Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin* Ist die ethische Frage richtig gestellt? Paolo Bavastro Innere Abteilung der Filderklinik, Filderstadt ¹Humanmedizin braucht ein anthropologisches Konzept ± einfacher ausgedrückt: ein Menschenbild. Es zeigt sich, dass man das Problem einer Ethik in der Medizin nicht adäquat diskutieren kann, solange man die Verantwortung der ¾rzte für die Theorien, Konzepte und Modelle der Medizin ignoriert. Die traditionelle Auffassung, nach der die Entwicklung von Theorien in der Medizin Aufgabe von Grundlagenwissenschaften sei, die sich nur von einer ethisch neutralen wissenschaftlichen Wahrheit verantworten müssten, ist bereits das Produkt einer Theorie, die den Menschen aus der Realität eliminiert hat; sie mutet dem Arzt die unmögliche Aufgabe zu, aufgrund un-menschlicher Theorien menschlich verantwortende Entscheidungen zu treffenª, so schreiben Th. von Uexküll und W. Wesiack [1]. Karl Jaspers formulierte schon 1958 Folgendes: ¹Wenn ich durch Forschung, statt es methodisch zu durchschauen, verstrickt werde, als ob es alles Denken wäre, dann habe ich mich selbst und mir die Wirklichkeit verschlossen. Ich habe mich eingeschlossen in die Denkformen der empirischen Realität und der gegenständlichen Kategorien überhaupt. Erst eine universale Kategorienlehre ... macht mich zum Herren der Denkformen und befreit mich aus dem Gefängnis ... Wissenschaft ohne Philosophie wird trotz richtiger einzelner Erkenntnisse im Ganzen unkritisch und in der inneren Verfassung ihrer Träger zu dunkler Verschlossenheitª [2]. Die Praxis des Arztes ist so gesehen ¹konkrete Philosophie ... der souveräne Arzt will universal die möglichen Ge- intensiv 2001; 9: 125±129 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York ISSN 0044-2771 · sichtspunkte zur Verfügung haben und als Mensch in der menschlichen, in der geistigen Welt zu Hause sein ... Man sieht ¾rzte, die Philosophie verwerfen ... aber ohne Philosophie kann man an der Grenze naturwissenschaftlicher Medizin des Unfugs nicht Herr werdenª [2]. Nun, die Medizin heute versucht mehr denn je alleine auf dem Boden einer selbst definierten strengen Naturwissenschaft zu stehen. Seit Descartes, Bacon und Galilei hat die Naturwissenschaft mit den Methoden der Physik, der Chemie sowie der Mathematik ein einseitiges ¹Abbildª der Wirklichkeit geschaffen. Der gewollte Reduktionismus, das Primat der Materie, der Blick alleine auf das Diesseitige, Zählen, Messen und Wiegen haben dazu geführt, dass die Naturwissenschaft von sich sagen kann, sie sei wertfrei, objektiv, ja intersubjektiv. Methodisch bedeutet dies ein Schritt-fort-vom-Menschen [3], ein Absehen vom Subjekt Mensch; alles Metaphysische wurde als nicht existent postuliert (weil nicht messbar) und so aus der Betrachtungsweise eliminiert. Schritte R. DESCARTES (1596±1650) ± Cogito ergo sum, sive existo ± Körper als Gliedermaschine, als Maschine, als verwendbares Instrument ± Gesetze der Mechanik identisch mit denen der Natur ± mathematische Beweisbarkeit ± Reduktionismus (2. Regel) ± die Geister aus der Natur austreiben ¹so halte ich andere Prinzipien der Naturwissenschaften weder für zulässig noch für wünschenswertª F. BACON (1561±1626) ± deutungsfreie Beobachtung der Natur ± Die Wahrheit der Erkenntnis bemisst sich an der Herrschaft, die sie über die Natur ermöglicht. ± Natur ist das objektiv Machbare. G. GALILEI (1564±1642) ± Verzicht auf Erfahrung einfaches Modell der Welt ± Übereinstimmung mit dem Experiment ± ¹Alles, was messbar ist, messen, und was nicht messbar ist, messbar machenª Diese methodische Selbstbeschränkung hat zu den Fortschritten und zu dem Können geführt, die wir in der Intensivmedizin heute anwenden. Aber: ¹Die Schärfe seiner Aussagen (des Naturwissenschaftlers) beruht wesentlich auf ... Selbstbeschneidung ... Die Naturwissenschaft handelt nicht von der eigentlichen Wirklichkeit, sondern nur von einer bestimmten Projektion dieser Wirklichkeit, nämlich von dem Aspekt, den man nach Maûgabe detaillierter Anleitungen ... durch so genannte gute Beobachtung herausfiltern kann ... Wir machen aber in unserem Alltag immer von einem umfassenden, weniger scharf fassbarem Wissen Gebrauch, da die Vorbedingungen, unter denen die exakten Aussagen zutreffen, praktisch nie gegeben sindª [4]. In diesem Licht sind beispielsweise folgende Phänomene zu sehen: die sog. ¹Todescomputerª in der Intensivmedizin sowie die Anwendung von ¹Scoresª; die EBM-Medizin, die nach selbst aufgestellten Regeln etwa 50±70 % der von ihr selbst praktizierten Methoden und somit sich selbst infrage stellt; nach dieser Methode sind Liebe und Zuwendung nicht existent, da nicht messbar ± aber vom Patienten als entscheidend erlebt! Wir erleben eine Vereinheitlichung, eine Entpersonalisierung, eine Flut von Regeln und Richtlinien in der Medizin, die uns von den Bedürfnissen des einzelnen Patienten entfernen und * Leicht geänderte Fassung eines Vortrages gehalten am 9. Februar 2001 auf dem 11. Internationalen Symposium Intensivmedizin und Intensivpflege in Bremen. 125 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bavastro P, Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin intensiv 2001; 9 Ethik Ethik Bavastro P, Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin ± last but not least ± uns Handelnde von einer persönlichen Verantwortung befreien sollen. In der Naturwissenschaft, bedingt durch ihre Entwicklung, ist das historische und philosophische Bewusstsein nicht stark ausgeprägt; eine selbstkritische Haltung im Hinblick auf Methoden und ihre Folgen ist unzureichend ausgebildet. Der Philosoph Gadamer formuliert es so: ¹Nur das ist Gegenstand einer Wissenschaft, was die Bedingungen methodischer Erforschbarkeit erfülltª [5]. Die Methoden, die uns zum heutigen Können geführt haben, geben uns keine Hilfe, keine Gesichtspunkte zur Bewertung unseres Handelns ± eine vermeintlich wertfreie Wissenschaft kann keine Werte liefern und somit auch keine Grundlage für ethische Betrachtungen. Die Realität des Lebens ± ganz besonders auf einer Intensivstation ± ist vielseitiger, komplexer und weicher als Zustände unter definierten Bedingungen. Zur Lösung anstehender Probleme benötigen wir philosophische, ethischweltanschauliche und humanistische Kompetenz [6, 7]. Haben Krankheit und Leiden einen Sinn, eine Bedeutung in der Biografie eines Menschen? Ist alles am Menschen berechenbar und voraussagbar [8]? Was geschieht nach dem Tod? Wo sind Grenzen des Handelns? ¹Lohnt es sichª oder sind es gar politische, finanzielle, statistische Aspekte? Welcher erkenntnistheoretischen Methoden bedienen wir uns? Es ist bequemer, mit dem Strom zu schwimmen [9] und keine Fragen zu stellen ± man begibt sich aber in die von Kant formulierte ¹selbst verschuldete Unmündigkeitª [10]. Therapiebegrenzung und Therapieabbruch werden in der Literatur unter ¹passive Sterbehilfeª zusammengefasst [11, 12]: Es ist aber falsch! Denn: Hilfe hat aktiv begleitenden Charakter, beinhaltet Beziehung sowie Zuwendung. Die Tragfähigkeit der Gleichsetzung von Tun, Unterlassen oder Abbruch wird in ethischer Hinsicht immer stärker hinterfragt; das Unterlassen sowie das Abbrechen sind als aktive Entscheidung mit persönlicher Verantwortung ver- bunden. Kritisch hierzu äuûert sich auch von Lutterotti [13]. Zutreffender erscheint die 4-stufige Differenzierung, die Herr Schuster vorgenommen hat: primärer Therapieverzicht (Verzicht auf Intensivtherapie beispielsweise bei fortgeschrittenem Tumorleiden); Therapiebegrenzung, Therapiereduktion und schlieûlich Therapieabbruch [14]. In den meisten Fällen wird ein sog. ¹weichesª Vorgehen vorgezogen, da beispielsweise das Abschalten des Respirators als aktives Beendigen des Lebens als ¹harteª Maûnahme empfunden wird. Eine weitere Unterscheidung ist angebracht: Wir haben Patienten, mit denen wir sprechen können; hier ist die Figur der Autonomie ± trotz prinzipieller Asymmetrie der Beziehung und des Befroffen-Seins ± scheinbar respektiert. Wir haben auch Patienten, mit denen wir aus Krankheitsgründen nicht sprechen können, nicht rational kommunizieren können ± und um diese geht es im Wesentlichen hier ±, die also nicht autonom sind: Wie können wir mit der Aporie umgehen, mit der Autonomie des Nicht-Autonomen? Intensivstationen sind Mitte des letzten Jahrhunderts gegründet worden, um schwerstkranken Menschen, auch in postoperativen Zuständen, zu helfen: Intensivmedizin ist also ein Ort primär zur Lebens-Hilfe! Gleichwohl ist Begleitung im Sterben Teil der Behandlungspflicht für Pflegende und ¾rzte. ¹Intensivmedizin bedeutet Anwendung aller therapeutischer Möglichkeiten zum temporären Ersatz gestörter oder ausgefallener vitaler Organfunktionen bei gleichzeitiger Behandlung des diese Störungen verursachenden Grundleidens. Ziel der Intensivbehandlung ist es, die Funktionen eines gestörten lebenswichtigen Organsystems wiederherzustellen oder in physiologische Bereiche zurückzuführen, um Zeit zur causalen Behandlung des Grundleidens zu gewinnen ...ª [15]. So die Charakterisierung der Aufgaben aus dem Munde eines Menschen, der die Intensivmedizin maûgeblich geprägt hat: P. Lawin. Unsere Aufgabe ist also definiert als menschlich professionelle Hilfe zum Leben ± nur so kann der Patient die Gewissheit und das Vertrauen haben, dass ihm geholfen wird. Wir sollten auûerdem ein relativ seltenes Problem (Therapiebegrenzung und Therapiere- duzierung) nicht künstlich zum Hauptproblem des intensivmedizinischen Alltags stilisieren. Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte diskutieren, die bei Therapieentscheidungen zu berücksichtigen sind: Erstens: Medizinische Gesichtspunkte stehen im Vordergrund: Die Biografie des Patienten, seine Vorgeschichte; selbstverständlich Zustand, Befunde und so weit wie möglich die Prognose. Daraus kann sich eine Indikation ergeben, die jedes Mal kritisch zu hinterfragen ist. Wir müssen im Bewusstsein haben, dass wir immer ex ante beurteilen und handeln; Patienten, Angehörige und Bevölkerung beurteilen meist aus dem Ex-Post: So entstehen ¾ngste. Diese zwei Gesichtspunkte lassen sich nicht vereinbaren. Der Arzt ist nicht ¹Allmächtiger in Weiûª ± er kann den Erfolg einer Behandlung intendieren, anbieten, ihn jedoch nie garantieren. Alle Prognosefaktoren sind in ihrer Aussagekraft begrenzt; sie sind zudem statistische Wahrscheinlichkeiten, mathematische Korrelationen, die für den Einzelfall nicht anwendbar sind [14, 16±18]. Zweitens: Die Mitarbeiter der Pflege sind immer mit einzubeziehen: Sie verfügen über ein enormes Wissen über den Patienten [12, 19], das die ärztlichen Gesichtspunkte ergänzt und erst zu einer Ganzheit macht. Bei uns in der Filderklinik auf der Intensivstation werden Visiten und eventuelle anstehende Entscheidungen zur Reduktion oder Abbruch seit über 20 Jahren selbstverständlich mit den Pflegenden diskutiert; es werden Gesichtspunkte ausgetauscht und mitgetragen. Die Erfahrung vor 10 Jahren mit einer Patientin im Hirn-Versagen, die wir zwei Monate lang behandelt haben, bis zur Geburt ihres gesunden Kindes, hat unsere ¹Mannschaftª in ethischer Hinsicht sensibilisiert und geprägt [20]. Es ist bei uns praktizierte Selbstverständlichkeit, dass die Betreuung nicht mit Therapieabbruch oder Reduktion endet [12], sondern lediglich eine Qualitätsänderung erfährt ± für Pflegende, aber ganz besonders für ¾rzte! Drittens: ¹Im Allgemeinen sind ¾rzte imprägniert durch Todesabwehr und Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. intensiv 2001; 9 126 Bavastro P, Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin Todesverdrängung. Von Berufs wegen ist der Tod ihr Feind, um nicht zu sagen ± ihr Todfeind. Vor allem in modernen Krankenhäusern besteht die Tendenz, das Scandalon ¹Todª auf ein biologischtechnisches Problem zu reduzierenª und zu verdrängen (so F. Nager, 1998 [21])! Wollen wir die Haltung von Epikur überwinden? So hat der Arzt fünf Aufgaben nach Herrn Nager wahrzunehmen: Aufgaben des Arztes Erstens: ± Er muss mit seinem Fachwissen die salutogenetischen Kräfte seiner Patienten fördern. Zweitens: ± Er muss Krankheiten heilen, also kurativ und reparativ eingreifen ± durch die ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Drittens: ± Er muss dem Patienten helfen, Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, damit dieser mit seinem Zustand besser im Leben zurechtkommen kann. Viertens: ± Er muss ¹palliativª handeln, d. h. sich auf das Lindern der Beschwerden beschränken. ± Mitleid und Pietät dürfen nicht zu Projektionen werden. Fünftens: ± Sterbende müssen begleitet und betreut werden. ± Die Begleitung Sterbender gehört zu den Aufgaben und Pflichten des Arztes. scheidungsfähig! Angehörige ebenfalls Betroffene! sind Eine Patientenverfügung bürdet dem Patienten eine enorme Verantwortung und Pflicht auf: Autonomie bedeutet Pflicht zur Sachkunde! Die Figur des mutmaûlichen Willens öffnet das Feld für gefährliche Spekulationen. Epikur und in seiner Ausbildung drei Fähigkeiten auszubilden: ¾rzte-Ausbildung Geschultes Wissen Fachwissen ± Menschliche Fähigkeiten Geschultes Können Handwerkliche Fähigkeiten Wertungen Geschultes Gewissen Verantwortung Erfahrung von Schuld Philosophisch-moralische Kompetenz nach Prof. H. Grewel Wir benötigen eine humanistische Haltung, die den Tod nicht des Anderen meint, sondern die sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander setzt. Ich meine eine Kultur des Sterbens: Beobachten Sie den Umgang mit Sterben und Tod, die Aufbahrungsräume unserer Krankenhäuser, dann verstehen Sie ohne Worte, was hier gemeint ist. Viertens: Wir müssen uns fragen, warum (oder wozu?) der Eid des Hippokrates nach über 2000 Jahren seine Gültigkeit für viele verloren hat ± hat der Fortschritt alleine die Grundlage verändert? Liegt es daran, dass der heutigen Medizin immer noch die positivistische Haltung des 19. Jh. zugrunde liegt? [1]. Heute stehen Autonomie und Selbstbestimmung im Vordergrund. Gelten sie in Notfallsituationen, bei bewusstseinsgestörten Patienten, bei Schmerzen, bei Luftnot? Die frühere Vorstellung des Patienten ist immer eine radikal andere als die des Betroffenseins! In der Not benötigen wir Hilfe, Zuwendung, Beziehung; als Patient bin ich Betroffener, nicht frei, nicht distanziert, nicht rechtlich ent- Das Argument der zu erwartenden schlechten oder nicht zumutbaren Lebensqualität wird oft in diesem Zusammenhang erwähnt (z. B. [14]). Es handelt sich um in die Zukunft projizierte, fremd beurteilende Werturteile; Berichte von Patienten belehren uns aber des Gegenteils! [22]. Das Bild des mündigen Patienten erscheint angesichts der grundsätzlich asymmetrischen Beziehung zwischen Arzt und Patienten deutlich idealisiert, es verfehlt zudem die Realität der Intensivmedizin: ¹Die Problematik der ethischen Frage der Intensivmedizin liegt ja gerade im Versagen des Selbstbestimmungsprinzips für diese Patientenª [23]. Einige Autoren sprechen bereits von Rhetorik der Autonomie [12], von der Dominanz des Autonomieprinzips, vom Mythos der Selbstbestimmung, von neopaternalistischer Medizin [24]. Vielmehr kann der Gesundungsprozess als Weg zur Wiedererlangung der Autonomie gesehen werden. Die Ideologisierung des Autonomieprinzips (als Kardinal-Direktive [14]) führt zur absurden Umkehrung der ärztlichen Aufgabe: Behandlung und Weiterbehandlung bedürfen der Legitimation durch den Patienten, der Behandlungsabbruch dagegen nicht! [25]. Pflegende und ¾rzte sind ebenfalls autonome Wesen, die der Stimme ihres Gewissens gehorchen dürfen und müssen (Artikel 4, Grundgesetz) ± kritische Professionalität vorausgesetzt! Fünftens: Wir müssen lernen, Fragen richtig und kritisch zu stellen. Sind Therapiereduzierung und Therapieabbruch richtig gewählte Begriffe? Wird unsere angebotene medizinische Hilfe nicht zur Genesung angenommen, so metamorphosiert sich unsere Aufgabe in Begleitung und Hilfe im Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Der Tod ist für uns ein Nichts; denn was der Auflösung anheim gefallen ist, besitzt keine Empfindung mehr, was aber keine Empfindung mehr hat, bedeutet für uns nichts mehr. So ist der Tod, das schauervollste Übel, für uns ein Nichts; wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr. Es geht also weder die Lebenden noch die Gestorbenen an; für die einen ist er ja nicht vorhanden, die anderen aber sind für ihn nicht mehr vorhanden. 127 intensiv 2001; 9 Ethik Ethik Bavastro P, Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin Die Persönlichkeit eines Menschen erschlieût sich nur demjenigen in ihrer Tiefe und in ihrem Reichtum, der etwas von sich selbst in diese Erfahrung investiert. Nicht die unpersönlichste, sondern die persönlichste Wahrnehmung offenbart uns am meisten von dem, was die Wirklichkeit an sich selbst ist. Es gehört zu den immer noch nicht ausgeräumten Vorurteilen des neuzeitlichen Denkens, etwas sei um so objektiver, je weniger subjektiv es ist. R. Spaemann: Personen, 1996 Sterben ± in voller Anerkennung unserer Endlichkeit als das ¹Grundphänomen der Menschwerdungª, wie es H. G. Gadamer schon 1974 formuliert hat [26]. ¹Sterbende sind keine Belastung, sondern selbstverständlicher Bestandteil einer Gesellschaft und deren Humanität muss sich gerade daran erweisen, wie sie mit dem Grundphänomen menschlicher Existenz, unserer Begrenztheit, umzugehen vermagª [27]. Die viel zitierte Würde des Sterbens wird nicht durch medizinische oder technische Maûnahmen tangiert ± sie wird vielmehr verletzt durch unser Verhalten, durch die Art oder Unart der Begleitung, durch das Abbrechen einer helfenden Beziehung (vielleicht versinnbildlicht am Abstellen eines Respirators). Was bedeuten ¹lebensverlängernde Maûnahmenª? Wenn wir von medizinischer Ethik sprechen, sind wir bei der am Anfang angesprochenen Entpersonalisierung, Objektivierung ± es handelt sich vielmehr um eine Ethik des Arztes, der Schwester ± ganz konkret, subjektbezogen, personalisiert, in der Ich-du-Beziehung! Aussagen wie die folgende: ¹Dennoch wird heute kaum jemand schneller gesund, nur weil wir ihn beatmen könnenª, [22] sind nicht korrekt: Es ist Aufgabe der Intensivmedizin durch notwendig gewordene Beatmung Menschen am Leben zu erhalten, die sonst versterben ± Intensivmedizin ist nicht angetreten, um Menschen schneller zur Genesung zu führen! Sechstens: ¹Es gibt keinen neutralen Ort jenseits der eigenen Verstrickung in die Geschichte, kein Ort von dem aus sich mit dem Blick eines absoluten Wissens alles objektiv überschauen lieûe.ª ± Daher spricht Gadamer vom Zirkel oder vom Horizont des Verstehens [28]. Arzt und Patient, Pflegende und Patient sind Subjekte, daher kann ihre Beziehung, ihre Ich-du-Begegnung nur eine subjektive sein. In diesem Sinne machen wir uns immer ¹schuldigª ± beim Handeln sowie beim Unterlassen! Wir stehen immer in Beziehung, in kausaler persönlicher, nicht delegierbarer Verantwortung. Siebtens: Wir kommen zu der wichtigsten Frage: Welches Menschenbild, welche ethischen Werte legen wir unserem Handeln zugrunde? Obwohl wir in einer sog. pluralistischen Gesellschaft leben, herrscht seit Descartes Dualismus vor, die These des Vorrangs des Bewusstseins vor dem Sein. Das zerebrozentrische Weltbild (das Vorhandensein von intellektiven und rationalen Leistungen bestimmt das Sein; diese werden als gehirngebundene Leistungen angesehen) bestimmt unser gesamtes medizinisches Denken. Es hat als Nützlichkeitsdenken (in seinen verschiedenen utilitaristischen Ausformungen) die moralisch schwerwiegende Festsetzung des sog. ¹Hirntodesª als Tod des Menschen bewirkt. Dieses Denkmuster zeigt aber Folgen. Ohne Philosophie werden wir des Unfugs eben nicht Herr! ... ¹Erst die Theorie entscheidet darüber, was beobachtet werden kann.ª Albert Einstein Eng damit verbunden ist ein mechanistisches Menschenbild, nach dem wir die Summe unserer Teile seien. Wenn der Patient zum Arzt geht und sich ¹durch-checkenª lassen will, so liegt, freilich unbewusst, dieses Menschenbild zugrunde. Steht der philosophische Ansatz von Kant im Mittelpunkt ± der nach der Absicht, nach dem Wozu einer Handlung fragt, nach dem der Mensch immer nur Selbstzweck sein kann ±, so instrumentalisiert der sog. ¹Hirntodª und die Organentnahme den Spender. Andere Folgen ergeben sich hingegen aus der ethischen Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben eines Albert Schweizers [30] oder aus der Haltung einer Verantwortungs-Ethik von H. Jonas [31]. Wird der Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit verstanden und als Beziehung aufgefasst, so entsteht Demut und Respekt vor dem Leben, der Krankheit und dem Sterben. Heidegger (Seins-Vergessenheit), Gadamer, Spaemann, Jonas, Levinas, Buber und viele andere zeitgenössische Philosophen betonen den Vorrang des Seins vor dem Bewusstsein. Nur eine solche Grundhaltung lässt sich in Deckung bringen mit einer Phänomenologie (z. B. Husserl) und mit biologischer und philosophischer Anthropologie. Jede empirische Festlegung (z. B. NidaRümelins Selbstachtung) ist bereits Produkt des Reduktionismus und weist auf utilitaristische Haltung hin (Der Tagesspiegel 3.1.01). Schlussfolgerung Die hier besprochenen Probleme und Aspekte sind nicht objektiv, neutral, ¹Der Patient kann diesen Eingriff natürlich nicht überleben, weil er nach unserer Definition tot ist. Prof. Bösken ¹Schon ein nur vorübergehend wirklich bewusstloser Mensch, der grundsätzlich wieder zu Bewusstsein kommen kann, solange sein Gehirn noch nicht vollständig und endgültig ausgefallen ist, keine entsprechenden Wahrnehmungen machen und mitteilen. Ebenso wenig kann ein Sterbender, der bereits das Bewusstsein verloren hat, durch eine Sterbebegleitung getröstet und gestärkt werden, weil er sie im Zustand der Bewusstlosigkeit nicht wahrnehmen kann.ª H. Angstwurm Aus: ¹Wann ist der Mensch wirklich totª 1995 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. intensiv 2001; 9 128 theoretisch und in Richtlinien zu lösen. Jeder Patient ist ein Einzel-Schicksal. Ethik ist in letzter Instanz eine Ich-Erfahrung, eine Frage der Haltung, des Menschenbildes, eine Frage der Werte [32]; eine Frage der Discretio im Sinne von Hildegard von Bingen: Demut, liebevolle Hinwendung, Aufmerksamkeit, Geduld, Umsicht, rechtes Maû halten, Weisheit und Klugheit [33]. In der Intensivmedizin sind Autonomie und Selbstbestimmung alleine nicht hilfreich; Paternalismus muss erweitert werden durch Fürsorge [34] ± ein anderes Prinzip bildet die Realität der dort zu behandelnden Patienten nicht adäquat ab. Jenseits der Ethik-Konzile [35] vielmehr durch tägliches Hinterfragen des eigenen Tuns, in der menschlichen Zuwendung zum Patienten, im täglichen Gespräch zwischen Patienten, Angehörigen, Pflegenden und ¾rzte lassen sich individuelle Entscheidungen erringen. Wir blicken auf eine über 20-jährige Erfahrung dankbar zurück! Das Instrument der Therapiereduzierung und des Therapieabbruchs muss kritisch und äuûerst zurückhaltend angewandt werden; bei geringstem Zweifel (und diese bestehen in den meisten Fällen) müssen die Prinzipien gelten: In dubio pro vita [14], Demut sowie Ehrfurcht vor dem Leben, das Primat des Seins vor dem Bewusstsein! Insofern möchte ich die Frage umformulieren: Welche Gesichtspunkte müssen wir im Bewusstsein haben, um im Einzelfall der Situation des konkreten Patienten gerecht werden zu können? ± Wissend um die individuelle Fehlbarkeit und Verantwortlichkeit? ¹Alle Handlungen aber müssen durch das Nadelöhr individueller Entscheidung gehen, soll die Ethik nicht selbst in den ¹Terror der Humanitätª umschlagenª [27]. Literatur 1 v Uexküll Th, Wesiack W. Theorie der Humanmedizin. München: Urban + Schwarzenberg-Verlag, 1991 2 Jaspers K. Der Arzt im technischen Zeitalter. In: Autrum HJ (Hrsg). Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft Berlin: Springer-Verlag, 1987 3 Pietschmann H. 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