Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie Kurzfassung Abstract Obwohl die Begriffe „Key Account“ und „Key Account Management“ seit Jahrzehnten in der Theorie und Praxis verbreitet sind, gibt es bis heute in der wissenschaftlichen Literatur keine einheitliche Definition. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, beide Begriffe für Unternehmen im Industriegütersektor zu definieren. Darüber hinaus werden Aspekte des Key Account Managements (KAM) aufgezeigt, die den Kern und das Wesen dieses Konzeptes beschreiben. Da die Basis eines erfolgreichen Key Account Managements die Identifikation der Key Accounts darstellt, werden einige Verfahren vorgestellt, die eine umfassende Kundenbewertung und Identifikation der Key Accounts ermöglichen. Although the terms “Key Account” (KA) and “Key Account Management” (KAM) have been used in theory and practice for decades, there is yet no uniform definition in scientific literature. It is the objective of this thesis to define both terms for enterprises in the industrial goods sector. Furthermore, aspects of KAM are pointed out describing the essence of this concept. As the identification of key accounts is the basis for successful implementation and execution of KAM, this thesis introduces a number of procedures that enable a comprehensive assessment and identification of the key accounts. Schlüsselwörter: Key Account, Key Account Management, Industriegütersektor, B2B, Identifikation von Key Accounts, Kundenbewertungsmethoden Keywords: Key Account, Key Account Manager, Industrial Goods Sector, Businessto-business, Identification of Key Accounts, Customer Value Methods Prof. Dr. Marion Murzin ist Professorin an der Hochschule Karlsruhe für die Fachgebiete Marketing und Vertrieb. Ihre Forschungsgebiete liegen im Bereich Serviceleistungen bei technischen Produkten und im persönlichen Verkauf. Kontakt: [email protected] Vanessa Reiser, Absolventin des Masterstudiengangs Wirtschaftsingenieurwesen 17 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser Die Gründe dafür, dass KAM heute in Marketing, Vertrieb und der ganzen Unternehmensstruktur so wichtig geworden ist, sind die folgenden branchenübergreifenden Megatrends (Abb. 1): Professionalisierung auf Angebotsseite Globalisierung Gestiegene Erwartungen Konzentrationsprozess KAM Abb. 1: Branchenübergreifende Megatrends (eigene Darstellung in Anlehnung an Reinhold 2008: 7) Erläuterungen zu den einzelnen Punkten: Gestiegene Erwartungen: Die steigenden Erwartungen an die Zulieferseite zeigen sich beispielsweise an der Forderung, dass die Struktur des Zulieferers die Kundenstruktur widerspiegeln soll. Professionalisierung auf Angebotsseite wird notwendig: Der zunehmend höher qualifizierte und strategisch, professionell agierende Einkauf auf Kundenseite (beispielsweise in Form von „Buying Centern“) erfordert eine entsprechende Struktur auf Anbieterseite. Kundenkonzentration: Die Anzahl an aktuellen und potenziellen Kunden ist tendenziell rückläufig, dafür werden sie bezüglich ihrer Anzahl und ihren Zielen immer größer und komplexer. Ein Beispiel für den Konsolidierungsprozess in den letzten Jahrzehnten stellt die deutsche Automobilindustrie dar, bei der die Anzahl der Automobilhersteller ab 1950 innerhalb von knapp 60 Jahren um über 70 % abnahm, d. h. von elf auf drei selbstständige Hersteller. Durch diese Entwicklung wird 18 Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie eine professionelle und angemessene Kundenbetreuungsform, wie das KAM, notwendig, um dem Wettbewerbsdruck standzuhalten und den Ansprüchen gerecht zu werden. Globalisierung: Eine Vielzahl von Unternehmen hat sich mittlerweile eine weltweite Präsenz aufgebaut und erwartet nun standardisierte Produkte und konsistente Einkaufsbedingungen weltweit. Dabei werden die Einkaufsentscheidungen zunehmend zentralisiert (Reinhold 2008: 7). Was sind Key Accounts (“Schlüsselkunden”) Die Analyse zahlreicher Definitionsansätze sowohl aus englisch- wie auch deutschsprachiger Literatur ergibt, dass sich charakteristische Eigenschaften von KA in sechs thematische Kategorien einordnen lassen (Abb. 2). Die Größe der Ellipsen in dieser Abbildung entspricht der Häufigkeit, mit der die jeweiligen Inhalte in der untersuchten Literatur erwähnt wurden. Key Accounts Globale Präsenz des Kunden „Wichtige“ Kunden, ohne Konkretisierung Know-howTransfer Strategisch wichtige Kunden Kunden mit hohem Anteil an Umsatz und Ergebnis (aktuell und potenziell) Unersetzliche Kunden (aktuell und potenziell) Abb. 2: Inhalte der Definition von Key Accounts 19 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser Wirtschaftlich bedeutende Kunden. Key Accounts werden in der Literatur gerne allgemein als „wichtig“ beschrieben. Dabei kann es sich um unterschiedliche Typen von Wichtigkeit handeln: Es können Kunden sein, die von großer wirtschaftlicher Bedeutung für das Unternehmen sind. Laut der KAM-Studie der Universität St. Gallen (European KAM Studie 2004 der Universität St. Gallen) ist der potenzielle und der aktuelle Umsatz für 76 % der Befragten jeweils ein relevantes Kriterium für die Selektion (Boles 1999: 264 ff.) und somit spielt die wirtschaftliche Bedeutung in den meisten Fällen die größte Rolle bei der Identifikation von Key Accounts. Es muss zwischen der aktuellen und der potenziellen wirtschaftlichen Bedeutung für das Anbieterunternehmen unterschieden werden. Ein Kunde kann auch dann ein KA sein, wenn er nur potenziell einen hohen Umsatzanteil haben könnte, momentan aber die Ware von der Konkurrenz bezieht. Allein das Potenzial und die Chance diese Marktanteile für sich zu gewinnen, macht ihn zu einem potenziellen Schlüsselkunden. Strategisch bedeutende Kunden. Strategisch bedeutende Kunden haben einen langfristigen Einfluss auf das Unternehmen. Dabei kann es sich um verschiedene Aspekte handeln, wie z. B. sein technologisches Entwicklungspotenzial oder seine möglichen Wachstumschancen bzw. die Wachstumsraten des Marktes, in dem der Kunde agiert (Boles 1999: 264 ff.). Ein Kunde wird damit zum Key Account, auch wenn er zum heutigen Zeitpunkt vielleicht noch nicht umsatzstark ist, sich aber beispielsweise in eine Richtung entwickelt, in der sich das Anbieterunternehmen auch zukünftig etablieren möchte oder die Wachstumsaussichten auf dem Markt gut sind. Globale Präsenz. Die globale Präsenz ist in einer Zeit, in der die Globalisierung stark vorangeschritten ist, sowohl auf Kunden- als auch auf Anbieterseite für erfolgreiches Wirtschaften zunehmend erforderlich. Es ist jedoch nicht jeder globale Kunde auch automatisch ein „Global Key Account“. Dies kann jedoch erforderlich werden, wenn der Kunde beispielsweise eine weltweit einheitliche Betreuung wünscht oder fordert (vgl. Zupancic 2000: 2). Der globale Kunde zeichnet sich durch zwei Aspekte aus: 1. Es besteht ein stärker internationalisierter Einkauf. 2. Der Einfluss der Zentrale auf die Einkaufsentscheidung, im Sinne einer Koordination, ist erhöht (Yip 1996a: 54). Dadurch kann es auf Seite des Zulieferers notwendig sein, eine Organisation in Form von KAM aufzubauen, die der Kundenstruktur gerecht wird und den Anforderungen des globalen Kunden entspricht. Unersetzbarkeit. 20 Die Unersetzbarkeit eines Kunden soll als Teilaspekt zur Definition von Key Accounts ausdrücken, dass ein Schlüsselkunde in einem bestimmten Bereich für das Unternehmen einen sehr starken Einfluss hat oder zukünftig haben kann, den Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie kein anderer Kunde ohne weiteres ersetzen könnte. In diesem Zusammenhang sind sowohl eine finanzielle als auch eine strategische Abhängigkeit des Zulieferers denkbar. Ein weiteres Kriterium dafür einen Kunden als Key Account zu bezeichnen, kann seine Rolle als Know-how-Potenzialträger für das Anbieterunternehmen sein. Dies ist der Fall, wenn der Kunde beispielsweise aufgrund seines Innovationspotenzials (Know-hows) eine besondere Rolle spielt, und sich eine Lernpartnerschaft mit dem Anbieterunternehmen entwickelt (Homburg 2008: 312;Winkelmann 2008b: 550). Know-how-Potenzialträger. Key Account Management Für ein erstes Verständnis von KAM werden nachfolgend drei Definitionsansätze im Rahmen dieses Artikels vorgestellt: Der Key Account Manager. strategisch wichtige Schlüsselkunden konzentriert durch hochqualifizierte Verkaufsmitarbeiter zu betreuen, um mit diesen Schlüsselkunden ins Geschäft zu kommen […], eine möglichst hohe Potenzialausschöpfung zu erreichen […] und die Geschäftsbeziehung langfristig zu sichern.“ (Winkelmann 2008a: 355) „[…] die Zusammenfassung aller die Kundenbeziehung betreffenden Tätigkeiten unter eine einheitliche Verantwortung.“ (Bruhn, 2002: 69 f.) „[…] ein ganzheitlicher, methodischer Ansatz in der strategischen Kundenbindungsentwicklung.“ (Kühn 2010: 3) Aus den Definitionen von WINKELMANN und BRUHN wird deutlich, dass es für das KAM einen Key Account Manager geben muss (evtl. mit einem zugeordneten KA-Team), der die Verantwortung für die gesamten Tätigkeiten und Beziehungen mit dem ihm zugeteilten KA trägt. Da diese Verantwortung für die Kunden, die ein Unternehmen meist umsatztechnisch tragen, groß ist, handelt es sich bei den KA-Managern i. d. R. um hochqualifizierte Vertriebsmitarbeiter (vgl. Winkelmann 2008a: 355). Ziel der Geschäftsbeziehungen mit den Schlüsselkunden des Unternehmens ist eine Sicherung bzw. die Ausschöpfung der potenziellen Umsätze (bzw. Gewinne) und der Aufbau einer partnerschaftlichen, dauerhaften Beziehung (Rau 1994: 39; Kühn 2010: 3). Wichtig ist zu beachten, dass sich das KAM jedoch nicht nur auf operative Tätigkeiten im Vertrieb beschränkt, sondern dass es für eine erfolgreiche Umsetzung mehr als das bedarf (vgl. Belz 2008: 200). KÜHN deutet dies mit dem Hinweis auf einen „ganzheitlichen“ Ansatz an, demnach es einer speziellen Infrastruktur rund um den Manager bedarf, die auf den KA ausgerichtet ist (Kühn 2010: 3). Der ganzheitliche Ansatz. 21 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser KAM ist mehr als ein Vertriebskonzept. In erster Linie betreffen die „Geschäftsbeziehungen zum Kunden“ im Anbieterunternehmen den Vertrieb und das Marketing. Dadurch könnte die Annahme entstehen, dass es sich bei KAM ausschließlich um ein Vertriebsoder Marketingkonzept handelt. Allerdings ist KAM nach Meinung zahlreicher Wissenschaftler (s. Lockau, 2000; Winkelmann, 2008b; Belz et al., 2008; Peymani, 2012) deutlich mehr als das. Es soll sich hierbei um einen das ganze Unternehmen betreffenden Ansatz handeln, der „sich nicht einfach zu den vielfältigen Marketingaktivitäten hinzuzählen“ lässt (Peymani 2012: 49). Das KAM umfasst die individuelle und spezielle Kundenbetreuung, die Auswirkung auf die Organisationsstrukturen des Anbieterunternehmens hat (Biesel 2002: 17; Backhaus 2007: 186). Besonders die Entwicklung hin zu cross-funktionalen Key Account Teams, mit i. d. R. drei bis sechs qualifizierten Mitarbeitern (vgl. Sidow 2007: 121), als Antwort auf die Buying-Center, zeigt die Tragweite des Konzeptes zur Kundenbetreuung. Verankerung des KAM-Konzeptes. BELZ (2008), Mitbegründer des St. Galler KAM-Konzeptes, geht noch einen Schritt weiter und sieht den Grund für das häufige Scheitern von KAM-Ansätzen in der Praxis darin, dass die Bedeutung der wichtigsten Kunden nicht beim ganzen Unternehmen, inklusive der Geschäftsleitung, angekommen ist. Laut dem St. Galler KAM-Konzept soll das Unternehmen, das eine erfolgreiche „strategische Verankerung“ von KAM durchführen möchte, KAM als Teil der Unternehmensstrategie sehen. Hierbei sollte sich auch das Topmanagement engagieren und Unterstützung bei der ganzheitlichen Integration und der Ausrichtung auf die wichtigsten Kunden, die das Unternehmen tragen, zeigen. Abgrenzung des KAM vom „klassischen Vertrieb“ Besondere Prioritäten und Vorteile für Key Accounts. KAM unterscheidet sich deutlich vom „herkömmlichen“ Vertrieb. Laut WINKELMANN (2008) wird folgende Differenzierung zwischen KAM und anderen „klassischen Vertriebsarten“ gemacht: Von KAM sollte „nur dann gesprochen werden, wenn die Vertriebsleitung den Schlüsselkunden spezielle Prioritäten und Vorteile einräumt. Im Vergleich zu Nicht-Schlüsselkunden müssen für die Key Account Betreuung andere, i. d. R. höhere Budgets eingeräumt sein“ (Winkelmann 2008b: 548). Eine detaillierte Gegenüberstellung zwischen dem „klassischen Vertrieb“ und dem Key Account Management beinhaltet Tab. 1: 22 Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie Klassischer Verkauf Key Account Management Auf der Kundenseite befinden sich meist Einkäufer, die sich auf Materialeinstandspreise, Produktqualität und Lieferpräzision konzentrieren. Kunden optimieren die Prozesskosten; multiples Kontaktmanagement bei Kunden und Kundenkoordination. Verkauft werden Produkte und Mengen; Know-how wird vor allem produktbezogen gebraucht; Verkaufsleistung steht im Vordergrund. Verkauft werden Wirtschaftlichkeit (Prozesskosten), Problemlösung, Erfolgsbeitrag; notwendig ist Know-how über die jeweilige Kundenbranche, das Unternehmen des Kunden und über seine Produkte; im Vordergrund steht die Leistung für den Kunden. Einzelkämpfer/Individualisten, die tendenziell auf schnellen Erfolg abzielen. Meist ist hierbei nicht der Kunde, sondern das eigene Angebot im Fokus und der Ausgangspunkt der Verkaufsverhandlungen. Die Verkäufer „besitzen“ ihre Kunden. Der KA-Manager wird zur „Spinne im Netz“, er muss zwischen den verschiedenen Bereichen des eigenen Unternehmens und denen des Kunden die Fäden ziehen und die Aktivitäten koordinieren. „Key Accounts sind kein „Privatbesitz“ einzelner Verkäufer, sondern externe Unternehmensressourcen, die systematisch von Teams betreut werden müssen“ (Rentzsch 2008: 194). Die Arbeitsaufteilung erfolgt nach geographischen Gebieten; „Gemischtverkauf“ von Generalisten. Die Verkaufsaktivitäten werden auf die Kunden abgestimmt und global koordiniert; dem Kunden soll eine präzise Leistung geliefert werden. Tab. 1: Gegenüberstellung: „klassischer Verkauf“ vs. KAM (Belz 2008: 34) „Missbrauch“ des Begriffes KAM in der Praxis Den Kunden als KA zu bezeichnen, ohne die Aufgabenstellung des Außendienstmitarbeiters darauf auszurichten, wird in der Literatur auch „PseudoKAM“ genannt (vgl. Rentzsch 2008: 194). „Key Account“ werden lediglich deshalb gebildet, damit die betreuenden Mitarbeiter diesen mehr Aufmerksamkeit widmen. Allerdings entspricht dies nicht dem korrekt verstandenenKonzept des Key Account Managements, vor allem dann, wenn diese viele Kunden betreuen. Die Mitarbeiter kümmern sich im Rahmen der regulären Verkaufsarbeiten um diese „Key Accounts“, ohne dass eine dem Verständnis des KAM entsprechende Kundenwidmung erfolgt (Winkelmann 2008b: 548). Pseudo-KAM. 23 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser Wichtigkeit des Key Account-Identifikationsprozesses: Unterschiede zwischen Theorie und Praxis KA-Wahl nach Bauchgefühl? Obwohl eine sorgfältige Identifikation der Key Accounts selbstverständlich erscheinen mag, können viele Unternehmen auf Nachfrage die Wahl, warum ein gewisser Kunde zum Schlüsselkunden gewachsen ist, nicht begründen. Oftmals ist es ein schleichender Prozess, in dem der Kunde „vor sich hin“ wächst, bis er irgendwann zum Key Account wird (vgl. Miller 1992: 32). Kundenprioritäten werden in dem Fall, ohne dass eine systematische Kundenqualifizierung durchgeführt wird, eher nach Bauchgefühl und Gespür verteilt. Jedoch kann unüberlegtes und fehlerhaftes Kundenpriorisieren gefährlich für die Wirtschaftlichkeit und den Erfolg einer Unternehmung werden, weil die verfügbaren Ressourcen möglichweise nicht auf die wichtigsten Kunden konzentriert werden (vgl. Winkelmann 2008a: 315). Einer Praxisuntersuchung zufolge führt nur jedes sechste Unternehmen der Industriegüterbranche eine regelmäßige und systematische Kundenbeurteilung durch (Deppermann 1998: 142 ff.), obwohl „[…] der Erfolg eines AccountManagement unmittelbar von der Auswahl der in ein entsprechendes Programm einzubeziehenden Kunden abhängt“ (Lockau 2000: 20). Theorie vs. Praxis. Es bestehen große Unterschiede zwischen den theoretischen Erkenntnissen und den Umsetzungen in der Praxis. Folgendes Zitat verdeutlicht die Kritik, die die Literatur an den Unternehmen verübt: „Die immer noch dominierende Umsatzorientierung bei der Identifizierung der Key Accounts sollte dringend erweitert werden. Dabei bieten sich solche Verfahren an, die sowohl quantitative als […] auch qualitative Kriterien berücksichtigen können. […] Angesichts der hohen Investitionen, die ein KAM verlangt, muss durch ein geeignetes Auswahlverfahren sichergestellt werden, dass die „richtigen“ Kunden selektiert werden“ (Bieberstein 2006: 4 f.). Die theoretischen Ansätze vertreten die Ansicht, dass zur Identifikation der Key Accounts mehr gehört, als nur eine umsatzbezogene ABC-Analyse. Demnach müssen zum einen zusätzliche Kriterien untersucht, zum anderen auch die Regelmäßigkeit der Überprüfung beachtet werden. Methoden zur Identifikation von Key Accounts Kriterien zur Identifikation von Key Accounts. 24 Eine Kundenbewertung oder -qualifizierung dient der Beantwortung der Frage, wer die wichtigen und wer die unwichtigeren Kunden eines Unternehmens sind. Im Rahmen dieser Arbeit handelt es sich jedoch nicht um eine „klassische Kundenbewertung“. Ziel ist vielmehr die Identifikation der Key Accounts. Die Erfassung des Kundenwerts anhand quantitativer und qualitativer Aspekte lässt sich mit den aufgestellten Kriterien zur Definition der Key Accounts verbinden (Abb. 3): Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie Ökonomischer Kundenwert Informationswert des Kunden Aspekt der Globalität Strategischer Kundenwert Aspekt der Unersetzbarkeit Abb. 3: Aspekte des Kundenwerts für Key Accounts (eigene Darstellung in Anlehnung an Winkelmann 2008b: 317) Mögliche Identifikationsmethoden Grundsätzlich lassen sich die Methoden zur Kundenbewertung in ein- oder mehrdimensionale Verfahren unterteilen (Abb. 4): ABC-Analyse Kundenerfolgs -rechnung Eindimensional Customer Lifetime Analyse Kundenbewertungsmethoden Scoring-Modelle Mehrdimensional Portfolio-Analyse Abb. 4: Kundenbewertungsmodelle im Überblick (eigene Darstellung in Anlehnung an Cornelsen 2000: 91) 25 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser Eindimensionale Verfahren betrachten eine wichtige Größe, die sowohl monetär als auch nicht-monetär sein kann. Anhand dieser Größe wird die Bewertung durchgeführt. Mehrdimensionale Verfahren bieten eine umfassendere Betrachtung des Kunden, da mehrere Kriterien beachtet werden können. Die ABC-Analyse Die beliebteste Methode in der Praxis. Die ABC-Analyse ist das in der Praxis am häufigsten eingesetzte Kundenbewertungsverfahren (vgl. Winkelmann 2008a: 319). Laut einer Studie der Hochschule Niederrhein beträgt der Anteil dieser Methode 83 % aller in der Praxis eingesetzten Bewertungsverfahren (Bieberstein 2006: 13 f.). Ziel ist es, eine Rangfolge der Kunden, z. B nach dem Ist-Umsatz oder dem Ergebnis, zu erstellen. Die Kunden, die als A-Kunden identifiziert wurden, können Schlüsselkunden sein. Dies kann beispielsweise anhand des Pareto-Verhältnisses entschieden werden, bei dem die 20 % der Kunden, die zusammen 80 % des gesamten Umsatzes bilden, zu A-Kunden und dementsprechend zu Key Accounts zugerechnet werden. Die Abgrenzung der aktuellen Schlüsselkunden, deren Potenziale unbedingt zu sichern sind, ist i. d. R. problemlos. Ebenso wichtig ist jedoch die Identifikation der potenziellen Key Accounts. Dabei handelt es sich beispielsweise um mittelgroße B-Kunden, die ein den A-Kunden vergleichbares Ertragspotenzial aufweisen, nur ist dieses vom Anbieterunternehmen noch nicht ausreichend ausgeschöpft (Winkelmann 2008a: 364 f.). Für diese „Entwicklungs“-B-Kunden kann es sinnvoll sein, rechtzeitig Betreuungsprioritäten einzuräumen und ein KAM-Programm aufzubauen. Vorteile der ABC-Analyse sind die leicht verständliche Vorgehensweise und die Identifikation der umsatz-/ bzw. gewinntreibenden Kunden. Nachteile sind, dass es sich um ein statisches Berechnungsmodell handelt, das lediglich Vergangenheitswerte einbezieht, womit sich keine Entwicklungspotenziale von Kunden erfassen lassen. Customer-Lifetime-Value-Analyse (CLVA) Ein dynamisches Verfahren. Bei der Customer-Lifetime-Value-Analyse handelt es sich um eine dynamische Methode der Kundenqualifizierung. Dadurch werden die bisher aufgezeigten Schwachstellen von statischen Analysen, d. h. die rückblickenden Momentaufnahmen, behoben. Der Unterschied ist, dass neben den aktuellen Daten nun auch die zukünftig zu erwartenden Umsätze und betrachtet werden (vgl. Kumar 2008: 5). Der CLVA beschreibt den Gewinn, der über die Dauer der Kundenbeziehung erwartet wird. Er wird auf den Gegenwartszeitpunkt mittels Potenzialfaktor diskontiert und ergibt den Kapitalwert (vgl. Winkelmann 2008b: 350): Kundenwert = Vergangenheitswert + (Zukunftswert * Potenzialfaktor) 26 Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie Vorteile der CLVA sind der dynamische Aspekt der Berechnungsmethode, da auch zukünftige Daten mit einbezogen werden können, sowie die Möglichkeit auch nichtmonetäre Aspekte, wie den Imagewert eines Kunden, einzubinden (vgl. Winkelmann 2008b: 350). Nachteile sind die Unsicherheit bei der Prognostizierung von Zukunftswerten und die damit einhergehende Subjektivität der Schätzung. Die Qualität der Ergebnisse hängt somit stark von den Kundenkenntnissen ab (vgl. Nufer 2012: 8 f.). Das Chancenpotenzial-Portfolio Diese Methode dient dem Erkennen potenzialstarker Kunden, die bisher noch unausgeschöpfte Lieferanteile vorweisen. Hierzu werden in dem sog. Chancenpotenzial-Portfolio die Einkaufsbudgets der Kunden (Nominalwerte) den eigenen Lieferanteilen bei den Kunden (in Prozent) gegenübergestellt. Die Kunden, die sowohl ein hohes Einkaufsvolumen besitzen, als auch bereits einen hohen Anteil vom Anbieterunternehmen beziehen, stellen die aktuellen Key Accounts dar. Diese Kunden sind weiterhin mittels KAM zu sichern. Die Kunden, die über ein hohes Einkaufsbudget verfügen, und noch ein hohes unausgeschöpftes Umsatzpotenzial für den Zulieferer bieten, sind im Sinne des KAM die potenziellen bzw. zukünftigen Schlüsselkunden, auf die bereits heute besonders Wert gelegt werden muss. Sie sind „mit höchster Priorität zu akquirieren“ und mittels KAM zu betreuen bzw. auszubauen (vgl. Winkelmann 2008b: 344). Identifikation von unausgeschöpften Potenzialen. Vorteile: Diese Methode ist eine gute Ergänzung zur Umsatz-ABC-Analyse, da auch die potenziellen KA identifiziert werden können, und es sich um eine mehrdimensionale Methode handelt, die zwei Aspekte zur Bewertung kombiniert (Murzin 2012: 78). Nachteile: Es handelt sich um eine statische Analyse die keine Zukunftswerte einbezieht (vgl. Murzin 2012: 79). Scoring-Modelle Ein Scoring-Modell ist ein gewichtetes Punkte-Bewertungsverfahren, das eine Verfeinerung der Portfolio-Analyse darstellt (vgl. Murzin 2012: 79). Mit dem Scoring-Modell können verschiedene Eigenschaften sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur beurteilt und mit Bewertungspunkten versehen werden. Am Ende ergibt sich ein Gesamtscore. Je höher dieser ist, desto wertvoller ist der Kunde für den Anbieter (vgl. Weiber 2000: 493). Dieses Ergebnis ist sehr interessant für die Identifikation der Key Accounts, da dies die „wertvollen“ Kunden sind, „die zu verlieren sich das Unternehmen nicht leisten kann“ (Miller 1992: 27). Bewertung sowohl qualitativer als auch quantitativer Kriterien. Vorteile: Es lassen sich qualitative und quantitative Bestimmungsfaktoren zu einer umfassenden Kundenbewertung kombinieren. Die Methode ist einfach durchzuführen (vgl. Homburg 1999: 14). 27 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser Nachteile: Es handelt sich bei der Bewertung um eine subjektive Einschätzung der Punktewerte und der Gewichtungsfaktoren, wodurch die Ergebnisse schnell manipulierbar werden. Die Wahl der Kriterien ist ebenfalls subjektiv. Eine zu große Anzahl kann das Resultat undurchsichtig machen (vgl. Murzin 2012: 79). Kombination von Identifikationsmethoden und KA-Kriterien Nachfolgende Tab. 2 weist den genannten Aspekten zur Identifikation von Key Accounts geeignete Kundenbewertungsmethoden zu: Zu untersuchendes Kriterium Mögliche Kundenbewertungs-Methode Informationswert Customer Lifetime Value-Analyse Strategischer Kundenwert Customer Lifetime Value-Analyse Portfolio-Analyse Scoring-Modelle Ökonomischer Kundenwert ABC-Analyse nach Umsätzen und Deckungsbeiträgen der Kunden Customer Lifetime Value-Analyse Chancenpotenzial-Portfolio für die Erfassung von potenziellen Key Accounts Portfolio-Analyse Scoring-Modelle Globalität Keine spezielle Methode geeignet Unersetzbarkeit Kann bei monetärem Hintergrund mittels der Betrachtung der Ergebnisse der Umsatz- oder Ergebnis-ABC-Analyse erfolgen. Customer Lifetime Value-Analyse Scoring-Modelle Tab. 2: KA-Kriterien und ihre möglichen Bewertungsmethoden 28 Gründe für die Zunahme der Bedeutung von KAM in der Industrie Fazit Im Sinne dieser Ausarbeitung können „Key Accounts“ anhand von sechs Kriterien charakterisiert werden. Bei „Key Account Management“ handelt es sich um einen das ganze Unternehmen betreffenden Ansatz, der sich nicht nur mit dem Vertrieb und der Vermarktung von Produkten beschäftigt, sondern eine individuelle, intensive Kundenbetreuung beinhaltet. Die Basis der Implementierung eines KAMKonzeptes stellt die Identifikation der Key Accounts dar. Dieser Schritt erscheint selbstverständlich, wird jedoch in zahlreichen Unternehmen nicht umfassend genug und regelmäßig durchgeführt. Hierbei unterscheiden sich die Praxis und Theorie erheblich voneinander. Die Literatur stellt die Forderung, dass zur Identifizierung der wichtigsten Kunden eines Unternehmens mehr gehört als eine umsatzbezogene ABC-Analyse, die sich in der Praxis größter Beliebtheit erfreut. Es wurden deshalb im Rahmen dieser Arbeit einige andere Verfahren vorgestellt, wie z.B. die CLVA oder das Scoring-Modell, um mehr Entscheidungskriterien für KAs in die Bewertung mit einfließen lassen zu können. Quellen BACKHAUS, K.; VOETH, M. (2007): Industriegütermarketing. 8. Aufl. München: Verlag Franz Vahlen BELZ, C. et al. (2008): Spitzenleistungen im Key-Account-Management, 2. Auflage, München: FinanzBuch Verlag BIEBERSTEIN, I. (2006); Vergossen, H.: Key Account Management in der Praxis, Kompetenzzentrum für angewandtes Marketing an der Hochschule Niederrhein BIESEL, H. (2002): Key Account Management erfolgreich planen und umsetzen. Mehrwert-Konzept für Ihre Top-Kunden, Wiesbaden: Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler BOLES, J. et al. (1999): „The Selection and Organization of National Accounts: A North American Perspective“, In: Journal of Business and Industrial Marketing 14 (4) BRUHN, M. (2002): Integrierte Kundenorientierung, Wiesbaden: Gabler-Verlag CORNELSEN, J. (2002): Kundenwertanalysen im Beziehungsmarketing: Theoretische Grundlagen und Ergebnisse einer empirischen Studie im Automobilbereich, Nürnberg DEPPERMANN, K.; MARZIAN, S. (1998): Win-Win, das Ziel aller Vertriebsprozesse, Absatzwirtschaft, Sondernummer Oktober 1998 29 Prof. Dr. Marion Murzin, Vanessa Reiser HOMBURG, C. et al. (2008): Sales Excellence. 5. Auflage. Wiesbaden: Gabler-Verlag KÜHN, R.; SIEBERT, T. (2010): Key Account Management in global tätigen Logistikkonzernen. Köln: Josef Eul Verlag LOCKAU, I. (2000): Organisation des Global-Account-Management Industriegütersektor. Berlin: Erich Schmidt Verlag im MILLER, R. et al. (1992): Schlüsselkunden-Management. Verlag Moderne Industrie MURZIN, M. 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(2008b): Vertriebskonzeption und Vertriebssteuerung. 4. Auflage. München: Verlag Franz Vahlen YIP, G. (1996): Die globale Wettbewerbsstrategie: weltweit erfolgreiche Geschäfte,. Wiesbaden: Gabler-Verlag ZUPANCIC, D.; SENN, C. (2000): Global Account Management: Bestandsaufnahme in Wissenschaft & Praxis. Thexis, St. Gallen 30 Eine