BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG Nr. 85-1 vom 8. Juli 2014 Reise in die Volksrepublik China vom 5. bis 8. Juli 2014 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung des Kooperationsforums „Urbanisierung China-Sichuan-Deutschland“ am 6. Juli 2014 in Chengdu: Sehr geehrter Herr Gouverneur, sehr geehrter Herr Vizegouverneur, Herr Parteisekretär, meine Damen und Herren, ich möchte mich im Namen unserer Delegation, im Namen der Abgeordneten des Deutschen Bundestags aus allen Parteien, die mitgekommen sind, und auch im Namen der Wirtschaftsdelegation ganz herzlich dafür bedanken, dass wir dieses Urbanisierungsforum mit Ihnen gemeinsam gestalten können und ich es mit Ihnen eröffnen darf. Ich freue mich sehr, dass ich hier bei Ihnen in der Provinz Sichuan und in der Stadt Chengdu zu Gast bin. Chengdu ist einerseits eine altehrwürdige Stadt und gleichzeitig eine unglaublich junge Stadt. Einerseits hat sie eine über 2.000 Jahre alte Tradition und ist seit jeher eine der bedeutendsten Zentren Südwest-Chinas. Andererseits ist sie eine Metropole in einem rasanten Wandel, der aus deutscher Perspektive das Attribut „rasant“ im wahrsten Sinne des Wortes wirklich verdient. Wenn man sich einmal überlegt, wie viele Menschen hier leben, wie viele aus anderen Regionen dazugekommen sind, dann kann man mit Blick auf die Größenverhältnisse aus deutscher Sicht Bulletin Nr. 85-1 v. 8. Juli 2014 / BKin – Kooperationsforum „Urbanisierung China-Sichuan-Deutschl.“ -2- sagen, dass es um fast ein ganzes Bundesland ginge; doch es handelt sich hier noch nicht einmal um die ganze Provinz, sondern eben allein um Chengdu. Wie der Wandel in den letzten Jahren gestaltet wurde, zeugt von einer großen Tatkraft der Einwohner hier in dieser Region. Wir verfolgen natürlich nicht nur die Entwicklung im Osten, sondern auch im Südwesten und im Westen Chinas. Die Wirtschaftsleistung ist hier geradezu sprunghaft angestiegen. Die Stadt übt eine hohe Anziehungskraft aus. Jedes Jahr kommen viele Menschen aus den ländlichen Regionen in die Stadt. Ich habe soeben beim deutsch-chinesischen Dialogforum davon gehört, wie man in Chengdu modellartig versucht, nicht nur die Stadt zu entwickeln, sondern auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land nicht zu groß werden zu lassen. Urbanisierung ist sicherlich eine der zentralen Herausforderungen. Ich habe mich bereits vor einigen Jahren, als es das gemeinsame Projekt „Deutschland und China – Gemeinsam in Bewegung“ gab, mit Gouverneuren und Vizegouverneuren darüber unterhalten, vor welchen Herausforderungen die lokal Verantwortlichen stehen, wenn es darum geht, Hochschulen zu gründen, oder darum, dass junge Menschen Arbeitsplätze und Wohnungen brauchen, dass Verkehrssysteme geschaffen werden müssen, die Energie- und Wasserversorgung sichergestellt werden muss, dass die Veränderung des Altersaufbaus bewältigt werden muss und die Wanderarbeiter möglichst gut behandelt werden müssen. Das alles ist ja eine Riesenherausforderung, die so anzugehen ist, dass effiziente, nachhaltige Lösungen gefunden werden, die nicht nur zehn oder zwanzig Jahre halten, sondern möglichst zukunftsfähig sind. Der Westen Chinas befindet sich bereits wieder in einer anderen Entwicklungsphase als der Osten Chinas. Das heißt, man kann nicht einfach die Entwicklungsmodelle des Ostens nehmen und so weitermachen, sondern muss im Westen Chinas neue Möglichkeiten in Betracht ziehen. Heute weiß man mehr, man kennt bessere Bautechniken, man hat bessere Verkehrssysteme, man ist schon weiter in der wissenschaftlichen Entwicklung und man weiß auch, welche Umweltfolgen die Industrialisierung haben kann. Das heißt, man muss versuchen, nicht alle Fehler noch einmal zu machen, sondern jetzt daraus die Lehren zu ziehen. Bulletin Nr. 85-1 v. 8. Juli 2014 / BKin – Kooperationsforum „Urbanisierung China-Sichuan-Deutschl.“ -3- Ein bisschen ist das so, wie wir das nach der deutschen Wiedervereinigung erlebt haben. Die frühere Bundesrepublik hat sich in den 50er, 60er und auch anfangs der 70er Jahre sehr dynamisch entwickelt. Als die Deutsche Einheit kam, ist in der ehemaligen DDR nahezu alles neu gemacht worden. Heute sind wir in den neuen Ländern teils mit qualitativ besseren Technologien, mit besseren Bauten ausgestattet als in den alten Bundesländern. Jetzt ist also einiges wiederum in den alten Bundesländern nachzuholen. Das heißt, die Fragen „Was ist Lebensqualität?“, „Was können die Menschen erwarten?“ müssen Sie hier wieder auf neue Art und Weise beantworten. Da ist es gut, dass – bei allem, was in Chengdu schon erreicht ist – die Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen genutzt werden kann und soll. Ich glaube, es gibt schon recht gute Beispiele der Kooperation zwischen Deutschland und China, so zum Beispiel in der Baubranche. In wenigen Tagen erhält zum ersten Mal ein Neubau in China das Goldzertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Es handelt sich um das German Enterprise Centre im Sino-German Ecopark in Qingdao. Solche Beispiele könnte man noch sehr viel mehr haben. Deshalb ist es gut, dass Sie jetzt gleich die Diskussion mit Vertretern der Wirtschaft intensiv weiterführen können, die über Verkehrssysteme oder über Bausysteme, Architektur und Fragen der Umwelttechnologien sehr gut Bescheid wissen. Ich glaube, ein Thema, das wir in Deutschland auch noch nicht bis zum Ende entwickelt haben, nämlich das Thema „Energieeffizienz“, ist für den gesamten Baubereich ein Riesenthema, das möglichst frühzeitig berücksichtigt werden sollte. Wir können noch vieles für eine Umweltverbesserung bei Industrieunternehmen tun, aber es gibt noch viel mehr Möglichkeiten im Wärmemarkt, wenn es etwa um die Klimatisierung in heißen Zeiten oder die Isolierung in kalten Jahreszeiten geht. Hierbei ist es wichtig, die richtigen Anreize zu setzen. Deshalb hoffe ich, dass es einen guten Austausch bei diesem Urbanisierungsforum gibt. Deutschland möchte gerne mit China im Rahmen der Urbanisierungsstrategie zusammenarbeiten. Auch wenn es jetzt vielleicht nicht passt, weil wir gerade nur über Städte und über den weiteren Zuwachs in den Städten reden, so sollte man dennoch auch nie das Land, die ländliche Umgebung vergessen. Denn die Balance zwischen den Städten und dem ländlichen Raum ist auch etwas, das die Lebensqualität beeinflusst. Die Menschen in Bulletin Nr. 85-1 v. 8. Juli 2014 / BKin – Kooperationsforum „Urbanisierung China-Sichuan-Deutschl.“ -4- den Städten – so ist es jedenfalls in Deutschland – fahren immer wieder gerne auf das Land und versuchen dort, mit der Natur in Berührung zu bleiben. Ich glaube also, dass es sehr wichtig ist, die richtige Balance zu finden. Deshalb wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Wir werden uns weiter dafür interessieren, wie die Entwicklung hier bei Ihnen in Sichuan und besonders in Chengdu weitergeht. * * * * *