physiotherapie Tiefe Hirnstimulation bei Morbus Parkinson Die Tiefe Hirnstimulation ist nicht die erste lleine in Deutschland gibt es circa 250.000 Betroffene, die ­ihren Alltag mit Rigor, Tremor und Akinese meistern müssen. Tischler, Lehrer, Kassierer, Künstler – jeden kann sie treffen: die Parkinson’sche Krankheit (a Kasten „Hintergründe“). Sie beein­ trächtigt das Leben von Jahr zu Jahr mehr, und wenn die Medika­ mente nicht mehr ausreichend wirken, ist eine Tiefe Hirnstimula­ tion (THS) oft die letzte Hoffnung, um den Beruf weiter ausüben zu können. Über haarfeine Elektroden gibt bei diesem Verfahren ein implantierter Stimulator – der sogenannte Hirnschrittmacher – elektrische Impulse ans Gehirn. Ziel ist es, die motorischen Funkti­ onen der Patienten und deren Lebensqualität zu verbessern sowie den Behinderungsgrad zu senken. Die Therapie ist nicht neu, wird aber in den letzten Jahren immer häufiger angewendet. Weltweit sind mittlerweile über 30.000 Menschen mit den kleinen Elektro­ helfern im Hirn versorgt. Physiotherapeuten sollten das Verfahren kennen, damit sie in der Nachbehandlung die bestmöglichen ­Ergebnisse mit ihren Patienten erzielen können. A Hintergründe Morbus Parkinson Beim Parkinson degeneriert die Substantia nigra und es kommt zu einer beidseitigen Degeneration der dopaminer­ gen Neurone und somit zu einer geringeren Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin – dem wichtigsten Boten­ stoff in den Basalganglien des Gehirns. Der Dopaminmangel führt zu den bekannten Störungsbil­ dern bei den Patienten: Die Muskeln werden steif, die Hände zittern (vor allem in Ruhe), und die Bewegungen verlang­ samen sich. Verschiedene Hirnareale sind betroffen – unter anderem der für die Bewegungssteuerung zuständige Sub­ thalamus, der überaktiv wird. Der Grund für die Überaktivi­ tät liegt an einem weiteren mangelnden Botenstoff: dem GABA (γ-Amino-Buttersäure). Dieser hemmt normalerweise die Aktivität der Nervenzellen. Bei der Tiefen Hirnstimulation werden vermutlich diese über­ aktiven Zellen stimuliert – wobei der genaue Wirkmechanis­ mus noch nicht bis ins Letzte geklärt ist. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Wahl in der Behandlung von Patienten mit Parkinson. Doch wenn die Medikamente nicht mehr wirken, der Tremor unerträglich ist oder ein sehr starker Wechsel von On- und Off-Phasen vorliegt, ist die Implantation von Elektroden ins Gehirn eine nicht mehr wegzudenkende Therapieoption. Medikamentöse Therapie bleibt Goldstandard > Die Tiefe Hirn­ stimulation (engl.: Deep Brain Stimulation) führen Ärzte seit Mitte der 90er-Jahre in Deutschland durch. Ihre Wirksamkeit beim Mor­ bus Parkinson ist mittlerweile in vielen Studien bewiesen und weltweit wird sie in spezialisierten neurologischen Kliniken einge­ setzt. Grundsätzlich gilt allerdings die medikamentöse Therapie mit L-Dopa, Dopaminagonisten und Glutamatagonisten weiterhin als Goldstandard. Erst wenn die Patienten auf die medikamentöse Behandlung nicht mehr oder nicht mehr ausreichend ansprechen oder eine Medikamentenunverträglichkeit vorliegt, ist die Implan­ tation der Elektroden die Therapie der Wahl. Des Weiteren wird beim Parkinson operiert, wenn Patienten stark fluktuieren (häufi­ ger Wechsel zwischen On- und Off-Phasen) und bei einem beson­ ders starken Tremor. Wichtig zu wissen ist, dass die Therapie nicht bei atypischen und sekundären Formen des Parkinsons hilft, da diese auf einem anderen Pathomechanismus basieren. OP bei vollem Bewusstsein > Die Operation erfolgt in zwei Schrit­ ten. Im ersten Schritt platzieren die Neurochirurgen die Elektroden in beiden Gehirnhälften im Nucleus subthalamicus. Während des Großteils der vier- bis achtstündigen Operation sind die Patienten wach – nur so können die Operateure die Wirksamkeit der Stimu­ lation überprüfen. Ihre Medikamente müssen die Patienten vor dem Eingriff absetzen. Um die Zielpunkte millimetergenau zu tref­ fen, greifen die Neurochirurgen auf das in den 40er-Jahren entwi­ ckelte stereotaktische Verfahren zurück. Für die Stereotaxie spannt man den Kopf des Patienten in ein dreidimensionales Metallring­ system und berechnet mithilfe spezieller Computerprogramme die Winkel und Distanzen, mit denen dann eine dünne Sonde in die tiefen Hirnareale vordringen soll. Die genaue Zielpunktbestim­ mung für die Testelektrode erfolgt mittels bildgebender Verfahren (Computertomografie, Kernspintomografie und Ventrikulografie) vor und während der Therapie. Zu Beginn der OP befinden sich die Patienten noch unter Narkose, da so für die Berechnung die besten Bilder entstehen. „Neben dem Einsatz von ein bis zwei Neurochir­ urgen, zwei Neurologen und dem Anästhesisten ist dann die Hilfe der Patienten gefragt“, erläutert Prof. Dr. Günther Deuschl, ärztli­ cher Direktor der Klinik für Neurologie an der Universität Kiel. Die physiopraxis 5/08 38 Mit Strom im Kopf zur Ruhe kommen physiotherapie weitere Indikationen Tremor, Dystonie & Co Abb. Bei der Tiefen Hirnstimulation ist höchste Konzentration gefragt: von den Ärzten, die die Elektroden platzieren, und von den Patienten, die verschiedene Aufgaben lösen müssen. Patienten müssen Hände, Arme und Beine bewegen, komplexe Aufgaben lösen und sich melden, wenn Taubheitsgefühle oder ein Kribbeln auftreten (a Abb.). „Da die Operation sehr lange dauert, kommt es in einigen Kliniken vor, dass Physiotherapeuten in den OP geholt werden. Sie bewegen die Patienten durch, um das lange Liegen zu erleichtern“, berichtet Deuschl, an dessen Klinik pro Jahr circa 60 bis 80 Patienten Elektroden eingesetzt bekommen. Ist der Punkt der maximalen Wirkung gefunden und treten keine Nebenwirkungen auf, tauscht der Operateur die Testelektrode gegen eine permanente aus und fixiert sie mit einem Titanplättchen am Schädel. Im Anschluss verbindet er die Elektroden mit ­einer spezi­ ellen Verlängerung, die er nach außen legt, um in den folgenden Tagen die intraoperativen Ergebnisse zu überprüfen und poten­ zielle Nebenwirkungen auszuschließen. physiopraxis 5/08 Schrittmacher im zweiten Schritt > Die zweite Operation erfolgt einige Tage später unter Vollnarkose, wenn die Wirkung der Elek­ troden gesichert ist. Der Patient bekommt dann den Stimulator (Schrittmacher) unter den M. pectoralis implantiert und die nach außen führende Elektrodenverlängerung entfernt. Das Kabel ver­ läuft nun subkutan zwischen Brustkorb und Zwischenhirn. „Ab diesem Zeitpunkt können die Patienten den Stimulator nun anund ausschalten und in der Regel zwischen zwei Stärken wählen“, erklärt Günther Deuschl. „Stromstärke, Impulsdauer und Frequenz programmiert der Arzt. Er hat die Möglichkeit, über die vier Kon­ takte der Elektroden circa 100.000 verschiedene Einstellungen vorzunehmen und so den Patienten optimal zu stimulieren.“ Die Chance, weiterhin die Stimulation anpassen zu können, ist wichtig. Denn wie die Medikamente kann auch die Tiefe Hirnstimulation das Fortschreiten der Krankheit nicht aufhalten und muss regel­ mäßig an sich verschlechternde Symptome angepasst werden. Mit neuer Beweglichkeit umgehen lernen > Doch vorerst steht die neue Bewegungsfähigkeit im Vordergrund. Experten gehen davon aus, dass der Hirnschrittmacher die Patienten motorisch 5–7 Jahre zurückversetzt. Das Bewegungsausmaß wird wieder größer, das Zittern weniger, und das, was vorher nur langsam ging, ist plötzlich schneller möglich. Ein Segen? Ja! Aber erst dann, wenn die Betrof­ fenen mit den neuen Möglichkeiten auch umgehen können. Ziel der Physiotherapie ist es daher, den Patienten Strategien beizubrin­ gen, die helfen, die wiedergewonnenen Fähigkeiten im Alltag zu nutzen. Besonders den Gang muss man dabei im Blick haben. Zum einen weil die Patienten die neue Motorik noch nicht im Griff haben und durch zu schnelles Gehen die Gefahr besteht, dass sie stürzen. Und zum anderen könne man den Gang mit der Tiefen Hirnstimu­ lation teilweise nicht besonders gut einstellen, gibt Günther Deu­ schl zu. „Hier muss daher ein Schwerpunkt der Therapie liegen.“ Letztlich war die OP erfolgreich, wenn die Patienten im Alltag wieder besser zurechtkommen, sie wesentlich weniger Medika­ mente brauchen und vielleicht sogar ihren Beruf oder ein bereits aufgegebenes Hobby wieder ausüben können. Andrea Niesert Unter www.thieme.de/physioonline > „physiopraxis“ > „Zusatzinfos“ finden Sie ein Interview mit Prof. Günther Deuschl. Dort geht es unter anderem um Kontraindikationen und Nebenwirkungen der THS und um künftige Einsatzmöglichkeiten. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 39 Foto: R. Frommann, Frommann Fotodesign Neben Morbus Parkinson wird bei folgenden weiteren Indikationen die Tiefe Hirn­ stimulation bereits einge­ setzt bzw. deren Wirkung zurzeit erprobt: >> Tremor (essenzieller Tremor, Tremor bei Multipler Sklerose, andere seltene Tremorformen) >> Dystonie >> Dyskinesien >> Clusterkopfschmerz >> Epilepsie >> Zwangsstörungen >> schwerste Depressionen >> Tourette-Syndrom