bloßen Instrumentalisierung des Tieres erblickt, wird in einem solchen ethoszentrierten Ansatz freilich
nur die destruktive Normativität des Faktischen erblicken. Was allerdings im Hinblick auf
empirische (!) Beschreibungen gelebter Mensch-Tier-Beziehung erst noch zu beweisen wäre.
34. Ebda., 27.
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dere bei engagierten Tierschützern auf heftige Ablehnung stieß. Nach Auskunft des
Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) der Nordelbischen Landeskirche
kam es zu massiven Beschimpfungen der Verantwortlichen und zu einem Hackerangriff auf das Onlineforum www.tierethik-nordelbien.de, auf dem der KDA dazu
aufrief, eigene Kommentare zur Diskussion der Stellungnahme öffentlich zu
machen.
2.2.3 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers
Auch in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers besteht eine lang
anhaltende und kontroverse Debatte zu Fragen des Tierschutzes, wobei schon seit
geraumer Zeit ein enger Gesprächskontakt zwischen kirchlichen Stellen und landwirtschaftlichen Verbänden besteht. So hatte sich der Umwelt- und Bauausschuss
der Landessynode, beraten durch den Landeskirchlichen Umweltbeauftragten Pastor Hans Joachim Schliep und dem Umweltreferenten Reinhard Benhöfer vom Arbeitsfeld Kirche und Umweltschutz, im Jahre 2010 mit der Eingabe einer Kirchengemeinde zum Thema Massentierhaltung und Schlachtbetriebe zu beschäftigen. In
ihrer Einbringungsrede anlässlich der Verhandlung der 24. Landessynode am
20. April 2011 machte Dr. Bettina Siegmund vom Umwelt- und Bauauschuss deutlich, dass dieses Thema in den Gemeinden der Landeskirche kein Einzelfall sei.
Zugleich wies sie darauf hin, dass
zurzeit eine kontroverse und emotional aufgeladene Diskussion um die Notwendigkeit und
ethische Legitimation der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung geführt [wird]. Sie findet
ihre Zuspitzung in der Frage, ob der Verzehr von Fleisch (für Christen) grundsätzlich
ethisch zu vertreten sei. Eine öffentliche Auseinandersetzung um die gegenwärtige Praxis
der Tierhaltung wird insbesondere dann geführt, wenn Mastställe oder Schlachtbetriebe im
Bau oder in der Planung sind. Feststellbar sind in der Diskussion eine selektive Wahrnehmung und eine Verzweckung biblischer Aussagen für Einzelinteressen. Um dieser Instrumentalisierung biblischer Aussagen entgegenzuwirken, ist eine grundlegende Betrachtung
des Mensch-Tier-Verhältnisses und die Entfaltung einer Verantwortungsethik nötig. 35
Das Aktenstück Nr. 86 macht es sich in dieser Situation zur Aufgabe, auf elf
Seiten einige grundsätzlichen Überlegungen zur Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses anzustellen. 36 Dabei fällt die deutlich deskriptive Entfaltung des Themenkomplexes auf, der mehr an einer möglichst ausgewogenen Darstellung der Konflikte und der Benennung ethischer Kriterien interessiert ist und sich daher im
Hinblick auf Schuldzuweisungen zurückhält.
Kirchliche Stellungnahmen sollen der persönlichen Urteilsbildung aller Beteiligten und Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft dienen. Sie wollen zugleich eine Grundlage für die
Meinungsbildung und den jeweiligen örtlichen Erfordernissen angemessene Entscheidungsfindung in Kirchen- und Kapellenvorständen sowie anderen verantwortlichen kirchlichen
35. Bettina Siegmund: Einbringungsrede zum Bericht des Umwelt- und Bauauschusses
betr. Landwirtschaftliche Nutztierhaltung, Aktenstück Nr. 86 der 24. Landessynode, in:
Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers (Hg.): Themenheft Landwirtschaftliche Nutzierhaltung. Erntedank 2011.
36. Ebda.
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Gremien und Organen anbieten. Mit diesem Ziel werden Fragen formuliert, Zusammenhänge dargestellt und Beurteilskriterien genannt. (S. 2)
Entsprechend vermittelnd und auf die Verantwortung der Nutzierhalter setzend
präsentieren sich auch Grundaussagen im Kapitel »Ethische Orientierungen auf
biblischem Hintergrund«:
In Anbetracht der gewachsenen menschlichen Verfügungsmacht und der inzwischen erreichten Eingriffstiefe in die Naturzusammenhänge ist eine Ethik der Selbstbegrenzung
und Nachhaltigkeit vonnöten, die eine Nutzungsbegrenzung einschließt. Handeln, das nicht
auf den Erhalt der Lebensgrundlagen ausgerichtet ist, verletzt das Schutz- und Gerechtigkeitsgebot gegenüber allem Lebendigen jetzt und zukünftig. Daraus ergeben sich mindestens vier Maximen der Verantwortung: (1) Schutz der Biodiversität, (2) Beachtung der Rechte der Benachteiligten (Option für die Armen), (3) Umweltverträglichkeit aller Maßnahmen,
(4) Beachtung der Rechte zukünftiger Generationen. Die Schöpfungsbotschaft schließt das
Anrecht auf Achtung sowohl bei Menschen als auch bei Tieren und damit den Schutz des
Lebens vor Tötung mit ein. Demnach gehört das Töten und Essen von Tieren weder zur
ursprünglichen noch zukünftigen Bestimmung der Menschen und Tiere. Doch ist dieses
Erste nicht das Einzige, was die Bibel zu diesem Thema sagt. Sie erkennt die allem Lebendigen innewohnende Gewalt an. Deshalb kann das Mensch und Tier verbindende Anrecht auf
Achtung nur in abgestuften Formen umgesetzt werden. So gibt es keinen biblischen Befund,
der das Töten von Tieren und das Essen von Fleisch als moralisch unvertretbar ausschließt. 37
Aber auch die praktischen Folgerungen und Standards (Seite 9–12) kennzeichnen
sich durch eine Beschränkung auf grundsätzliche Kriterien bei der Tierhaltung aus,
wenn sie die Angst-, Schmerz- und Leidfreiheit durch Faktoren wie Bewegungsfreiheit, qualifiziertes Stallmanangement, Tier- und Menschengesundheit und der
Vermeidung von Umweltschäden hervorheben. In einer »Schlussbemerkung« ziehen die Autoren dann ein Fazit, das leichte Kritik mit einem etwas betulichen Verständnis industrieller Technologie und einer eher pauschalen Kritik internationaler
Landwirtschaftspolitik verbindet:
An den genannten Maßstäben und Standards gemessen, muss bezweifelt werden, dass man
in Großeinheiten und Großschlachtanlagen, wie sie heute bestehen oder geplant werden,
dem Tierwohl und den sozialen und umweltethischen Anforderungen gerecht werden kann.
Darum sollten die bestehenden Anlagen gründlich überprüft und neue Anlagen nur dann
genehmigt werden, wenn sie den genannten Maßstäben und Standards uneingeschränkt
Rechnung tragen. Zu vermeiden ist eine nationale und internationale (Land)Wirtschaftspolitik, die zwangsläufig von industrieller Technologie und ihrer Philosophie bestimmte Großhaltungen zur Folge hat. Technologie muss generell wieder »dienende« Funktion übernehmen. Es ist ein Wandel notwendig, der zielgerichtet und unverzüglich zu Formen der
Tierhaltung und Tiernutzung im Sinne von Tierwohl, Menschengesundheit und Nachhaltigkeit führt. 38
Die hier nur kurz skizzierte Selbstpositionierung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers findet sich in einem Themenheft des
Kirchlichen Dienstes auf dem Lande, in dem Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung
nicht nur unter ethischem, sondern auch liturgischem Aspekt vertieft werden. Und
natürlich gibt auch diese kirchliche Broschüre den kontroversen Reaktionen auf das
37. Ebda., 9.
38. Ebda., 12.
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63
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Aktenstück der Synode aus dem Bereich ganz unterschiedlicher landwirtschaftlicher Gruppen – von Bioland e. V. bis zur Landwirtschaftskammer Niedersachsens
– breiten Raum. Diese machen unmissverständlich klar: Einen gruppenübergreifenden Konsens über den gemeinsamen Weg bei der Nutztierhaltung wird es in Niedersachsen so schnell nicht geben.
Eine hochinteressante Initiative aus dem Bereich der Hannoverschen Landeskirche sei noch erwähnt, die sich mit einem Aspekt der Mensch-Tier-Beziehung befasst, der schnell übersehen wird: der Traumatisierung von Landwirten angesichts
von gesetzlich angeordneten Massenkeulungen auf ihrem Hof. Anläßlich der BSEKrise 2001 machte Pastor Stephan Wichert-von Holten, der damals für den Kirchlichen Dienst auf dem Lande zuständig war, in zahlreichen Seelsorgegesprächen mit
Landwirten die Erfahrung, in welche existenzielle Not Tierseuchen die Familien
von Landwirten bringen können.
Die Angst ging auf den Höfen um und führte zu Schlaflosigkeit, Panikattacken allein durch
das Bedrohungsszenario im Umfeld der Ausbreitungsbekämpfung. Die Angst um die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz ist dabei nur die eine Seite. Die Angst um den sinnlosen Verlust der Tiere, mit denen die Menschen auf dem Hof eine Schicksalsgemeinschaft
bilden, die die Tagesstruktur und den Rhythmus der Arbeit vorgeben, mit denen man nicht
Wand an Wand wohnen kann, ohne diese Tiere zu mögen und sich mit ihnen zu identifizieren, ist die andere Seite. Nur ein Laie spricht davon, dass »eine Herde« gekeult wird. Jemand
mit etwas aufmerksamem Interesse sagt: ein Hof wird gekeult. Dahinter steht die Erkenntnis, dass jeder Tierverlust im systemischen Geflecht von Nutztieren und den Menschen auf
dem Hof Spuren hinterlässt. Jede Tötung aus vorbeugenden Gründen der Seuchenabwehr
wird auch zur Sinnfrage: Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich verhindern können?
Warum trifft es gerade unseren über Generationen gewachsenen Tierbestand? Wer trägt wie
an der Schuld? 39
In sensibler Sprache und präziser Beobachtungskunst schildert Wichert-von
Holten die zerstörerischen Folgen für Hof und Seele der Landwirte, aber auch der
Tierärzte, die eine massenhafte Keulung anvertrauter Tiere hervorruft. Seit November 2003 gibt es darum in der Hannoverschen Landeskirche den Arbeitskreis »Seelsorge im Tierseuchenfall«, der als »Tierseuchentaskforce« mit dem Niedersächsischen Ministerium für Landwirtschaft (Umwelt und ländliche Räume, Abt.
Veterinärwesen), der Notfallseelsorge Nordelbien, dem Kirchlichen Dienst in der
Arbeitswelt, der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein und dem Bauernverband Schleswig-Holstein kooperiert.
39. Stephan Wichert-von Holten: Seelsorgende im Tierseuchenfall. Vom Zufall zur Strategie, in: Beatrice von Saan-Klein/Clemens Dirscherl/Markus Vogt: »… es soll nicht aufhören
Saat und Ernte« (Gen 8, 22). Ein praxishandbuch zum Mehr-Wert nachhaltiger Landwirtschaft, München 2004, 25–27, 25. Vgl. auch Karin Jürgens: Tierseuchen in der Landwirtschaft. Die psychosozialen Folgen der Schweinepest für betroffene Familien – untersucht
an Fallbeispielen in Nordwestdeutschland, Würzburg 2002.
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2.2.4 Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften
an der Ludwig-Maximilians-Universität-München (TTN)
In einem Forschungs- und Beratungsprojekt wurde am Institut Technik-TheologieNaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität-München (TTN) die
Kontroverse um die ethische Bewertung der Nutztierhaltung zum Ausgangspunkt
gemacht. Unter dem Titel »Dialoginitiative: Ethik in der Nutztierhaltung« wurde
von 2004 bis 2006 das Ziel verfolgt, die Verantwortung der Tierhalter in der Landwirtschaft zu strukturieren und praxisnah in einem lösungsorientierten Entscheidungspfad zu übersetzen. Dieser Entscheidungspfad besteht im Wesentlichen aus
Analysefragen, mit deren Hilfe konkrete Eingriffe an Tieren und Aufstallungssysteme ethisch reflektiert werden können.
Der Ausgangspunkt des Projektes waren insbesondere drei prägende Aspekte
der Debatte: a) Was lange als selbstverständlich akzeptiert wurde, steht in Teilen
der Öffentlichkeit unter Verdacht. Schlagwörter wie »Massentierhaltung«, »Tierfabriken« und »industrielle Landwirtschaft« unterstellen ein mangelndes Verantwortungsgefühl der Tierhalter gegenüber ihren Tieren. b) Demgegenüber sehen sich
landwirtschaftliche Praktiker mit ihrer Praxis im Recht – juristisch wie auch moralisch. c) Hier treffen Vorstellungen der Landwirtschaft und landwirtschaftlicher
Tierhaltung aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, was sich in
der gesellschaftlichen Kontroverse niederschlägt und widerspiegelt. Aufgrund dieser Beschreibung der Ausgangslage steckte sich das Projekt das Ziel, Landwirte und
interessierte Laien und deren widersprüchlichen Perspektiven im Rahmen einer
Dialoginitiative ins Gespräch zu bringen.
Das erste zentrale Ergebnis des Projektes bestand darin, eine Grundlage für diese
Initiative zu erarbeiten. Hierfür wurde ein Expertenkreis etabliert, der beratende
Funktion bei der Erstellung des Buches »Leben mit und von Tieren« 40 übernahm.
Dieses Buch führt in Thematik Ethik in der Nutztierhaltung ein, schildert Probleme
und schlägt eine moralphilosophische Grundlage der Bewertung konkreter Eingriffe und Haltungssysteme vor. Da Nutztiere empfindsame und leidensfähige Lebewesen sind, so das wesentliche Argument, lässt sich eine moralische Verantwortung des
Tierhalters begründen, auf ihre Leidensfähigkeit Rücksicht zu nehmen. Daran
knüpft sich die moralische Verantwortung, nach Möglichkeiten zu suchen, Belastungen zu minimieren und die verbleibenden Belastungen zu rechtfertigen. Zudem
wird das Argument vorgetragen, dass mit zunehmender Intensität und Dauer der
Belastungen auch die Gewichtigkeit der rechtfertigenden Gründe zunehmen
muss. 41
Mit Hilfe dieser Eckpfeiler wurde ein Bewertungsmodell entwickelt, das neben
den moralischen Pflichten auch den Gestaltungsspielraum des Landwirtes (rechtliche, ökonomische Rahmenbedingungen) in den Blick nimmt. Dieser Gestaltungsspielraum, so eine weitere Grundthese des Projektes und der Publikation, muss bei
der Gestaltung praxisrelevanter Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Vor
dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Erwägungen hilft das Modell, die Nutz40. Roger J. Busch/Peter Kunzmann: Leben mit und von Tieren. Ethisches Bewertungsmodell zur Tierhaltung in der Landwirtschaft, München 2004.
41. Ebda., 67–69.
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tierhaltung bezogen auf den konkreten Einzelfall innerhalb bestehender Rahmenbedingungen zu reflektieren.
Das Anliegen des Projektes lag insbesondere darin, den Dialog zwischen Nutztierhaltern und interessierten Bürgern zu ethischen Fragen der Nutztierhaltung vorzubereiten. Dabei sollte auch die fachliche Expertise der Landwirte in der ethischen
Entscheidungsfindung Berücksichtigung finden. Dies geschah mit dem Ziel, die Begegnung von Landwirten, Bürgern und Tierschützern auf Augenhöhe zu ermöglichen und ein besseres Verstehen der Tierhaltung und generell mehr wechselseitiges
Verständnis zu fördern. Ethik in der Nutztierhaltung sollte nicht länger als Konflikt
zwischen abstrakten ethischen Ansprüchen von Tierschützern auf der einen und
Landwirten, die sich weigern, Tierschutzforderungen zu erfüllen, auf der anderen
Seite verstanden werden. Die gebotene Alternative bestand darin, Tierschutz in der
Landwirtschaft als gemeinsames Anliegen um der Tiere willen zu verstehen und zu
begründen. 42 Das Projekt folgte hier einem »sparsamen Ansatz«: Erstens, so das
zentrale Argument, geht die moralisch begründete Forderung nach Tierschutz in
der Landwirtschaft alle etwas an, die durch ihr Mitwirken etwas verändern können.
Zweites kann nur soviel von den Beteiligten (Landwirten, Bürgern, Veterinärmedizinern etc.) gefordert werden, wie ihnen auch zumutbar ist (Sollen setzt ein Können
voraus). Das Modell integriert damit die Grenzen und limitierten Gestaltungsmöglichkeiten verantwortlicher Akteure. Dies deshalb, weil die Veränderung bestehender Rahmenbedingungen (Ökonomie, Recht, Infrastruktur etc.) nicht oder nur teilweise in der Macht individueller Akteure liegt. So fokussierte dieses Projekt auf die
konkrete Verantwortung und den Gestaltungsspielraum involvierter Akteure.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieses Projekt von dem Leitgedanken inspiriert wurde, die komplexe Verantwortung für Tierschutz in der Nutztierhaltung weder allein bei den Nutztierhaltern zu verankern, noch die Schuld allein
bei den Konsumenten und ihrem Kaufverhalten zu sehen. So liest man auf der
TTN-Homepage:
Das Thema »Ethik in der Nutztierhaltung« ist zu komplex, als dass es sich auf so einfache
Kategorien reduzieren ließe. Denn Vorstellungen, Bilder, moralische Ansprüche, veterinärmedizinisches Wissen, verfahrene Positionen etc. vermischen sich, treten in Widerspruch
zueinander und machen das Thema zu dem was es ist, ein unübersichtliches Problemfeld
von ethischer Brisanz. Wenn es jedoch tatsächlich um das Wohl der Tiere gehen soll, dann
wäre es angebracht, die Landwirte in ihrer Verantwortung gegenüber den Tieren zu unterstützen. 43
Im Zuge dieses Projektes wurden mehrere Moderatorenschulungen für Landwirte abgehalten. Hier erlernten Landwirte in Österreich und Deutschland in eineinhalb Tagen den Umgang und die Arbeit mit dem »Ethischen Entscheidungspfad«.
Diese Workshops dienten dazu, Landwirte und Landwirtinnen vorzubereiten,
Gruppendiskussionen zur Ethik in der Landwirtschaft auf ihren Höfen zu organisieren und zu moderieren.
42. Vgl. Herwig Grimm: Rotes Tuch Tierschutz? Ethischer Anspruch und gelingende
Praxis in der Landwirtschaft, in: Freiland Verband (Hg.): Grenzgang Nutztierhaltung –
Nutzung und Achtung des Lebens beim Umgang mit Tieren, Wien 2007, 5–11.
43. http://www.ttn-institut.de/node/122 (letzter Zugriff: 13. April 2012).
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3. Jenseits von Eden und mitten im Leben:
Der evangelische Diskurs aus Sicht der philosophischen Tierethikdebatte
3.1 Mensch-Tier-Gott: Mitgeschöpf vs. Mensch-Tier-Beziehung
Während die theologischen und kirchlichen Stellungnahmen und Veröffentlichungen im gesellschaftlichen Diskurs eine zentrale Rolle spielen, werden dieselben in
der philosophischen Ethik wenig beachtet bzw. auch gerne als problematische Zugänge gewertet. Dies liegt vor allem daran, dass christliche Positionen von philosophischen Tierethikern zuweilen mit anthropozentrischen und speziesistischen Positionen assoziiert werden. 44 Eben gegen diese wendet sich ein Großteil der neueren
Tierethik. 45 Der Vorwurf besteht darin, nur Menschen moralische Anerkennung
entgegenzubringen, obwohl wir aus logischen Gründen genötigt wären, auch Tiere
in die Gemeinschaft moralisch schützenswerter Wesen aufzunehmen. Wird dieser
grundsätzliche Vorrang menschlicher Interessen gegenüber tierlichen durch die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies begründet, so sprechen Tierethiker, allen voran Peter Singer, von Speziesismus. 46 Dieser wird in der neueren Tierethik problematisiert, wobei seine Genese mit der christlichen Lehre in Verbindung gebracht
wird. So z. B. Peter Singer in seinem Buch Praktische Ethik aus dem Jahr 1979:
Heute sind diese Lehren nicht mehr allgemein anerkannt, aber die moralische Haltung, die
sie zur Folge hatten, paßt nur zu gut zu der tief verwurzelten westlichen Überzeugung von
der Einzigartigkeit und den besonderen Vorrechten unserer Spezies und lebt deshalb fort.
Da wir nun allerdings unsere speziesistische Auffassung von der Natur überdenken, ist es
auch an der Zeit, unseren Glauben, daß das Leben der Angehörigen unserer Spezies heilig
sei, zu überdenken.47
Dieser Vorwurf – der von Singer auch 1994 abermals in der Neuauflage formuliert wurde – kann angesichts der neueren tierethischen Debatte und der bereits
vorgestellten kirchlichen Stellungnahmen und Publikationen in Zweifel gezogen
44. Vgl. Peter Singer: Animal Liberation, New York 2009 [1975], 185–212.
45. Ich verwende den Begriff »neuere Tierethik« um auf die tierethische Debatte seit den
1970er Jahren zu rekurrieren. An ihrem Anfang steht das Buch von Stanley Godlovitch/
Roslind Godlovitch/John Harris (Hg.): Animals, Men and Morals. An Enquiry into the
Maltreatment of Non-Humans, New York 1972. Zudem werde ich von Phasen und Strömungen innerhalb dieser Debatte sprechen, um die Rede von »Generationen der modernen
Tierethikern« zu vermeiden. Letztere suggerieren eine zeitliche Ablöse der Konzepte und
Theorien, die nur mit großen Ungenauigkeiten festzumachen ist. Trotzdem ist auch diese
Differenzierung durchaus hilfreich, so z. B. bei: Kirsten Schmidt: Tierethische Probleme
der Gentechnik, Paderborn 2008, 259; Ursula Wolf: Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, 9.
Wolf bezieht sich hier auf Peter Singers Formulierung der »second wave« in der Tierethik
sowie Steve F. Sapontzis. Dieser wiederum rechnet sich selbst der zweiten Generation von
Tierethikern zu.
46. Der Begriff des »speciesismus« wurde von Richard Ryder geprägt, der ihn analog zum
Begriff des »racism« einführt: »Similarly, it may come to pass that enlightended minds may
one day abhor ›speciesism‹ as much as they now detest ›racism‹.« Richard Ryder: Experiments on Animals, in: Roslind Godlovitch/Stanley Godlovitch/John Harris (Hg.): Animals,
Men and Morals: An Enquiry into the Maltreatment of Non-Humans, London 1972, 41–82.
47. Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 21994 [1979], 122 f.
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werden. Immer mehr christliche Theologen können der Rede über einen ethischen
Eigenwert von Tieren etwas abgewinnen und auch die bereits vorgestellten Dokumente der letzten drei Jahrzehnte sprechen hier eine deutliche Sprache. 48 Freilich
wird dieser moralische Status unter einer spezifisch theologischen Perspektive thematisiert, die man in der philosophischen Tierethik kaum vorfindet: Während ein
Großteil der Autoren der neueren philosophischen Tierethik moralisch relevante
Eigenschaften sucht, die sich an Tieren festmachen lassen und aufgrund derer ein
moralischer Schutz von Tieren begründet wird (oder nicht, wie im Fall der Kontraktualisten mangels Vertragsfähigkeit) 49, steht in den theologischen Texten die
verantwortlich gestaltete Beziehung zwischen Menschen und Tieren im Vordergrund. Dabei ist es freilich nicht nur die Relation von Mensch und Tier, sondern
ein Dreieck Mensch-Gott-Tier. Vielleicht ist es gerade die Übernahme der Verantwortung für Tiere vor Gott, die Kirchenvertreter und Theologen für die Relation
und das Beziehungsgeschehen zwischen Menschen und Tieren sensibel macht. Diese
Zugangsweise zur Tierethik über das Beziehungsgeschehen verdient Rücksicht. Die
These, dass die religiöse Semantik für die Formulierung des modernen Tierschutzgedankens nichts austragen kann, wird vor diesem Hintergrund in Frage gestellt.
Für das Folgende wird insbesondere der Gedanke leitend sein, dass die Autoren
der theologischen und kirchlichen Stellungnahmen einen Weg gefunden haben, mit
der Spannung zwischen tierschützerischen Anliegen und Rahmenbedingungen sozialer Realität umzugehen, die diesen Anliegen entgegenstehen. Dabei ist es besonders aufschlussreich, wie die Relation zwischen Menschen und Tieren gedacht und
die Instrumentalisierung von Tieren thematisiert wird. 50 Der Unterschied zwischen
Instrumentalisierung als ethisches Problem und Instrumentalisierung als grundlegendes Strukturmerkmal der Mensch-Tier-Beziehung, wie er in kirchlichen Stellungnahmen zu finden ist, wird dabei wegweisend sein. Weiter spielt der Begriff der
Wahrnehmung in den kirchlichen Stellungnahmen als moralisch relevante Kategorie
eine wichtige Rolle, während er in der philosophischen Tierethik – bis auf wenige
Ausnahmen – ein Schattendasein führt.
Der wichtigste Punkt ist jedoch sicherlich, dass die kirchlichen Stellungnahmen
die verantwortlichen Akteure mit einem ausgeprägten Bewusstsein für die praktischen Zwänge ins Zentrum setzen. Sei es als verantwortungsbewusster Tiernutzer
oder respektloser Ausbeuter, als kostenminimierender Verbraucher oder fürsorg48. Vgl. Abschnitt 2.2 in diesem Beitrag. Weiter vgl. Gerhard Marschütz: Theologische
Elemente einer Tierethik. Erwägungen auf dem Hintergrund radikaler tierethischer Ansätze, in: Ethica 11 (2003), 247–274; Alberto Bondolfi: Mensch und Tier. Ethische Dimensionen
ihres Verhältnisses, Freiburg i. Ue. 1994; Gotthard Fuchs, Guido Knörzer: Tier, Gott und
Mensch – Beschädigte Beziehungen, Frankfurt/M. u. a. 1998; Michael Rosenberger: Mensch
und Tier in einem Boot. Eckpunkte einer modernen theologischen Tierethik, in: Carola
Otterstedt/Michael Rosenberger (Hg.): Gefährten, Konkurrenten, Verwandte. Die MenschTier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, 368–389.
49. Zum Kontraktualismus in der Tierethik vgl.: Peter Caruthers: Moral theory in practice, Cambridge 1992.
50. Vgl. hierzu den Abschnitt 3. 4. Zur Debatte um die problematischen Aspekte der Veränderung und Instrumentalisierung vgl. Hans-Peter Breßler: Die ethische Problematik der
Veränderung und Instrumentalisierung von Tieren, in: Ders.: Ethische Probleme der
Mensch-Tier-Beziehung, Frankfurt/M. u. a. 1997, 191–223.
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licher Christ – die theologischen Positionen, auf die der folgende Abschnitt Bezug
nimmt, anerkennen die Schwierigkeiten und Widersprüche, die am Ort des verantwortlichen Individuums zu Konflikten führen.
3.2 Die Erben Benthams: Der Gegenstand der philosophischen Tierethik
Um den bereits benannten Unterschied zwischen philosophischer Tierethik und
kirchlich-theologischer Stellungnahmen herauszustellen, soll als Einleitung ein kurzer Abriss der Ausrichtung und des Zugangs der philosophischen Tierethik dienen. 51 Die Frage nach dem Gegenstand der philosophischen Tierethik scheint auf
den ersten Blick einfach zu beantworten: Als Teilbereich der angewandten Ethik
beschäftigt man sich in der Tierethik mit der moralphilosophischen Reflexion der
Mensch-Tier-Beziehung. Aber wer setzt die Themen auf die Agenda? Was macht
ein Thema zu einem tierethischen Problem? Auch hier könnte man eine einfache
Antwort geben: die Tierethiker! Nun wäre es jedoch sicherlich kurzsichtig, die
Ethiker allein dafür verantwortlich zu machen, was in der Tierethik verhandelt
wird. Insbesondere die Nähe zu gesellschaftspolitischen Fragen prägt die philosophische Tierethik. Die Fragestellungen werden also auch an den wissenschaftlichen
Diskurs – von außen – herangetragen. Dies führt zu deutlichen Unterschieden in der
Ausrichtung der philosophischen Tierethik, die sich in mindestens zwei Hauptströmungen der Tierethik nachzeichnen und exemplarisch an einigen Autoren festmachen lassen.
Nimmt man die ersten Publikationen der neueren Tierethik in den Blick, lässt
sich unschwer erkennen, dass der Gegenstand der Tierethik vornehmlich darin bestand, die Frage nach der Möglichkeit eines moralischen Status von Tieren zu stellen
und moralische Verpflichtungen gegenüber Tieren zu begründen. 52 Die Arbeiten
prominenter Tierethiker, etwa Peter Singers oder Tom Regans, machen dies deutlich. 53 Dieses grundlagenorientierte Begründungsprogramm, das sich auf die moralische Schutzwürdigkeit von Tieren konzentrierte, dominierte die Anfangsphase der
neueren Tierethik weitgehend. Zu Recht, ging es doch zuerst einmal darum zu begründen, dass bestimmte Tiere moralische Achtung54 verdienen. Allerdings bleiben
die Autoren nicht bei dieser Begründung stehen und formulieren auch Folgerungen
für die Praxis. Da diese jedoch ohne eigenes methodisches Repertoire und quasi
selbstredend aus der Begründung des moralischen Status gefolgert werden, stehen
51. Vgl. zum Folgenden auch Herwig Grimm: Benthams Erben und ihre Probleme – Zur
Selbstreflexion einer Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, in: Jochen Ostheimer/Michael Zichy/Herwig Grimm (Hg.): Was ist ein moralisches Problem, Freiburg i. Br. 2012, 436-475.
52. Autoren wie etwa Schmidt gehen sogar so weit zu sagen, dass die ersten Tierethiker
den moralischen Status von Tieren erstritten haben: Kirstin Schmidt: Philosophische Tierethik, in: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Perspektiven im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012 (im Druck).
53. Vgl. etwa: P. Singer: Animal Liberation (wie Anm. 43); Tom Regan: The Case for Animal Rights, Berkeley/Los Angeles 2004 [1983].
54. Von »moralischer Achtung« spreche ich, wenn Tiere um ihrer selbst willen im Handeln
berücksichtigt werden.
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diese oft – als sehr ambitionierte Forderungen – einer defizitär ausgewiesenen Praxis
unvermittelt und unerreichbar gegenüber.
Singer und Regan ziehen die selbstverständlich gewordenen Mensch-Tier-Beziehungen (Tierversuche, Nutztierhaltung, Pelztierzucht etc.) begründet in Zweifel
und stehen mit Aktivisten wie Henry Spira am Anfang des moralischen Protestes. 55
Im Gegensatz zum Schritt auf die Straße bleibt der Schritt der Ethik in die Praxis
hier ein methodisch wenig beachtetes Problem. 56 Der große Verdienst von Singer
und Regan ist es, für die moralischen Ansprüche von Tieren Bewusstsein und Begründungen zu schaffen. So ist es sicherlich auch ihr Verdienst, dass Tierethik zunehmend nachgefragt wird und die angewandte Ethik in gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzungen vorkommt und eine aktive Rolle spielt. Diese Verquickung
mit gesellschaftspolitischen Fragen führt dazu, dass die Themen der Tierethik (und
der angewandten Ethik im Allgemeinen) dem Zusammenspiel von Wissenschaft,
Politik, Medien und Wirtschaft entspringen. Dieses Zusammenspiel bzw. die enge
Koppelung der gesellschaftlichen Teilbereiche ist typisch für die heutige Wissenschaftslandschaft und stellt Wissenschaftler vor neue Herausforderungen. 57 Für die
angewandte Ethik und damit auch die Tierethik ist diese Kopplung herausfordernd.
Sie berührt unweigerlich naturwissenschaftliche, rechtliche und wirtschaftliche
Themen. Dies lässt sich mittlerweile aus der Tierethik nicht mehr wegdenken. Bis
vor wenigen Jahrzehnten waren es jedoch Pioniere wie Bernhard Rollin, die an diesem Übergang arbeiteten und Neuland betreten mussten:
In 1984, I was approached by conference organizers with the request that I give the banquet
speech at the first international conference ever held on genetic engineering of animals. Specifically, I was to address the topic of social and moral issues raised by the advent of this new
and powerful technology. Flattered, stimulated, challenged, and totally ignorant, I accepted,
confident of my ability to rise to the occasion by standing on the shoulders of my predecessors. Unfortunately, a brief visit to the university library shattered my preconceptions – I
had no predecessors! […] Truly an academic’s nightmare.58
Ethikern wird hier eine Expertenrolle zugeschrieben. Sie werden angefragt, um
wissenschaftliche Auskunft zu geben, Orientierung zu stiften, aber auch, um politische Entscheidungen zu legitimieren. Hier geht es philosophischen und theologischen Ethikern sicherlich ähnlich. Aufgrund der Nähe zu konkreten, praktisch motivierten gesellschaftlichen Problemen erlangt die Frage der Umsetzung ethischer
Positionen eine eigene Berechtigung und zunehmende Brisanz. Auch dies lässt sich
mit Bezug auf die Entwicklungen in den Life Sciences zeigen, auf die Autoren wie
Rollin reagieren:
55. Vgl. hierzu: James M. Jasper/Dorothy Nelkin: The Animal Rights Crusade. The
Growth of a Moral Protest, New York 1992.
56. So setzt sich Peter Singer mit dem Widerstand und zivilem Ungehorsam in seiner Dissertation intensiv auseinander: Peter Singer: Democracy and Disobedience, Ipswich 1973.
Zu den methodischen Schwierigkeiten des Schrittes in die Praxis vgl. Herwig Grimm: Der
Schritt in die Praxis, in: H. Grimm/C. Otterstedt, Tier (wie Anm. 52).
57. Vgl. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu
Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Birkach 32011.
58. Bernhard Rollin: The Frankenstein Syndrom. Ethical and social issues in the genetic
engineering of animals, Cambridge/New York/Melbourne 1995, 1.
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Our task, then, in this book is to dissect out these [durch die Möglichkeit gentechnischer
Veränderung von Tieren hervorgerufene; H. G.] moral issues in the case of genetic engineering of animals and to disambiguate the genuine moral issues from the spurious ones. At the
same time we must also consider the best vehicle for pragmatically dealing with these matters in society. 59
Diese tierethische Auseinandersetzung, die auf die moralisch-normativ geregelte
Praxis gerichtet ist, erlangte schnell zunehmenden Einfluss. Tierethiker sind und
werden gefragt, wenn es um Bewertungen neuer Technologien im Bereich der Life
Sciences oder zweifelhafter Praktiken in Laboren, Ställen, Zoos, Wäldern, Flüssen,
Seen, Meeren, Wohnungen etc. geht. Hier ist die Tierethik mitten im Terrain gesellschaftspolitischer Orientierungsfragen angekommen und ist dezidiert anwendungsorientiert. 60 Diese Ausrichtung bringt unmittelbar methodische Implikationen mit
sich. So ist etwa für die Behandlung tierethischer Themen zunehmend auch empirisches Wissen erforderlich, was wiederum Rollin pointiert deutlich macht:
In genetic engineering of animals, as in all areas of applied philosophy, one cannot write
intelligently about the ethical issues that arise in the field without first achieving a reasonable
grasp of the empirical facts and concepts presuppositional to it. 61
Damit stellen sich Fragen, wie beispielsweise Forschungsergebnisse der Biologie
und insbesondere der Kognitiven Ethologie, der Veterinärmedizin, der Humanmedizin, aber auch der Rechtswissenschaften, der Soziologie usw. in moralphilosophische Begründungen oder Lösungsstrategien zu integrieren sind. Wie auch immer,
die Biowissenschaften erlangen damit für die Tierethik in zweifacher Hinsicht Bedeutung: Erstens werfen sie neue tierethische Fragstellungen auf. Zweitens sind sie
nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil ihrer Lösung (empirisches Wissen ist
nötig, um normatives Orientierungswissen zu begründen).
Während im grundlagenorientierten Programm der früheren Phase der modernen Tierethik die Begründung normativer Ansprüche im Vordergrund steht, ist das
tendenziell anwendungsorientierte Programm der späteren Phase zuzurechnen.
Hier geht es auch darum, tatsächlich Aussagen darüber zu machen, wie die Praxis
konkret zu regeln sei. Es besteht ein gesellschaftlicher Regelungsbedarf, und man
verspricht sich von der Tierethik Orientierung. 62
Was beide Phasen in dieser Rekonstruktion verbindet, ist die Nähe zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Bereich der Mensch-Tier-Beziehung. Dieser
Anwendungsbezug begleitet die Tierethik nicht erst seit den 1970er Jahren. In der
wohl prominentesten und meistzitierten Fußnote der Tierethik formuliert Jeremy
Bentham 1789 programmatisch eine Kritik und seine Vision für das moralische Ver-
59. Ebda., 6.
60. Ein Beispiel der Institutionalisierung der Tierethik sind die sogenannten § 15 Kommissionen. Sie haben die Aufgabe, die zuständige Behörde darin beraten, ob bestimmte Tierversuche ethisch vertretbar sind oder nicht.
61. B. Rollin, Frankenstein Syndrom (wie Anm. 58), XIII.
62. B. Rollin, Frankenstein Syndrom (wie Anm. 58), 6. Vgl. auch Michael Zichy/Herwig
Grimm: Praxis in der Ethik: Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Praxis in der Ethik. Zur
Methodenreflexion der anwendungsorientierten Moralphilosophie, Berlin, New York 2008,
1–4.
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hältnis von Menschen und Tieren. Bekanntlich endet die Passage mit den drei Fragen:
the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer? 63
Mit der letzten der drei Fragen verschiebt Bentham den Fokus der moralphilosophischen Reflexion des Verhältnisses von Menschen und Tieren. War es bislang das
Trennende, so stellt er die Gemeinsamkeit von Tieren und Menschen ins Zentrum.
Dieser erste und vieldiskutierte Leitgedanke ist jedoch nicht das gesamte Erbe, welches die Tierethik heutiger Prägung von Bentham übernimmt. Schon Bentham stellt
die Frage nach dem moralisch angemessenen Verhältnis von Menschen und Tieren
in den Kontext gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Er formuliert seine Vision
einer tierfreundlichen Zukunft in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Verfehlungen
wie der Sklaverei. Mit Blick auf Frankreich stellt er fest, dass die moralische Unzulässigkeit der Sklaverei dort bereits erkannt worden sei. Bei den Tieren verhielte es
sich ähnlich, da auch ihnen Rechte vorenthalten würden, die ihnen grundsätzlich
zustehen:
The day may come, when the rest of the animal creation may acquire those rights which
never could have been withholden from them but by the hand of tyranny. 64
Das Argument, dass es sich bei der Ausweitung der moralischen Gemeinschaft
auf Tiere um die konsequente Fortführung einer richtigen Entwicklung bzw. um
eine zu späte gesellschaftliche Anerkennung legitimer Ansprüche handelt, prägt
die Tierethik des 20. und 21. Jahrhunderts. 65 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass
der Orientierungsbedarf durch Entwicklungen der Life Sciences steigt und Tierethik zunehmend nachgefragt wird. Bei den Antwortversuchen der Tierethiker ist
auffällig, dass ihre Begründungen auf Eigenschaften – wie die Leidensfähigkeit –
rekurrieren, aufgrund derer Tieren moralische Schutzwürdigkeit zugesprochen
wird. Hierin ist ein weiteres Erbe Benthams zu sehen, das die neuere Tierethik
durchzieht.
3.3 Kirchliche Positionen und theologische Zugänge
aus Sicht philosophischer Tierethik
Auch in den kirchlichen Positionen zur Tierethik ist die Nähe zur gesellschaftspolitischen Debatte und den Biowissenschaften augenfällig. 66 Damit ist der Ausgangs63. Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1970 [1789], 283.
64. Ebda.
65. Die Nähe der Tierethik zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen wurde bislang
kaum bearbeitet und bringt auch eine Kehrseite zutage: Die Tierethik läuft aufgrund dieser
Nähe Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in sie als wissenschaftliche Disziplin
zu verlieren. Vgl. hierzu H. Grimm, Benthams Erben (wie Anm. 51). Ein besonders eingängiges Beispiel für die Nähe der Tierethik zur gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung ist
Singers Buch In Defense of Animals, Malden, Oxford, Victoria 2006.
66. Ich werde mich im Folgenden auf zwei Dokumente evangelisch-lutherischer Kirchen
beziehen, die mir für die Diskussion besonders aufschlussreich erscheinen: Für ein Ethos der
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punkt der Dokumente zur evangelischen Tierethik inhaltlich und zeitlich näher an
jenem der oben genannten zweiten Phase innerhalb der philosophischen Tierethik.
So ist es etwa bei der Durchsicht der kirchlichen Dokumente auffällig, dass die zentrale Rolle der Naturwissenschaften im tierethischen Diskurs – als Teil des Problems aber auch ihrer Lösung – ernst genommen und anerkannt wird. Die Theologie und ihre kirchlichen Vertreter kapseln sich keineswegs ab, sondern nehmen
auf dieses Wissen Bezug und stellen seine Bedeutung explizit heraus. Dabei vergessen sie aber nicht, auch den normativen Rahmen abzustecken, in dem sich die Debatte aus christlicher Sicht bewegt:
Da wir als Menschen weitgehend keinen Zugang zum subjektiven Erleben der Tiere haben,
sind wir bei der Beschreibung von »Tiergerechtigkeit« und »Tierschutz« (als der letztlich
gesetzlichen Festlegung) zum einen auf physiologische und verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen. Aber auch humanitär, ethisch und christlich verantwortete Werte
prägen ganz entscheidend unsere Vorstellungen vom angemessenen Umgang mit Tieren. 67
In diesem Zitat wird deutlich, dass relevantes Wissen für die normative Orientierung nicht nur im Bereich der Theologie, sondern wie in der philosophischen Tierethik auch in den Naturwissenschaften gesucht wird. Der normative Bezugsrahmen
ist demgegenüber freilich in christlich verantworteten Werten zu suchen. Was als
empirisch relevant erachtet wird, ist immer auf einen normativen Bezugsrahmen
verwiesen. Dieser Bezugsrahmen prägt die Suche nach Orientierung in der MenschTier-Beziehung. Ein wichtiger Unterschied zum philosophischen Programm der
Tierethik lässt sich jedoch dort ausmachen, wo nicht mehr nur die Eigenschaften
der Tiere im Vordergrund stehen, sondern über das Beziehungsgeschehen zwischen
Menschen und Tieren abgelesen wird, wie wir uns selbst verstehen. Dies macht der
nächste Satz der zitierten Passage deutlich: »Insofern machen wir als Menschen in
unserer Art und Weise mit Tieren umzugehen gleichzeitig eine Aussage über uns
selbst.« 68
Dieser Satz ist wichtig, da er einen Aspekt unterstreicht, der die philosophische
Tierethik von der theologischen unterscheidet. Während die insbesondere die frühen Vertreter der philosophischen Tierethik das Tier und seine Eigenschaften im
Blick haben, werten die theologischen Konzeptionen zusätzlich das wechselseitige
Beziehungsgeschehen als wesentlichen Punkt. Kurz: Die philosophische Tierethik
beschäftigt sich mit der moralischen Güte unserer Handlungen in Bezug auf Tiere;
die theologische denkt dezidiert auch darüber nach, wie diese Behandlung auf das
Selbstverständnis des Menschen zurück wirkt. 69 Diese Rückwirkung wird dabei als
Mitgeschöpflichkeit. Wort der Kirchenleitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen
Kirche zum Welttierschutztag 1998, Kiel 1998 (im Folgenden mit »Ethos der Mitgeschöpflichkeit« abgekürzt) und Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31).
67. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 5.
68. Ebda., 5 f.
69. Eine Ausnahme innerhalb der philosophischen Tierethik lässt sich in der Debatte über
die »tierliche Würde« finden, die auch wesentlich von theologischen Denkern geprägt wird.
Als Philosoph nimmt z. B. Peter Kunzmann diese Rückwirkung in den Blick. Er thematisiert
diesen Aspekt über den Begriff der »Haltung des Akteurs« gegenüber den Tieren. Vgl. Peter
Kunzmann: Die Würde der Kreatur – zwischen Leerformel und Prinzip, Freiburg, München
2007, 110–117.
73
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moralisch relevant thematisiert, wodurch eine zusätzliche normative Dimension in
die Debatte eingeführt wird.
Die grundlegende Frage der Versehrbarkeit von Tieren und die daraus ableitbaren moralischen Ansprüche gehen dabei nicht verloren. Die Autoren der zitierten
Stellungnahme sind an dieser Stelle keineswegs kurzsichtig, sondern thematisieren
diesen Punkt offen: Nicht immer kann man den Tieren in gewünschter Weise gerecht werden, was zu den erwähnten Konflikten am Ort des verantwortlichen Individuums führt. 70 Insbesondere die ökonomischen Zwänge werden als Hinderungsgrund für eine tiergerechte Behandlung ins Feld geführt, was auch in der
philosophischen Tierethik immer wieder kontrovers behandelt wird. 71 Anders ist
jedoch der Umgang mit dieser Spannung im zitierten Dokument:
Das Wissen um Vergebung für unsere Unzulänglichkeit ist es, das uns hilft, die Situation, wie
sie ist, anzunehmen und die Spannung zwischen dem tiergerecht Wünschenswerten und
dem ökonomisch derzeit Möglichen zu ertragen. Erst dieses Wissen um Vergebung gibt die
Kraft, für die Verringerung dieser Spannung in der Praxis der Tierhaltung einzutreten. 72
Die Dimension der Vergebung unterscheidet philosophische und theologische
Ethik, weil letztere mit der Unterscheidung von Person und Tat die Frage der unbedingten Anerkennung des schuldigen Menschen auch innerhalb der Ethik zum Thema macht. Dieser Zugang ist einer säkularen Tierethik, die eine derartige Instanz
unbedingter Anerkennung nicht begründen kann, freilich verwehrt. Allerdings lässt
sich im Hinblick auf den Umgang mit den Folgen des Scheiterns moralischer Sollensforderungen durchaus ein strukturähnliches Pendant auch in der philosophischen Ethik finden. Während die Zuordnung von Liebesforderung und Vergebung
in der theologischen Ethik die Ermöglichungsbedingung eines moralisch guten
Handelns unter Anerkennung der bleibenden Vergebungsbedürftigkeit des Menschen zum Thema macht, wird auch in der philosophischen Ethik zwischen Sollensforderung und Realisierungsmöglichkeit unterschieden. Der Grundsatz ultra posse
nemo obligatur (»Was über das Können moralischer Akteure hinausgeht, kann auch
nicht gefordert werden«) anerkennt die Spannung zwischen moralisch Wünschenswertem und dem Realisierbaren. Diese Begrenzung »nach oben« bringt auch Klarheit »nach unten«. Der Grundsatz verpflichtet auf die beste erreichbare Option,
ohne die Verantwortlichen zu überfordern. Denn gefordert werden soll nur, was
auch geleistet werden kann. Beide ethischen Konzeptionen – die theologische wie
die philosophische – nehmen damit bei der Beschreibung der Verantwortungsfähigkeit des Menschen ein »Realitätsprinzip« in Anspruch, das der moralischen Sollensforderung in gewisser Weise vorgeschaltet ist und dazu dient, »Sollen« und »Können« in einer ethisch konstruktiven Weise aufeinander zu beziehen.
Neben allen Schwierigkeiten, die Grenze zwischen dem realisierbaren moralisch
Wünschenswerten und dem nicht realisierbaren zu bestimmen, macht dieser
Grundsatz die Spannung deutlich, in der sich verantwortliche Menschen befinden,
wenn sie moralische Forderungen umsetzen sollen. Die Anerkennung des Konflik70. Vgl. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 6.
71. Vgl. Ethos der Mitgeschöpflichkeit (wie Anm. 66), 3 f., Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 7.
72. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 7.
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tes zwischen idealen Ansprüchen und den Zwängen einer nicht-idealen Welt und
das Scheitern an der physischen und sozialen Wirklichkeit sind in diesem Satz aufgehoben. In der anwendungsorientierten Ethik wird dieser Aspekt zunehmend methodologisch reflektiert und es finden sich mehr und mehr Ansätze, hier zu moderieren. Aber den Trost, der im obigen Zitat durchklingt, kann (und soll) die
Philosophie nicht spenden. 73
3.4 Instrumentalisierung als moralisches Defizit und Problem
Die Position der philosophischen Ethik lässt sich so beschreiben, dass nur dann ein
moralisches Problem vorliegt, wenn Tiere direktes oder indirektes Objekt menschlichen Handelns sind und die Handlung nicht um der Tiere selbst willen geschieht.
Handlungen, bei denen Tiere als Mittel zu fremden Zwecken verwendet werden,
sind grundsätzlich moralisch problematisch, da derartige Instrumentalisierungen
ein moralisches Defizit darstellen. Deutlich wird dies etwa an Fällen, in denen Tiere
in der Forschung als Mittel zur Gewinnung von Daten verwendet werden, die wiederum von Nutzen sein können. Aber auch der emotionale Nutzen von Tieren als
Haustiere stellt eine Instrumentalisierung dar, wenngleich sie meist weniger problematisch erlebt wird.
Eine der wichtigsten Fragen der philosophischen Tierethik konsequentialistischer Prägung ist es deshalb, ob die menschlichen Ziele und der entstehende Nutzen
eine bestimmte Instrumentalisierung von Tieren und die entstehenden Konsequenzen für die Tiere rechtfertigen können. Diese Logik der Abwägung ist allerdings nur
dann ein legitimer Ansatz, wenn bestimmte Güter gegeneinander abgewogen werden dürfen. Dieser konsequentialistischen Position läuft die Logik unumstößlicher
Grenzen zuwider, die etwa durch Tierrechte gesichert werden könnten. In der philosophischen Tierethik wird die zweite Position gemeinhin unter dem Label Tierrechtsansätze diskutiert, die sich meist in kantischer Tradition verstehen. 74 Damit
stehen deontologische Ansätze wie jener von Regan dem konsequentialistischen
Ansatz etwa von Singer gegenüber. 75 Während Konsequentialisten Instrumentalisierungen als moralisches Problem sehen, wenn sie z. B. Leid verursachen, diese jedoch rechtfertigen können, ist eine derartige Rechtfertigung in Tierrechtsansätzen
nicht vorgesehen. Beide maßgebliche Positionen verhandeln jedoch die Instrumentalisierung als moralisches Problem. 76 Hierzu z. B. Regan, der den Unterschied zwischen den beiden Positionen deutlich macht:
73. Einen Versuch, mit dieser Schwierigkeit umzugehen, findet man etwa bei Herwig
Grimm: Das moralphilosophische Experiment. John Deweys Methode empirischer Untersuchungen als Modell der problem- und anwendungsorientierten Tierethik, Tübingen 2010.
74. Vgl. T. Regan, Case (wie Anm. 53).
75. Vgl. P. Singer, Ethik (wie Anm. 46).
76. Obwohl es für die folgende Argumentation keinen Unterschied macht, soll hier noch
eine Differenzierung gemacht werden, die konsequentialistische Ansätze betrifft: Bei diesen
Ansätzen ist die Instrumentalisierung nur dann ein moralisches Problem, wenn sie mit Leiden oder mit frustrierten Interessen verbunden ist. Wenn ein Tier als Ressource verwendet
wird, es aber nicht merkt, wäre das z. B. für Singer kein Problem. Interessanterweise verwendet Singer die Formulierung »treat them purely as means to our ends« (Peter Singer: All
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The basic moral right to respectful treatment places strict limits on how subjects-of-a-life
may be treated. Individuals who possess this right are never to be treated as if they exist as
resources for others; in particular, harms intentionally done to any one subject cannot be
justified by aggregating benefits derived by others.77
Andere Autoren – und manchmal auch Regan selbst – sehen freilich Instrumentalisierung erst dann als gravierendes moralisches Problem, wenn ein Tier bloß als
Mittel für fremde Zwecke behandelt wird. Dies wird besonders durch die Debatte
um die Würde der Kreatur deutlich.
In dieser Debatte ist auffällig, dass die Instrumentalisierung als moralisches Defizit behandelt wird. Instrumentalisierende Handlungen, so der Vorwurf, missachten die Würde des Tieres. 78 Die Frage nach der Instrumentalisierung von Tieren als
moralphilosophisches Problem wurde seit den 1990er Jahren immer wieder neu gestellt und von Philosophen und Theologen behandelt. 79 Es waren die bereits erwähnten Entwicklungen im Bereich der Lebenswissenschaften, welche einen Regelungsbedarf mit sich brachten. Aufgrund der neuen Möglichkeiten, mit
gentechnischen Methoden Tiere zu züchten, suchte man nach Antworten auf die
Fragen, in welchem Verhältnis der Mensch zur Natur steht und stehen soll und wie
gentechnische Eingriffe ethisch zu bewerten seien. Eine Antwort auf diese Frage
gab die Schweiz mit der Verankerung der »Würde der Kreatur« in Artikel 120
Abs. 2 der schweizerischen Bundesverfassung (SBV; in der alten BV: Art. 24), der
die Gentechnologie im Ausserhumanbereich regelt. Mit dem Inkrafttreten des revidierten Tierschutzgesetzes im Jahre 2008 und der dortigen Verankerung des Würdebegriffs hat die »Würde der Kreatur« und damit die übermäßige Instrumentalisierung 80 strafrechtliche Relevanz bekommen, wobei nicht ganz klar ist, wie dieser
Begriff zu verstehen ist. 81
Animals Are Equal, in: Tom Regan/Peter Singer [Hg.]: Animal Rights and Human Obligations, London u. a. 1976, 148–162, 154). Dies macht er in einer Passage, die keinen Zweifel
offen lässt, dass er dieses Verhalten im Fall der Nutztierhaltung für verwerflich hält. Allerdings kann dieses Argument in seiner Konzeption in strengen Sinne kein moralisches Gewicht erlangen bzw. nur dann, wenn die Instrumentalisierung mit nachteiligen Wirkungen
für das Tier einhergeht.
77. T. Regan, Case (wie Anm. 53), XVII.
78. Mit Bezug auf die Instrumentalisierung von Menschen schreibt: Peter Schaber: Instrumentalisierung und Würde, Paderborn 2010, 17: »Oft wird in Kontexten beispielsweise der
angewandten Ethik darauf hingewiesen, dass mit einer bestimmten Handlungsweise Menschen instrumentalisiert würden, was ohne weitere Begründung als Grund gesehen wird, die
in Frage stehende Handlungsweise zurückzuweisen.«
79. Hans Bressler: Ethische Probleme der Mensch-Tier-Beziehung: eine Untersuchung
philosophischer Positionen des 20. Jahrhunderts zum Tierschutz, Frankfurt/M. u. a. 1997.
Dort behandelt er im Kapitel 6 die ethische Problematik der Veränderung und Instrumentalisierung von Tieren.
80. Schweizer Tierschutzgesetz Art. 3a.
81. Vgl. hierzu P. Kunzmann, Würde (wie Anm. 69), 13–56; Samuel Camenzind: Auf zu
neuen Ufern: Rechtsphilosophische Überlegungen zur übermässigen Instrumentalisierung
im schweizerischen Tierschutzgesetz, in: Michel Margot, Kühne Julia, Hänni Daniele: Animal Law – Tier und Recht, Zürich (im Erscheinen). Eine ausführliche Analyse des Begriffs
der Instrumentalisierung findet sich bei P. Schaber, Instrumentalisierung (wie Anm. 78).
76
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Um über die Debatte der Instrumentalisierung als ethisches Problem einen kleinen Überblick zu geben, sollen hier einige Autoren zu Wort kommen. So konstatiert etwa Manuel Schneider mit Blick auf Instrumentalisierungen:
Die Intensivtierhaltung z. B. erscheint im Lichte des Würde-Gedankens nicht nur deshalb
problematisch, weil und sofern sie in der Regel mit Schmerzen und Leiden verbunden ist,
sondern auch, weil sie das Tier auf seinen reinen ökonomischen Nutzwert für den Menschen
reduziert und gänzlich zur Ware degradiert. 82
Hier werden über den Begriff der Instrumentalisierung moralisch problematische
Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung thematisiert, die mit Hilfe des Kriteriums Leid
zu vermeiden nicht erfasst werden können. Doch nicht nur im Bereich der Nutztierhaltung wird die Instrumentalisierung als moralisches Problem gesehen. In der
Kritik neuer Methoden der Life Sciences ist sie ein beliebter und vielgenutzter Anker der Argumentation, wie zum Beispiel im Falle des Klonens:
Eine solche Argumentation sieht im Klonen eine unzulässige Instrumentalisierung von Tieren, die als Mitgeschöpfe empfunden werden und als solche über ihre Zweckhaftigkeit hinaus einen Eigenwert haben, der dem menschlichen Handeln Grenzen setzt. 83
Im Falle der gentechnischen Eingriffe verhält es sich nicht anders. Dies bringen
Ina Praetorius und Peter Saladin (beide Theologen) in der folgenden Passage zum
Ausdruck:
Gentechnische Eingriffe, zu menschlichen Zwecken (also nicht um der betroffenen Tiere
oder Pflanzen selbst willen), d. h. Eingriffe, die das Genom von Tieren und Pflanzen verändern, bedeuten stets einen Angriff auf die Integrität und damit auf die Würde der Kreatur;
denn die Kreatur wird dadurch offensichtlich und entschieden instrumentalisiert, sie wird in
ihrer biologischen Grundstruktur so verändert, dass sie als Objekt menschlicher Nutzung
bessere Dienste leisten kann. 84
Die Struktur solcher Argumente fußt auf der Missachtung der Selbstzwecklichkeit von Tieren (und Pflanzen). Beat Sitter-Liver bringt dies auf den Punkt, wobei
bei ihm die gänzliche Instrumentalisierung im Vordergrund steht: »Diese Verneinung jeglicher Selbstzwecklichkeit, im wörtlichen Sinne ab ovo, ist mit der Idee
der Würde der Kreatur nicht verträglich.« 85 Diese Selbstzwecklichkeit ist keineswegs nur dann missachtet, wenn Tieren Leid angetan wird. So ist etwa das Klonen
82. Manuel Schneider: Über die Würde des Tieres. In: Manuel Schneider (Hg.): Den Tieren gerecht werden. Zur Ethik und Kultur der Mensch-Tier-Beziehung (Tierhaltung, 27),
Witzenhausen 2002, 234.
83. Christoph Revermann, Leonhard Hennen: Das massgeschneiderte Tier. Klonen in
Biomedizin und Tierzucht (Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, 9), Berlin 2001, 156.
84. Ina Praetorius/Peter Saladin: Die Würde der Kreatur (Art. 24novies Abs. 3 BV): Gutachten, (Schriftenreihe Umwelt; Nr. 260. Recht, Organismen). Bern 1996, 94.
85. Beat Sitter-Liver: »Würde der Kreatur«. Eine Metapher als Ausdruck erkannter Verpflichtung. In: Beat Sitter-Liver: Der Einspruch der Geisteswissenschaften. Ausgewählte
Schriften, Freiburg 2002, 485.
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einer Katze, die selbst wie auch ihr Klon nicht unter der Klonierung leiden, aus
dieser Sicht ethisch problematisch. 86
3.5 Ideale Ansprüche in einer nicht-idealen Welt:
Instrumentalisierung als Grundkategorie der Mensch-Tier-Beziehung
Vor diesem Hintergrund fördern die theologischen Texte eine spannende Alternative zum philosophischen Nachdenken über Instrumentalisierung zutage. In der Stellungnahme der Nordelbischen Kirche aus dem Jahr 2005 »Zum verantwortlichen
Umgang mit Tieren« wird die Frage der Instrumentalisierung nicht ausschließlich
als moralisches Defizit behandelt, sondern vielmehr als – keineswegs unproblematische – Grundkategorie der Mensch-Tier-Beziehung. Die folgende kurze Rekonstruktion soll dazu dienen, diese Perspektive etwas klarer vor Augen zu bekommen.
Der Text geht von der Spannung am Ort des Individuums aus, wie sie in der
sozialen Realität vorzufinden ist und erlebt wird. Die Stellungnahme startet nicht
bei moralphilosophischen Spekulationen, sondern bei der Verantwortung und der
genannten Rückwirkung der Missachtung tierlicher Ansprüche auf die Akteure:
Das bedeutet, die anderen Lebewesen nicht nur in ihrem Wert für Menschen zu sehen, sondern so, wie sie sich von sich aus zeigen. Dazu bedarf es keiner Apparatur, sondern wacher
Sinne. Dazu bedarf es auch des Bewusstseins, dass wir immer von unserem menschlichen
Standpunkt aus wahrnehmen und werten. Wo Tiere nur unter Nutzungsinteressen gesehen
werden, da werden sie zur Ware. Und der Mensch reduziert sich selber auf den Verbraucher. 87
In dieser Passage wird deutlich, dass die vollständige Instrumentalisierung als
moralisches Problem gesehen wird. Allerdings bleiben die Autoren nicht an diesem
Punkt stehen. So wird das Sabbatgebot der fortwährenden Instrumentalisierung
entgegengestellt:
Mit dem Sabbat endet die Schöpfung. Mit dem 7. Tag, einem Tag der Ruhe und des Einklangs zwischen Mensch und Tier, setzt Gott seiner Schöpfung die Krone auf. Der Sabbat
ist in der Bibel die Zeit für die Ausrichtung an Gottes Segen: Am Sabbat soll der Mensch
nicht arbeiten. Er soll ruhen und ruhen lassen. […] Erst diese Zurücknahme ermöglicht die
Wahrnehmung der Welt als Schöpfung und sich selbst als einen Teil davon. Am Sabbat sollen
auch die Tiere in Ruhe gelassen werden. Ihnen wird damit ein vom Menschen unabhängiges
Recht zuerkannt.88
Die Instrumentalisierung ist hier nicht nur ein Problem auf der Seite der Tiere in
der Mensch-Tier-Beziehung. Das moralische Problem wird vielmehr auch auf der
Seite der Menschen angesiedelt. Denn Menschen würden etwas Wesentliches verlieren, wenn sie Tiere nur unter dem Aspekt des Nutzens sehen würden. Erst die
Zurücknahme der Nutzungsperspektive macht es möglich, die Welt in einem relevanten Sinn als Schöpfung wahrzunehmen. Nimmt man diese Perspektive nicht zu86. Vgl. hierzu Andreas Steiger, Samuel Camenzind: Heimtierhaltung – ein bedeutender,
aber vernachlässigter Tierschutzbereich. In: H. Grimm, C. Otterstedt, Tier (wie Anm. 52).
87. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 16.
88. Ebda., 24
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rück, so verliert man als Mensch etwas; das Absehen von Instrumentalisierung wird
hier zu einem Gewinn für die Menschen. Diese Interpretation ist in der philosophischen Debatte strukturell schwieriger, da Instrumentalisierung immer auf menschliche Zwecke zielt. Dass sie diesen entgegen stehen kann, wird über den theologischen Zugang deutlich.
Was hier keineswegs unter den Tisch fallen sollte, ist der Umstand, dass für das
Absehen von der Instrumentalisierung Zeit reserviert wird, in der Menschen »ruhen
lassen« sollen. Zumindest zeitweise soll von der Verzweckung von Tieren abgesehen
werden, um die Welt als Schöpfung wahrnehmen zu können. Es handelt sich also
um ein zeitliches Hintereinander von Instrumentalisierung und dem Absehen von
ihr. Hier wird die Spannung zwischen Instrumentalisierung zu fremden Zwecken
und der Zurücknahme menschlicher Zwecke chronologisch aufzulösen versucht.
Es gibt eine Zeit, in der Tiere als Mittel auftauchen, und eine Zeit, in der ihre eigenen
Zwecke in den Vordergrund gestellt werden. Es bedarf einer Anstrengung, diese
Perspektive einzunehmen. Anders gesagt, das »Normale« ist die instrumentelle Beziehung von Menschen und Tieren und nicht die Aussöhnung mit ihnen. Das Absehen von Instrumentalisierung wird demgegenüber als wichtiger Moment der
Mensch-Tier-Beziehung beschrieben, der einen Perspektivenwechsel erfordert und
den Blick für Wesentliches öffnet:
Nur so kann ernst genommen werden, dass jede Art ihr Eigenes hat, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Geschwindigkeit, ihr eigenes Bedürfnis nach Raum und nach anderem. Von
dort können ethische Maßstäbe ausgehen und auch für den wirtschaftlichen Umgang mit
Tieren prägend wirksam werden. 89
Das Sympathische an dieser Position ist erstens, dass die Instrumentalisierung
nicht von vornherein gebrandmarkt wird. Hier stehen die theologischen Denker
mitten im Leben. Wollten wir die Instrumentalisierung von Tieren um jeden Preis
vermeiden, so dürften wir gar keine Tiere mehr halten: keine Tiere, kein Problem!
Hier bietet die Beschreibung der Instrumentalisierung als unvermeidbare Grundkategorie der Mensch-Tier-Beziehung eine Alternative, die bedenkenswert ist.
Zweitens ist das Vertrauen in die verantwortlichen Akteure nicht nur sympathisch,
sondern moralisch auch höchst »produktiv«. Sie sollen selbst wahrnehmen, welche
Bedürfnisse ihre Tiere haben, und sich damit aktiv auseinandersetzen. Erst die eigene Wahrnehmung der Eigenart der Tiere bringt auch die Sensibilität für die tierlichen Bedürfnisse, so könnte man ergänzen. Nur aufgrund dieser nicht-instrumentalisierenden Perspektive (als bewusstes Absehen von Instrumentalisierung), die
verantwortliche Tierhalter bewusst einnehmen sollen, wird die ethische Kritik für
die verantwortlichen Tierhalter anschlussfähig und verstehbar.
Es lässt sich noch ein weiterer Aspekt der theologischen Stellungnahme festmachen, der die philosophische Debatte bereichern könnte. Auch dieser ergibt sich
aus der Instrumentalisierung als unvermeidbare Grundkategorie. In diesem Rahmen wird ein Zugleich von Instrumentalisierung und Achtung im strengen Sinn
denkbar: »Nicht ein Maximum an Ertrag in einem Minimum an Zeit ist das Ziel.
Das Ziel ist Einklang zwischen sicheren guten Erträgen und der Berücksichtigung
89. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 25.
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der Eigenart der Mitgeschöpfe. 90 Wenn die Instrumentalisierung als unvermeidbare
Grundkategorie oder als Strukturmerkmal der Mensch-Tier-Beziehung gedacht
wird, dann ist es – wie im Zitat – nur folgerichtig, ein Zugleich anzustreben.
Damit lassen sich mindestens zwei spannende Perspektiven auf das Verhältnis
von Instrumentalisierung und Achtung festhalten. Erstens das Hintereinander von
Instrumentalisierung und Achtung als aufeinander folgende Maximen des Handelns
und Wahrnehmens, wobei dieser Perspektivenwechsel nicht nur zugunsten der Tiere vorgenommen wird, sondern auch den wahrnehmenden und handelnden Menschen bereichert. Zweitens das Zugleich von Instrumentalisierung und Achtung
von Tieren. Instrumentalisierung und Achtung werden hier nicht nur als zwei Pole
beschrieben, die am Ort des Individuums Konflikte verursachen. Die Instrumentalisierung prägt die Mensch-Tier-Beziehung grundsätzlich. Achtung beschreibt hier
eine normative Verbindlichkeit, die auf die Wertschätzung der Tiere verpflichtet
und trotz der Instrumentalisierung möglich ist. Dieses Anerkennen der Zerrissenheit und der Schwierigkeiten des moralischen Lebens kann für die philosophische
Tierethik inspirierend wirken.
3.6 Die Gebrochenheit der Welt als Ausgangssituation
Für eine Ethik der Mensch-Tier-Beziehung macht es einen großen Unterschied, ob
man davon ausgeht, dass eine ideale Mensch-Tier-Beziehung im Sinne einer endgültigen Überwindung jeglicher Gewalt in der Schöpfung91 möglich ist oder nicht.
Pointiert gesagt ist es die Frage, ob es um die Überwindung jeglicher Gewalt oder
die Rechtfertigung von Gewalt gehen soll. Soll jegliche Gewalt gegen Tiere überwunden werden, so muss jede Instrumentalisierung von Tieren moralisch defizitär
beschrieben werden, da eine instrumentalisierende Handlung Tiere per definitionem fremden Zwecken unterwirft. Wird die Überwindung jeglicher Gewalt gegen
Tiere nicht als Sehnsucht, sondern als anzustrebender Weltzustand gesehen, so würde in der Mensch-Tier-Beziehung tatsächlich kein Stein auf dem anderen bleiben
können. Jeder Versuch der Rechtfertigung wäre in der Tat nur eine Tradierung moralisch verwerflicher Zustände. Anders liegt der Fall, wenn die Sehnsucht als solche
das Handeln leiten soll und die Notwendigkeit der Rechtfertigung deutlich macht.
Welche Position hier zu wählen ist, ist in den kirchlichen Dokumenten keineswegs ausgemacht. So wurde bereits hervorgehoben, dass gerade jene Stellungnahme,
welche die Ausgangslage am differenziertesten beschreibt, harter Kritik und Angriffen auch von kirchlicher Seite unterzogen wurde. 92 Sie zieht die Möglichkeit der
Überwindung jeglicher Gewalt in Zweifel und stellt die Verantwortung am Ort
des Individuums in den Vordergrund. Diese Position wird gerne als nachgiebig
und konventionalistisch beschrieben. Diese Kritik kann, muss aber nicht berechtigt
sein; je nachdem, ob die Aussöhnung mit der Natur und den Tieren für möglich
gehalten wird oder nicht, wird man diese Kritik als berechtigt gelten lassen oder
eben nicht.
90. Ebda., 25.
91. Ethos der Mitgeschöpflichkeit (wie Anm. 66), 1.
92. Vgl. 2. 2. 2 im vorliegenden Text.
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Insbesondere »Zum verantwortlichen Umgang mit Tieren« ist an dieser Stelle
eine wertvolle Quelle. Hier wird auf Idealisierungen der Mensch-Tier-Beziehung
verzichtet und es wird auch keine Gegenfolie einer moralisch defizitären Welt entworfen. Vielmehr ist die Grundlage die Gebrochenheit der Welt und die Anerkenntnis derselben als solche. Am Anfang der aktuellen Debatte steht nicht mehr der
Garten Eden als Sinnbild und Ziel einer idealen Mensch-Tier-Beziehung. Die Probleme werden sozusagen vor dem Hintergrund der Vertreibung aus dem Paradies
und seiner Unerreichbarkeit behandelt. In der bibelnahen theologischen Grundlegung wird diese thematisiert: »Die Beziehung zwischen Mensch und Tier wird in
der Bibel an keiner Stelle idealisiert. Die Bibel beschreibt die Realität dieser Beziehung als von Furcht und Schrecken gekennzeichnet. Aber im Kern geht es ihr um
die Verantwortung vor Gott.« 93 Der Friede und die Aussöhnung zwischen Menschen und Tieren als ideale Mensch-Tier-Beziehung sind hier nicht als Regel oder
Ziel thematisiert. Bestenfalls werden sie als Sehnsucht beschrieben. Es sind kontrafaktische Annahmen, die nicht zu einem konkreten, erreichbaren Weltzustand verklärt werden sollte, sondern unerreichbar das Handeln orientiert:
Die Weissagungen antworten auf eine Sehnsucht: Alle Kreatur wartet auf Erlösung. Die
Menschen werden als Kinder Gottes in dem Moment sichtbar, in dem sie zum Zeichen der
Hoffnung für die anderen Kreaturen werden und wenn ihre Herrschaft über sie zu einem
Segen wird. 94
Wie bereits angedeutet, steht diese Interpretation der biblischen Texte durchaus
in einer Spannung zu anderen kirchlichen Dokumenten wie z. B. dem Wort derselben Kirche (Ethos der Mitgeschöpflichkeit), das einige Jahre zuvor erschienenen ist.
Obwohl der ältere Text das Ziel des Friedens und der Überwindung der Gewalt in
der Schöpfung aufgreift und vorstellt, anerkennen aber auch seine Autoren, dass es
sich bei der Überwindung der Gewalt in der Schöpfung nicht um ein menschliches
Ziel handeln kann, sondern um eine neue Schöpfung Gottes:
Darum halten wir fest an der Hoffnung auf eine endgültige Überwindung der Gewalt in der
Schöpfung und gegen die Schöpfung. Der Frieden mit der Natur ist das Kennzeichen einer
anderen, einer neuen Schöpfung, die allein in Gottes Hand steht, aber auf die hin wir leben.
Im Horizont dieser Hoffnung wissen wir uns berufen, ›in aller Gebrochenheit unserer irdischen Existenz Hoffnungszeichen für die uns umgebende Kreatur zu sein und nicht ihr großer Zerstörer.‹ 95
Diese Anerkennung der Gebrochenheit menschlicher Existenz und des moralischen Lebens ist eine Bereicherung und eine hilfreiche Figur auch für die philosophische Tierethik. Nun wird sie freilich von manchen schon als Zugeständnis und
»Kleinbeigeben« ausgelegt. 96 Die Perspektive, von der aus diese Kritik geübt wird,
ist jedoch wenig überzeugend. Wer davon ausgeht, dass die soziale Realität so angelegt ist, dass moralische Ziele einfach zu erreichen wären, verkennt die Situation.
Vielmehr ist es nur ein erster Schritt, die moralische Pflichten gegenüber Tieren zu
93. Zum verantwortlichen Umgang (wie Anm. 31), 19.
94. Ebda., 23.
95. Ethos der Mitgeschöpflichkeit (wie Anm. 66), 1.
96. Vgl. hierzu die »Stellungnahmen zum Text« im Dokument »Zum verantwortlichen
Umgang (wie Anm. 31), wie etwa 61–64.
81
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begründen. Ein zweiter und sicherlich viel schwierigerer Schritt ist es, diese Verantwortung unter Rücksicht auf konfligierende normative Ansprüche für die Praxis zu
übersetzen. So bringt die Verfolgung ethisch begründeter tierschützerischer Anliegen nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Wenn etwa moralische Ansprüche
von Tieren in die soziale Realität integriert werden sollen, muss auch geklärt werden, welche konfligierenden Ansprüche zurücktreten sollen. Die gesellschaftliche
Orientierung an moralischen Überzeugungen ist leider keineswegs notwendig eine
Win-win-Situation. Und diese Diskrepanz zwischen der Begründungsebene (alle
wollen das abstrakte Gute) und der Umsetzungsebene (das konkrete Gute ist nicht
einfach zu haben) wird in dem kirchlichen Dokument »Zum verantwortlichen Umgang mit Tieren« exemplarisch zum Thema.
Die theologische Position anerkennt die Schwierigkeiten des moralischen Lebens
und macht sie an der Mensch-Tier-Beziehung deutlich. Es bleibt die Aufgabe, trotz
konfligierender Ansprüche die tierlichen Gegenüber zu achten. Dieses »sowohl als
auch« ist sicherlich ein wegweisender und hilfreicher Gedanke bei der Diskussion
um die moralische Verantwortung gegenüber Tieren. Denn dieses »sowohl als auch«
wird in der philosophischen Tierethik nicht immer als legitime Position erachtet.
Auch hier ist die Frage, ob eine Welt ohne menschenverursachtes Leid möglich ist
oder nicht und wie moralische Ansprüche in die Praxis umgesetzt werden können.
Auch »hard liner« wie Regan scheinen diesen Punkt zunehmend aufzugreifen. So
schreibt er im Vorwort einer Neuauflage seines Buches The Case for Animal Rights:
I looked forward to the glorious day when The Case for Animal Rights [das Buch von Tom
Regan; H. G.] would transform America, the world even, into a safe haven for animals, a
place where, at long last, they would be treated with respect. […] Talk about being mistaken.
Not only did I greatly overestimate the power of The Case, I greatly underestimated the
many challenges standing in the way of society’s full acceptance of animal rights. […] The
pace of social change requires the plodding endurance of the marathoner, not the lightning
speed of the sprinter. 97
Die Anerkennung der Welt als Ort, an dem das Ideal an der Wirklichkeit bricht,
wird auch in der Tierethik in zwei Richtungen gelesen. a) »Kleinbeigeben« und
Aufgabe moralisch hochstehender Ziele; b) Anerkennung, dass in einer wertepluralen Gesellschaft Tierschutz ein normatives Ziel neben anderen ist, das auch begründet in den Hintergrund treten kann. Der Umgang mit und die Anerkennung unterschiedlicher normativer Ziele ist die Crux der Umsetzungsdebatte. Je nachdem, ob
man der Meinung ist, dass der Garten Eden als Sinnbild der konfliktfreien Verwirklichung unterschiedlicher normativer Ziele eine realistische Option ist oder nicht,
wird man sich zur einen oder anderen Position hingezogen fühlen. Entweder ist
man der Ansicht, dass die Welt nur in Unordnung gebracht wurde und wieder in
eine ideale Ordnung überführt werden soll, oder man ist der Ansicht, dass es darum
geht, laufend Verantwortung für ihre Verbesserung zu übernehmen, ohne einen Idealzustand erreichen zu können. 98 Die Entscheidung für eine der beiden Positionen
hat unmittelbare Relevanz für die Beurteilung moralischen Handelns.
97. T. Regan, Case (wie Anm. 53), XLV.
98. Vgl. zum Meliorismus in der anwendungsorientierten Ethik: H. Grimm, Experiment
(wie Anm. 73), 265–270.
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Vom Standpunkt der Möglichkeit einer idealen Welt aus gesehen, wird jede Verbesserung der Ist-Situation nur als ein Schritt wahrgenommen werden können. Gegenüber dem angestrebten, idealen Ziel verblassen die Anstrengungen, die diesem
Ziel (im besten Fall) ein Stück näher bringen. Sie werden teilweise sogar selbst als
problematisch erfahren. Denn das Erreichbare ist nicht auch gleichzeitig das moralisch Richtige. Um dies zu verdeutlichen, kann man das Beispiel einer sklavenhaltenden Gesellschaft bemühen: In einer sklavenhaltenden Gesellschaft ohne geregelte Arbeitszeiten wären geregelte Arbeitszeiten für Sklaven eine Verbesserung. Vom
nicht-idealen Standpunkt aus würde dies als Verbesserung anerkannt werden und
auch als moralisch wünschenswert beschrieben werden können. Vom idealen Standpunkt aus ist diese Verbesserung jedoch nur eine Maßnahme, die dazu beiträgt, ungerechte Zustände weiter zu konservieren.
Historisch lässt sich argumentieren, dass das, was wir heute als moralisch richtig
und falsch anerkennen auch Vorläufer hatte. Gerade die frühen Autoren der neueren
Tierethik nehmen dieses Argument in Anspruch. Wenn z. B. Singer die Befreiung
der Tiere in eine chronologisch geordnete Reihe mit der gesellschaftspolitischen
Abkehr von Sklaverei, Diskriminierung von Schwarzen und Ungleichbehandlung
von Frauen und Männern stellt, dann denkt er historisch evolutionär. Gerade wenn
man diese Chronologie ernst nimmt und trotz der Brüche von einer moralischen
Weiterentwicklung ausgeht, sollte die schrittweise Verbesserung, die an kein Ende
kommt, als ernstzunehmende und anstrebenswerte Option behandelt werden. Für
alle, die den Garten Eden als realistische Option sehen, ist dieser Weg enttäuschend.
Dieser Enttäuschung hat das biblische Bild hat mit der Vertreibung aus dem Garten
Eden vorgegriffen. Die soziale Realität ist eben nicht auf das Gute hin ausgerichtet,
sondern muss immer wieder neu auf das Gute hin ausgerichtet werden. Es ist wenig
befriedigend, die schrittweisen moralischen Innovationen wie etwa die Verbesserung der Situation von Tieren in Bausch und Bogen moralisch zu diskreditieren.
Es ist nicht nur die beste, sondern auch die einzig mögliche Option.
Der Schwierigkeit kann aber auch mit einem zweiten Argument begegnet werden: Hierfür lässt sich die Unterscheidung von Individual- und Sozialethik heranziehen. Während auf der individualethischen Ebene die konkrete Verantwortung
von Akteuren innerhalb bestehender Rahmenbedingungen im Vordergrund steht,
wird in der Sozialethik der normative Rahmen reflektiert, in dem das moralische
Handeln stattfindet. Auf der individualethischen Ebene ist es das zentrale Anliegen,
den Gestaltungsspielraum im Sinne moralischer Ansprüche zu nutzen. Auf der sozialethischen steht das Ziel im Zentrum, Rahmenbedingungen herzustellen, die es
den verantwortlichen Akteuren erlauben, moralisch richtig zu handeln. Strukturell
ist damit gesagt, dass Überforderung durch moralische Gebote auf der individualethischen Ebene als rechtfertigender Grund einer Unterlassung gelten können (ultra
posse nemo obligatur). So könnte die benannte Schwierigkeit so aufgelöst werden,
dass auf der individualethischen Ebene dafür Sorge zu tragen ist, die soziale Realität
schrittweise zu verbessern, während es auf der sozialethischen Ebene das Anliegen
sein sollte, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, das dies auch tatsächlich möglich ist. 99 Hier wird das Programm der Tierethik »Wie wird man den Tieren ge-
99. Zur Frage, wie diese Ebenen zusammenhängen, vgl. ebda., 265–270.
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recht?« um einen wichtigen Punkt erweitert und zu einer Ethik der Mensch-TierBeziehung. Diese fragt darüber hinaus, wie die Rahmenbedingungen zu verändern
sind und die verantwortlichen Menschen darin unterstützt werden können, ihrer
tierethischen Verantwortung gerecht zu werden.
4. Ethik zwischen Sekte und Volkskirche:
Anmerkungen zur kirchlichen Dimension der Mensch-Tier-Beziehung
Worin der Eigenwert, die »Würde« oder – besser – die Achtung besteht, die der
Mensch dem Tier schuldet, ist nicht alleine eine Frage der biologischen Merkmale
von Tieren. Vielmehr verweisen in theologischer Hinsicht die empirischen Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses auf einen gemeinsamen Horizont, der für die
Lebensführung des Menschen handlungsleitend ist. Die anthropologischen und biologischen Aspekte münden dabei in die Frage ein, wie das Zusammenleben von
Mensch und Tier gestaltet werden kann. Insofern verweisen auch tierethische Dimensionen auf das theologische Verständnis von Gemeinschaft bzw. Gemeinde, innerhalb dessen sowohl die Förderung dieser Beziehung als auch ihre Grenzen anerkennungsfähig sind.
Blickt man auf die historischen Wurzeln der Tierschutzbewegung, dann wird
deutlich, dass die Moralisierung des Mensch-Tier-Verhältnisses zentrale Impulse
aus der christlichen Liebesethik empfangen hat. Vor allem unter Bezugnahme auf
die ethische Kategorie der moralischen Empfindung ist dieser Tierschutzgedanke in
der Gegenwart zu einer machtvollen Bewegung angewachsen, die allerdings in
einem deutlichen Kontrast zu den Konsumgewohnheiten moderner Gesellschaften
und der ihr korrespondierenden Nutztierhaltung steht. Der Gegensatz einer sensitivistischen Begründung des »Glücks der Tiere« und der utilitaristischen Rechtfertigung ihrer Nutzung zum Zwecke des Menschen ist dabei zwar stärker ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Die starke Moralisierung der
Mensch-Tier-Beziehung fördert jedoch in der öffentlichen Debatte zugleich eine –
oftmals stereotype – Konfrontation von »Tierschützern« und »Fleischessern« oder
Nutztierhaltern, die bisweilen den Charakter eines Glaubenskonflikts annimmt.
Vor diesem Hintergrund einer tendenziellen Konfliktverschärfung in der Auseinandersetzung um Tierschutz und Tierrecht erscheint das vermeintlich bloße »Lavieren« und »Moderieren« kirchlicher Gremien und Arbeitsgruppen in den letzten 20
Jahren in einem ganz anderen Licht. Rückblickend kann man feststellen: Die deutlichen Konfliktlinien und Unversöhnlichkeiten, die die Stellungnahme des Beirats
des EKD-Beauftragten für Umweltfragen im Jahr 1991 noch prägten, haben sich in
den intensiven Dialogen zumindest nicht verschärft, sondern sind – vor allem auf
der Ebene einzelner Landeskirchen – zunehmend einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Problem gewichen. Die einzelnen Voten aus dem Raum der
Kirchen zu Massentierhaltung, Fleischkonsum oder Tierversuchen fallen deutlich
vermittelnd aus und erhalten ihr Profil weniger durch zugespitzte Forderungen
»zur Umkehr« als vielmehr durch das beharrliche Bemühen, bei der Formulierung
von konkreten Problemen und Lösungsvorschlägen eine breite Koalition von Anwälten des Tierschutzes, Nutztierhaltern und Landwirten, aber auch Tierärzten mit
»ins Boot« zu bekommen«. In diesem Bestreben drückt sich eine Selbstpositionie84
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rung von Kirche in moralischen Debatten über den Tierschutz aus, die versucht, die
unterschiedlichen Funktionen moralischer Kommunikation zusammenzuhalten.
Also: Die differenztolerante Position eines pluralen Ethos unterschiedlicher Betroffenen- und Nutzerperspektiven auf der einen Seite und den rigorosen Protest gegen
eine unerträgliche Praxis des Umgangs mit Tieren auf der anderen Seite so aufeinander zu beziehen, dass die konfligierenden Parteien für die jeweils andere moralische
Sicht auf den Konflikt sensibilisiert werden können. Diese unterschiedlichen Funktionen moralischer Kommunikation hat der Soziologe Wolfgang Krohn einmal mit
den Begriffen »Funktionsmoral« und »Protestmoral« treffend charakterisiert und
die These entwickelt,
dass Funktionsmoral und Protestmoral komplementär und antagonistisch zusammen gehören. Die Institutionalisierung von Moral in den Funktionssystemen und die Sicherung der
Codes gegen unethische Übergriffe einerseits und die Mobilisierung moralischer Gefühle
gegenüber neuen Problemlagen mit Verletzung institutioneller Grenzen andererseits ergänzen einander zu einer Dynamik, in der die institutionelle Gewährleistung anerkannter Werte
funktional gesichert bleibt und die soziale Durchsetzung neuer (gelegentlich die Abschaffung obsoleter) Werte Entfaltungschancen besitzt. 100
Dieses bleibende Aufeinanderbezogensein unterschiedlicher Funktionen von
Moral korrespondiert unverkennbar einer »Doppelstämmigkeit« des christlichen
Ethos, die Ernst Troeltsch am Ende seiner großen Studie »Die Soziallehren der
christlichen Kirchen und Gruppen« (1912) anhand des komplementären Typus
von (Volks)kirche und Sekte soziologisch auf den Begriff gebracht hat. 101 Dabei bestimmt er es als Aufgabe des gegenwärtigen Christentums, das ethische Ideal »reiner
Christlichkeit« und die kulturvermittelnde Kraft der »Weltanpassung« – also die
differenten Programme von Kirche und Sekte – innerhalb des Kirchentypus selber
zur Ausbildung zu bringen. »Funktionsmoral« und »Protestmoral« bleiben in dieser Perspektive aufeinander bezogen, sofern sie beide darauf ausgerichtet sind, die
Sozialgestalt des Christentums auf dem Boden eines verbindenden Bekenntnisses
zum Ausdruck zu bringen, auch wenn in Anwendungsfragen unterschiedliche ethische »Härtegrade« vertreten werden.
Bezogen auf die Debatte um die Tierethik im Protestantismus bedeutet dies: Der
starke Reformimpuls einer moralischen Hinwendung zum Tier entfaltete sich vor
allem innerhalb von nonkonformistischen Sektenbewegungen. In pluralistischen
Gesellschaften kann jedoch dieser ethische Impetus nur in einem solchen Verständnis von Kirche aufrechterhalten werden, die sich zur Pluralität der unterschiedlichen Positionen und Gruppen innerhalb des Christentums in ein reflektiertes Verhältnis selbst und sich damit als einen »Institution« versteht, d. h. als Ort der
engagierten Vermittlung zwischen den widerstreitenden Parteien und Betroffenengruppen. Die kirchlich gebotene Aufgabe besteht dann darin, die gesellschaftsverändernde Kraft des Nonkonformismus in die Institutionalität aufzunehmen und so
diskursiv auf Dauer zu stellen. Das kann aber nur gelingen, wenn dieser Diskurs
selber eine gewisse Professionalisierung erfährt, wie dies z. B. durch die wissen100. Wolfgang Krohn: Funktionen der Moralkommunikation, in: Soziale Systeme 5 (1999),
313–338, 332.
101. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte
Schriften, 1), Tübingen 1912, 965–986.
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schaftsbasierte Behandlung des Themas in interdisziplinären Arbeitsgruppen,
Ethikkommissionen oder der Ethikberatung für die Landwirtschaft bereits eingeleitet worden ist. Solche Orte eines qualifizierten Dialogs über engagierte, aber eben
auch konfliktträchtige Themen wie die Mensch-Tier-Beziehung bereitzustellen,
steht einer Kirche, die sich auf dem Weg hin zu einem »Schöpfungspazifismus«
befindet, gut an.
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