Samra Lemes: Ist die aus religiösen Traditionen begründete Beschneidung von Jungen, die aufgrund ihres Alters nicht einwilligen können, unmoralisch? Die uns umgebende Umwelt und Gesellschaft, die Mitte, in der wir leben, ist ein Zusammenschluss vieler Kulturen und Religionen, der uns erlaubt, unseren Horizont zu erweitern und in fremde Gewohnheiten und Rituale einzutauchen. Neben vielen Parallelen und positiv zu vernehmenden Aspekten geraten wir jedoch oftmals an die persönlichen Grenzen unseres kognitiven Auffassungsvermögens über die Legitimierung bestimmter Traditionen und deren Aktualität beziehungsweise Notwendigkeit. Inwiefern ist zum Beispiel in unserer heutigen Gesellschaft, in der unsere körperliche Unversehrtheit gesetzlich versichert wird, die Beschneidung von Jungen vertretbar? Diese in Islam und Judentum praktizierte religiöse Tradition stößt oft auf Unverständnis. Wichtig ist jedoch, beide Betrachtungsweisen, die der Gläubigen und die der Außenstehenden, gegeneinander abzuwägen und vor allem zu verstehen. Was den einen als unmoralisch gilt, ist für die anderen ein geschriebenes, von Gott auferlegtes Gesetz. Somit gilt es zunächst die Frage zu klären: Was steht hinter dem Begriff der Moral? In unserer Gesellschaft gilt die Moral als ein ungeschriebenes Gesetz. Ein Leitfaden, der uns helfen soll, mit ethischer Korrektheit unser Leben zu bestreiten und zu meistern. Ob nun eine Handlung moralisch vertretbar ist oder nicht, lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise feststellen, da es verschiedene Betrachtungsgrundsätze gibt, die zur Lösung des Erwähnten beitragen können. Lange Zeit gab die Kirche gewisse Handlungsrichtlinien mithilfe bibellastiger Beispiele vor. Der Wandel der Zeit bewirkte, insbesondere nach der Renaissance, auch einen Wandel in dieser Hinsicht, denn die Menschen begannen mit der Wiederaufnahme von längst bestehenden Theorien und wandten sich somit wieder stärker der Philosophie zu. Der wohl bekannteste deutsche Philosoph, Immanuel Kant, entwarf eine an ethische Grundsätze angelehnte Methode, die Handlungen auf ihren moralischen Gehalt prüfte, nämlich die Anwendung des kategorischen Imperativs. Dieser verlangt zunächst einmal das Aufstellen einer Maxime, also einer Art Regel, die aus unserer Handlung resultiert. Erst das Gelingen von deren Verallgemeinerung gibt Aufschluss darüber, ob eine Handlung moralisch ist. Die zu der Leitfrage passende Maxime würde also lauten: ,,Ein Junge wird beschnitten, um der religiösen Tradition gerecht zu werden.“ Die Verallgemeinerung würde besagen: ,,Jeder Junge soll beschnitten werden, um der religiösen Tradition gerecht zu werden.“ Diese Aussage kann man mit einem klaren ,,Nein“ betiteln. Zu begründen ist dies mit der einfachen Tatsache, dass hier ein klarer Widerspruch im Begriff der Religion vorliegt. Diese soll dem Menschen sowohl als Schutz dienen, als auch einen allgemeinen Frieden schaffen. Inwiefern wird jedoch das eigene Kind wirklich geschützt mit so einem Eingriff? Gestützt wird dies durch die ebenfalls von Kant stammende Menschheitszweckformel. Danach darf ein Mensch nur als Zweck an sich selbst gesehen werden und nicht als bloßes Mittel. Im Falle einer Beschneidung, bei der das Kind nicht einmal über deren Durchführung entscheiden darf und kann, dient der Betroffene als Mittel; denn er fungiert in der Rolle einer Person, die ihren religiösen Pflichten gerecht zu werden hat, um den Zorn Gottes nicht auf sich zu ziehen. Zur Verschärfung der Sachlage führt ebenfalls die Tatsache, dass hier nicht nur die Rede von einem Mittel ist, sondern von einem bloßen Mittel. Die Entscheidungsfreiheit eines Kindes in so jungen Jahren ist generell eingeschränkt, es kann seine Zustimmung oder Negierung zu solch einer Beschneidung nicht geben. Nach reinem kantischen Denken wäre dies unmoralisch. Fernab solcher Feststellungen müssen jedoch auch diejenigen Argumente ihre Erwähnung finden, die womöglich das Gegenteil zeigen könnten: Wenn Eltern sogar das Recht haben, einem intersexuell geborenen Kind das zukünftige Geschlecht vorzugeben und mithilfe zahlreicher Operationen in ihrem Sinne zu verwirklichen: Warum sollte es dann einer Beschneidung an Moral fehlen? Hinzu kommt die Notwendigkeit, frühere Motive einer Beschneidung aufzuzeigen; denn ein solcher Eingriff soll einen hygienischen Vorteil bieten, so wie zum Beispiel die im Koran beschriebenen zahlreichen Waschungen. Auch hier lässt sich jedoch die Aktualität anzweifeln. Es ist unbestreitbar, dass vor etlichen Jahren eine regelmäßige und ausreichende Hygiene nicht vorhanden war. Heutzutage stehen uns jedoch alle nur möglichen Mittel zur Verfügung, um dieser in ausreichendem Maße nachzukommen. Vielmehr resultieren in unaufgeklärten Ländern etliche Gefahren aus solch einem Eingriff. Die Tatsache, dass der meistens unausgebildete Imam die Beschneidung durchführt und über keinerlei chirurgische Kenntnisse verfügt, lässt auf zahlreiche Infektio- nen bei den Patienten schließen, die beispielsweise Unfruchtbarkeit zur Folge haben können. Fasst man nun also die kantischen Lösungsansätze zur Beantwortung der Fragestellung zusammen in Verbindung mit der fehlenden Notwendigkeit einer Beschneidung, die nur zur Erfüllung einer religiösen Pflicht dienen soll, ohne die Meinung des betroffenen Subjekts zu berücksichtigen, kann man sagen, dass dies durchaus unmoralisch ist und unseren hier bestehenden ethischen Normen nicht entspricht.