Sigrid Faath (Hrsg.) Kontrolle und Anpassungsdruck Zum Umgang des Staates mit Opposition in Nordafrika/Nahost M E N A S TA B I L I S I E R U N G Hamburg, Mai 2008 Sigrid Faath (Hrsg.) Kontrolle und Anpassungsdruck Zum Umgang des Staates mit Opposition in Nordafrika/Nahost Die Durchführung dieser Studie wurde durch die Finanzierung des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ermöglicht. © PD Dr. habil. Sigrid Faath Hamburg, Mai 2008 GIGA Institut für Nahost-Studien Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/imes Inhalt Vorwort 7 Zum Forschungsprojekt Zielsetzung, Aufbau, Methodik, Länderauswahl 9 (Sigrid Faath) Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion Staat und Opposition in Nordafrika und Nahost Facetten einer komplexen Beziehung (Sigrid Faath / Hanspeter Mattes) 1. Das oppositionelle Spektrum in Nordafrika und Nahost 1.1. Definitorischer Vorspann 1.2. Das Ansehen von Opposition in Nordafrika und Nahost 1.3. Kriterien zur Unterscheidung von Opposition 2. Das Problem der Einschätzung von Anzahl und Einfluß der Oppositionskräfte 3. Zur Interaktion von Staatsführung und Opposition 4. Konflikte und politische Opposition in Nordafrika und Nahost 4.1. Konfliktkontinuität 4.2. Externe Faktoren als Konflikt- und Oppositionstreiber 4.3. Opposition heute – ein Spiegel der Konflikte Perspektiven „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ Gewaltsame Opposition mit Zukunft? (Sigrid Faath) 1. Problemdimension und Bedrohungspotential 2. Kontext 3. Sicherheitsherausforderung 4. Die islamistischen terroristischen Gruppen im Maghreb 17 23 23 24 27 35 41 46 48 54 58 61 63 63 64 67 68 4 Staatlicher Umgang mit Opposition 5. Handlungspotential der Qaida im islamischen Maghreb 6. Staatliche Gegenmaßnahmen Perspektiven 75 80 82 Kapitel II : Länderstudien Reform und Repression in Ägypten Der Umgang mit Opposition in Zeiten des Herrschaftstransfers (Florian Kohstall) 1. Opposition in autoritären Systemen 2. Der Umgang des Staates mit Opposition: Konstanten und konjunkturelle Faktoren 3. Zentrale Akteure und deren Stellung zum Staat 4. Staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Opposition: Zwischen Reformen und Repression 5. Das staatliche Gewaltmonopol Reziprokes Mißtrauen : Zum Verhältnis von Staat, Bevölkerung und Opposition in Algerien (Sigrid Faath) 1. Rahmenbedingungen für Opposition 2. Opposition in Algerien: Das Spektrum der organisierten Gruppen und spontanen Akteure 3. Staat und Opposition: Zum Muster einer Beziehung 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen im Umgang mit Opposition The Jordanian Opposition A Problematic Relationship with the State (Raëd Moussa) The political opposition: an overview 1. The main opposition groups 2. The strategy of the state to contain the opposition 3. The reaction of the opposition to the government’s strategy 4. The state and its strategy towards the Islamists since 2005 The political future of Jordan 83 83 84 94 111 119 121 126 135 149 163 167 167 169 175 184 190 193 Inhalt „No State to Start With“ Die Rivalität der Gewalt im nach-syrischen Libanon (Thomas Hildebrandt) 1. Libanon als Sonderfall 2. Macht und Opposition seit Ende des Bürgerkrieges 3. Die zentralen Probleme auf dem Gebiet der politischen Gewalt 4. Perspektiven der Gewaltproblematik Kaum Spielraum für Opposition in Marokko Ein Ergebnis königlicher Politik (Sigrid Faath) 1. Rahmenbedingungen für Opposition 2. Opposition in Marokko und das Problem der Positionierung gegen den König 3. König und Opposition 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen Opposition und Regime in Syrien „Der irdene und der eiserne Topf“ (Hassan Abbas) 1. Die traditionelle Opposition 2. Die neue Opposition 3. Der Umgang des Regimes mit der Opposition Staat und Opposition in Tunesien Breiter Konsens über die Orientierung des Staates, zersplitterter Dissens über die Art und Weise des Regierens (Sigrid Faath) 1. Rahmenbedingungen für Opposition 2. Opposition in Tunesien: Eine Angelegenheit von Individuen und Organisationen ohne gesellschaftlichen Rückhalt 3. Staat und Opposition: Zum Muster einer Beziehung 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen im Umgang mit Opposition 5 195 195 196 205 228 231 231 241 254 265 269 270 283 307 319 321 330 342 348 6 Staatlicher Umgang mit Opposition Kapitel III : Auswertung und Ausblick Kontrolle und Anpassung als „Staatsziel“ im Umgang mit Opposition in Nordafrika/Nahost (Sigrid Faath) 1. Ergebnisse der Länderanalysen: Zum Profil der Opposition 2. Ergebnisse der Länderanalysen: Der staatliche Umgang mit Opposition – Maßnahmen und Bewertung 3. Zusammenfassende Bewertung der länderspezifischen Ergebnisse 3.1. Gesellschaft und Opposition 3.2. Zu den Maßnahmen gegen gewaltbereite Opposition 3.3. Eine vorläufige Bilanz 3.4. Die Euromediterrane Partnerschaft: Ein Referenzrahmen für den staatlichen Umgang mit Opposition? Perspektiven Auswahlbibliographie Zu den Autoren 353 356 369 384 384 386 390 394 397 399 412 Vorwort Le désir d’ordre est le seul ordre du monde. George Duhamel (Cécile parmi nous, 1963) Die Studie zum Verhältnis von Staat und Opposition in Nordafrika und Nahost ist das zweite Arbeitsergebnis1 des übergreifenden Forschungsprojekts „Strategien zur langfristigen Stabilisierung der euromediterranen Partnerstaaten in Nordafrika/Nahost: Innenpolitische, regionale und internationale Voraussetzungen“, in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Europäischen Union zur geographischen Verortung der Untersuchungsstaaten kurz „MENA-Stabilisierung“2 genannt. Das von PD Dr. Sigrid Faath koordinierte Forschungsprojekt besteht aus vier in sich abgeschlossenen Teilstudien und wird seit 2007 am Institut für Nahost-Studien/Institute of Middle East Studies (IMES) des GIGA German Institute of Global and Area Studies in Hamburg durchgeführt. Ziel des Forschungsprojekts ist es, jene Maßnahmen und Strategien der Anpassung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an die globalen Entwicklungen herauszuarbeiten, die eine langfristige Stabilisierung der in den euromediterranen Kooperationsprozeß eingebundenen nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten ermöglichen und die gegebenenfalls durch externe Hilfe unterstützt werden können. Die Studie zum Umgang des Staates sowohl mit der kooperativen als auch der gewaltbereiten Opposition in Nordafrika und Nahost greift ein 1 2 Das erste Arbeitsergebnis war die im September 2007 publizierte Studie zur staatlichen Religionspolitik in ausgewählten nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten; alle Informationen zum übergreifenden Forschungsprojekt und die Ergebnisse der Teilprojekte finden sich unter www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. MENA: Middle East and North Africa. Zum Stabilitätsverständnis vgl. ebenfalls die einleitenden Ausführungen zu dieser Studie „Zum Forschungsprojekt“, S. 9 ff. Staatlicher Umgang mit Opposition 8 Spannungsverhältnis auf, in dem sich – in Anlehnung an die Erkenntnis von Paul Valéry3 – Ordnung und Unordnung gegenüberstehen. Die Staatsführungen setzen mit aller Macht die Aufrechterhaltung der von ihnen definierten (autoritären) Ordnung durch, während oppositionelle Gruppen diese Ordnung mit ihren Forderungen nach politischer Systemtransformation oder der Umsetzung eines anderen Gesellschaftsmodells herausfordern. Dieses Engagement für eine neue Ordnung wird von den Staatsführungen als Gefährdung des Konsens und Schaffung von Unordnung interpretiert. Opposition wird im Rahmen dieser Studie in einem weiten Sinn verstanden als „Nichtübereinstimmung“ mit der staatlichen Politik oder staatlichen Ordnung. Der Umgang der Staatsführungen mit Opposition ist – wie die Länderstudien dieses Bandes zeigen – sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Sonderfall ist zudem der Libanon, wo es den traditionellen Staat als Akteur derzeit gar nicht gibt. Die Bedeutung von Länderstudien wird durch die Ergebnisse dieses Projekts unterstrichen. Die Umschrift arabischer Begriffe in den einzelnen Beiträgen folgt der im Englischen gebräuchlichen vereinfachten Form. Namensnennungen richten sich nach den üblicherweise in den untersuchten Staaten verwendeten lateinischen Varianten. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben, daß die Beiträge die Meinung der Autoren und nicht die Meinung ihrer Arbeitgeber oder des GIGA wiedergeben. Das Forschungsprojekt wurde dankenswerter Weise vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn gefördert. Hamburg, Mai 2008 Dr. Hanspeter Mattes Stellv. Direktor GIGA IMES 3 Valéry: „Deux dangers ne cessent de menacer le monde: l’ordre et le désordre.“ (Variété III). Zum Forschungsprojekt Zielsetzung, Aufbau, Methodik, Länderauswahl Sigrid Faath Die Stabilisierung des südlichen Mittelmeerraumes durch die Förderung von Entwicklung und Sicherheit ist ein zentrales Anliegen der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedsstaaten, nicht zuletzt weil einige nordafrikanische und nahöstliche Staaten auch Öl- und Gaslieferanten der EU sind. Darüber hinaus ist davon auszugehen, daß auch in Zukunft zwischenstaatliche Konflikte und innenpolitische Entwicklungen in Nordafrika und Nahost direkte Auswirkungen auf Europa und europäische Interessen haben werden. Hinzu kommt, daß die Präsenz von größeren Gemeinschaften mit nordafrikanischem und nahöstlichem Hintergrund in der EU und die anhaltende Migration aus dem südlichen Mittelmeerraum in die Mitgliedsstaaten der EU die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens noch viel näher rückt als sie es – geographisch gesehen – bereits sind. Die Rückbindungen der nordafrikanischen und nahöstlichen Gemeinschaften in der EU an ihre Herkunftsstaaten ist zudem ausgeprägt und sorgt dafür, daß politische, sozioökonomische, religiöse und kulturell-identitäre Problemlagen der nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten in die EU-Mitgliedsstaaten hineingetragen werden. Die Förderung von Entwicklung und Sicherheit zur Stabilisierung der Staaten des südlichen Mittelmeerraumes ist um so drängender, als bislang kein nordafrikanischer und nahöstlicher Staat einen tatsächlichen Durchbruch bei der Umsetzung von Reformen im ökonomischen und entwicklungspolitischen Bereich erzielte. Die Studie zum Umgang des Staates in Nordafrika und Nahost mit (militanter) Opposition ist eine in sich abgeschlossene Analyse und doch gleichzeitig auch Teil des Forschungsprojekts „Strategien zur langfristigen Stabilisierung der euromediterranen Partnerstaaten in Nord- Staatlicher Umgang mit Opposition 10 afrika/Nahost“1 (kurz „Menastabilisierung“ genannt). Die vier zentralen Studien dieses Forschungsprojekts befassen sich - erstens mit den Möglichkeiten und Chancen, in den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens gesellschaftliche Konflikte und latente Konfliktthemen so zu entschärfen, daß die staatliche Handlungsfähigkeit erhalten bleibt und langfristig Gewalt als Mittel sozialer Interaktion reduziert werden kann; - zweitens mit den Maßnahmen der Staatsführungen und gesellschaftlichen Organisationen, um das akute und latente Protest- und Konfliktpotential nicht nur kurzfristig, sondern langfristig einzugrenzen, so daß die gesellschaftliche Kohäsion, der soziale Friede und die Handlungsfähigkeit der Institutionen als wichtige Bedingungen für die Umsetzung entwicklungspolitisch relevanter Reformen erhalten bleiben. Die bisherigen Beobachtungen der politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens und das zum Teil ambivalente Reformverhalten ihrer Staatsführungen weisen darauf hin, daß die Umsetzung struktureller Reformen wesentlich von der Einsicht in die Reformnotwendigkeit, von der Bereitschaft der Staatsführungen zu Reformen, aber auch von der Kapazität der Staatsführungen zur Durchsetzung von Reformen abhängt. Das Forschungsprojekt „Menastabilisierung“ geht von der Annahme aus, daß zwischen dem Willen und der Kapazität der Staatsführungen, Reformen einzuleiten und praktisch durchzusetzen, und der erfolgreichen Reduzierung innerstaatlicher, vor allem gewaltsamer Konflikte, eine Beziehung besteht. Als maßgeblich beteiligt am Erfolg oder Mißerfolg staatlicher Politik wird – neben den Maßnahmen, um Gewalt als innergesellschaftliches Mittel der Konfliktaustragung zu diskreditieren und zu reduzieren – der Umgang der Staatsführung mit politischem Protest und Opposition, insbesondere militanter Opposition, erachtet. Das Forschungsprojekt „Menastabilisierung“ will diese Annahmen überprüfen und Schlußfolgerungen für die konstruktive Konfliktprävention und Gewalt reduzierende 1 Vgl. Schaubild zum Gesamtprojekt und erläuternde Ausführungen bei Faath, Sigrid: Protest und Gewalt in Nordafrika/Nahost. Zum Gegenstand des Forschungsprojekts „Menastabilisierung“, Hamburg, September 2007, 53 S., Text abrufbar Online unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. Kapitel I : Zum Forschungsprojekt 11 Strategien ziehen. Die Studien des Forschungsprojekts gehen deswegen von zwei Leitfragen aus: - Erstens: Tragen die Staatsführungen in Nordafrika/Nahost, die sich formal in die euromediterranen Kooperationsprozesse einbinden, durch ihre Ressortpolitiken zur Stabilisierung des südlichen Mittelmeerraumes bei oder gefährden sie die langfristige Stabilisierung auf innenpolitischer wie regionaler Ebene durch ihr Verhalten und die umgesetzte Politik? - Zweitens: Welche innenpolitischen, regionalen und internationalen Voraussetzungen sind nötig, um eine stabilisierungs- und entwicklungsfördernde Politik zu begünstigen? Der staatliche Akteur als zentraler Entscheidungsträger in den hierarchisch strukturierten politischen Systemen der nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten und die von ihm ergriffenen Maßnahmen stehen im Mittelpunkt der Analyse, weil auch in autoritären Systemen die Flexibilität der Staatsführung und ihre Fähigkeit zur Anpassung an sich permanent verändernde Umfeldbedingungen notwendige Voraussetzung ist, um die Regierungsfähigkeit und damit die Legitimität zu erhalten. Die Stabilität2 bzw. die Stabilisierung von Staaten kann zwar von außen, d.h. durch ausländische Hilfe unterstützt werden, wenn eine grundsätzliche Nachfrage für externe Unterstützung formuliert und damit die Bereitschaft zur Kooperation signalisiert wird; im wesentlichen hängt die Stabilitätssicherung aber vom Handeln der Staatsführungen, ihrer politischen Orientierung und ihrer Fähigkeit, Unterstützung zu mobilisieren (bzw. Opposition zu reduzieren), ab. Aus dieser Annahme, daß nur durch Wandel (Anpassungsleistungen), selbst wenn die Grundstrukturen des Systems nicht zum Gegenstand von Reformeingriffen werden, innenpolitisches Konfliktmanagement im Sinne einer langfristigen Stabilitätsförderung betrieben werden kann, ergeben sich zwei Fragen, die im Rahmen des Projekts zum Umgang des Staates mit Opposition beantwortet werden sollen: 2 (Politische) Stabilität wird in allen Teilprojekten von „Menastabilisierung“ definiert als die Fähigkeit staatlicher Institutionen (in autoritären Staaten: die Staatsführung), Staatlichkeit zu sichern. Dies schließt die Sicherung der staatlichen Handlungsfähigkeit, die Effizienz staatlichen Handelns, den Erhalt der institutionellen Fähigkeiten und die Flexibilität im Umgang mit Konflikten ein. Vgl. auch die Ausführungen in Faath 2007, a.a.O. (Anm. 1), S. 18 ff. Staatlicher Umgang mit Opposition 12 - Erstens die Frage, welche Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik die jeweils nationale Staatsführung verfolgt und über welche Legitimation diese Politiken verfügen; mit anderen Worten, welche politischen und gesellschaftlichen Gruppen sehen sich in der Politik der Staatsführung repräsentiert bzw. versuchen, durch oppositionelles Handeln darauf Einfluß zu nehmen. - Zweitens die Frage, welche Haltung die Staatsführung gegenüber jenen politischen und gesellschaftlichen Kräften, die die staatliche Politik ganz oder teilweise ablehnen, einnimmt. Die staatliche Haltung und der staatliche Umgang mit Opposition allgemein und militanter Opposition im Besonderen ist entscheidend dafür, ob gewaltsame politische Aktionen zunehmen und gegebenenfalls sogar eine Gewaltspirale ausgelöst wird. Aufbau der Studie Die Studie umfaßt drei Kapitel, davon zwei analytische und ein auswertendes Kapitel. Kapitel I (Staat und Opposition in Interaktion) geht länderübergreifend auf das Verhältnis von Staat und (militanter) Opposition in Nordafrika/Nahost ein. Das Oppositionsspektrum wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Zielsetzungen bzw. Forderungen und Aktionsweisen, ihrem Mobilisierungspotential und ihrer Handlungsfähigkeit erfaßt (Beitrag: „Staat und Opposition in Nordafrika/Nahost: Ein Rück- und Überblick“). Ein weiterer Beitrag („Konflikte und politische Opposition in den euromediterranen Partnerstaaten“) greift die 2007/08 akuten Konflikte und ihre Träger auf, um die Begründungen für die gewählten Aktionsmodi, die Mobilisierungskraft und vor allem das Verhältnis der einzelnen Oppositionsgruppen zur Gewalt und die Rolle von Gewalt in Konflikten herauszuarbeiten. Ein Sonderaspekt der seit 2007 in den Maghrebstaaten aktiven, Gewalt einsetzenden Oppositionsgruppen, die sich transnational definieren und sich selbst seit Januar 2007 als „al-Qaida des islamischen Maghreb“ bezeichnen, wird in einem eigenen Beitrag („Al-Qaida des Maghreb: Gewaltsame Opposition mit Zukunft?“) behandelt, wobei insbesondere auf drei Aspekte eingegangen wird: - die Handlungskapazität der Gruppe(n), ihr Bedrohungspotential für einzelne Staaten und die Region und die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung ihres Einflusses und Aktionsraumes. Kapitel I : Zum Forschungsprojekt 13 Kapitel II umfaßt sieben, in alphabetischer Reihenfolge angeordnete Länderanalysen: Ägypten, Algerien, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien und Tunesien. Die Länderanalysen sind den landesspezifischen Erfordernissen angepaßt, folgen aber einem ähnlichen Aufbau und konzentrieren sich auf zwei Untersuchungsstränge: - zum einen auf das Profil der politischen militanten und nichtmilitanten Opposition im Zeitraum 2000-2007. Berücksichtigt werden dabei die ursächlichen Konflikte, Forderungen und Ziele sowie das Allianz- und Kooperationsverhalten der Oppositionsgruppen untereinander. - zum anderen auf das staatliche Verhalten. Die Maßnahmen, mit denen die Staatsführungen auf „Opposition“ (Nichtübereinstimmung, Kritik bis hin zu Protest und gewaltsamem Widerstand) und die jeweils artikulierten Forderungen reagieren, reichen von polizeilicher Repression, Duldung bei Beachtung bestimmter Auflagen (Verhaltensregeln) und „Tabus“ bis zur Bildung von gemeinsamen Kommissionen, der formalen politischen Einbindung und Einleitung neuer Konzepte zur Entwicklungsförderung und sektorbezogenen Reformen. Eine Analyse der ergriffenen Maßnahmen im Umgang mit Opposition ist neben der grundsätzlichen Einsicht in notwendige strukturelle Reformen zur Stabilisierung der politischen Herrschaft für den Erfolg politischer Reformen mitentscheidend. Auf zwei Strategien wird in den einzelnen Länderanalysen besonders geachtet, weil ihnen Bedeutung für die Stabilitätssicherung zugemessen wird: (1) die Strategien des staatlichen Akteurs zur Reduzierung und Diskreditierung von Gewalt als innergesellschaftliches Mittel der Konfliktaustragung und (2) die Strategien des staatlichen Akteurs zur Reduzierung von Unzufriedenheit mit der sozioökonomischen Lage, der Verteilung staatlicher Dienstleistungen und den Beziehungen BürgerStaat. Kapitel III wertet die Ergebnisse der sieben Länderanalysen aus und bewertet das jeweilige staatliche Handeln unter dem Gesichtspunkt der Auswirkungen oder wahrscheinlichen Auswirkungen staatlichen Handelns. Im Mittelpunkt der Auswertung stehen - die Reduzierung von Gewalt als Mittel sozialer Interaktion, die langfristige Stabilitätssicherung und die Berücksichtigung der im Rahmen der euromediterranen Kooperation bzw. Partnerschaft formulierten Ziele und getroffenen Reformvereinbarungen. 14 Staatlicher Umgang mit Opposition Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse werden Chancen und Ansatzpunkte in Nordafrika/Nahost für eine externe Unterstützung von Akteuren und staatlichen (Einzel-)Maßnahmen erörtert, mit denen die Konfliktaustragung deeskaliert (konfliktpräventive Politik), Gewalt als politisches Mittel diskreditiert und nachhaltige Entwicklung sowie die Integration breiter Bevölkerungsgruppen (vor allem der Jugend) in den Entwicklungsprozeß unterstützt werden kann. Methodik Das Forschungsprojekt „Menastabilisierung“ und seine Teilprojekte sind der Transformationsforschung verpflichtet. Speziell der Wandel autoritärer Systeme im Rahmen gleichbleibender Grundstrukturen, also innerhalb des Systemtyps, steht im Zentrum des Interesses. Da bislang kein Staat der Regionen Nordafrika und Nahost Eingriffe vornahm, die über eine Liberalisierung von Teilbereichen hinausgingen und einen demokratischen Transformationsprozeß in Gang gesetzt hätten, wären von einem Fokus auf Demokratisierung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten, die Aufschluß über Handlungskapazitäten und zukünftige Entwicklungstendenzen geben könnten. Von einer Analyse staatlichen Handelns und staatlicher Anpassungsleistungen innerhalb des vorhandenen autoritären Systemrahmens, der sehr unterschiedlich gestaltet und relativ flexibel ist, wird indessen ein Erkenntnisgewinn erwartet, der konkrete Aussagen zu den Entwicklungstendenzen zuläßt, Wandel beim staatlichen Umgang mit Konflikt und Opposition ersichtlich macht und schließlich erlaubt, die Politikoptionen der Staatsführung vor dem Hintergrund der Ziele: Sicherung von (ausreichender) Unterstützung, Legitimität und Stabilität differenzierter zu bewerten. Die Studie zum Umgang des Staates mit (militanter) Opposition verbindet einen institutionellen mit einem akteurstheoretischen Ansatz. Die Länderanalysen basieren auf der Auswertung von Konfliktanalysen, Dokumenten, diversen Studien und Berichten sowie Aufenthalten vor Ort und problemzentrierten Interviews mit ausgewählten Repräsentanten von politischen Organisationen, Vereinigungen, Gewerkschaften, politischen Analysten. Die Sensibilität der Thematik erschwerte allerdings die direkte Diskussion. Kapitel I : Zum Forschungsprojekt 15 Länderauswahl Die vorliegende Studie stellt diejenigen nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten in den Mittelpunkt, die Assoziationsabkommen mit der EU schlossen und zum Teil auch bereits eine Beteiligung an der Europäischen Nachbarschaftspolitik vereinbarten: - Ägypten (Assoziationsabkommen in Kraft seit 2004; Teilnahme an ENP/Aktionsplan angenommen 2007); Algerien (Assoziationsabkommen in Kraft seit 2005; Ablehnung der ENP) Jordanien (Assoziationsabkommen in Kraft seit 2002; Teilnahme an ENP/Aktionsplan angenommen 2005) Libanon (Assoziationsabkommen in Kraft seit 2003; Teilnahme an ENP/Aktionsplan angenommen 2005) Marokko (Assoziationsabkommen in Kraft seit 2000; Teilnahme an ENP/Aktionsplan angenommen 2005) Tunesien (Assoziationsabkommen in Kraft seit 1998; Teilnahme an ENP/Aktionsplan angenommen 2005). Als siebtes Fallbeispiel wurde Syrien aufgenommen, das Verhandlungen mit der EU über ein Assoziationsabkommen führte; diese wurden 2004 abgeschlossen, ohne daß seither weitere formale Schritte gefolgt wären. Die Länderbeispiele umfassen somit Staaten mit unterschiedlicher Haltung zur Kooperation und Partnerschaft mit der EU, was wiederum eine unterschiedliche Intensität und institutionelle Ausprägung der bilateralen Ausgestaltung der euromediterranen Beziehungen nach sich zog. Kapitel I Staat und Opposition in Nordafrika und Nahost: Facetten einer komplexen Beziehung Sigrid Faath / Hanspeter Mattes Staat und Opposition stehen wie Gesellschaft und Konflikt1 in einer engen Beziehung und bedingen sich gegenseitig. „Staat“ bzw. die Ausübung staatlicher Macht und die Existenz irgendeiner Form von „Nichtübereinstimmung“2 bzw. „Opposition“3 gehen „Hand in Hand“. Macht, Machtausübung und der Umgang des Machthabers mit Konflikten und manifestierter Opposition setzt einen Prozeß der Interaktion voraus, in dem die Bedingungen zur Gestaltung der Beziehungen zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Dieser Prozeß kann verstanden werden als Prozeß zur Gestaltung und zur Regelung von Partizipation im Rahmen des politischen und gesellschaftlichen Systems oder als Prozeß, der Verhandlungsregeln – als ordnungsschaffende Elemente – für die künftige Interaktion aufstellen soll. Wenn die staatliche Exekutive der zen1 2 3 Unter Konflikt wird ein „Spannungszustand“ verstanden, der durch die Wahrnehmung von Interessengegensätzen (mindestens) zweier Akteure, die um ein knappes Gut konkurrieren, hervorgerufen wird und sowohl gewaltfrei als auch gewaltsam ablaufen kann. Sie kann von Einwänden bis zu massivem Widerspruch und organisierten Aktionen des Aufbegehrens und Widerstands gegen staatliche Politik und ihre Repräsentanten reichen. Vgl. die etymologische Herkunft des Begriffs Opposition. Das Lateinische opponere bedeutet entgegensetzen, einwenden. Daraus entwickelte sich vornehmlich im 18. Jahrhundert in Europa die Anwendung des Begriffs Opposition auf die Gesamtheit aller von der Regierung ausgeschlossenen und mit deren Politik nicht einverstandenen Parteien und Gruppen. 18 Staatlicher Umgang mit Opposition trale (politische) Akteur ist, der in der politischen Praxis keiner formalen institutionellen Kontrolle von gesellschaftlich repräsentativen Institutionen (ob gewählt oder ernannt) unterworfen ist, ist die Gegenüberstellung von Staat/Staatsführung (Machthaber) und Opposition als Träger, Form oder Akt der Nichtübereinstimmung nur dann brauchbar, wenn die Definition des Begriffs Opposition weit gefaßt ist und über das Verständnis von Opposition in liberal-demokratischen Systemen hinausgeht. Der Begriff Opposition soll deswegen im vorliegenden Zusammenhang zur allgemeinen Benennung einer Nichtübereinstimmung mit der Staatsführung dienen. Diese kann von einer partiellen Nichtübereinstimmung mit einzelnen politischen Maßnahmen und Sektoralpolitiken bis zur Ablehnung der Staatsführung und des ordnungspolitischen Systems als Ganzes reichen. Daß Opposition ohne ein „Gegenüber“ nicht existiert und Opposition kein „selbständiges Phänomen“ ist, brachte Niklas Luhmann prägnant zum Ausdruck. Im nachfolgenden Zitat wäre für die Anpassung an den nordafrikanischen und nahöstlichen Kontext anstelle von „Regierung“ allerdings der umfassendere Begriff „Staatsführung“ zu setzen: „Von Opposition kann man nur im Kontext von Unterscheidungen sprechen. Eine Opposition unterscheidet sich von dem, wogegen sie opponiert. Für den Fall des politischen Systems heißt dies: Von Opposition kann man nur sprechen in Bezeichnung der einen Seite einer Unterscheidung, deren andere Seite als Regierung aufzufassen ist. Der Begriff der Opposition hat nur als Moment der Unterscheidung von Regierung und Opposition Sinn. Er bezeichnet kein selbständiges Phänomen.“4 Die Opposition in nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten ist ausdifferenziert. Die Existenz von Fundamentalopposition, also Opposition, die sich gegen die herrschende (staatliche und/oder gesellschaftliche) Ordnung stellt, ist in der Mehrzahl der nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten vorhanden und verfügt zudem über gewaltbereite Teile. Dieses Spektrum an Opposition wirkt sich auch auf den Umgang des Staates mit Opposition aus bzw. beeinflußt die eingesetzten Mittel, die gleichermaßen ausdifferenziert sind. In diesem Punkt ist dem US-ameri4 Luhmann, Niklas: Theorie der politischen Opposition, in: Zeitschrift für Politik, München, Jg. 36, 1989, S. 13. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 19 kanischen Politikwissenschaftler William I. Zartman zu widersprechen, der 1988 die These formulierte, daß das komplementäre Rollenverständnis von Staatsführung und Opposition in nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten, die beide innerhalb des Systems die Durchsetzung ihrer Interessen verfolgen und jeder den Interessen des anderen diene, den Fortbestand des „starken Staates“ garantiere. Die in Nordafrika und Nahost bestehende Form bzw. eher „Nichtform“ von Opposition würde von staatlicher Seite deswegen weder als Konkurrent betrachtet noch kooptiert oder eliminiert, sondern lediglich „benutzt“. Diese Beobachtung Zartmans für die 1970er und 1980er Jahre galt jedoch stets nur für einen Teil der „loyalen“ Opposition und war zu keinem Zeitpunkt für die nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten und ihr Oppositionsspektrum so verallgemeinerbar wie es Zartmans Text suggeriert.5 Zudem schließt die Einschätzung einer Gruppe/Organisation als „Konkurrent“ (um Macht, Einfluß, Dominanz im Staat) – eine Einschätzung, die in den meisten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens gegenüber der islamistischen Fundamentalopposition vertreten wird – weder die gegenseitige „Benutzung“ (Instrumentalisierung) aus noch verhindert sie Versuche der Kooptierung und der Eliminierung wie am Umgang der Staatsführungen in Nordafrika und Nahost mit islamistischen Gruppen seit den 1990er Jahren zu beobachten ist. Die aktuellen Länderanalysen in diesem Band bestätigen diesen Sachverhalt ebenfalls (s.u. Kapitel II). Die Tatsache, daß auch eine Fundamentalopposition existiert, die Gewalt als Mittel der Interaktion mit Staat und Gesellschaft propagiert und umsetzt, zwang die betroffenen Staatsführungen schließlich zu einer Revision ihrer bisherigen Interaktion mit den unterschiedlichen oppositionellen Akteuren sowie zur Auseinandersetzung mit deren Forderungen, Interessen und Zielen. Diese erzwungene Neugestaltung der Interaktion mündete vor allem seit den 1990er Jahren und (nochmals verstärkt) nach dem 11. September 2001 und seinen Folgen in Nordafrika und Nahost6 in qualitativ unterschiedlich zu bewertende Modifikationen 5 6 Vgl. Zartman, William I.: Opposition as support of the state, in: Dawisha, Adeed/Zartman, William I.: Beyond coercion. The durability of the Arab state, London u.a. 1988, S. 61-87. Hier ist insbesondere der deutliche Anstieg gewaltsamer Aktionen bewaffneter Gruppen (vor allem Selbstmordanschläge) zu nennen. 20 Staatlicher Umgang mit Opposition bei der Zulassung und Ausgestaltung politischer Partizipation. Durch das Gewähren oder das Versagen von politischen Partizipationsmöglichkeiten soll das Verhalten und auch der Spielraum zur Einflußnahme und Mobilisierung des Umfeldes von loyaler,7 unloyaler und unloyaler gewaltbereiter Opposition beeinflußt werden. Die Grundstrukturen des jeweiligen politischen Systems werden bei dieser Neugestaltung allerdings nicht angetastet, d.h. in keinem nordafrikanischen und nahöstlichen Staat wurden Maßnahmen zur Etablierung von liberal-demokratisch verfaßten Systemen eingeleitet, deren institutionalisierte Form des organisierten Ausdrucks von Meinungsverschiedenheiten den Wechsel von Parteien zwischen Regierung und (parlamentarischer) Opposition einkalkuliert. Trotz des Fortbestehens autoritärer Entscheidungsstrukturen8 wird insbesondere in Staaten mit Volkswirtschaften, die von Deviseneinnahmen aus dem Tourismus abhängig sind, und in Staaten mit gewaltbereiter Opposition sukzessive das nicht-repressive Spektrum zum Umgang mit Opposition ausgedehnt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß sich der Einsatz von Repression parallel dazu drastisch verringern muß, sich der Umgang mit loyaler Opposition entspannt und die Spielräume für Kritik (Meinungsfreiheit) größer werden. Zu beobachten ist vielmehr, daß die institutionalisierte Form der (regelmäßigen) Konsensbekundung und Konsensbildung z.B. über Referenden und Wahlen sowie aus Anlaß nationaler Feiertage weiterhin für jede Partei, Organisation, Vereinigung, jedes Unternehmen und jeden Verband zum Beweis der Loyalität gegenüber dem Staat als Pflichtsolidaritätsbekundungen ihren Stellenwert behalten und zur Sicherung der Eigeninteressen essentiell bleiben. 7 8 Vgl. zur Bedeutung der Loyalität gegenüber dem Staat Dahl, Robert (Hrsg.): Regimes and opposition, New Haven CT/London 1973. Einen Einblick in diese Problematik geben u.a. die in den letzten drei Jahren erschienenen Studien von Posusney, Marsha Pripstein/Angrist, Michele Penner (Hrsg.): Authoritarianism in the Middle East: regimes and resistance, Boulder CO/London, 2005; Axtmann, Dirk: Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika. Verfassungs- und Wahlrechtsreform in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988 und 2004, Wiesbaden 2007; Pratt, Nicola: Democracy and authoritarianism in the Arab world, Boulder CO/London 2007; Schlumberger, Oliver (Hrsg.): Debating Arab authoritarianism: Dynamics and durability in nondemocratic regimes, Stanford CA 2007; Schlumberger, Oliver: Autoritarismus in der arabischen Welt, Baden-Baden 2008. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 21 Während an diesen Solidaritätsbekundungen festgehalten wird, wird das Spektrum an nicht-repressiven Maßnahmen zur Eingrenzung und Reduzierung speziell von gewaltbereiter Opposition ausgebaut. Die Maßnahmen zur verbesserten Anbindung loyaler Opposition werden dabei ebenso ausdifferenziert wie die Maßnahmen zur Anbindung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen und solcher Gruppen, die aktiv ihre Besserstellung und Gleichberechtigung vom Staat einfordern. Gruppenund sektorspezifische Entwicklungsmaßnahmen sollen den sozialen Frieden sichern helfen. Einblicke in diese subtilen Veränderungen der politischen Systeme können durch Rankings wie das von Freedom House nicht gewonnen werden. Folgt man nämlich dem Freedom House Ranking 2007,9 dann sind die nordafrikanischen, nah- und mittelöstlichen Staaten (ohne Israel und die Türkei)10 – wie bereits in den Vorjahren – entweder als „unfrei“ (13 Staaten)11 oder „teilweise frei“ (acht Staaten)12 eingestuft. Die Auflistung der US-amerikanischen Einrichtung gibt den Grad an politischen und bürgerlichen Freiheiten an und teilt die analysierten Länder in die Kategorien „frei“, „teilweise frei“ und „unfrei“ ein. Dadurch können die tatsächlichen Möglichkeiten der unterschiedlichen oppositionellen Akteure zur Durchsetzung ihrer Ziele und Interessen innerhalb des Systems nicht erfaßt werden. Die Bewertungen geben auch keinen Aufschluß darüber, ob und auf welche Art und Weise und mit welcher Intensität und Reichweite die jeweilige Staatsführung die Interessen und Einstellungen breiter Teile der Bevölkerung oder einzelner Bevölkerungsgruppen bei der Politikgestaltung berücksichtigt. Der Index nimmt zudem die Kriterien „westlich liberaler Demokratien“ 9 10 11 12 Vgl. www.freedomhouse.org; dort auch detaillierte Angaben zum Methodischen der Datengewinnung und der Auswertung. Israel gilt als einziges Land in Nahost als „frei“ (Gesamtbewertung: 1,5); die Türkei gilt als „teilweise frei“ (Gesamtbewertung 3). In der Kategorie „unfrei“ (Skalawert von 5,5-7,0) finden sich demnach mit einer Gesamtbewertung von 5,5: Ägypten, Algerien, Oman, Pakistan, Qatar, Tunesien, VAE; 6,0: Irak, Iran; 6,5: Saudi-Arabien, Syrien und schließlich mit dem schlechtesten Wert 7,0: Libyen und Sudan. Bei den acht im Bericht 2007 als „teilweise frei“ (Bewertung: 3,0 bis 5,0) bewerteten Staaten handelt es sich um: Kuwait (4,0); Libanon (4,5), Jordanien (4,5), Marokko (4,5), Mauretanien (4,5); Afghanistan (5,0), Bahrain (5,0), Jemen (5,0). Als Sonderkategorie wurden die palästinensisch verwalteten Autonomiegebiete ebenfalls als „teilweise frei“ (5,5) eingestuft. Staatlicher Umgang mit Opposition 22 allzu schematisch als Maßstab; schließlich kann sich der Betrachter des Freedom Index beim Vergleich der Länderbewertungen des Verdachts nicht erwehren, daß zum Teil auch politische Opportunität die Bewertung auf der Skala von eins (bester Wert) bis sieben (schlechtester Wert) beeinflußte.13 Um eine Bewertung des Umgangs der Staatsführungen mit Opposition durchzuführen ist – vor allem wenn autoritär strukturierte Staaten Untersuchungsgegenstand sind – eine Analyse nötig, die sich den Mechanismen und Institutionen, die Partizipation ermöglichen bzw. steuern, widmet. Eine solche Analyse ermöglicht es schließlich Entwicklungstendenzen, aber auch Chancen zur effektiven Verbesserung und Effizienzsteigerung im Umgang mit den unterschiedlichen Oppositionsarten und ihren Trägern sowie Chancen zur Reduzierung und Eingrenzung von gewaltsamer Opposition als extreme Form der politischen Partizipation14 zu erkennen. Die Bewertung von qualitativen Veränderungen des Umgangs mit Opposition muß dabei auch die nachkoloniale Entwicklungsgeschichte der Staaten und der Ausgestaltung der Beziehung der Staatsführung zum Staatsbürger berücksichtigen. Die folgenden Ausführungen sollen zunächst in Form eines Überblicks - 13 14 erstens in das Spektrum der oppositionellen Akteure in Nordafrika und Nahost einführen; Im Falle Afghanistans ist dies besonders auffällig: Im Freedom House Bericht von 2007 gilt Afghanistan als „teilweise frei“ (Skalawert 5 hinsichtlich der Durchschnittsbewertung und der Bewertung der politischen und bürgerlichen Rechte); Algerien, Tunesien, Qatar und die VAE z.B. erhielten dagegen mit 5,5 eine schlechtere „Note“. Würden lediglich die formal eingeräumten Rechte zugrunde gelegt, wäre eine solche Bewertung Afghanistans noch nachvollziehbar; es wird aber auch explizit die praktische Umsetzung im jeweiligen Land berücksichtigt, so daß in Ländern mit begrenztem territorialen Einfluß des Zentralstaates – wie dies in Afghanistan der Fall ist – eine solche Wertung unglaubwürdig wird. Vgl. die Auflistung der Partizipationsformen („Verhaltensweisen“) bei Huntington, Samuel P./Nelson, Joan M.: No easy choice. Political participation in developing countries, Cambridge MA/London 1976, S. 12-13. Neben Wahlen/Wahlteilnahme, Lobbying, organisierten Aktivitäten und Kontaktaufbau auf individueller Ebene wird auch der Gewalteinsatz als Maßnahme angeführt, um den Entscheidungsprozeß der Staatsführung durch die Zufügung von physischem Schaden an Personen oder Eigentum zu beeinflussen, wobei sich Gewalt gegen die politische Führung direkt (in Form von Putsch, politischen Mord) oder gegen politische Maßnahmen (in Form von Protesten, Revolten) richten kann. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 23 - zweitens auf die Schwierigkeiten eingehen, die mit dem Versuch verbunden sind, den Einfluß von Opposition und ihr Potential zur Mobilisierung von Unterstützung erfassen; - drittens die wichtigsten Maßnahmen der Staatsführungen in Nordafrika und Nahost im Umgang mit Opposition benennen und - viertens ein aktuelles Bild der Konflikte und der involvierten oppositionellen Akteure geben; in diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die militante und die Gewalt einsetzende Opposition eingegangen. Dieser Abschnitt leitet schließlich über zu einem aktuellen Beispiel gewaltsamer, terroristischer Opposition, der sogenannten Al-Qaida des islamischen Maghreb. Detailinformationen zu den in Kapitel I nur angerissenen Aspekten sind den Länderbeiträgen in Kapitel II vorbehalten. 1. Das oppositionelle Spektrum in Nordafrika und Nahost 1.1. Definitorischer Vorspann Da es sich bei den untersuchten Staaten nicht um liberale Demokratien handelt, sondern um Staaten mit sehr unterschiedlichen rechtlichen Bestimmungen und informellen Zugeständnissen zur Artikulation und konkreten Manifestation von Opposition, wird ein weiter15 Oppositionsbegriff zugrunde gelegt: Mit politischer Opposition werden all jene politischen Akteure bezeichnet, die sich gegen die Staatsführung stellen, um selbst die Macht zu übernehmen, die Grundlagen des Ordnungssystems und seine Orientierung zu verändern oder der Staatsführung die Berücksichtigung ihrer Interessen aufzuzwingen. Da institutionalisierte Regelungen der Konfliktaustragung eingeschränkt sind oder ganz fehlen, greift auch oftmals jene Opposition zu außerinstitutionellen Aktionsformen, deren Anliegen reformorientiert sind und das System und seine 15 Ein „enger“ Oppositionsbegriff wie ihn z.B. Walter Euchner formulierte, der Opposition auf solche Akteure beschränkt, die sich „als legitim anerkannte politische Gegenkraft im Institutionengefüge eines Regierungssystems“ und im institutionellen Rahmen von Rechtsstaaten bzw. liberalen Demokratien herausbilden, ist für nicht-liberal-demokratische Systeme nicht praktikabel (vgl. Euchner, Walter Hrsg.: Politische Opposition in Deutschland und im internationalen Vergleich, Göttingen 1993). 24 Staatlicher Umgang mit Opposition Orientierung an sich nicht grundlegend in Frage stellen. Oppositionelle Akteure, die eine fundamentale Modifikation der Macht- und Ordnungsverhältnisse anvisieren oder sich gegen externe Einflüsse (Fremdbestimmung, Intervention, Besatzung) wenden, bezeichnen ihre Aktionen oftmals als „Widerstand“ oder „Heiliger Krieg“ (Jihad) und ihre Organisationen als „Widerstandsorganisationen“ bzw. ihre kämpfenden Teile als „Widerstandskämpfer“ (Mujahidun). Als militante Opposition gilt im Folgenden jene Opposition, deren Akteure eine „konträre Position gegenüber der Staatsführung“ einnehmen, in ihrem (aggressiven) Auftreten verbale und physische Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung ihrer Interessen (Ziele) erkennen lassen und dem Staat und Teilen der Bevölkerung, von denen sie nicht unterstützt werden, mit Gewalt drohen. Als gewaltsame Opposition wird jene Opposition bezeichnet, die nicht nur mit Gewalt droht, sondern Gewalt umsetzt; dies kann in Form von vereinzelten oder systematischen Zerstörungsakten gegen Sachen und in Form von mehr oder weniger systematischen Gewaltakten gegen Personen und Personengruppen geschehen und schließlich auch den Einsatz von Terror beinhalten. 1.2. Das Ansehen von Opposition in Nordafrika und Nahost „Die schwierige Versöhnung von Einheitsideologie und demokratischer Ideologie“ betitelte der französische Rechtswissenschaftler Michel Rousset seine Ausführungen zur innenpolitischen Entwicklung in Marokko Mitte der 1980er Jahre,16 wobei seine Aussage durchaus Gültigkeit für alle nordafrikanischen und nah- wie mittelöstlichen Staaten hat und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts gültig ist. In allen Staaten „kollidiert“ ein Denken in Einheitsvorstellungen, von dem die Religionsinterpretation, die Gesellschaft und der Staat geprägt sind, mit pluralen Konzepten. Aus diesem Grund fällt es dem Einzelnen wie dem Kollektiv und speziell auch der politischen Führung schwer, Dissens und Opposition, Pluralismus und Differenz zu tolerieren, geschweige denn – wie dies in 16 Vgl. Rousset, Michel: La difficile conciliation entre l’idéologie unanimitaire et l’idéologie démocratique au Maroc, in: Maghreb Review, London, Band 10, Nr. 1, 1985, S. 11. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 25 liberalen Demokratien der Fall ist – Opposition und Pluralismus als konstitutive Elemente des Ordnungssystems zu betrachten, das Opposition und Pluralismus institutionell und rechtlich absichert. In nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten ist die Angst vor Differenz, vor Opposition und daraus resultierender Spaltung und Chaos weit verbreitet. Die holistische Religionsauffassung fördert diese Angst,17 so daß die gesellschaftsprägende Rolle der Religion auch mitverantwortlich ist für das ambivalente Verhältnis gegenüber oppositionellem Verhalten oder „Nichtübereinstimmung“ mit dem Herrscher18 auf der einen und für die 17 18 Vgl. zusammenfassend Faath, Sigrid: Protest und Gewalt in Nordafrika/Nahost. Zum Gegenstand des Forschungsprojekts „Menastabilisierung“, Hamburg September 2007; Volltext unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. Zwar gibt es im Koran selbst einander widersprechende Aussagen, aber die theoretische Abhängigkeit der Obrigkeit von der islamischen Gemeinde (Umma) ist ein Ideal geblieben: So z.B. Koran Sure 18, Vers 27/28: „Und gehorche nicht jemand, dessen Herz wir vom Gedenken an uns abgelenkt haben und der seiner persönlichen Neigung folgt und kein Maß und Ziel kennt.“ Die Bindung des Gehorsams an das Verhalten der Obrigkeit (Einhaltung der göttlichen Gesetze) ist in der politischen Praxis verdrängt worden, genauso wie die Einheit der islamischen Gemeinde spätestens mit der Spaltung in Sunniten, Schiiten und Kharijiten 656 bzw. 661 zerbrach und Opposition, Bürgerkrieg und „Gegenkalifen“ die Geschichte prägten. Das von den religiösen und politischen Herrschern eingeforderte Verhalten, das die Praxis seither prägt, beschreibt der folgende Koranvers: „Ihr Gläubigen, gehorcht Gott und dem Gesandten und denen unter Euch, die zu befehlen haben“ (Koran, Sure 4, Vers 59). Und so, wie es in der Praxis neben einem legitimen Herrscher, dem Gehorsam zu schulden ist, keine zweite legitime Obrigkeit und keine Opposition geben kann, so kann es für orthodoxe und fundamentalistische Muslime neben der Souveränität Gottes keine zweite Souveränität des Volkes und neben dem göttlichen Recht (Scharia) kein positives Recht geben. Gemäß dieser strengen Auffassung und Auslegung sind jene, die gegen dieses System opponieren, dem Häresievorwurf und dem Vorwurf der Abtrünnigkeit, des „Abfallens“ vom Glauben ausgesetzt, ein Vergehen, das göttliches Recht mit dem Tode bestraft. Der ägyptische Muslimbruder Sayyid Qutb hat mit seiner überlieferten Feststellung: „A government which is not beholden to any law ceases to be legitimate“ (zitiert nach Lisa Anderson, s.u.) nicht nur eine Verpflichtung der Staatsführung auf das geltende Recht ausgesprochen, sondern auch indirekt eine Korrelation zwischen Legitimität und Opposition hergestellt. Mangelnde Legitimität rechtfertigt demnach Opposition, teilweise mit dem Ergebnis, daß die Opposition unter dem Einsatz von Gewalt und mit derselben Mißachtung des Rechts zu Werk geht, die sie der Staatsführung vorwirft und mit der sie ihr eigenes Handeln rechtfertigt. Die Verantwortung für den daraus resultierenden Konflikt (Bürgerkrieg; fitna) schoben z.B. auch Islamisten in Algerien in den 1990er Jahren dem politischen System zu, so wie dies auch Sayyid Qutb tat: „It may well bring about fitna, but the blame should be put at the door of those who interdict open activity, thus pushing Muslims to underground activity.“ (zitiert nach Lisa Anderson: Lawless government and illegal opposition. Reflections on the Middle East, in: Journal of International 26 Staatlicher Umgang mit Opposition zentrale Rolle des „Konsens“ in Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite. Die „Mono-Manie“, die Angst vor Differenz prägt das Verhältnis zur Obrigkeit und stärkt zentralistische, um eine Führungspersönlichkeit (Zaim) geordnete politische Systeme. Oppositionelles Handeln wird unter dem (politisch wie gesellschaftlich) herrschenden „Druck zum Konsens“ zur gefährlichen Selbstausgrenzung, weil sie die vermeintliche „nationale Solidarität“ zwischen Volk und Staatsoberhaupt durchbricht. Die Auswirkungen der religiös untermauerten Gehorsamslehre sind spürbar: Das Tabu der Religionskritik19 oder auch die Diskreditierung von Opposition und die im Gegensatz dazu positive Besetzung von Konsens und Loyalität zeigen dies deutlich. Diese Problematik spiegelt sich im Gebrauch des Begriffs Opposition wider, der Ende des 19. Jahrhunderts in Nordafrika und Nahost in den Sprachgebrauch Eingang fand, als sich Autoren dieser Staaten mit europäischer Politik und Regierungssystemen befaßten: Etabliert hat sich heute für Opposition der Begriff „mucarada“ („gegen etwas sein“) und für Widerstand der Begriff „muqawama“.20 Mit Übernahme von Elementen parlamentarischer Systeme in der Mehrzahl der MENA-Staaten hat sich auch im Sprachgebrauch der nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten der Begriff Opposition für die nicht an der Regierung beteiligten Parteien im Parlament durchgesetzt; allerdings wird von Seiten der Regierungsparteien und Staatsführungen Wert darauf gelegt, diese (parlamentarische) Opposition daran zu erinnern, daß sie zum Wohle des Ganzen agieren solle und ihr, wie es der tunesische Staatspräsident Ben Ali beispielhaft in seiner Rede zum 20. Jahrestag seiner Machtübernahme am 7. November 2007 formulierte, die „Pflicht zur Loyalität“ gegenüber dem Vaterland und zum Aufbau seiner 19 20 Affairs, New York, Band 40, Nr. 2, S. 219-232, hier: S. 227). Vgl. auch Steppat, Fritz: Der Muslim und die Obrigkeit, in: Zeitschrift für Politik, München, Band 12, 1965, S. 319-333; Mahiou, Ahmed: L’état de droit dans le monde arabe, Paris 1997. Vgl. hierzu auch die Länderanalysen in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Staatliche Religionspolitik in Nordafrika/Nahost. Ein Instrument für modernisierende Reformen?, Hamburg, September 2007, 290 S. Volltext unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. Vgl. im Detail Rebhan, Helga: Geschichte und Funktion einiger politischer Termini im Arabischen des 19. Jahrhunderts (1798-1882), Wiesbaden 1986 (besonders S. 95 ff. zum Oppositionsbegriff). Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 27 Zukunft obliege wie dies auch die Pflicht einer jeden Tunesierin und eines jeden Tunesiers sei.21 „Entente“ und „Konsens“ gilt demnach als Basis für politische Stabilität und Grundlage für den sozialen Frieden. Mit anderen Worten, eine Partei oder Organisation, ob legal oder geduldet, die es an der Bereitschaft zu Entente und Konsens, mit denen Loyalität gegenüber dem Staat (repräsentiert in der Staatsführung) bewiesen wird, fehlen läßt, überschreitet Tabus und wird dadurch zum Gegner. Der Umgang des Staates mit „Opposition“ wird beeinfluß von der Art und Intensität der Loyalitätsbezeugung, die damit auch ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung der Opposition ist. 1.3. Kriterien zur Unterscheidung von Opposition In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit der nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten, als zumindest formal die Möglichkeit zur souveränen Gestaltung des politischen Systems und der Neubestimmung der Interaktion mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Repräsentanten ihrer Interessen gegeben war, kam es in der Mehrzahl der Staaten zur Institutionalisierung einer restriktiven formalen Partizipation. Im Vergleich dazu stieg – mit wenigen Ausnahmen22 – seit den 1990er Jahren das Spektrum und die Anzahl von oppositionellen Organisationen (im oben definierten weiten Sinne) zahlenmäßig an, weil die meisten Staaten politische Liberalisierungsprozesse einleiteten und Einparteisysteme (wie in Algerien) aufgelöst wurden, das Spektrum der politischen Parteien erweitert wurde (z.B. durch Legalisierung islamistischer Parteien wie in Marokko, Jordanien) oder erstmals politische Organisatio21 22 Rede abgedruckt unter: www.infotunisie.com/2007/11/071107.html. In Saudi-Arabien, Libyen, Oman und den VAE gibt es kein Parlament mit Parteienvertretern. In Bahrain, das 2005 zum ersten Mal ein Parlament wählte, politische Parteien jedoch verboten sind, nennen sich die im Parlament vertretenen Organisationen „politische Gesellschaften“ (jamciyat siyasiya). In Qatar wurde 2005 eine beratende Versammlung gewählt, politische Parteien sind jedoch auch in Qatar bislang verboten. Der libysche Revolutionsführer Qaddafi streitet bislang in seinem offiziellen Diskurs die Notwendigkeit von Pluralismus (tacadudiya) ebenso ab wie das Existenzrecht einer Opposition; als Begründung dient der Verweis auf das libysche System der Volkskonferenzen und Volkskomitees. Opposition mache in einem System der „Volksmassen“ keinen Sinn, weil jeder in den Volkskonferenzen seine Meinung äußern könne und dort Mehrheitsentscheidungen getroffen würden. Staatlicher Umgang mit Opposition 28 nen (wenn sie auch nicht überall „Parteien“ genannt werden) zugelassen wurden (wie z.B. in Kuwait, Bahrain, Qatar). Mit der politischen Öffnung differenzierten sich formal nicht nur die Repräsentationsforen, sondern auch die gesellschaftlichen Aktivitäten jener Individuen und Gruppen, die zuvor - unter dem Dach der politischen „Einheitsfronten“ Fraktionen gebildet hatten, von jeglicher Repräsentation ausgeschlossen waren, wegen ihrer Oppositionsaktivitäten staatlicher Repression ausgesetzt waren oder mangels Partizipationsmöglichkeiten und/oder wegen der Repression das ausländische Exil wählten. Um in einem Land Nordafrikas und des Nahen Ostens die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktive Opposition zu erfassen und zu unterscheiden, bieten sich sechs Kriterien an; diese Kriterien stellen jeweils den Akteur, den offiziellen Status des Akteurs, seine Aktionsformen, seine Ziele und seine Orientierung sowie die Konflikte, die Opposition hervorriefen bzw. zu oppositionellem Handeln führten, in den Mittelpunkt. (1) Die Definition über den Akteur Ausgangspunkt ist die Frage, wer als Opposition aktiv ist. Je nach Ausgestaltung des politischen Systems sind hier vor allem zu nennen: Parteien, Berufsvereinigungen, Gewerkschaften, Vereinigungen (vor allem Vereinigungen, die für Menschen- und Frauenrechte eintreten); lose, zeitlich begrenzte Ad-hoc-Zusammenschlüsse von Bevölkerungsgruppen zur Artikulation von Forderungen oder Protest gegen Maßnahmen der Staatsführung; illegale, im Untergrund aktive (bewaffnete) Gruppen.23 23 Für liberale Demokratien wurde von Wilfried Steffani z.B. eine weitere Unterscheidung eingeführt, die er als „Aktionskonsistenz“ bezeichnete. D.h. er fragt danach, ob eine Opposition programmatisch (systematische Opposition), konsequent kämpferisch in Bezug auf dritte Oppositionsgruppen (kompetitive Opposition), auf Kompromiß ausgerichtet (kooperative Opposition) oder an Sachfragen orientiert („issue“orientierte Opposition) ist. Vgl. Steffani, Wilfried: Opposition, in: Röhring, Hans H./Sontheimer, Kurt Hrsg.: Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 1977, S. 427-432. In Nordafrika und Nahost dominiert in Staaten mit fragmentierter Parteienlandschaft gemäß dieser Einteilung eher die „kompetitive“ Opposition (z.B. Algerien, Marokko, Mauretanien), während in Staa- Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 29 Michael C. Hudson24 stellte 1995 zu Recht fest, daß trotz des auf den ersten Blick einheitlichen autoritären Bildes der arabischen Staaten diese in Wirklichkeit nicht uniform seien, sondern sich hinsichtlich ihres Liberalisierungsgrades deutlich unterscheiden. Das bedeutet auch, daß die Ausprägung von Opposition, ihr Aktionsprofil und ihre Handlungsintensität variiert. Die in Nordafrika und Nahost seit der Unabhängigkeit auftretenden oppositionellen Akteure spiegeln die zugestandenen Handlungsspielräume und damit den Stand der politischen und bürgerlichen Rechte sowie die politische wie gesellschaftliche Homogenität bzw. Heterogenität wider. Anzutreffen ist demnach neben den o.g. Akteuren vor allem: 24 25 - die Opposition islamistisch orientierter Personen, Gruppen und Organisationen außerhalb des legalen institutionellen Rahmens inklusive der Fundamentalopposition bewaffneter islamistischer Gruppen; - die Opposition religiöser Solidargruppen (wie islamisch-fundamentalistische, koptische, christliche); - die Opposition ethnischer, kulturell-linguistischer Minderheiten (wie die Opposition berberophoner Aktivisten insbesondere in den Maghrebstaaten Algerien und Marokko; die Opposition schwarzafrikanischer Gruppen in Mauretanien oder die kurdische Opposition in nahöstlichen Staaten); - Opposition aus dem Militär (die sich in Putschen niederschlugen wie zuletzt am 3. August 2005 in Mauretanien); - Opposition auf Stammesbasis25 (u.a. bewaffnete Aufstände, Anschläge, Entführungen wie in Libyen oder Jemen); ten mit wenig ausdifferenziertem Parteienspektrum im faktischen Einparteistaat die auf Kompromiß ausgerichtete Opposition dominiert (wie in Tunesien). Es kommt meistens nur zu zeitweiligen Zusammenschlüssen, in seltenen Fällen zu Fusionen, wenn das Wahlgesetz kleine Parteien stark benachteiligt. Vgl. Hudson, Michael C.: Arab regimes and democratization. Responses to the challenge of political Islam, in: Guazzone, Laura Hrsg.: The Islamist dilemma. The political role of Islamist movements in the contemporary Arab world, Reading 1995, S. 217-245, hier S. 218. Das Stammeswesen ist im Nahen Osten (vor allem im Jemen, den Golfstaaten und Jordanien) ein nach wie vor wichtiger gesellschaftlicher und politischer Faktor. In Nordafrika spielen Stämme nur noch im Sudan, in Libyen und Mauretanien eine politisch wahrnehmbare Rolle. Staatlicher Umgang mit Opposition 30 - Opposition lokaler Solidargruppen (Klientelgruppen); Opposition sozial benachteiligter oder sich selbst als benachteiligt und marginalisiert wahrnehmende Bevölkerungsgruppen, die durch Proteste und häufig gewaltsam verlaufende Demonstrationen ihre Forderungen durchsetzen wollen (wie z.B. 2001-2004 in der Kabylei/Algerien und seit 2005 regelmäßig in verschiedenen Landesteilen Algeriens). Das Gewicht der unterschiedlichen Akteure und ihr Oppositionspotential (s.u.) verschob sich bei einigen Oppositionskategorien im Zeitablauf: So nahm z.B. die gewerkschaftliche Opposition, die in Tunesien und Marokko in den 1970er bis 1980er Jahren ihren Höhepunkt hatte, in diesen Ländern seither signifikant ab, während sie in Algerien nach der politischen Liberalisierung ab 1989 und der Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen und betrieblicher Restrukturierungen zunahm. (2) Die Definition über den (offiziellen) Status der Opposition Bis auf wenige Ausnahmen wie in Libyen, Saudi-Arabien und einigen der kleinen Golfstaaten sind gegenwärtig in den meisten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens politische Parteien zugelassen und in die Verfassungsinstitutionen der Länder eingebunden. Neben der politischen legalen und institutionell eingebundenen (parteipolitischen) Opposition und den institutionell nicht eingebundenen Oppositionsgruppen existieren ferner nicht zugelassene, aber „geduldete“ sowie explizit verbotene, illegale Gruppen und Vereinigungen. (3) Die Definition über die dominanten Aktionsformen und die Selbstverortung im System Es kann zwischen loyaler Opposition, die innerhalb des Systems gewaltfrei agiert, und Gewalt einsetzender (illoyaler) Opposition, die sich selbst als dem System „Widerstand“ leistende Gruppe, Organisation oder Bewegung bezeichnet, unterschieden werden. (4) Die Definition über das angestrebte Ziel Es ist zu unterscheiden zwischen (1) reformorientierter Opposition, (2) machtpolitischer Opposition, d.h. Opposition, die an einem Machtwechsel interessiert ist, und (3) antisystemischer Opposition, d.h. Opposition, Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 31 die einen Systemwechsel bzw. eine ordnungspolitische Umgestaltung anstrebt. Gemäß der analytischen Untersuchungsebene „Systemintention“ wäre unter systemischer Opposition jene zu verstehen, die die Grundlagen der Staatsordnung nicht in Frage stellt und somit für Reformen innerhalb des Systems eintritt. Antisystemische Opposition26 strebt demnach einen Systemwechsel, nicht nur einen Systemwandel an. Die islamistische Opposition in Nordafrika und Nahost ist ein gutes Beispiel für eine ihren Zielsetzungen nach antisystemische Opposition, die jedoch zu unterschiedlichen Maßnahmen greift, um ihr Ziel zu erreichen, und zudem meistens auch in langfristigen Zeithorizonten denkt und plant. Kennzeichen der extremen Variante islamistischer Opposition ist eine „oppositionelle Rejektionsform“ (Luhmann), die auf Terror von unten setzt, „der nicht mehr zwischen Regierenden und Regierten unterscheidet, sondern alles (außer sich selbst) für schlecht hält“.27 Seit Ende der 1990er Jahre sind einige islamistische Organisationen, weil ihnen die Mobilisierungskraft für einen (legalen) Systemwechsel durch Wahlen fehlt, zur Integration in das bestehende System und zur Kooperation in den Institutionen bereit, um auf diese Weise ihren Handlungsspielraum zu sichern; dies ist allerdings nicht mit einer neuen langfristigen Agenda korreliert: es ist letztendlich nicht die Beteiligung an der Macht, die angestrebt wird; das Ziel ist nach wie vor die Machtübernahme, die einen Systemwechsel ermöglichen würde. Huntington/Nelson28 haben das bei oppositionellen Parteien und Organisationen weltweit unter bestimmten Voraussetzungen auftretende Phänomen einer wachsenden Integrations- und Kooperationsbereitschaft zwecks Zukunftssicherung bereits 1976 prägnant beschrieben, das gegenwärtig an vielen – wenngleich bei weitem nicht allen – islamistischen Organisatio26 27 28 Antisystemische Opposition ist in diesem Sinne als Fundamentalopposition einzustufen, weil sie die Fundamente des politischen Systems radikal umgestalten will. Ob eine Opposition systemisch oder antisystemisch ausgerichtet ist, entscheidet letztendlich maßgeblich über den Umgang der Staatsführung mit der Opposition. Luhmann 1989, a.a.O. (Anm. 4), S. 19. Huntington/Nelson 1976, a.a.O. (Anm. 14), S. 164/165: „Political participation is not a weapon of first resort except when the group involved is so well-connected that success is virtually assured, or the issue is so clearly an acknowledged government responsibility that alternative means seem much less direct and promising. Under most circumstances, political participation is the weapon of last resort, when all other means of achieving group goals have been exhausted.“ Staatlicher Umgang mit Opposition 32 nen in Nordafrika/Nahost beobachtet werden kann (so z.B. in Marokko beim islamistischen PJD). Die Forderungen der Opposition lassen sich entsprechend der o.g. Zielrichtung in drei Hauptkategorien unterteilen: Erstens die Opposition gegen das Staatsoberhaupt; zweitens die Opposition gegen die Politik der Staatsführung oder Teile dieser Politik; drittens die Opposition gegen das politische (und gesellschaftliche) System, für das die Staatsführung steht. - Opposition gegen das Staatsoberhaupt („den Herrscher“); sie kann, muß aber nicht zwingend auch die Opposition gegen das von ihm verkörperte System beinhalten; sie beinhaltet jedoch in der Regel die Opposition gegen die unter seiner Herrschaft profitierende Schicht (Klientel). Die Opposition gegen die politische Führungsspitze ist wegen der strukturellen Bedingungen selten von Erfolg gekrönt: Die Möglichkeit einer Abwahl besteht in der Regel ebensowenig wie die Möglichkeit einer Amtsenthebung; noch ist bei einem geglückten Attentat (oder einem Putsch wie in Mauretanien im August 2005) mit einem raschen oder konsequenten Kurswechsel und der Etablierung neuer, nicht klientelistischer Interaktionsmuster zu rechnen. Unabhängig von existierenden Nachfolgeregelungen ist unter dem neuen Amtsinhaber, der sich meist aus der herrschenden politischen Elite rekrutiert, kaum mehr als ein moderater Politikwandel zu erwarten. Opposition gegen das amtierende Staatsoberhaupt formiert sich in nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten meist als Kompetition verschiedener Machtzirkel um die Amtsnachfolge. Oder aber es ist eine Angelegenheit von Individuen, die sich exponieren und einen oppositionellen Diskurs führen, in dem gezielt das Staatsoberhaupt angegriffen wird. Die Aktivitäten dieser Individuen spielen sich seit der Verbreitung des Internet hauptsächlich in diesem Forum ab. - Opposition gegen die Politik der Staatsführung. Sie erfordert Möglichkeiten für öffentliche Debatten über das Regierungsprogramm und dessen Umsetzung. Auf Sachfragen bzw. auf sektoralpolitische Maßnahmen bezogene Opposition kann durch politische Liberalisierungsmaßnahmen (u.a. durch Zulassung von relativ mehr Presse- und Medienfreiheit sowie Medien- und Meinungspluralismus) gefördert werden. Ein solcher Schritt kann der „Versachlichung“ des Umgangs von Opposition und Staatsführung dienen; staatliche Restriktionen wiederum können eine gegenteilige Entwicklung in Gang setzen. Das heißt, in welcher Form sich Opposition gegen politische Maßnahmen der Staatsführung artikulieren kann, hängt von Form und Inhalt der Kritik ab, die auf Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 33 staatlicher Seite toleriert wird. Der Spielraum für die Artikulation von Opposition wird zudem vom Verhältnis der Staatsführung zu den einzelnen Oppositionsgruppen bestimmt: Wird z.B. ein oppositioneller Akteur als loyal und kooperativ eingestuft, dann ist seine Einbindung als legale Organisation möglich; erweckt er jedoch Mißtrauen hinsichtlich seiner Ziele und Integrationswilligkeit in das bestehende System oder zeigt er durch sein Handeln (gewaltsame Opposition), daß er sich außerhalb des Systems stellt, ihm Loyalität, Kooperations- und Konsensbereitschaft fehlt, dann ist mit Ausgrenzung, Verbot und Kriminalisierung dieser Opposition zu rechnen. Diese staatliche Bewertung der unterschiedlichen Oppositionsgruppen nach Loyalitäts- und Kooperationsgesichtspunkten gibt zwangsläufig die Bandbreite vor, in der (relativ) sanktionsfrei Kritik an der offiziellen Politik und Regierungsarbeit geübt werden kann. Eine öffentliche politische Debatte setzt ferner den Zugang zu Medien voraus, damit die Diskussionen nicht auf einen kleinen Zirkel beschränkt bleiben. Die Handhabung des Parteien-, Vereinigungs-, Presse- und Mediengesetzes, die Praxis der Meinungsfreiheit und die Art und Weise wie durch sozialen und politischen Druck die „Pflicht zum Konsens“ eingefordert wird, sind somit Schlüsselbereiche, um in einzelnen Staaten die Chancen zu breit gestreuter, legaler und institutionalisierter Artikulation von Opposition gegen die Politik der Regierung beurteilen zu können. - Opposition gegen das politische System (die auch die Opposition gegen seinen höchsten Repräsentanten einschließt); die Antisystemopposition wird in Nordafrika und Nahost seit Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre nahezu ausschließlich von islamistischen Gruppen und Organisationen dominiert. (5) Die Definition über die politische (politisch-ideologische) und religiös(-politische) Orientierung Opposition (legale wie auch nicht legalisierte) kann nach ihrer politischen Orientierung, die sich in den Programmen und Selbstverortungen spiegelt, unterschieden werden. Ihr Spektrum umfaßt in Nordafrika und Nahost z.B. nationalistische, arabisch-nationalistische, islamistische, nationalistisch-islamistische, sozialistische und liberal orientierte Gruppen. (6) Die Definition über die in den oppositionellen Handlungen und Forderungen zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Konflikte Staatlicher Umgang mit Opposition 34 Die Konflikte, die seit der Unabhängigkeit der Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens immer wieder Opposition hervorriefen, lassen sich in vier Hauptkategorien unterteilen: - - - machtpolitische Konflikte (Konflikte primär um den Machtzugang bzw. die Dominanz von Entscheidungsfunktionen zwischen verschiedenen Fraktionen der Elite); organisatorisch-systemische Konflikte (Differenzen bezüglich der Konzeption von Staat und Politik ohne grundsätzliche ordnungspolitische Neugestaltung anzustreben); sozioökonomische, soziopolitische Konflikte (Konflikte primär um Ressourcenzugang/Ressourcenverteilung); politisch-ideologisch bedingte Konflikte um die Grundlagen von Staat und Gesellschaft (wie sie vor allem seit Ende der 1970er/80er Jahren mit Islamisten auftreten). (7) Die Definition über die „Disputstrukturen“ Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Ellen Lust-Okar unterscheidet in ihrer Studie von 2005 Opposition nach drei sogenannten „structures of contestation“;29 diese beziehen sich auf den Status des jeweiligen Akteurs im formal-politischen System. Dieser Status ist gemäß der Unterteilung von Lust-Okar entweder - 29 einschließend bzw. einbeziehend, d.h. die Staatsführung ermöglicht allen die Partizipation („inclusive structures of contestation“); ausschließend, d.h. oppositionellen Akteuren wird die Partizipation verweigert („exclusive structures of contestation“) oder Lust-Okar, Ellen: Structuring conflict in the Arab world. Incumbents, opponents, and institutions, Cambridge 2005. Lust-Okar beschränkte ihre Untersuchung auf Ägypten, Jordanien und Marokko. Die gewählten Beispiele überzeugen indessen nicht von Lust-Okars These, die besagt, daß die „structures of contestation“ von der Regimeausformung unabhängig seien. Eigene Untersuchungen erhärten vielmehr die Annahme, daß sich die Systemspezifika und insbesondere die Legitimität des Staatsoberhauptes (ob z.B. nur weltlich oder weltlich und religiös begründet) auf das Repertoire der Staatsführung für den Umgang mit Opposition und die Generierung von Unterstützung auswirken. Gerade auch am Beispiel Marokkos und dem königlichen Umgang mit islamistischer Opposition ist dies gut nachzuvollziehen. Vgl. hierzu Faath, Sigrid: Marokkos reformorientierte Religionspolitik. Eingriffe in Tradition und Religion, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 19), S. 135-174. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion - 35 die Staatsführung verfährt zweigleisig, d.h. ein Teil der oppositionellen Akteure darf partizipieren, ein anderer Teil wird ausgeschlossen („divided structures of contestation“). Die von Lust-Okar vorgeschlagene Strukturierung von Opposition erscheint zunächst attraktiv, weil sie einfache, klare Merkmale für die Abgrenzung zugrundelegt. Will man diese Unterscheidung jedoch anwenden und die politische Praxis in den nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten daran untersuchen, erweist sich der Ansatz als wenig hilfreich, weil die Staatsführungen in Nordafrika und Nahost seit der Unabhängigkeit stets zweigleisig verfuhren. Hinzu kommt, daß die Unterscheidung von Lust-Okar die informellen Strukturen der Repräsentation, die sowohl die Artikulation von Opposition zulassen als auch entsprechende Forderungen und Interessen der Opposition transportieren, nicht berücksichtigt. Die Staatsführungen (formale Ebene) als Adressaten dieser jedoch in vielen Staaten im informellen Interaktionsbereich artikulierten Forderungen beachten bei ihrer Politikgestaltung durchaus diese kommunizierten Anliegen, u.a. auch deshalb, weil der Opposition mobilisierungskräftige Ansatzpunkte für Kritik genommen werden sollen; zahlreiche sozioökonomische Forderungen fanden so Eingang in die offizielle entwicklungs- und sozialpolitische Agenda. 2. Das Problem der Einschätzung von Anzahl und Einfluß der Oppositionskräfte Die seit den 1990er Jahren laufende Diskussion über die Demokratisierungsresistenz nordafrikanischer und nahöstlicher Staaten und ihre Gründe führte automatisch zur Untersuchung der Rolle von Parteien und sonstigen Organisationen und Vereinigungen, in denen sich spezifische Bevölkerungs- und Interessengruppen auf lokaler oder auf nationaler Ebene engagieren. In diesem Zusammenhang interessierte vor allem auch die Opposition in Nordafrika und Nahost. Die Mehrzahl der oppositionellen Gruppen und Vereinigungen fordert in der Regel seit den 1990er Jahren verstärkt eine „Öffnung“ der bestehenden politischen Systeme und benutzt zur Be- und Umschreibung 36 Staatlicher Umgang mit Opposition ihrer Forderung den Begriff „Demokratisierung“. In erster Linie geht es dieser Opposition allerdings um die Legalisierung der eigenen Organisation als Partei oder Vereinigung, um von der damit verbundenen Erweiterung des Aktionsraumes (Freiheiten) zu profitieren. Auch der Ruf nach pluralen Wahlen erfolgt seit den 1990er Jahren konstant. Die politische Praxis hat allerdings schnell gezeigt, daß dieser Ruf nach Pluralismus, Liberalisierung und politischen Freiheiten ein Mittel zum Zweck ist und nicht bei allen Oppositionsgruppen auch dem Willen entspringt, ein liberal-demokratisches Systems zu etablieren – wie es Politiker vor allem in den USA und Europa seit dem Ende des Ost-West-Konflikts erhofften. Wenn die politische Entwicklung nordafrikanischer und nahöstlicher Staaten seit der Unabhängigkeit der Staaten betrachtet wird, ist festzustellen, daß in keinem Staat die Opposition durch Wahlen einen Regierungswechsel (geschweige denn einen Regimewechsel) herbeiführen konnte. Abgesehen von Manipulationen bei der Wahl oder bei der Auszählung der Stimmen wurden Koalitionsregierungen mit genehmen Parteien gefördert, um den Status quo zu sichern bzw. eine mißliebige Oppositionspartei, selbst wenn sie zweitstärkste Kraft im Parlament geworden ist, von einer Regierungsbeteiligung auszuschließen (wie z.B. in Marokko 2007); oder die Legislativwahlen wurden wie in Algerien im Januar 1992 abgebrochen, um einen islamistischen Wahlsieg, ein von Islamisten dominiertes Parlament und als letzte Konsequenz eine islamistische Regierung und eine dementsprechende Umgestaltung des Regimes zu verhindern. Wahleingriffe, Wahlmanipulationen oder entsprechende Wahlgesetze und Wahlkreisaufteilungen haben auch in Staaten mit relativ mobilisierungsfähiger Opposition verhindert, daß sich die Machtverhältnisse veränderten. Die eingeschränkten Handlungsspielräume der Opposition, die z.B. in Syrien durch den geltenden Ausnahmezustand (seit 1963), in Ägypten seit 1981 und in Algerien seit 1992 durch Notstandsgesetze zusätzlich eingeengt werden, erschweren die Einschätzung des realen politischen Einflusses und des Mobilisierungspotentials der Opposition im allgemeinen. Eine präzisere Bestimmung des Potentials (an Unterstützern) und des gesellschaftlichen Einflusses ist aber auch für jene Oppositionsgruppen schwierig, denen es gelingt, eine beeindruckende Anzahl von De- Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 37 monstranten zu sammeln, die Aufrufen zur Manifestation von Protest als Reaktion auf spezifische außen- oder innenpolitischen Ereignisse Folge leisteten. Diese ereignisbezogene Mobilisierung ist in der Regel nur indirekt an das Engagement der aufrufenden Organisation gekoppelt; es kann nicht automatisch daraus geschlossen werden, daß ein allgemeiner Aufruf dieser Organisation zur Unterstützung ihres spezifischen Programms und Ziels vergleichbaren Erfolg hätte. Die Ergebnisse von Wahlen – vorausgesetzt sie verliefen relativ frei und fair – sind demgegenüber ein weitaus besserer Indikator für den Einfluß der teilnehmenden legalen Oppositionsparteien. Erschwerend für eine Einschätzung des Einflusses wirkt sich zudem aus, daß die legalen Oppositionsparteien und Vereinigungen, aber auch die Gewerkschaften wenig Daten oder wenig verläßliche Daten über sich und ihre aktiven Mitglieder nach außen geben. Für nicht legalisierte und verbotene oder im Untergrund aktive bewaffnete Opposition gibt es noch nicht einmal Annäherungswerte, lediglich Vermutungen hinsichtlich der aktiven Mitgliederzahl und des passiven Unterstützerumfeldes; auch staatliche Stellen machen z.B. zur Zahl der bewaffneten Opposition oftmals widersprüchliche Angaben. Von daher ist das Potential einzelner Oppositionsgruppen zur Mobilisierung gegen die Staatsführung generell schwer abschätzbar. Hinzu kommt, daß eine über die Mitglieder und Sympathisanten hinausgehende Mobilisierung von Unterstützung für die eigenen Anliegen von mehreren Voraussetzungen abhängt, darunter - die Zeit bzw. der Zeitpunkt und die zum Zeitpunkt vorherrschende Stimmung (situatives Umfeld). - der Auslöser bzw. die Ursache für den Aufruf zur Mobilisierung gegen die Staatsführung/staatliche Politik (innenpolitisches Ereignis, Sachfrage; außenpolitisches Ereignis). - die Wahrnehmung der Staatsführung und die Wahrnehmung der „Alternative“ (Opposition) in der Bevölkerung in Bezug auf ihre Kapazität und Bereitschaft, sich für die Interessen ihrer jeweiligen Unterstützer (Klientel) einzusetzen und diese Interessen durchzusetzen (NutzenKosten-Analyse). Staatlicher Umgang mit Opposition 38 - das Ziel, das die Opposition angibt und mit dem die Mobilisierung und Organisierung von (gewaltfreiem oder gewaltsamem) Protest (oder „Widerstand“) betrieben wird. Insofern sind auch Einschätzungen des Potentials von Oppositionsparteien anhand von Wahlergebnissen nur als zeitgebundene Richtwerte zu sehen, die von gruppenexternen Ereignissen und ihren Auswirkungen beeinflußt werden; das Wahlergebnis der islamistischen Parteien bei den Legislativwahlen in Marokko am 7. September 2007 belegt diese Einschätzung: Das Wahlergebnis für den PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) blieb weit hinter den (massiv mediatisierten) Erwartungen der Partei selbst und externer Beobachter, die sich auf die Selbsteinschätzung der Partei verließen, zurück. Die „größte“ legale islamistische Partei PJD Marokkos hatte im Vorfeld der Wahl einen Sitzgewinn im Repräsentantenhaus von 70-80 % verkündet. Bei den von Wahlbeobachtern als relativ fair bezeichneten Wahlen gewann der PJD aber nur 46 (14,15 %) der Sitze, die vom PJD abgespaltene Partei PRV nur einen Sitz (0,31 %). Über die Variablen, die 2007 anläßlich der Parlamentswahlen negativ auf die Wählermobilisierung zugunsten der Islamisten in Marokko und in Algerien30 wirkten, kann keine befriedigende Antwort gegeben werden. Es ist anzunehmen, daß ein – wahrscheinlich zentraler – Faktor, der sich auf das islamistische Wahlergebnis negativ auswirkte, die in beiden Ländern auch 2007 anhaltenden terroristischen Aktivitäten der bewaffneten islamistischen Gruppen waren, die zahlreiche Opfer unter der Bevölkerung forderten. Seit der Zunahme der Selbstmordanschläge von Islamisten ab Frühjahr 2003 in Marokko und ab Frühjahr 2007 in Algerien verstärkte sich die öffentliche Debatte über die Rolle der Religionsinterpretation und ihrer Interpreten an diesen Entwicklungen. Islamistische Prediger und ihre Auslegungen werden seither von breiten Bevölke30 In Algerien wurde der islamistische MSP drittstärkste Partei im Parlament (52 Sitze): er konnte seine Sitzzahl gegenüber 2002 (38 Sitze) deutlich erhöhen. Dafür sank die Repräsentanz des noch 2002 mit 43 Sitzen vertretenen islamistischen Mouvement du Renouveau National (al-Islah) auf drei Sitze; der Mouvement Nahda (2002: ein Sitz) ist mit fünf Sitzen vertreten. Während diese islamistischen Parteien 2002 insgesamt 82 Sitze in der ersten Kammer des Parlaments innehatten, kommen sie 2007 zusammen auf 60 Sitze. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 39 rungskreisen als „mitverantwortlich“ an der Gewalt und der daraus resultierenden Unsicherheit für die Bevölkerung eingestuft.31 Die Schwäche politischer Opposition, auch der gegenüber der Staatsführung loyalen und kooperativen Opposition, zeigt sich an den ausgebliebenen Erfolgen, wenn die Zielvorgaben der oppositionellen Akteure wie Machtbeteiligung oder Machtwechsel, Machtübernahme oder wie im Fall der bewaffneten Gruppen die Destabilisierung des Staates zugrundegelegt werden. Legale Oppositionsparteien oder (zeitweilig) oppositionelle Standpunkte vertretene Gewerkschaften, Berufsorganisationen usw. sind bis auf einige wenige in Bezug auf die Staatsführung und ihre Verortung im politischen System als angepaßt, kooperativ und „integriert“ zu bezeichnen. Die Wahl der „Anpassung“ als politischer Kurs der Organisationen ist ein Zeichen dafür, daß ein eigenständiger Kurs, der im Gegensatz zu dem der Staatsführung stünde, nicht durchsetzbar ist.32 Diese Situation stärkt zwangsläufig den Status quo; die loyale Opposition verliert durch ihre Anpassung weiter an Einflußmöglichkeiten. Neben den wirksamen politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen sind für das „negative“ Ansehen der (loyalen und kooperationsbereiten) Oppositionsparteien vor allem zwei weitere Faktoren mitverantwortlich: 31 32 - zum einen die Programmatik der Oppositionsgruppen, die sich bei den legalen Parteien und Vereinigung oftmals kaum von derjenigen der Regierungspartei(en) und staatlichen Einrichtungen unterscheidet und von daher „unattraktiv“ ist. - zum anderen das generell negative Ansehen politischer Parteien bei der Bevölkerung nordafrikanischer und nahöstlicher Staaten; Parteien wird hauptsächlich ein Engagement zum Wohl ihrer eigenen (Führungs-)Kader unterstellt. Die Oppositionsparteien leiden unter diesem fehlenden Ansehen stärker als die Regierungsparteien, weil ihnen der Ressourcenzugang fehlt, um die von ihnen angesprochene Klientel durch materielle Vgl. u.a. die Studie von Moussaoui, Abderrahmane: De la violence en Algérie: Les lois du chaos, Arles/Paris 2006; vgl. als Überblick Faath, Sigrid: Protest und Gewalt: Ein Phänomen und seine Wahrnehmung in Nordafrika/Nahost, hier insbesondere Abschnitt 4: Gewaltdiskurse und Religion, Online-Publikation unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. Vgl. hierzu auch die Untersuchungen von Pratt 2007, a.a.O. (Anm. 8). 40 Staatlicher Umgang mit Opposition Begünstigungen zu binden. Das Ansehen von Organisationen und Vereinigungen fällt in der Bevölkerung deswegen grundsätzlich positiver („ethisch-moralischer“ Gesichtspunkt) aus, wenn keine direkten Beziehungen zur „Macht“ bestehen (wie z.B. bei der islamistischen Vereinigung al-Adl wal-ihsan in Marokko) und wenn sie durch „Graswurzelarbeit“ soziale Dienstleistungen bereitstellen (wie z.B. die Muslimbruderschaft in Ägypten). In Widerspruch zur positiven Wertung der „Machtferne“ steht jedoch, daß Oppositionsparteien oder Persönlichkeiten, die keinen Zugang zur Macht haben und über keine materiellen Ressourcen verfügen, d.h. für die Interessenwahrung Dritter kein relevantes Gut aufzuweisen haben, breitere Bevölkerungsschichten nicht für sich mobilisieren können, selbst wenn sie ihnen moralische Anerkennung zollen und mit zahlreichen Kritikpunkten übereinstimmen. Die militant auftretenden und extremistischen Organisationen scheitern in den meisten Staaten mit dem Versuch einer Massenmobilisierung zu ihren Gunsten an der Ablehnung radikaler Lösungen und der Ablehnung radikalen Wandels durch die Bevölkerungsmehrheit; nur unter spezifischen Bedingungen, ist diese Ablehnung überwindbar.33 Eine Einschätzung der Zahl der Aktivisten, Mitglieder und Unterstützer sowie Sympathisanten von militanten und Gewalt umsetzenden Organisationen und Gruppen ist noch problematischer; die offiziellen Angaben sind nicht nur aus sicherheitspolitischen Gründen mangelhaft. Eine direkte Abhilfe zur Überwindung dieses Defizits gibt es nicht. Eine verbesserte Einschätzung der Umstände, die den Einsatz von Gewalt als Aktionsmittel begünstigen, und eine verbesserte Einschätzung der Folgen dieses Gewalteinsatzes auf die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung und das Ansehen der gewaltbereiten Opposition in der Bevöl33 Solche Positionen können sich von Generation zu Generation verändern und hängen eng mit den Erfahrungen zusammen, die in einer Gesellschaft mit Gewalt oder friedlichen Mitteln zur Durchsetzung von Forderungen und zur Umsetzung ihrer Ziele gesammelt wurden. So ist z.B. in Algerien die Bereitschaft zur Unterstützung bewaffneter Gruppen seit den 1990er Jahren gesunken, nachdem sich der Terror gegen die Bevölkerung selbst richtete und die Ziele der bewaffneten Gruppen immer diffuser und allgemeiner wurden. Das für bewaffnete Gruppen zum Überleben notwendige Unterstützerumfeld reduzierte sich, so daß – verbunden mit den sicherheitspolitischen Maßnahmen der Staatsführung – auch dadurch ein geographischer Rückzug und eine Erschließung neuer Geldquellen (durch kriminelle Aktivitäten) notwendig wurde. Vgl. zur Bedeutung des unterstützenden Umfeldes für terroristische Gruppen detailliert Richardson, Louise: Was Terroristen wollen. Die Ursache der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frankfurt/Main 2007. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 41 kerung können jedoch prozeßorientierte Untersuchungen von Konflikten mit oppositionellen Akteuren liefern. Sie erlauben, die Aktions- und Kommunikationsformen im Konfliktverlauf zu erfassen und über einen bestimmten Zeitraum die Handlungen und eingesetzten Mittel der oppositionellen wie der anderen beteiligten Akteure (Interaktion) zu strukturieren. Dadurch werden der Zeitpunkt und die ausschlaggebenden situativen (internen und/oder externen) Umstände, die Gewalt als Aktionsmodus ins Spiel brachten, präziser bestimmbar; so ist in diesem Zusammenhang z.B. die Frage von Interesse, ob der Gewalteinsatz zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die gewaltbereite Opposition sich „stark“ fühlte, d.h. ihren mobilisatorischen Einfluß hoch einschätzte, ob der Griff zur Gewalt als „letztes Mittel“ bei merklich geschwundener Unterstützung erfolgte oder ob Gewalt als das Hauptaktionsmittel gilt und die Gruppenidentität wesentlich konstituiert.34 3. Zur Interaktion von Staatsführung und Opposition Wegen der asymmetrischen Machtverteilung zwischen Staatsführung und Opposition in autoritären Systemen ist es in der Regel die Staatsführung, die den Aktionsrahmen und die Mittel, mit denen oppositionellen Herausforderungen gegenübergetreten wird, bestimmt.35 Ergebnis ist ein koerziver Staat, der je nach dem Grad des ausgeübten Zwangs und der mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit beauftragten Organe als „Sicherheitsstaat“ (Dawlat al-amn) bzw. als „Geheimdienststaat“ (Dawlat 34 35 Vgl. hierzu Fillieule, Olivier: La violence politique dans les démocraties occidentales. L’émergence de la violence dans les manifestaions de rue, in Cultures et Conflits, Saint-Ouen, Nr. 9-10, 1993, S. 267-291. Fillieule macht die Entscheidung einer Gruppe/Organisation zur Gewalt in erster Linie abhängig von (1) deren innerer Organisation, (2) der Art ihrer Führung, (3) der Wahrnehmung des Umfeldes durch die Mitglieder („identitäre Verortung“) und (4) dem Einfluß von „Traditionen“ (darunter z.B. das gesellschaftliche Ansehen von Gewalt) und Erfahrungen aus der Vergangenheit. Vgl. zum Verhältnis von Staatsführung und illegaler Opposition in Nahost auch Anderson, Lisa: Lawless government and illegal opposition. Reflections on the Middle East, in: Journal of International Affairs, New York, Band 40, Nr. 2, S. 219-232. Staatlicher Umgang mit Opposition 42 al-mukhabarat) in Erscheinung treten kann.36 Hinzukommt, daß in autoritären Staaten politische Eliten zögern, Macht abzugeben oder der Zivilgesellschaft Autonomie einzuräumen, wie Korany, Brynen und Noble in ihrer Studie von 1998 ausführlich darlegten. Auf diese Weise sichert sich der Staat ausreichend Stärke, um nur dann, wenn dies als nötig empfunden wird, zu weiteren Kontrollmaßnahmen zu greifen: „A degree of ambiguity between the ‚carrot’ of limited pluralism and the ‚stick’ of authoritarianism is purposefully cultivated: repression if necessary, but not necessarily repression.“37 Gemäß dieser Grundkonstellation und je nach den Erfordernissen entwickelten die Staatsführungen unterschiedliche Strategien und unterschiedliche Regelwerke zum Umgang mit Opposition in ihren diversen Ausprägungen. Der Umgang des Staates und die von ihm eingesetzten Mittel sind abhängig von der Art der Opposition und den von der Opposition eingesetzten Mitteln. Die Frage nach dem Umgang des Staates mit Opposition schließt somit stets die Frage nach dem Umgang der Opposition mit dem Staat ein. Die Interaktion beider Akteure, vor allem die eingesetzten Mittel auf staatlicher Seite, hängen von den Kooperations- und Allianzpartnern der Opposition, dem gesellschaftlichen Einfluß der Opposition und dem von der Staatsführung befürchteten Störpotential der Opposition38 ab. Zu den wichtigsten Maßnahmen, um oppositionelle Aktivitäten einzudämmen, dienen – entweder als Einzelmaßnahmen oder Maßnahmenbündel – nach Korany, Brynen und Noble39 - 36 37 38 39 die Praxis der Staatspatronage (Parteienfinanzierung; Kooptierung von Vereinigungen); Vgl. hierzu Ayubi, Nazih A.: Over-stating the Arab state. Politics and society in the Middle East, London, S. 221. Vgl. Korany, Bahgat; Brynen, Rex; Noble, Paul: Political liberalization and democratization in the Arab world, Band 2: Comparative experiences, Boulder CO, S. 277. Z.B. die Gefährdung des innergesellschaftlichen Friedens, die Gefährdung geplanter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen, die Gefährdung des Außenbildes (mit Rückwirkungen auf die Außenwirtschaftsbeziehungen) usw. Vgl. a.a.O. (Anm. 37), S. 273-274. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion - - - - 43 die Anwendung von Divide-et-impera-Praktiken (z.B. durch die staatliche Neugründung von Organisationen; die unterschiedliche Behandlung bestehender Vereinigungen usw.); die umfassende Informationskontrolle (Kontrolle von Presse, Rundfunk, Internet durch entsprechende Gesetze, Zugangs- und Zensurbestimmungen); die Einschüchterung von Aktivisten (z.B. durch Paßentzug, kurzzeitige Festnahmen, sonstige Schikanen, von denen auch Familienmitglieder betroffen sein können); die effektive Einschränkung des Handlungsrahmens der Opposition durch rechtliche und administrative Regelungen und Vorschriften.40 Am ägyptischen Beispiel führte Eberhard Kienle aus, wie die Staatsführung in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise und den daraus resultierenden Reformzwängen, die nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer produzierten, die Kontrollkapazitäten des Staates weit über das Maß hinaus, das zur Bekämpfung der damals aktiven bewaffneten islamistischen Gruppen notwendig gewesen wäre, stärkte.41 40 41 Diese von den Autoren nur kursorisch ausgeführte Maßnahmenvariante beinhaltet Maßnahmen zur Absorption von Kritik durch Ankündigungen z.B. von Verbesserungen im sozialen Bereich, von Entwicklungsprojekten, wenn die Kritik sich auf sozialund entwicklungspolitische Leistungen (bzw. Defizite) der Staatsführung bezog; hinzu kommen Eingriffe in den rechtlichen Ordnungsrahmen (Verfassung; Parteienund Vereinigungsgesetz; Wahlgesetz; Demonstrationsrecht usw.), der politische Aktivitäten regelt, um formal die Partizipationsmöglichkeiten zu verbessern. Beispiele für machtsichernde verfassungsrechtliche Eingriffe sind z.B. die Einführung von regierungsloyalen zweiten Parlamentskammern wie in Marokko (Einsetzung der zweiten Kammer 1997), in Algerien (Einsetzung 1998) oder in Tunesien (Beschluß 2002, Einsetzung 2005). Weitere machtsichernde Eingriffe sind Verfassungsänderungen, die in den Präsidialrepubliken bestehende Wiederwahlbegrenzungen für den amtierenden Präsidenten aufheben sollen (wie in Tunesien mit Verfassungsreferendum von 2002 erfolgt; in Algerien wird eine solche Verfassungsänderung Anfang 2008 noch diskutiert) oder Nachfolgeregelungen, die einen bestimmten Kandidaten als Garant des bisherigen Kurses begünstigen (wie in Syrien, wo die Nachfolge im Jahr 2000 auf den Sohn von Präsident Asad überging; oder in Ägypten, wo seit 2006 sukzessive institutionelle Eingriffe erfolgten, die eine Nominierung von Präsident Hosni Mubaraks Sohn Gamal zum Präsidentschaftskandidaten der regierenden NDP ermöglichen bzw. erleichtern). Vgl. Kienle, Eberhard: More than a response to Islamism: the political deliberalization of Egypt in the 1990s, in: Middle East Journal, Washington D.C., Band 52, Nr. 2, S. 219-235. 44 Staatlicher Umgang mit Opposition Die Rücknahme von Liberalisierungsmaßnahmen („Deliberalisierung“), wie von der ägyptischen Staatsführung in den 1990er Jahren als Antwort auf Opposition praktiziert, ist allerdings nur eine der möglichen Handlungsoptionen, die der Staatsführung zur Verfügung steht. Neben der von Michael C. Hudson42 beschriebenen Marginalisierung und Kriminalisierung der islamistischen Opposition – umgesetzt u.a. in Ägypten, Tunesien und Libyen – sind seit den 1990er Jahren in einigen Staaten weitere Maßnahmen wirksam. Hierzu zählt zum einen der „erzwungene Ausschluß“ und zum anderen das „begrenzte Entgegenkommen“ und die Integration ausgewählter islamistischer Gruppen in den Kreis politischer Akteure (wie z.B. in Marokko, Algerien, Jordanien, im Libanon und in Kuwait). Der staatlicherseits zugestandene wie auch der offiziell verweigerte Handlungsspielraum für Opposition wirkt sich auf deren Aktionsformen aus; aber: nicht alle legalen Gruppen, die einen legalen Weg an die Macht anstreben, sind grundsätzlich und in Bezug auf alle ihre Gruppenteile (Fraktionen) gegen Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung.43 Allerdings sind auch nicht alle illegalen Gruppen oder nicht alle Gruppen, denen die Legalisierung verweigert wurde, grundsätzlich für einen Gewaltkurs. Es ist somit nicht automatisch zu schlußfolgern, daß bei einem engen Handlungsspielraum für Opposition die Tendenz zur Befürwortung von Gewalt steigt oder daß die Ausweitung des Handlungsspielraums für Opposition die Gewaltbereitschaft senkt. Die autoritäre Struktur und Funktionsweise der politischen Systeme in Nordafrika und Nahost beeinflußt schließlich auch die Stellung der Staatsführung in der Wahrnehmung der Bevölkerung und die Erwartungshaltung der Bevölkerung gegenüber der Staatsführung. Die legale und loyale, kooperative Opposition, aber auch die nicht zugelassene Op42 43 Vgl. Hudson 1995, a.a.O. (Anm. 24). So war z.B. auch der islamistische FIS in Algerien gespalten. Andererseits gab und gibt es Gruppen, die sich von Beginn an einem Gewaltkurs verschreiben (so z.B. 1989 amnestierte Mitglieder einer bewaffneten islamistischen Gruppe in Algerien, die sofort nach ihrer Freilassung begannen, erneut den bewaffneten Kampf vorzubereiten und auch innerhalb der algerischen islamistischen Bewegung – bereits vor dem Wahlabbruch 1992 – dafür warben). Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 45 position sehen in der Staatsführung dementsprechend den Schlüsselakteur zur Durchsetzung ihrer kollektiven oder individuellen Interessen. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung und speziell der sozial schwachen und der sich benachteiligt empfindenden Gruppen ist auf den Staat als „Versorger“ ausgerichtet; von der Exekutive wird entsprechendes Handeln zur Erfüllung der Forderungen verlangt. Zwar gelten die hohen staatlichen Repräsentanten als elitär und von Privilegien begünstigt,44 dennoch wenden sich – in mehr oder weniger organisierter Form – viele Bürger, die für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände eintreten oder ihre politische Repräsentanz verbessert sehen wollen, mit ihren Belangen stets direkt an die Staatsführung. Im Parlament vertretene Oppositionsparteien werden von diesen Bevölkerungsgruppen meistens nicht als Interessenvertreter eingeschaltet. In der Praxis greift in der Regel nur eine Minderheit zum Mittel des bewaffneten Kampfes. Die bewaffneten Gruppen haben durch terroristische Anschläge, die Opfer unter der Bevölkerung einkalkulieren, in Staaten mit weitgehend intakter Staatlichkeit das Solidaritätsgefühl mit „dem Staat“ und die Kooperationsbereitschaft gegenüber der Staatsführung gesteigert. Neben rein sicherheitspolitisch repressiven Maßnahmen führten die Aktivitäten der bewaffneten (terroristischen) Gruppen dazu, daß vor allem seit 2001 nichtrepressive Maßnahmen verstärkt wurden. Sie ergänzen die o.g. Maßnahmen zur Kontrolle und „Loyalisierung“ von Opposition, indem sie die Funktion der Opposition als „Unterstützer des Staates“45 und „Hilfe für die Regierung“46 (bzw. Staatsführung) konsolidieren sollen. Diese „Hilfsrolle“ der Opposition umfaßt in aller erster Linie die Rolle einer loyalen, kooperativen Opposition, die konstruktiv in den Institutionen mitwirkt. Der loyalen, kooperativen Opposition wird folg44 45 46 Der Staat gilt in anderen Worten als „Veranstaltung für privilegierte Wenige“ wie es Joachim Betz in seinem Papier zur „Staatlichkeit in Entwicklungsländern“ (Manuskript, Hamburg, 2007, S. 17/18) formulierte. Zartman, a.a.O. (Anm. 5). Eine solche Hilfsfunktion wies David E. Apter in einem Aufsatz aus dem Jahr 1962 der Opposition in seit kurzer Zeit unabhängigen Staaten zu, die mit vielfältigen Problemen des Staats- und Nationenaufbaus zu kämpfen haben. Vgl. Apter, David E.: Some reflections on the role of a political opposition in new nations, in: Comparative Studies in Society and History, London, Band 4, Januar 1962, S. 154-168. Staatlicher Umgang mit Opposition 46 lich gegen Aufstockung der staatlichen Parteifinanzierung usw. die Unterstützung des politischen Kurses, der Sektoralpolitiken und vor allem auch des (identitären) Selbstverständnisses abverlangt. Zusätzlich zur verstärkten Einbindung der loyalen Opposition wurden ferner vor allem soziale, armutsmindernde und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibenden Maßnahmen gestärkt. Parallel dazu greifen einige Staaten stärker in den religionspolitischen Bereich ein, um eine Interpretation der Religion zugunsten der Umsetzung eines Gewaltkurses gegen Staat und Gesellschaft zu diskreditieren und zu marginalisieren.47 Die entsprechende Einbindung der Medien bzw. die Nutzung der Medien (Gründung neuer Radio- und Fernsehsender; Internetauftritte mit entsprechend unterstützender Funktion) zur Stärkung der jeweiligen staatlichen Politik und Orientierung, sind weitere Maßnahmen. 4. Konflikte und politische Opposition in Nordafrika und Nahost Die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens zählen nach internationalen Rankings und Konfliktverzeichnissen zu den konfliktträchtigsten Staaten weltweit.48 Ein Blick zurück in die 1990er Jahre zeigt, daß in zahlreichen nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten zwei externe Entwicklungen innenpolitische Konflikte verschärften, d.h. krisenhafte49 Entwicklungen in Gang setzten, bei denen Gewalt eine zentrale konfliktprägende Rolle einnahm. Diese äußeren Entwicklungen, die innenpolitische Konflikte in den 1990er Jahren förderten, waren - 47 48 49 erstens das Ende des Ost-West-Konflikts und der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, der sich innen- und außenpolitisch schwächend auf enge Kooperationspartner der Sowjetunion wie Algerien, Libyen, Syrien, Irak und Südjemen auswirkte. Eine besondere Begleiterscheinung der in- Vgl. hierzu ausführlich Faath 2007, a.a.O. (Anm. 19). Vgl. z.B. den Freedom House Index 2007 (www.freedomhouse.org) oder Pfetsch, Frank R. (Hrsg.): Globales Konfliktpanorama 1990-95, Münster 1996. Krise bzw. krisenhafte Entwicklung wird gemäß der Definition bei Spelten, Angelika: Instrumente zur Erfassung von Konflikt- und Krisenpotentialen in Partnerländern der Entwicklungspolitik (München u.a. 1999) als Konfliktsituation verstanden, die sich zuspitzt und in der Gewalteinsatz nicht mehr ausgeschlossen ist oder bereits eingesetzt hat. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 47 nersowjetischen Veränderungen, der Rückzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan 1989, führte zum Anstieg des Gewaltpotentials in Nordafrika und Nahost, weil zahlreiche Freiwillige aus diesen Staaten als sogenannte Befreiungskämpfer den afghanischen Kampf gegen die sowjetischen Truppen seit den 1980er Jahren unterstützt hatten. Nach Ende der Besetzung ab 1991/92 reisten sie in neue Kampfgebiete (Tschetschenien, Ex-Jugoslawien) oder kehrten in ihre Heimatländer zurück. Diese „arabischen Afghanen“ waren kampfgeschult und gingen eine Kooperation mit lokalen extremistischen islamistischen Gruppen ein, die mittels Gewalt einen „islamischen Staat“ errichten wollten.50 - zweitens die Auswirkungen des wirtschaftlichen Globalisierungsprozesses, die in den 1990er Jahren zu ersten negativen Folgen in Nordafrika und Nahost führten. Der auf den Staaten lastende Druck zur Anpassung an die neuen weltwirtschaftlichen Gegebenheiten führte zu Teilöffnungen nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Systems. Die politischen Liberalisierungsmaßnahmen eröffneten neue Handlungsspielräume für gesellschaftliche Gruppen und förderten ihre Politisierung. Allen voran die islamistischen Bewegungen organisierten sie sich als politische Parteien (legaler Weg an die Macht) und weiteten ihre Untergrundnetzwerke aus (Propagierung des bewaffneten Kampfes). Die als Begleiterscheinung der Liberalisierungsprozesse organisatorisch neu entstandene oder gestärkte Opposition diverser Orientierung tritt seither als Herausforderer und Konkurrenz der Staatsführung auf. Sie stellt politische, soziale und wirtschaftliche Forderungen, kritisiert zunehmend die Regierungstätigkeit und Leistungsdefizite der Staatsführung und stellt sich selbst als Alternative dar. Es sei hier explizit angemerkt, daß die genannten beiden externen Entwicklungen lediglich bereits bestehende oder latente Konflikte und akute Krisen verschärften; sie sind nicht deren Ursache. Weil sie jedoch Konflikte zuspitzten und insbesondere auch Fundamentalopposition und gewaltbereite Gruppen mobilisierten, ist die Frage nach den gegenwärtig in ähnlicher Art und Weise wirkenden externen Ereignissen und Entwicklungen wichtig (s.u. 4.3.). 50 Vgl. zu dieser Entwicklung Faath, Sigrid/Mattes, Hanspeter: Die „arabischen Afghanen“. Faktor interner Konflikte in Nordafrika/Nahost und des internationalen Terrorismus, Hamburg 1996 (Wuqûf-Kurzanalyse. 4). Besonders aktiv waren die „arabischen Afghanen“ in den 1990er Jahren in Algerien, Libyen, Ägypten, Jemen und Saudi-Arabien. 48 Staatlicher Umgang mit Opposition 4.1. Konfliktkontinuität Eine Unterteilung der Konflikte in außenpolitische Konflikte (zwischen nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten oder zwischen einem nordafrikanischen oder nahöstlichen Staat und einer externen Macht) und in innenpolitische Konflikte ist sinnvoll, weil von ihnen jeweils unterschiedliche Impulse für die Opposition in den einzelnen Staaten oder transnational aktive Oppositionsgruppen ausgehen. Außenpolitische Konflikte Außenpolitische Konflikte haben oftmals Rückwirkungen im regionalen Kontext. Auch wenn der eigene Staat nicht direkt in den Konflikt involviert ist, kann ein außenpolitischer Konflikt – wie exemplarisch die drei Golfkriege oder auch der palästinensisch-israelische Konflikt zeigen – den Diskurs aller politischen und gesellschaftlichen Akteure bestimmen. Zwischenstaatliche Konflikte in Nordafrika und Nahost nahmen seit den 1990er Jahren deutlich ab. Grenzkonflikte mit krisenhaftem Verlauf, die z.B. typisch für die ersten Jahre nach der Unabhängigkeit waren, sind inzwischen beigelegt oder beide Seiten bemühen sich um eine Verhandlungslösung. Einzelne Konflikt- und Krisenursachen der Vergangenheit bestehen jedoch fort und bergen wegen der lebensnotwendigen Bedeutung des Streitpunktes für die beteiligten Staaten den Stoff zur krisenhaften Eskalation in sich. Dabei geht es vor allem um den Zugang bzw. die Verteilung von Wasser (Ägypten/Nilwasser; in Nahost Jordan-, Euphrat- und Tigriswasser), den Zugriff auf Bodenschätze in strittigen (Grenz-)Gebieten und den Anspruch auf Territorium (z.B. Westsahara; spanische Enklaven Ceuta und Melilla in Nordmarokko). Die jeweils zugrundeliegenden Streitpunkte werden zu Mobilisierungszwecken auch von den oppositionellen Akteuren benutzt, die bei diesen Fragen nicht immer eine Haltung einnehmen, die im Widerspruch zur Haltung der Staatsführung steht. Im Falle der Westsahara führten die gegensätzlichen Positionen zwischen Befürwortern eines Selbstbestimmungsreferendums und der marokkanischen Staatsführung, die sich für ihre Autonomielösung auf große Solidarität in der organisierten und nichtorganisierten Bevölkerung Marokkos stützen kann, weniger innerhalb als vor allem außerhalb Marokkos (Polisario-Front) seit 2006/07 zu Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 49 einer neuerlichen Krise, nachdem die Polisario-Führung seit Sommer 2007 mit der Wiederaufnahme des Kampfes drohte, sollte es bis 2009 zu keiner Lösung kommen. Ungelöst und virulent geblieben ist ebenfalls der palästinensisch-israelische Konflikt, der im Herbst 2000 (Beginn der al-Aqsa-Intifada) in eine Gewaltspirale mündete, die bislang nicht beendet ist und den innerpalästinensischen gewaltsam ausgetragenen Konflikt um Macht, Einfluß und das Ordnungsmodell zwischen Islamisten und säkular orientierten Palästinensern verschärft. Die Aktivitäten islamistischer Gruppen, die sich gegen Israel richten und von den autonomen Gebieten, aber auch vom Südlibanon ausgehen, verschärften seit 2000 den Konflikt. Im Sommer 2006 hatten die vom Südlibanon auf Israel ausgehenden bewaffneten Angriffe der libanesischen islamistischen Hizbullah die Bombardierung des Libanon durch israelische Streitkräfte („Sommerkrieg“) zur Folge. Eine Lösung des vielschichtigen Nahostkonflikts ist auch Anfang 2008 nicht in Sicht. Bei Konflikten zwischen den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens geht der Trend seit einigen Jahren dahin, friedliche Verhandlungslösungen zu suchen und eine kooperative Beziehung aufzubauen. Dennoch sind durch die militärischen Interventionen der USA und ihrer Verbündeten (Irakkrieg 2003; anhaltende Besetzung des Irak) neue Konfliktkonstellationen mit innenpolitischer und transnationaler Gewaltdimension entstanden, in deren Verlauf es zur Multiplikation von gewaltbereiter Opposition zur umstrittenen „Zentral“-Regierung eines zerfallenen irakischen Staates kam. Insgesamt ist die Golfregion zum Jahresbeginn 2008 in einem hohen Spannungszustand, dessen Ursachen vielfältig sind: - der anhaltende innere Konflikt im Irak, dessen Folgen: Terrorismus und Irak-Flüchtlinge in die gesamte Golfregion ausstrahlen. die ablehnende amerikanische Haltung der iranischen Nuklearambitionen, bei der selbst eine militärische Option nicht ausgeschlossen wird. Seit Sommer 2007 erfolgt ein offensives Werben US-amerikanischer Politiker in den nahöstlichen Staaten für eine arabische Front gegen Iran. Staatlicher Umgang mit Opposition 50 - - Zu diesem Werben gehört als Teilkomponente die massive Aufrüstung vor allem der saudi-arabischen Streitkräfte.51 die nach wie vor massive US-Präsenz in der Region zur Fortsetzung des Antiterrorkampfes,52 zu dem auch die Gewährleistung der maritimen Sicherheit am Golf (Abwehr terroristischer Anschläge auf den Schiffsverkehr besonders in der Straße von Hormuz) zählt; der Wille und das Ausmaß der arabischen Beteiligung an diesem Kampf53 bedingt den Grad der Beziehungen zu den einzelnen Regierungen der Golfstaaten. Im Gegenzug wurden im Rahmen der antiiranischen Einhegungspolitik von der US-Regierung die iranischen Revolutionswächter (Pasdaran) im Oktober 2007 zu einer terroristischen Vereinigung erklärt und damit auf eine Stufe mit al-Qaida gestellt.54 die auch auf religiöser Ebene (Sunniten vs. Schiiten) und ethnischer Ebene (Araber vs. Perser) bestehende Rivalität zwischen Saudi-Arabien und Iran,55 die sich in kontinuierlich erhobenen Vorwürfen manifestiert, die jeweils andere Seite versuche, mit ihrer Politik die eigenen Interessen zu unterminieren. Die saudisch-iranische Rivalität belastet die politische Entwicklung der gesamten Golfregion. Innenpolitische Konflikte In der Gesamtschau der Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens sind es jedoch nicht die außenpolitischen Konfliktlagen, die seit den 1990er Jahren dominant sind, sondern die innenpolitischen Konflikte zwischen Staatsführung und organisierter wie nicht organisierter Opposition. Die in den meisten Staaten anzutreffenden innenpolitischen Konfliktkonstellationen, die jeweils Opposition zur Staatsführung generierten, 51 52 53 54 55 Financial Times Deutschland, 30.7.2007 (Bush rüstet Teherans Nachbarn auf. Washington will Israel, Saudi-Arabien und Golfstaaten Waffen für 50 Mrd. Dollar liefern); iap-dienst, München, August 2007 (Rüstungspolitik in Nahost). Details dieses Kampfes stellt Vizeadmiral Cosgriff vom Central Command dar; vgl. Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 25.9.2007 (Anti-Terror-Kampf in der Golfregion). Die USA bilanzieren diese Aktivitäten (genauso wie die bestehenden Gefahrenpotentiale) u.a. in den jährlich vom Office of the Coordinator for Counterterrorism veröffentlichten Country Reports on Terrorism, zuletzt am 30.4.2007 (www.state.gov). Die Welt, Berlin, 26.10.2007 (USA: Irans Elitesoldaten sind Terroristen). Zum (ideologischen) Hintergrund der Rivalität und den Auswirkungen vgl. Henner Fürtig: Iran’s rivalry with Saudi Arabia between the Gulf Wars, London 2006. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 51 können in drei Hauptkategorien unterteilt werden, wobei sich die einzelnen Konfliktmotivationen auch überschneiden können:56 Kategorie 1 innenpolitischer Konflikte: Religiös, ethnisch, ethnisch-linguistisch motivierte Konflikte Die religiös motivierten Konflikte sind zum einen Konflikte zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen (z.B. Muslime vs. Christen; Sunniten vs. Schiiten),57 zum andern Konflikte über die Rolle, die der Religion im Staat und in der Gesellschaft als normsetzender Kraft zukommen soll. Die Auseinandersetzung im Gazastreifen 2007 zwischen Hamas und al-Fatah ist das jüngste Beispiel für diese Art Konfrontation. Quantitativ handelt es sich bei den religiös motivierten Konflikten – korreliert mit dem überregionalen Ausstrahlen der iranischen Revolution von 1979 – in der Mehrzahl der Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens um Konflikte, deren Auslöser Gruppen sind, die den doppelten Anspruch der Einheit von Staat und Religion (Islam) und des Postulats „Der Islam ist die Lösung“ (aller gesellschaftlichen Probleme) militant umsetzen wollen. Zielscheibe ihrer Aktion ist der in ihren Augen häretische Staat, dessen unislamische, säkulare Strukturen durch das „islamische Gesellschaftsprojekt“ überwunden werden sollen.58 Wenngleich die Konflikte durch massive Repression in vielen Staaten gegen Ende der 1990er Jahre künstlich beruhigt wurden, so ist die Grundkonstellation der konträren Gesellschaftsmodelle keineswegs überwunden; weitere militante Auseinandersetzungen sind in Zukunft deswegen nicht auszu56 57 58 Religiös motivierte und mit religiösen Werten begründete/gerechtfertigte Konflikte können z.B. gleichzeitig Konflikte um Macht und Ressourcenzugang sein. Vgl. hierzu die kartographischen Darstellungen in: La Vie/Le Monde: L’Atlas des religions, Paris 2007. Demzufolge waren islamistische Gruppen unter Mobilisierung der Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit den jeweiligen sozioökonomischen Lebensbedingungen Auslöser der internen Konflikte u.a. in Tunesien (seit 1986 bis Anfang der 1990er Jahre), Algerien (besonders 1991-1999, aber immer noch anhaltend), Ägypten (besonders 1992 bis Ende der 1990er Jahre), Libyen (besonders 1992 bis 1996) oder Marokko (besonders seit 2003). Vereinzelte Aktionen wie die Besetzung der Großen Moschee von Mekka (November 1979), der Aufstand der Muslimbrüder im syrischen Hama (1981/82) und die bewaffneten Aktionen der Bouiali-Gruppe in Algerien (1984/85) gingen diesen Konflikten längerer oder anhaltender Dauer voraus. Staatlicher Umgang mit Opposition 52 schließen, vor allem weil auch al-Qaida als weiterhin bedrohliche extremistische Organisation mit Verbindungen in zahlreiche Länder (z.B. Algerien, Libyen, Jordanien, Jemen, Irak)59 entsprechend aktiv ist. Die interreligiösen Konflikte folgen der religiösen Landkarte in Nordafrika und Nahost und sind zwangsläufig dort gravierend, wo entsprechend große divergierende religiöse Gruppen existieren: 59 60 61 62 63 - hinsichtlich der Christen sind dies Ägypten (starke Minderheit der Kopten), der Sudan (gleichfalls die koptische Minderheit), der Libanon, der Irak und Palästina.60 Selbst wenn es in Ägypten immer wieder zu kleineren Zusammenstößen zwischen Kopten und Muslimen kommt wie zuletzt am 26. Oktober 2007 in Mina südlich von Kairo, so ist der Kernraum christlicher Verfolgung momentan der Irak, wo laut der Gesellschaft für bedrohte Völker die „größte Christenverfolgung der Gegenwart“61 stattfindet. Die geflüchteten Christen (überwiegend Assyro-Chaldäer, aber auch Katholiken u.a.) zählen bereits nach Zehntausenden; so haben inzwischen alle 7.000 katholischen Familien unter dem Druck schiitischer Prediger das südirakische Basra verlassen.62 Mittelfristig dürfte diese Tendenz anhalten. - hinsichtlich der sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzungen primär der Irak, Saudi-Arabien, der Libanon; auch wenn aus anderen sunnitischen Staaten wie Marokko oder Algerien schiitische Missionsaktivitäten gemeldet werden, so ist es darüber noch zu keinem offenen Konflikt gekommen. Der sunnitisch-schiitische Hauptkonflikt vollzieht sich gegenwärtig im Irak, wo mit dem Sturz Saddam Husains die Sunniten in dem mehrheitlich schiitischen Land ihre Vormachtstellung verloren; nichtsdestotrotz betrachten die sunnitischen Salafisten die Schiiten als Bewohner, die „es zu vertreiben gilt“;63 hinzu kommt Saudi-Arabien, wo sich die Vgl. Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2.8.2007 (al-Kaidas nächste Generation. Rückkehrer aus dem Irak auf der Suche nach einem neuen Jihad). Als Überblick zur Problematik kann herangezogen werden: Udo Steinbach (Hrsg.): Autochthone Christen im Nahen Osten. Zwischen Verfolgungsdruck und Auswanderung, Hamburg 2006. Vgl. die gleichnamige Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker vom Sommer 2007. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt/Main, 14.9.2007 (Irakische Christen auf der Flucht). Le Monde, Paris, 31.7.2007 (Pour les groupes salafistes, l’Irak majoritairement chiite est une terre impure qu’il faut purger). Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 53 schiitischen Einwohner der Ostprovinzen diskriminiert und marginalisiert fühlen.64 Bei den ethnisch und ethnisch-linguistischen/kulturell-identitären Konflikten sind in Nordafrika und Nahost hauptsächlich zwei Konflikte zu unterscheiden: der Konflikt mit Kurden im Nahen Osten und der Konflikt mit Berberophonen in den Maghrebstaaten. Das Kurdenproblem ist hinsichtlich der Gesamtproblematik zwar in der Hauptsache ein innertürkisches Problem,65 doch liegen große kurdische Siedlungsgebiete auch im Nordirak und im westlichen Iran und kleinere Gebiete in Nordsyrien. In den genannten Ländern ist das Problem der Gleichberechtigung, der kulturellen Selbstbestimmung, der Verfügungsgewalt über die Bodenschätze im Siedlungsgebiet und der Verteilung der Ressourcen akut. Berberophone, gemäß ihrer Eigenbezeichnung Imazighen (Singular: Amazigh), leben sehr ungleich verteilt in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien sowie in den angrenzenden Sahelstaaten, vor allem in Mali und Niger. Die größte berberophone Gruppe bilden die Tuareg in Südalgerien (rund 20.000), Libyen (rund 25.000) und den Sahelstaaten Niger (rund 1 Mio.) und Mali (rund 700.000). In Algerien und Libyen integrieren sich die Tuareg weitgehend in den Staat und verfolgen keine Autonomiebestrebungen.66 Der eigentliche Konflikt mit Berberophonen in den nordafrikanischen Staaten, der als ethnisch-linguistisch-kultureller Konflikt bezeichnet werden kann, betrifft die in den 64 65 66 Vgl. zu Details International Crisis Group: The Shiite question in Saudi Arabia, in: Middle East Report, Brüssel, Nr. 45, 19.9.2005. Vgl. als Kurzcharakteristik des Kurdenkonflikts Pfetsch 1996, a.a.O. (Anm. 48), S. 215-222. Im Gegensatz dazu befinden sich die Tuareg der angrenzenden Sahelstaaten seit den 1980er Jahren in einem zeitweise gewaltsam ausgetragenen Konflikt mit dem Zentralstaat, bei dem es um mehr Autonomie und Selbstbestimmung, Rechte und Entwicklungsmaßnahmen in dem von Dürren heimgesuchten Siedlungsgebieten geht. Diese Konflikte und prekären Lebenssituationen (Flüchtlingsbewegungen z.B. in den 1980er Jahren aufgrund anhaltender Dürre) strahlten nach Algerien und Libyen aus, die zum temporären Fluchtort vor Dürre oder staatlicher Verfolgung für die bewaffneten Tuareg oder zum Rückzugsgebiet und Aktionsgebiet von kriminellen Gruppen wurden, in die beiderseits der Grenzen Tuaregstämme involviert waren/sind. Es ist auch in Zukunft mit dieser Art von transnationalen Rückwirkungen des Konflikts wegen der prekären Lebenssituation der Tuareg in den Sahelstaaten nach Algerien und Libyen (in geringerem Maße auch Mauretanien) zu rechnen. 54 Staatlicher Umgang mit Opposition nördlichen Landesgebieten Algeriens, Marokkos und Libyens lebenden Bevölkerungsgruppen, die seit den 1980er/90er Jahren zunehmend in Vereinigungen organisiert sind. Konflikthafte Entwicklungen gab es aufgrund der hohen Zahl Berberophoner überwiegend in Algerien und Marokko.67 Der Konflikt mit Berberophonen hängt mit der Überhöhung der arabischen Komponente der nationalen Identität und der ausschließlichen Förderung der arabischen Sprache und Kultur zusammen, die nach der Unabhängigkeit die staatliche Politik in den nordafrikanischen Staaten dominierte. Parallel zur neuerlichen Stärkung der (arabisch-islamischen) „MonoKultur“ und „Mono-Identität“ seit Ende der 1970er als staatliche Antwort auf das Erstarken islamistischer Gruppen mobilisierten sich die Berberophonen in Vereinigungen für ihre kulturellen Rechte. Der Konflikt wegen der Forderung nach gleichberechtigter Anerkennung der Amazigh-Identität und der berberischen (Haupt-)Sprache als nationale und offizielle Sprache ist weiterhin ungelöst und stellt mittelfristig ein konfliktverschärfendes Element vor allem in Algerien und Marokko dar. Kategorie 2 innenpolitischer Konflikte: Konflikte über das politische und gesellschaftliche Ordnungsmodell sowie um Macht und Ressourcenverteilung Es handelt sich hierbei zum einen um Konflikte mit der Staatsführung, deren Auslöser einzelne Persönlichkeiten oder Vereinigungen sind, die den staatlichen Autoritarismus kritisieren und mehr politische und bürgerliche Rechte, politischen Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit, eine Demokratisierung nach dem Vorbild liberaler Demokratien verlangen. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine kleine Minderheit. Der Hauptkonflikt in dieser Konfliktkategorie, der in allen Staaten mit unterschiedlicher Virulenz stattfindet, wurde indes durch islamistische Gruppen ausgelöst, die ein „islamisches“ Gesellschaftsprojekt um67 Die Angaben über die Anzahl der Berberophonen in den Maghrebstaaten variieren je nach Quelle. Für Marokko wird die Anzahl der Berberophonen mit 40-60 % der Gesamtbevölkerung (60 % = rund 18 Mio. Personen) angegeben; bei Algerien mit 25-38 % (38 % = rund 12 Mio. Personen); bei Libyen mit 3-9 % (9 % = 550.000 Personen); bei Tunesien mit 1 % (100.000 Personen) und in Mauretanien sollen rund 80.000 Berberophone leben. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 55 setzen wollen und gegen den „unislamischen“ Staat und „unislamisches“ Verhalten in der Bevölkerung agieren. Islamistische Gruppen versuchen – verstärkt seit der Rückkehr der „arabischen Afghanen“ in ihre Heimatländer Anfang der 1990er Jahre – die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit den sozioökonomischen Lebensbedingungen in Unterstützungspotential für ihre „islamische“ Alternative zu kanalisieren. In diesem Konflikt geht es um die Macht im Staat und gleichzeitig auch um die Macht zur Normsetzung für Staat und Gesellschaft; er hat darüber hinaus eine Ressourcendimension, d.h. die Konfliktpartei strebt die Umverteilung der materiellen Ressourcen des Staates zugunsten der eigenen Klientel an. Dieser Konflikt hält bis heute unvermindert an. Die islamistische Opposition hat sich seit Ende der 1990er Jahre allerdings zunehmend ausdifferenziert und setzt ein breites Instrumentarium ein, um ihr Ziel zu erreichen. Zahlreiche legale Organisationen meiden z.B. einen allzu konfrontativen Kurs und verurteilen formal politische Gewalt, um sich ihren legalen Status und den damit verbundenen Handlungsspielraum zu sichern. Diese Positionierung erfolgte, nachdem die seit 2003 zunehmenden Selbstmordanschläge, die sich gegen die Bevölkerung/Zivilisten in den arabischen Staaten richten, in breiteren Bevölkerungskreisen zu Kritik am Schweigen vieler Islamisten zu dieser Form von Gewalt auslöste. Kategorie 3 innenpolitischer Konflikte: Konflikte wegen schlechter sozioökonomischer Lebensbedingungen In Nordafrika und Nahost sind seit Ende der 1980er Jahre zwischen den Gewerkschaften auf der einen und den Arbeitgebern und der Staatsführung auf der anderen Seite zahlreiche Konflikte um mehr Autonomie (Gewerkschaften) und mehr Lohn, Stellenstreichungen wegen Um- und Restrukturierungen der Staatsunternehmen oder Privatisierungen, sowie wegen sinkender Kaufkraft/Preissteigerungen ausgefochten worden. Angestiegen sind seither auch Konflikte zwischen der Staatsführung und jenen Teilen der Bevölkerung, die sich als besonders marginalisierte Gruppe empfinden wie z.B. arbeitslose Akademiker oder arbeitslose Jugendliche. 56 Staatlicher Umgang mit Opposition Die sozialen Unruhen stellen ein beträchtliches Konflikt- und Krisenpotential für die nächsten Jahre dar, weil selbst in ressourcenreichen Staaten68 die Kluft zwischen Arm und Reich bzw. zwischen privilegierten und weniger privilegierten Provinzen angestiegen ist. Eine Folge dieser Enttäuschung vom Staat ist die generelle Ablehnung der Politiker und (wo vorhanden) der (legalen, staatsloyalen) Parteien sowie der staatlichen Institutionen, was sich politisch bei Wahlen in der hohen Zahl der Nichtwähler ausdrückt. Diese Unzufriedenheit ist besonders groß bei Jugendlichen, deren Bereitschaft, sich am Wahlprozeß zu beteiligen, entsprechend gering ist. Die Hinwendung zu Lebensformen mit eigenen Regeln, Gruppensolidarität und sozialem Auffangnetz, wie es Islamisten in verschiedenen Varianten (von der legalen Organisationstätigkeit bis zum Anschluß an eine bewaffnete Gruppe) anbieten, ist für einen Teil dieser jungen Erwachsenen und Heranwachsenden eine anhaltend attraktive Perspektive. 4.2. Externe Faktoren als Konflikt- und Oppositionstreiber Bei der Suche nach externen Faktoren, die innenpolitische Konfliktlagen in den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens verschärfen, ist eine Zäsur erkennbar, die mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, ihren direkten Folgen für einige Staaten (militärische Intervention der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und Irak) und ihren indirekten Auswirkungen in allen Staaten (Druck zur Teilnahme an der von den USA angeführten „Allianz gegen den Terror“) zusammenhängt. Insbesondere die militärische Intervention im Irak 2003 und das seither anhaltende ordnungs- und sicherheitspolitische Chaos gab (vorhandenen) Feindbildern neue Nahrung und all jenen gewaltbereiten Gruppen Argumentationshilfe, die für ihren bewaffneten Kampf im Irak oder/und in einzelnen Staaten (aus unterschiedlichen Interessen) warben. Die Mobilisierungskraft der Islamisten, ihre Kritik an den Regierungen und deren Reformpolitik im allgemeinen und ihrer prowestlicher 68 Selbst die reichen Erdölstaaten der arabischen Halbinsel können nicht mehr ungebremst die öffentliche Verwaltung personell aufblähen, um den Arbeitsmarkt zu entlasten; dementsprechend wuchs auch dort unter der jungen Generation die Protestund Oppositionsbereitschaft (u.a. Arbeitslosenproteste in Bahrain Dezember 2005). Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 57 Außen- und Wirtschaftspolitik im besonderen, ist mit den wachsenden negativen sozialen Auswirkungen der wirtschaftlichen Restrukturierungspolitik und der direkten militärischen Einflußnahme der USA gestiegen. Die schlechten Lebensbedingungen und der (westliche) Anpassungsdruck an globale, „westlich“-dominierte Entwicklungen (Globalisierungsprozesse) begünstigen die Argumentation der Islamisten gegen die jeweiligen Staatsführungen und ihre Politik. Diese Kraft der Islamisten zur Orientierung der Wahrnehmung und Prägung von Feindbildern wurde durch den von der US-Regierung nach dem 11. September 2001 propagierten „weltweiten Kampf gegen den Terrorismus“ und die Einbindung der nordafrikanischen und nahöstlichen Staatsführungen in diesen Kampf unterstützt. Seine Interpretation als „Kampf“ bzw. „Kreuzzug des Westens gegen den Islam“ ist bis heute in der Bevölkerung weit verbreitet. Der machtpolitisch und identitär verklausulierte Konflikt zwischen Islamisten und (religiös) Konservativen auf der einen und Reform- und Modernisierungswilligen auf der anderen Seite wird durch diese Komponente nochmals zugespitzt und emotionalisiert. Auswirkungen als „Konflikt- und Oppositionstreiber“ – wohlgemerkt nicht als Auslöser – haben schließlich auch die in den letzten Jahren erfolgten drastischen Preissteigerungen für Rohstoffe und Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt. Die Preissteigerungen bescheren zwar den reichen Ölstaaten hohe Deviseneinnahmen, erhöhten jedoch auch den Erwartungsdruck auf die Staatsführung (Wohlstandssteigerung; verbessertes Leistungsangebot des Staates usw.). Die ressourcenarmen Staaten wiederum werden durch die zunehmend hohen Ausgaben für Energie- und Nahrungsmittelimporte extrem belastet und sind – um soziale Konflikte (kurzfristig) zu verhindern oder wenigstens zu mindern – gezwungen, ihre Subventionsbudgets zu erhöhen, obwohl sie sich diese hohen konsumptiven Ausgaben volkswirtschaftlich gesehen nicht leisten dürften. In beiden Kategorien von Staaten geben diese Entwicklungen Argumentationshilfe gegen die Regierungspolitik, den vor allem islamistische Oppositionsgruppen nutzen, die ihre Appelle zur Solidarität und zur gerechten Verteilung erhöhen. Staatlicher Umgang mit Opposition 58 4.3. Opposition heute – ein Spiegel der Konflikte Opposition gegen die Staatsführung und ihre Politik oder Teilaspekte dieser Politik sowie Fundamentalopposition, die sich gegen die etablierte staatliche und gesellschaftliche Ordnung wendet, ging seit der Unabhängigkeit der Staaten hauptsächlich von den folgenden Gruppen69 aus, die „idealtypisch“ als konfliktfähige70 Gruppen gelten: - das Militär/die Sicherheitsorgane, islamistische Gruppen, Studenten, Gewerkschaften, parteipolitische Opposition (legaler Parteien), Vereinigungen der (Zivil-)Gesellschaft, ethnisch, kulturell und identitär (linguistisch-identitär; religiös-identitär) motivierte Bevölkerungsgruppen und sich sozial marginalisiert empfindende Bevölkerungsgruppen. Werden die oppositionellen Akteure in Nordafrika und Nahost seit 2000/01 im Hinblick auf diese Hauptkategorien betrachtet, so fällt auf, daß das Militär (die Sicherheitsorgane) sich in der Mehrzahl der Staaten seit den 1990er Jahren selten offen politisch engagiert und offen staatliche Politik bestimmt oder durch Putsch(versuche) auf diese Einfluß nahm. Eine Ausnahme ist der Putsch vom 3. August 2005 in Mauretanien, mit dem ein formal-institutioneller Demokratisierungsprozeß in Gang gesetzt wurde und sich das Militär – wie zuvor angekündigt – nach 69 70 Vgl. Details zu diesen Gruppen und ihren oppositionellen Aktivitäten seit den 1950er/60er Jahren bis Ende der 1990er Jahre am Beispiel Nordafrikas Mattes, Hanspeter: Politische Opposition in Nordafrika, in: Wuqûf, Hamburg, Nr. 12, 1999, S. 28 ff. Mit konfliktfähigen Gruppen sind solche Gruppen gemeint, die gegen die bestehenden Macht- und/oder Verteilungsverhältnisse sind und (theoretisch) über ein gewisses Druckpotential oder Verweigerungspotential (Konfliktfähigkeit) zur Durchsetzung ihrer partikularen Gruppen- oder Standesinteressen verfügen und Konfliktbereitschaft zeigen, d.h. versuchen, ihr Druckpotential aktiv einzusetzen. Vgl. im Detail zur Konfliktfähigkeit von Gruppen Schubert, Gunter/Tetzlaff, Rainer/Vennewald, Werner (Hrsg.): Demokratisierung und politischer Wandel. Theorie und Anwendung des Konzeptes der strategischen und konfliktfähigen Gruppen, Hamburg 1994. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 59 Einrichtung der Institutionen (Wahl des Parlaments, des Senats, des Präsidenten) 2007 aus den politischen Ämtern zurückzog. Von den anderen konfliktfähigen Gruppen gehen je nach Ausformung des politischen Systems71 unterschiedliche oppositionelle Aktivitäten aus. Für die Staatsführungen sind gegenwärtig in der Regel die legalen und illegalen islamistischen Organisationen und Gruppen (inklusive der bewaffneten islamistischen Gruppen) – der anhaltenden Konfliktlage (s.o.) entsprechend – die politischen Hauptherausforderer. Sie besitzen im Vergleich zu anderen Oppositionsgruppen (z.B. säkular-liberaler, reformerischer Ausrichtung) und Interessenvertretern immer noch deutlich mehr Mobilisierungskraft und damit höheres Druck- und Drohpotential. Studenten-, Berufs- und Arbeitnehmerorganisationen, die in der Regel nur für eine kurze Zeitspanne, zu einem spezifischen Anlaß oder als Reaktion auf spezifische Entwicklungen und Ereignisse gegen die Politik der Staatsführung mobilisieren, unterscheiden sich dadurch signifikant von der islamistischen Opposition. Die islamistische Opposition deckt ein breiteres Spektrum an Nichtübereinstimmung mit der Staatsführung ab und versucht, durch die Instrumentalisierung der Religion ihren gesellschaftlichen Einfluß zu konsolidieren. Der Opposition von Gewerkschaften und Berufsorganisationen – in weitaus geringerem Maße auch von studentischen Organisationen – kommt zwar nach wie vor Störpotential zu, vor allem wenn sie einen hohen Anteil islamistischer Mitglieder und Kader haben; dennoch sind sie in Nordafrika und Nahost zur Zeit eher sporadisch und für kurze Zeit aktiv und stellen konkrete, ihrer Klientel entsprechende Forderungen. Sie verfügen trotz Kritik und Streikbereitschaft über eine relativ ausgeprägte Kooperations- und Konzessionsbereitschaft, wenn sich die Staatsführung entsprechend verhandlungsbereit zeigt. Ein größeres Maß an Militanz (und in einigen Fällen Gewaltbereitschaft) ist dort nicht ausgeschlossen, wo religiöse und identitäre Rechte (ethnischer, linguistischer, kultureller Art) und Forderungen nach 71 Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang, ob Parteien, Vereinigungen oder Gewerkschaften zugelassen sind, wieviel Handlungsspielraum (und Kritikfreiraum) ihnen eingeräumt wird, welche Arrangements (materieller, rechtlicher Art) die Staatsführung mit ihnen (oder einem Teil) zur Regelung der Interessenvertretung vereinbarte. 60 Staatlicher Umgang mit Opposition Gleichberechtigung sowie die stärkere Berücksichtigung der materiellen Interessen dieser spezifischen Gruppen kumuliert ins Spiel kommen. Handelt es sich dabei nicht mehr um eine Frage der Rechte einer Minderheit im Staat, sondern um die Rechte einer Mehrheit (wie z.B. Schiiten im Irak; im Libanon) oder zumindest einer Mehrheit in einem geographisch exakt bestimmbaren Landesteil (wie Berberophone in der Kabylei; Kurden im Nordirak), verschärft sich die Auseinandersetzung durch die involvierten macht- und verteilungspolitischen Aspekte. Krisenhafte Entwicklungen und gewaltsame Konflikte entstehen meistens als Folge mehrerer sich überlappender Konflikte. Die involvierten Akteure spiegeln entsprechend vielschichtige Interessen wider. Gewaltsame Konflikte haben seit den 1990er Jahren aber nur dann längerfristig die Staatstätigkeit in Nordafrika und Nahost beeinträchtigt, wenn die Mobilisierung von Gewalt gegen den Staat und Teile der Bevölkerung bedeutete, daß bewaffnete Gruppe über einen Teil des Territoriums die Kontrolle erlangten72 oder der Konflikt in einen Bürgerkrieg mündete. So ist die Opposition, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den meisten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens politisches Handeln der Staatsführungen „stört“ und deswegen politisches Handeln stärker prägt, die Opposition der Islamisten, deren Spektrum über legale Parteien bis hin zu im Untergrund aktiven, bewaffneten Gruppen reicht; für die bewaffneten Gruppen ist Terror zur prägenden Aktionsform (und Kommunikationsform mit der Umwelt) geworden. Die Vehemenz, mit der sich Islamisten und identitär, religiös oder generell normativ nicht-islamistisch Verortete gegenüberstehen, erklärt sich aus der Überlagerung mehrerer Konflikte, bei denen es – verkürzt ausgedrückt – um die Durchsetzung von bestimmten Werten, identitären Aspekten und daraus resultierenden Ordnungsvorstellungen für Staat und Gesellschaft73 und um Macht- und Ressourcenzugang geht. 72 73 Wie z.B. 1993/94 bis 1999/2000 in Algerien; seither nahm die Mobilisierungskraft im Vergleich zu Anfang/Mitte der 1990er Jahre deutlich ab. Neben den verbesserten sicherheitspolitischen Instrumenten, die seit 2000/01 zum Einsatz kamen, haben zudem die fortgesetzten Morde auch an Zivilisten und schließlich die Selbstmordanschläge seit 2007 das Unterstützerumfeld der bewaffneten Gruppen drastisch ausgedünnt, so daß sich auch aus diesem Grund die kriminellen Aktivitäten zur materiellen Überlebenssicherung erhöhten. Inklusive der damit verbundenen Freund-Feind-Wahrnehmungen. Kapitel I : Staat und Opposition in Interaktion 61 Perspektiven Bei den innerstaatlichen Konflikten in Nordafrika und Nahost wird auch zukünftig der Konflikt um die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft zentral bleiben und die Auseinandersetzung vor allem mit Islamisten bestimmen. Als eine Sonderkategorie dieses Konflikts behält der Konflikt mit jenen islamistischen Gruppen mittelfristig Brisanz, die terroristische Mittel einsetzen und zum Teil eine Anbindung an den „internationalen Terrorismus“ (al-Qaida) reklamieren. Diese Gruppen formulieren keine konkreten politischen oder gesellschaftlichen Forderungen; sie zeichnen sich statt dessen durch eine engere Kooperation mit kriminellen Netzwerken aus. Interkonfessionelle Konflikte, die sich aus der Auseinandersetzung über die spezifische Rolle einer Konfession im Staate ergeben, können in diesem emotional aufgeladenen Konflikt um Werte, Identität, Macht und Ressourcenverteilung zu Pogromen und blutigen Auseinandersetzungen eskalieren. Bisherige Beispiele hierfür sind die Übergriffe auf Christen besonders im Irak, die Übergriffe von sunnitischen religiösen Extremisten auf Yeziden im Irak74 sowie die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, die sich gegenwärtig angesichts eines neuen schiitischen Selbstbewußtseins vor allem im Irak (und in Pakistan) manifestieren.75 Die zweitwichtigste Kategorie zunehmender innerstaatlicher Konflikte, die damit auch die zweitwichtigste Oppositionskategorie umfaßt, wird weiterhin von den Konflikten um „gerechte“ Beteiligung aller Bevölkerungssegmente an staatlichen Ressourcen, Entwicklungsmaßnahmen und wirtschaftlicher Entwicklung bestimmt. In dem Maße, in dem Teilregionen eines Staates nicht ausreichend von der Politik berücksichtigt werden, und sich ganze Bevölkerungsgruppen (wie Jugendliche oder bestimmte ethnische Gruppen) von politischen und sozioökonomischen Entwicklungen ausgeschlossen fühlen, wird es – wie verstärkt in den 74 75 Yeziden sind eine religiöse Minderheit, die von orthodoxen Muslimen nicht als Muslime anerkannt werden; zuletzt erfolgte am 14.8.2007 ein verheerender Bombenanschlag auf Yeziden in Jazira und Kahtaniya im nordirakischen Kurdengebiet. Vgl. Vali Nasr: The Shia revival: how conflicts within Islam will shape the future, New York 2006. 62 Staatlicher Umgang mit Opposition letzten Jahren – auch künftig unter diesen Bevölkerungsgruppen zu spontanen Protesten und Demonstrationen kommen, die zur (kurzfristigen) Gewalteskalation tendieren. Das heißt, die nordafrikanischen und nahöstlichen Staatsführungen werden sich mittelfristig vornehmlich mit islamistischer Opposition und sozialem Protestpotential auseinandersetzen müssen. Um den sozialen Konflikt abzumildern, der schnell in einen landesweiten Konflikt münden kann, werden die Staatsführungen die nächsten Jahre genötigt sein, die soziale und ökonomische Integration vor allem der Jugendlichen zu verbessern. Beide Konflikte, sowohl der Konflikt mit islamistischer Opposition als auch der Konflikt mit sozial Unzufriedenen, neigen dazu, wegen der emotionalen Aufladung der Konflikte in gewaltsame Konfrontationen zu münden. „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ Gewaltsame Opposition mit Zukunft ? Sigrid Faath 1. Problemdimension und Bedrohungspotential Seit Herbst 2007 häufen sich in den europäischen Medien Berichte über die Terrorgefahr, die von islamistischen Terrorgruppen, in erster Linie der Qaida im islamischen Maghreb (QIM),1 auf Europa ausgeht. Das französische Außenministerium nimmt Drohungen der QIM gegen westliche Bürger in Algerien „äußerst ernst“;2 Terrorismusexperten warnen wenngleich teilweise übertrieben – wie z.B. seitens Roland Jacquard – vor den kommenden Anschlagsgefahren, daß der Eindruck einer bevorstehenden Apokalypse entsteht.3 Aber auch der Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, hat im März 2008 im Gespräch mit Spiegel Special vor dem „Dschihad vor der Haustür“ gewarnt und darauf hingewiesen, daß nach Erkenntnissen des BND al-Qaida in Nordafrika einen neuen Stützpunkt aufgebaut habe, von dem aus sie nicht nur Anschläge in den Maghrebstaaten, sondern auch in Europa plane.4 Demgegenüber schwächte der algerische Diplomat Said Djinnit, der gegenwärtige Kommissar für Frieden und Sicherheit der Afrikanischen Union, die bestehende Terrorgefahr ab; diese existiere zwar, sei aber übertrieben, und die Presse in den Maghrebstaaten betont, daß allein durch Verkehrsunfälle im Maghreb weitaus mehr Personen ums Leben 1 2 3 4 Genauer: Munazzama Qa’ida al-jihad fi bilad al-maghrib al-islami. AFP, 21.9.2007 (France takes al-Qa’idah threat in North Africa „very serious“). So der algerische Journalist Benchenouf in www.algeria-watch.org, 5.1.2008 (Des spécialistes du terrorisme tirent la sonnette d’alarme: L’apocalypse est pour demain!). Details Spiegel online, Hamburg, 24.3.2008 (Dschihad vor unserer Haustür) oder z.B. Die Welt, Berlin, 25.3.2008 (BND warnt vor „Dschihad vor der Haustür“). Staatlicher Umgang mit Opposition 64 kommen (pro Jahr in Algerien und Marokko je rund 3.600-4.000 Personen) als durch Terroranschläge.5 Gibt es also tatsächlich ein größeres Bedrohungspotential islamistischen Terrors im Maghreb und wenn ja, wie ist es quantitativ und qualitativ einzustufen, welche Faktoren prägen es und welche Chancen einer Eindämmung bestehen? 2. Kontext Islamistische Gewaltakte sind im Maghreb kein neues Phänomen, sondern gehen bereits auf den Beginn der 1980er Jahre zurück, als in Nordalgerien verschiedene islamistische Gruppen, darunter als wichtigste die sogenannte Bouiali-Gruppe,6 zunächst Einzelaktionen durchführten, später den offen proklamierten bewaffneten Kampf gegen das in ihren Augen „unislamische“ Regime begannen und die Umsetzung einer islamistischen Konzeption in Staat und Gesellschaft durchsetzen wollten. Von der Bouiali-Gruppe führt letzten Endes ein direkter Weg über die Armée Islamique du Salut (AIS), die Groupes Islamiques Armés (GIA) und die Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat (GSPC) zur QIM. Die Ambition sowohl der für den legalen Weg an die Macht optierenden Islamisten als auch der gewaltbereiten islamistischen Gruppen ist die Ausrichtung des Staates an den Prinzipien des islamischen Rechts, der Scharia. Die militanten und gewaltbereiten islamistischen Gruppen im Maghreb stehen - 5 6 jeweils in einem historischen, länderspezifischen Kontext; sie wurden allerdings durch zwei extern bedingte Entwicklungen begünstigt, die praktisch als die zwei Hauptimpulse zu bezeichnen sind: die iranische Revolution von 1979 und die Rückkehr arabischer Afghanistankämpfer in ihre Heimatländer ab Beginn der 1990er Jahre. Vgl. z.B. www.algérie-dz.com, 17.4.2004 (Le «terrorisme routier» fait des ravages en Algérie) oder La Voix de l’Oranie, Oran, 9.4.2007 (Le terrorisme des routes). Zu den damaligen militanten Maßnahmen der Islamisten und den Kampfmaßnahmen der Gruppe um Mustafa Bouiali 1982-1987 vgl. Faath, Sigrid: Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre. Hamburg 1990, 730 S., hier S. 271-275. Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ - 65 Sie sind trotz der Mediendominanz der algerischen QIM seit 2007 in allen Staaten des Maghreb aktiv, wenngleich sich das Problem der bewaffneten Gruppen von Land zu Land unterschiedlich virulent gestaltet. Historischer Kontext Die Forderung nach einer Stärkung der Rolle des Islam in Staat und Gesellschaft resultiert aus dem Säkularisierungsprozeß, dem die Kolonie Algerien durch Frankreich zwischen 1830 und 19627 ausgesetzt war. Nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit wurde die Forderung nach einer Stärkung der arabisch-islamischen Identität deshalb zwangsläufig Teil der bis heute andauernden politischen Auseinandersetzung um den Stellenwert der Religion im Staate, wobei Hauptprotagonisten einer „Reislamisierung“ des algerischen Staates konservative Religionsgelehrte, in der arabisch-islamischen Tradition verhaftete FLN-Mitglieder und Anhänger eines rigiden Arabisierungskurses (zu Lasten des Französischen) waren; die sich seit den 1980er Jahren formierenden militanten Kämpfer für das Credo „Der Islam ist die Lösung“ waren dabei all jene, denen die staatlichen Maßnahmen nicht weit genug gingen und vor allem nicht schnell genug umgesetzt wurden. Konjunkturelle Entwicklung Die Persönlichkeiten und Bevölkerungsteile, die für eine stärkere Rolle des Islam in der Gesellschaft eintraten, wurden durch zwei Ereignisse wesentlich gestärkt. Das erste Ereignis war die Islamische Revolution im Iran 1979, die gezeigt hat, daß entsprechende Aktivitäten zu einem politischen Machtwechsel führen können. Der dadurch ausgelöste Motivationsschub für die islamistischen Gruppen in der arabischen Welt wurde von finanziellen Hilfen des revolutionären Iran und seiner Strategie des Revolutionsexports aktiv unterstützt. Hinzu kam die finanzielle Unterstützung islamistischer Vereinigungen und Gruppen mit saudi-arabi- 7 Diese Aussage gilt mutatis mutandis für die beiden anderen Maghrebstaaten Marokko und Tunesien, die während der französischen Protektoratszeit ähnlichen Säkularisierungsprozessen unterworfen waren; für Ägypten ist analog auf die britische Besatzungszeit und den damit verbundenen Modernisierungsprozeß zu verweisen, der sich nach der Unabhängigkeit 1922 fortsetzte. 66 Staatlicher Umgang mit Opposition schen Geldern (von denen z.B. der algerische Front Islamique du Salut profitierte). Das zweite Ereignis war der Erfolg der von mehreren Tausend arabischen Freiwilligen (den sogenannten Arabischen Afghanen) unterstützten afghanischen „Mujahidine“ im Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen (Abzug 1989) bzw. „gottlosen“ kommunistischen Najibullah-Regimes (Sturz April 1992), so daß ab Anfang der 1990er Jahre zahlreiche arabische Afghanen in ihre Heimatländer, im wesentlichen den Jemen, Ägypten, Libyen und Algerien, zurückkehrten, um dort für die Errichtung islamischer Staaten zu kämpfen. Der Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen islamistischen Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften in Ägypten, Libyen und vor allem Algerien besonders ab 1992 ist deshalb kein Zufall. Zwei weitere Entwicklungen haben die Rekrutierungsfähigkeit islamistischer Gruppen spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Washington und New York zusätzlich erhöht: zum einen der als „Kreuzzug gegen den Islam“ interpretierte Antiterrorkampf der USA und ihrer Verbündeten, in dessen Folge es zum Sturz der Taliban in Afghanistan im November 2001 und von Saddam Husain im Irak im Mai 2003 kam. Diese Interventionen der USA gaben dem Antiamerikanismus in islamisch geprägten Staaten deutlich Auftrieb. Die Forderungen gewaltbereiter islamistischer Gruppen zum Kampf gegen die mit „dem Westen“ verbündeten Staatsführungen in Nordafrika und Nahost hatten Resonanz.8 Kennzeichen dafür ist – analog zur Jihad-Mission arabischer Kampfwilliger in den 1980er Jahren in Afghanistan – der Aufbruch zahlreicher Islamisten aus den unterschiedlichsten arabischen Staaten in den Irak, um den dortigen Widerstand gegen die ausländischen Besatzungstruppen zu verstärken. Im westirakischen Sinjar wurden im September 2007 Rekrutierungsunterlagen gefunden, die zeigen, daß allein unter den von Sommer 2006 bis Sommer 2007 rund 700 neu eingetroffenen „Jihadisten“ u.a. 305 aus Saudi-Arabien, 137 aus Libyen (davon knapp die 8 Parallel dazu liefen die mehrfachen Aufrufe u.a. von Aiman Zawahiri zur Schädigung westlicher Interessen und zur Befreiung von Andalusien, Ceuta und Melilla von spanischer Herrschaft. Der Vorwurf der „Islamophobie“ des Westens wurde in den Augen nicht nur der Islamisten durch den sogenannten Karikaturenstreit bestätigt. Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 67 Hälfte allein aus dem ostlibyschen Darna), 43 aus Algerien und 36 aus Marokko (insgesamt 39 % aus Nordafrika) stammten.9 Zum anderen wurde die Bereitschaft zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes durch die schwierige sozioökonomische Situation in den nordafrikanischen Staaten unterstützt. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die fehlenden beruflichen Perspektiven10 erleichtern vielen jungen Erwachsenen die Entscheidung, sich an kampfbereite Gruppen anzuschließen.11 3. Sicherheitsherausforderung Die islamistischen Gruppen in den Maghrebstaaten stellen insgesamt wegen ihres engen Beziehungsgeflechtes untereinander (s.u.) nicht nur eine massive Sicherheitsbedrohung für die Staaten der Region, sondern auch die EU-Staaten und die südlichen Anrainerstaaten, also die Sahelstaaten Mauretanien, Mali und Niger dar. Die gegenwärtige Sicherheitsherausforderung umfaßt laut Anthony N. Celso (Professor am Vallery Forge Military College im US-amerikanischen Wayne) mindestens vier Einzelaspekte:12 1. das hohe Reservoir an kampfbereiten Mitgliedern in der QIM, aber auch den anderen Gruppen. Die Funktion der arabischen Afghanen der 1990er Jahre haben heute die Irak-Veteranen übernommen, die zu einem Großteil aus Algerien, Marokko und Libyen stammen und den Internationalismus der afghanischen Lager einschließlich der engen personellen transnationalen Netzwerkbildung fortsetzen. 9 10 11 12 Vgl. den „Sinjar-Report“ herausgegeben vom West Point Combating Terrorism Center: Al-Qai’da’s foreign fighters in Iraq; www.ctc.usma.edu/harmony/pdf/CTCForeignFighter.19.Dec07.pdf. Manche Jahrgänge der algerischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind bis zu 70 % von Arbeitslosigkeit betroffen; vgl. El Watan, Algier, 1.4.2008 (Le chômage touche 70 % des jeunes. Une explosion sociale se profile). Zyed Krichen von der tunesischen Wochenzeitschrift Réalités besteht allerdings darauf, daß der islamistische Terrorismus nicht das Produkt der sozialen Krise ist, sondern diese ihn nur erleichtert; vgl. Réalités, Tunis, 20.12.2007 (Le terrorisme et son terreau). Vgl. Celso, Anthony N.: Al Qaeda in the Maghreb: The “newest” front in the war on terror, in: Mediterranean Quarterly, Durham NC, Nr. 1, 2008, S. 80-96, hier S. 91 ff. 68 Staatlicher Umgang mit Opposition 2. die Tatsache, daß nach dem Vorbild der GIA und GSPC auch die QIM über materielle und personelle Beschaffungs- und Unterstützungsnetzwerke in europäischen Staaten mit größeren muslimischen Migrantengemeinden verfügt (u.a. Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, Großbritannien). 3. die bereits angesprochenen günstigen demographischen, sozioökonomischen und nicht zuletzt topographischen Rahmenbedingungen verbunden mit der engen Verflechtung krimineller und terroristischer Strukturen und Aktivitäten insbesondere im Sahelraum.13 4. die trotz aller in den letzten Jahren gemachten Fortschritte in der bilateralen Sicherheitskooperation auf horizontaler Ebene (zwischen den Maghrebstaaten) und vertikaler Ebene (Zwischen den Maghrebstaaten und EUStaaten sowie den USA) immer noch defizitäre Koordinierung einer gesamtmediterranen Sicherheitskooperation. Lassen sich zwar in einem der genannten Teilbereiche theoretisch kurzfristig Optimierungserfolge verzeichnen (wie z.B. bei einer Verbesserung der regionalen Sicherheitskooperation), so sind alle anderen Sicherheitsherausforderungen strukturell verankert und damit nur langfristig modifizierbar. Die fortgesetzte Existenz gewaltbereiter islamistischer Gruppen ist damit ein Faktor, der insbesondere von den Regierungen in den Maghrebstaaten bei allen innenpolitischen Überlegungen mitgedacht werden muß. 4. Die islamistischen terroristischen Gruppen im Maghreb Die im Maghreb operierenden und terroristische Gewalt einsetzenden islamistischen Gruppen haben eine unterschiedlich lange Geschichte und Bedeutung in den einzelnen Ländern. Algerien Nachdem in den 1990er Jahren der bewaffnete Kampf gegen den algerischen Staat primär vom bewaffneten Arm der Islamischen Heilsfront, der Armée Islamique du Salut (AIS) mit maximal bis zu 20.000 Kämp13 Vgl. International Crisis Group: Islamist terrorism in the Sahel: Fact or fiction?, in: ICG Africa report, Brüssel, Nr. 92. 31. März 2005, 42 S., bes. S. 18 ff. Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 69 fern zur Hochzeit ihrer Aktivitäten 1993-1995, und den extremeren unabhängig voneinander agierenden Groupes Islamiques Armés (GIA) geführt wurde, hat sich die Situation inzwischen deutlich verändert. Die AIS, die seit Herbst 1997 einen einseitigen Waffenstillstand einhält, willigte im Dezember 1999 in das staatliche Amnestieangebot ein.14 Die GIA waren nach internen Kämpfen und durch den massiven Verfolgungsdruck der algerischen Armee ab 1996/1997 deutlich geschwächt. Restbestände der GIA formierten sich im September 1998 unter der damaligen Führung von Hassan Hattab als Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat (GSPC) neu. Die GSPC gab ihr erstes Kommunique am 14. September 1998 heraus; zu ihrer Hochzeit bis Anfang der 2000er Jahre verfügte sie über rund 1.500 Kämpfer, die in zahlreichen lokalen Kampfkolonnen organisiert waren. Zu einem Zeitpunkt, als die GSPC durch die staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen und das von einigen Mitgliedern angenommene Angebot des Staates, durch freiwillige Niederlegung der Waffen von den Bestimmungen der „Charta zur nationalen Versöhnung“ zu profitieren (Sonderbestimmungen zur Haftverschonung oder Haftminderung für die zur Last gelegten Vergehen; Förderung der Reintegration in die Gesellschaft usw.) geschwächt war, wurden die Verlautbarungen ihrer Anführer radikaler. Im September 2006 gab GSPC-Führer Abdelmalek Deroukdal alias Abu Musab Abdelouadad schließlich den Anschluß an al-Qaida bekannt. Die GSPC nannte sich am 25. Januar 2007 in Organisation al-Qaida im islamischen Maghreb15 um, um eine gefestigte Beziehung zum globalen al-Qaida-Netzwerk16 auch im Namen zum Ausdruck zu bringen und vom Nimbus al-Qaidas zu profitieren. Zugleich erklärte sie sich zur Führungsorganisation all derjenigen islamistischen Terrorgruppen im Maghreb,17 die ihrerseits in 14 15 16 17 Die Generalamnestie für rund 7.000 Kämpfer der AIS trat am 10.1.2000 im Rahmen der Amnestiebestimmungen des Gesetzes zur „nationalen Eintracht“ vom 13.7.1999 in Kraft. Vgl. 70seitiges Dossier in www.algeria-watch.org, 22.9.2007 (Al-Qaida au Maghreb ou la très étrange histoire du GSPC). Vgl. Burke, Jason u.a.: Al-Qaida. Entstehung, Geschichte, Organisation. Düsseldorf 2005. Es gibt seit Sommer 2007 Berichte, daß al-Qaida auch in Ägypten erfolgreich unzufriedene Islamisten, u.a. aus der Muslimbruderschaft, rekrutiert haben soll. Das bedeutet nach Jahren der Ruhe und der Revision der Gewaltstrategie der Gruppen Staatlicher Umgang mit Opposition 70 Kontakt zu al-Qaida stehen. Celso nennt deshalb die QIM „a loose confederation united in a common ideology and generic cause“. Der algerische Zweig der QIM umfaßt nach wie vor mehrere Teilgruppen mit derzeit wahrscheinlich zwischen 600-800 Kämpfern, die allerdings trotz täglicher Verluste im Kampf gegen die Armee und Sicherheitskräfte (vgl. die Berichterstattung in der algerischen Tagespresse) auch neuen Zulauf durch amnestierte ehemalige Mitglieder bewaffneter Gruppen erhalten, die mit ihrer Situation unzufrieden sind oder sich nur eine „Kampfpause“ gönnten. Zulauf erhält die QIM aber auch von jüngeren Erwachsenen, die so versuchen, ihrer unbefriedigenden sozialen Lage zu entkommen. Marokko In Marokko hat die islamistische Bewegung, insbesondere geprägt von der von Scheich Yassine gegründeten Vereinigung al-adl wal-ihsan, eine bis in die 1970er Jahre zurückreichende Geschichte, wobei es immer wieder zu vor allem an den Universitäten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen überzeugten Islamisten und Linken, säkular eingestellten Studenten gab.18 Terroristische Aktivitäten islamistischer Gruppen sind hingegen ein jüngeres Phänomen, wobei die Serie von Bombenattentaten mit den Selbstmordanschlägen von Casablanca am 16. Mai 2003 begann. Zwei terroristische Gruppen, deren Ziel eine „islamische Revolution“ in Marokko ist, sind dabei ins Visier der marokkanischen Sicherheitsbehörden geraten, nicht zuletzt weil sie erfolgreich Mitglieder innerhalb der Streitkräfte19 werben konnten: - 18 19 Erstens die Salafiya Jihadiya, deren Gründungszeit auf Ende der 1990er Jahre datiert, als Einzelmitglieder nach einer Ausbildung in QaidaCamps in Afghanistan nach Marokko zurückkehrten; das schließt bereits Islamischer Jihad und al-Jamaca al-islamiya eine potentielle Gefahr für das Wiederaufleben bewaffneter Auseinandersetzungen und von Anschlägen in Ägypten; vgl. alAhram weekly, Kairo, 19.7.2007 (Better safe than sorry), al-Ahram weekly, 9.8.2007 (Al-Qaeda in Egypt?). Vgl. hierzu die Studie von Ben Elmostafa, Okacha: Les mouvements islamiques au Maroc. Leurs modes d’action et d’organisation, Paris 2007. Vgl. Terrorism Monitor, Washington D.C., 15.2.2007 (Islamist infiltration of the Moroccan Armed forces). Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ - 71 frühere Kontakte aus der Zeit der Präsenz arabischer Afghanen20 in Afghanistan nicht aus. Mitglieder dieses Zusammenschlusses von mehreren autonomen Gruppen werden von den marokkanischen Sicherheitsbehörden als die Urheber der Anschläge vom Mai 2003 bezichtigt. Zweitens die marokkanische Groupe Islamique du Combat Marocain (GICM; al-Jamaca al-muqatila al-islamiya al-maghribiya; Marokkanische kämpfende islamische Gruppe); Mitglieder der GICM sind die Urheber der Anschläge von Madrid am 11. März 2004.21 Die Kooperation beider Gruppen mit der QIM gilt angesichts des Widerstandes der marokkanischen Islamisten gegen einen von Algeriern angeführten regionalen bewaffneten Kampf als wenig wahrscheinlich.22 Die meisten Mitglieder beider Organisationen stammen aus sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppen.23 Dies war nach den Anschlägen vom Mai 2003 Anlaß für König Mohammed VI., die soziale Frage massiv politisch aufzuwerten und entsprechende Entwicklungsmaßnahmen in die Wege zu leiten, auch wenn diese nur langfristig Wirkung zeigen können. Kurzfristig blieb und bleibt kein anderer Weg als die internen Sicherheitsbehörden zu stärken und die Sicherheitskooperation mit den Nachbarstaaten und auf internationaler Ebene auszubauen. Ein Erfolg dieser verbesserten Sicherheitskooperation – in diesem Falle mit Belgien – war die Aushebung des sogenannten Belliraj-Netzwerkes24 am 18. Februar 2008 in Marokko. Die Aufdeckung dieses Netzwerkes verdeutlichte, daß es auch jenseits der beiden bekannten bewaffneten terroristischen Gruppen noch weitere, unabhängig agierende Gruppen in Marokko gibt. So ist die Gruppe um Belliraj seit ihrer Gründung 1992 in 20 21 22 23 24 Als Doyen der marokkanischen arabischen Afghanen gilt Ahmed Rafiki alias Abou Houdaifa; als Mitglied der Salafiya Jihadiya verbüßte er wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung 2003-2008 eine fünfjährige Haftstrafe; vgl. Telquel, Casablanca, Nr. 317, April 2008 (Portrait. Le doyen des „Afghans“). Führungsmitglieder der GICM wie Abdelaziz Benyaich oder Amer Azizi wurden nach dem Anschlag in Spanien verhaftet. Vgl. auch Terrorism Monitor, Washington DC, 10.12.2007 (Morocco’s resistance to regional jihad). Die meisten der Attentäter vom Mai 2003 stammten aus dem Bidonville Sidi Moumen im Umland von Casablanca. So genannt nach seinem Anführer Abdelkader Belliraj. 72 Staatlicher Umgang mit Opposition Tanger teilweise auch im kriminellen Milieu aktiv gewesen, verfügte aber auch über Kontakte zur GICM und zur algerischen GSPC.25 Libyen Die islamistische Opposition in Libyen weist angesichts der spezifischen Islampolitik von Revolutionsführer Qaddafi26 ein breites Spektrum auf und geht bis in die frühen 1970er Jahre zurück. Die Hauptphase militanter Aktionen zum Sturz des als „ketzerisch“ eingestuften Qaddafi-Regimes geht indes auf die 1990er Jahre zurück, als zahlreiche libysche Afghanen zurückkehrten und einerseits die bestehende Jamaca al-islamiya radikalisierten sowie andererseits zwei neue Kampforganisationen, die Harakat al-shuhada’ al-islamiya sowie die Jamaca al-islamiya almuqatila (Libyan Islamic Fighting Group/LIFG), gründeten. Die militante Phase (1992-1996) mit zahlreichen Anschlägen und Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften wurde durch die Anwendung massiver Repressionsmaßnahmen und die Verhaftung zahlreicher Mitglieder vor allem der LIFG zwangsberuhigt. Die Lage entspannte sich jedoch durch Verhandlungen insbesondere zwischen der Gaddafi Development Foundation Saif al-Islam Qaddafis und den inhaftierten LIFG-Mitgliedern soweit, daß Anfang April 2008 die ersten 90 Inhaftierten entlassen wurden.27 Die Verhandlungen machten deutlich, daß die LIFG über die Gewaltfrage gespalten ist in einen Flügel, der dem Einsatz von Gewalt als Mittel des politischen Konfliktaustrages abgeschworen hat, und in einen Flügel, dessen Mitglieder momentan im Irak kämpfen,28 im Untergrund oder im Exil leben, und die weiterhin auf Gewalt zum Sturz des libyschen Regimes nicht verzichten wollen. Der gewaltbereite Flügel der LIFG soll sogar am 3. November 2007 laut einer Erklärung von Aiman al-Zawahiri seinen Anschluß an al-Qaida bekannt gegeben haben.29 Der 25 26 27 28 29 Vgl. Details in Le Monde, Paris, 2.4.2008 (L’enquête sur le «réseau Belliraj» confirme le démantèlement d’un important groupe islamiste). Vgl. zum Hintergrund Mattes, Hanspeter: Qaddafi und die islamistische Opposition. Hamburg 1995. Vgl. www.middle-east-online.com, 9.4.2008 (Libya frees 90 members of Islamic group). Vgl. Terrorism Monitor, Washington DC, 30.6.2006 (Libyan fighters join the Iraqi jihad). AFP, 3.11.2007 (Un groupe islamiste libyen se rallie à Al-Qaida); Financial Times, London, 6.11.2007 (Libyan group boosts al-Qaeda in Africa); das LIFG-Gründungs- Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 73 von Libyen aus geführte Angriff auf den südalgerischen Flughafen von Djanet im November 2007 wird dieser Fraktion der LIFG zugeschrieben. Tunesien Die Entwicklung einer strukturierten islamistischen Organisation ist spätestens seit der Zerschlagung der Ennahda-Bewegung Anfang der 1990er Jahre Geschichte; diese der Repression geschuldete Entwicklung konnte indes Aktivitäten gewaltbereiter tunesischer Islamisten30 als Individuen oder autonome Kleingruppen mit Kontakten zur algerischen GSPC bzw. QIM nicht gänzlich unterbinden: Sowohl der Anschlag auf die Synagoge in Djerba am 11. April 2002 als auch die geplanten Anschläge tunesischer und weiterer maghrebinischer „Jihadisten“ auf Botschaften in Tunis, die nur durch die Aushebung der Gruppe im Dezember 2006/Januar 2007 in Soliman bei Tunis verhindert werden konnten, zeigen, daß trotz der verstärkten Sicherheitsvorkehrungen auch in Zukunft mit solchen (Einzel-)Aktionen gerechnet werden muß. Warnungen davor, daß Tunesien ein neues „Nest des radikalen Islam“ werden könnte,31 sind zwar übertrieben, doch ist richtig, daß zahlreiche Tunesier sich zum Kampf im Irak gemeldet haben bzw. sich dem Kampf der GSPC/QIM angeschlossen haben und auch ansonsten im internationalen „Jihadisten-Netzwerk“ eine wichtige Rolle spielen.32 Mauretanien Die sogenannte salafistische Bewegung Mauretaniens ist vor allem im Norden des Landes verankert und lehnt die 2006/2007 demokratisch gewählten staatlichen Instanzen als zu unislamisch ab; wenngleich die kampfbereiten mauretanischen Islamisten organisatorisch wenig strukturiert sind und als Organisation – anders als die algerische GSPC oder die 30 31 32 mitglied Nucman Ibn Uthman hat diesen Schritt in einem Interview in al-Hayat, London, 7.11.2007 verurteilt. Einschließlich des Kampfeinsatzes im Irak; im Sinjar-Report (a.a.O, Anm. 9) sind rund 30 Tunesier gelistet. Vgl. www.mediapart.fr, 20.3.2008 (La Tunisie, nouveau nid de l’Islam radical?); das heißt andererseits nicht, daß in der maghrebinischen Presse nicht die Probleme erkannt werden. Es wird vielmehr durchaus konstatiert, daß der Maghreb gegenwärtig eine „Zone der Turbulenzen“ darstellt (L’Expression, Rabat, 10.4.2008). So war einer der Koordinatoren des Anschlages von Madrid am 11.3.2004 der Tunesier Serhane Ben Abdelmajid Fakhet. 74 Staatlicher Umgang mit Opposition libysche LIFG – bislang keine Anschlußerklärung gegenüber al-Qaida abgegeben haben, so ist angesichts der engen Kooperation mit der GSPC/QIM der Qaida-Einfluß vorhanden.33 Die von mauretanischen Islamisten verübten Anschläge auf Militäreinrichtungen34 oder Touristen35 entsprechen zudem der gegenwärtigen Qaida-Strategie. Angesichts materieller Autonomie (Erpressung von Schutzabgaben im Wüstenverkehr; Involvierung in Drogen- und Zigarettenschmuggel) und der schwierigen Topographie sind die mauretanischen bewaffneten islamistischen Gruppen sicherheitspolitisch nur schwer zu bekämpfen.36 Über welch gute innermauretanische Unterstützung diese verfügen, zeigt die Existenz eine Bombenbauwerkstatt mitten in Nouakchott, die im April 2008 nur durch Zufall entdeckt wurde.37 Hauptakteur und Koordinationsinstanz ab 2007: Qaida des islamischen Maghreb Die QIM ist als islamistischer Akteur in einem doppelten Sinn zu verstehen: Zum einen ist die QIM das Synonym für die internationalistische Weiterentwicklung der algerischen GSPC, zum anderen ist QIM der Oberbegriff für die neu formierte lose maghrebinische Qaida-Koordinierungsinstanz, die durch die algerische Ex-GSPC dominiert wird, gleichzeitig jedoch gezielt eine Kooperation und Koordination mit anderen islamistischen Gruppen in Mauretanien, Marokko, Libyen und Tunesien anstrebt.38 Diese Entwicklung wiederum ist ihrerseits eine Reaktion auf die organisatorischen und ideologischen Probleme, die nach dem 11. September 2001 für al-Qaida entstanden sind. Der mit dem Sturz der Taliban im November 2001 einhergehende Verlust der Operationsbasis 33 34 35 36 37 38 Vgl. Terrorism Focus, Washington DC, Nr. 24, 24.7.2007 (Mauritania’s vulnerability to al-Qaeda influence); Jeune Afrique, Paris, 6.1.2008 (Mauritanie: Le spectre d’alQaida au Maghreb). Es handelt sich um den Anschlag in Lemgheity vom 4.6.2005, bei dem 17 Soldaten getötet wurden, und um den Anschlag in al-Ghawalliya am 27.12.2007, bei dem drei Soldaten getötet wurden. Bei Aleg wurden am 24.12.2007 vier französische Touristen getötet. Vgl. Points Chauds, Nouakchott, 12.1.2008 (La Mauritanie, Al-Qaida et les autres). Details AP, 8.4.2008 (Découverte d’un laboratoire de fabrication d’explosifs lié à AlQaida). Vgl. Rabasa, Angel u.a.: Beyond al-Qaeda. The global Jihadist movement, Santa Monica 2006 (Rand), Band 1, besonders Kapitel 6 (The al-Qaeda nebula), S. 73 ff. sowie Schaubild S. 8 (The terrorist nebula and regional clusters). Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 75 und des „safe haven“ Afghanistan sowie die damit verbundene Störung des zentralen Kommandowesens der Qaida einschließlich des durch Usama Ibn Ladin gesteuerten Rekrutierungs- und Ausbildungswesens machte es zwangsläufig notwendig, diese Aufgaben an affiliierte QaidaGruppen zu übertragen. Das Scheitern der algerischen bewaffneten Gruppen, in den 1990er Jahren das Regime zu stürzen und durch eine islamische Ordnung zu ersetzen, hat wiederum die GSPC veranlaßt, mit der Internationalisierung ihrer Strategie neue Impulse auszusenden, um ihre Attraktivität zu erhöhen, so daß Celso zurecht schreibt: „The inability of the North African Salafists to overthrow any government in the Maghreb, moreover, requires the commissioning of a cause that could give them new life. The crossfertilization of al Qaeda and North African Salafists is a mutually beneficial arrangement designed to compensate for past failures.”39 Seine Einschätzung, daß die Union von al-Qaida mit den nordafrikanischen Salafisten ein Symbol islamistischer Macht darstelle, scheint jedoch übertrieben, denn weder haben die islamistischen Teilgruppen aufgehört, nach nationalen Interessen zu agieren, noch ist die GSPC/QIM angesichts fortbestehender regionaler Animositäten in einer so „marktbeherrschenden“ Lage, daß sie effektiv als zentrale Koordinationseinheit im Maghreb angesehen würde, der man die „Baica“ (Loyalitätshuldigung) entgegenbringt. 5. Handlungspotential der Qaida im islamischen Maghreb Die Ausführungen des vorausgehenden Abschnittes haben gezeigt, daß die Fähigkeit der QIM (algerischer Zweig und der affiliierten Zweige der Nachbarstaaten) zum Handeln je nach Land unterschiedlich ist. Die Handlungsmargen werden zudem in allen Ländern durch die massiven staatlichen Sicherheitsvorkehrungen begrenzt. Dennoch reichte selbst das limitierte Handlungspotential bislang stets aus, um das für Anschläge notwendige Personal zu rekrutieren und den Finanz- und Waffenbedarf 39 Celso, a.a.O. (Anm. 12), S. 81. 76 Staatlicher Umgang mit Opposition inklusive Sprengstoff40 zu decken. Die von den terroristischen islamistischen Gruppen umgesetzte Strategie der Herausforderung des Staates ist allerdings nur noch rhetorisch mit der politischen Vision der Umsetzung des islamischen Gesellschaftsprojektes verbunden41 und ohne generelle Mobilisierungskraft. Mitglieder Die Anzahl der in den Maghrebstaaten aktiven Mitglieder bewaffneter islamistischer Gruppen mit oder ohne Qaida-Anbindung und die Mitgliederstärke der jeweils zugehörigen Unterstützungsnetzwerke sind nur sehr schwer zu bestimmen. Folglich variieren auch die kursierenden quantitativen Angaben stark. Sicher ist nur, daß meisten gewaltbereiten Islamisten sich auf algerischem Territorium befinden, wenn auch nicht alle aus Algerien selbst stammen, sondern – so die erkennbare Tendenz Anfang 2007 – oft malische, mauretanische, nigrische und vereinzelt sogar tschadische Staatsbürger sind. Zählen sie in Algerien nach Hunderten (ungesicherte Angabe: rund 600-800), ist in Marokko, Mauretanien sowie in Tunesien und Libyen eher nur von Dutzenden auszugehen. Offenkundig ist aber, daß es den Gruppen immer wieder gelingt, frühere Aktivisten für den Kampf zurückzugewinnen (wie in Algerien einzelne Kämpfer, die von dem Amnestieangebot der Staatsführung Gebrauch gemacht hatten), und zum anderen Kinder und jüngere Erwachsene neu zu rekrutieren,42 wobei hier die prekären sozialen Verhältnisse und der Haß auf den „korrupten Staat“ eine große Rolle spielen. Hinzu kommen überwiegend algerische Irakkämpfer, die 2007/2008 aus dem Irak zurückkehrten und zu den bewaffneten islamistischen Gruppen stießen. Aber auch die Präsenz zahlreicher Internetseiten, die Aktionen der bewaffneten islamistischen Gruppen verherrlichen, und die gleichfalls Ge- 40 41 42 Dies wird indes immer schwieriger, da die Kontrollen verschärft werden und die algerische Regierung selbst den Verkauf von Dünger seit 2008 scharf reglementiert; vgl. La Tribune, Algier, 20.10.2007 (Cinq Mauritaniens présumés proches d’Al Qaida Maghreb sont impliqués dans l’achat d’explosifs). Vgl. Magharebia.com, 18.4.2008 (La justification religieuse échappe aux leaders d’al-Qaida au Maghreb). Vgl Bericht in Liberté, Algier, 12.2.2008 (Révélations sur les réseaux logistiques: quand le GSPC recrute des cadres); L’Expression, Algier, 25.2.2008 (Al Qaida prépare la nouvelle génération des djihadistes: elle recrute des enfants). Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 77 walt verherrlichenden Predigten einiger Imame, die trotz verbesserter staatlicher Kontrolle des religiösen Bereichs immer noch Einfluß nehmen, spielen für die Rekrutierungsfrage eine wichtige Rolle, indem sie ein günstiges Umfeld vorbereiten.43 Finanzierung und kriminelle Aktivitäten Die Struktur der Finanzierungsquellen veränderte sich in Algerien seit den 1990er Jahren signifikant; waren es früher neben den Spendensammlungen unter Mitgliedern einschließlich der entsprechenden Netzwerke unter den Diasporagemeinden in Europa oftmals Geldspenden aus den Golfstaaten, die den Weg zu den islamistischen Organisationen und den bewaffneten Gruppen fanden, so hat sich als Folge der eingetretenen inneralgerischen Entwicklung (Politik der nationalen Versöhnung seit 1999) und der verschärften nationalen und internationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Terrorfinanzierung die Finanzlage der islamistischen Gruppen deutlich verschlechtert. Von Seiten der QIM kam es deshalb im März 2008 sogar zu dringenden Spendenaufrufen.44 Resultat dieser seit Anfang der 2000er Jahre feststellbaren Verknappung finanzieller Ressourcen war in Algerien der sukzessiv verstärkte Rückgriff auf kriminelle Methoden der Ressourcensicherung; je nach regionalem Operationsgebiet (urban, rural, saharisch) umfassen diese Methoden Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Überfälle auf Tankstellen usw. sowie besonders in der Kabylei Entführungen zur Lösegelderpressung. Entführungen bezogen sich nicht nur auf reiche lokale Bürger, sondern auch auf ausländische Touristen wie im März 2003 die Entführung von 31 Touristen in der algerischen Sahara oder wie zuletzt im Falle der beiden österreichischen Touristen, die am 28. Februar 2008 in Südtunesien (Grenzgebiet zu Algerien) entführt wurden (Lösegeldforderung von 5 Mio. €). Die Grenzen zwischen Terrorismus und organisierter Kriminalität waren/sind dabei fließend.45 43 44 45 L’Economiste, Casablanca, 7.2.2008 (Des vidéos d’enfants enrôlés par Al-Qaida sur le net); laut einem saudi-arabischen Wissenschaftler sollen derzeit rund 5.600 URLs die Ideologie der Qaida/Usama Ibn Ladins und der Untergruppen im Internet propagieren. Details El-Khabar, Algier, 9.3.2008 (Finanzielle Nöte). Vgl. zu Marokko Terrorism Focus, Washington DC, 4.3.2008 (Morocco charges cooperation between terrorists and organized crime). 78 Staatlicher Umgang mit Opposition Operationsraum Der ehemals großräumige und über weite Gebiete zusammenhängende nordalgerische Operationsraum der AIS, GIA und GSPC in den 1990er Jahren ist durch das massive Vorgehen der algerischen Armee gegen die bewaffneten Gruppen stark eingeschränkt worden mit der Folge, daß die QIM ihre ursprünglichen neun „Kampfzonen“ in Algerien auf nur noch vier reduzieren mußte. Der heutige Operationsraum der QIM erstreckt sich primär auf die Große Kabylei (um Tizi-Ouzou, Boumerdès) – als die gegenwärtig aktivste Kampfzone – und die Kleine Kabylei (Region um Jijel) sowie auf vereinzelte Inseln/Rückzugsgebiete in Ost- und Westalgerien.46 Zusätzlich ist der Sahararaum und die Kooperation mit Tuareg im Visier der QIM, wobei der Waffennachschub und die Involvierung in den Schmuggel zur Generierung von Einnahmen im Mittelpunkt stehen. Seit 2007 (im Zusammenhang mit der Umbenennung von GSPC in QIM) versucht die QIM verstärkt die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zu ziehen; die Art der Anschläge (verstärkt Selbstmordschläge) ist seither darauf abgestimmt; zudem ist die Hauptstadt Algier seit April 2007 (erster Anschlag 11. April Anschlag auf den Amtssitz des Regierungschefs; 33 Tote) verstärkt Zielscheibe von Operationen (Bombenanschlägen) geworden. Der letzte spektakuläre „Kamikaze“-Bombenanschlag erfolgte am 11. Dezember 2007 auf das Höchste Gericht und ein UNO-Gebäude in Algier. In den anderen Maghrebstaaten sind die Operationsräume mit Ausnahme Mauretaniens lokal begrenzt. In Libyen sind derzeit keine Aktivitäten islamistischer Gruppen nachgewiesen,47 in Tunesien bietet der Großraum Tunis noch die besten Unterschlupfmöglichkeiten (wie die Aushebung der bewaffneten Gruppe in Soliman bei Tunis zeigt); gleiches gilt für Marokko, wo bislang der Großraum Casablanca Hauptoperationsgebiet der GICM ist. Lediglich in Mauretanien sind Anschläge sowohl aus dem Nordosten und dem Süden des Landes sowie aus dem Großraum Nouakchott gemeldet. Diese großräumigere Gefahrenlage in 46 47 Anfang 2008 zählt die Organisation vier „Kampfzonen“: Zone 1 Kabylei (Boumerdès, Tizi-Ouzou, Bouira), Zone 2 Ostalgerien (Tebessa, Skikda, Jijel, Annaba, Batna), Zone 3 Süd (Djelfa, Laghouat, Südalgerien) und Zone 4 Zentrum-West (Médéa, Tipaza, Blida). Die Anschläge der 1990er Jahre konzentrierten sich zum Großteil auf die Cyrenaika. Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 79 Mauretanien hat nicht nur zur Absage der Rallye Paris-Dakar geführt, sondern auch einen deutlichen Rückgang der Touristen (von 18.000 auf 6.000 Touristen in der Saison 2007/2008) zur Folge gehabt. Terroristische Aktionen Die terroristischen Aktionen der islamistischen Gruppen im Maghreb sind je nach lokaler Situation und politischem Umfeld unterschiedlich ausgeprägt. Ob Angriffe auf Erdölinstallationen, Selbstmordanschläge auf staatliche Einrichtungen oder Polizei- und Militärangehörige,48 Angriffe auf Imame, die Gewalt verurteilen, oder Entführungen von Touristen stattfinden, hängt von verschiedenen Kontextbedingungen ab. Zu diesen gehören der Bedarf an Finanzmitteln und Waffen der jeweiligen Gruppe, das Anliegen, zur Sicherung des Fortbestandes (Zulaufs) Stärke und Präsenz (Schlagkraft) zu zeigen, aber auch die Umsetzung von Qaida-Direktiven. Hierzu zählen insbesondere die Aufrufe von QaidaFührungsmitglied Aiman al-Zawahiri u.a. vom Sommer 2007, gegen die französischen Interessen im Maghreb zu kämpfen, vom November 2007 kurz vor der Reise des spanischen Königs Juan Carlos nach Ceuta und Melilla in Nordmarokko, als Protest Anschläge in den beiden „islamischen Territorien“ zu verüben, oder die Aufrufe al-Zawahiris vom Februar 2008, Christen und Juden im Maghreb anzugreifen, deren Interessen dem Islam schaden.49 Die Schädigung von Erdölinstallationen,50 die Entführung von Touristen oder Anschläge auf Touristeneinrichtungen51 bzw. von Zielen, die auf dem touristischen Pflichtprogramm stehen (wie die Synagoge auf Djerba) oder Anschläge auf ausländische Einrichtungen zählen wegen 48 49 50 51 Jüngstes Beispiel aus Algerien ist der Selbstmordanschlag auf das Polizeikommissariat von Naciria am 2.1.2008 (sechs Tote, 25 Verletzte); weitaus mehr Tote (22 Tote) forderte am 8.9.2007 der Selbstmordanschlag auf die Kaserne von Dellys östlich Algier. Zu den Anschlägen bekannte sich jeweils die QIM. Vgl. z.B. Terrorism Focus, Washington DC, 7.8.2007 (AQIM renews its threats against France), L’Economiste, Casablanca, 5.2.2008 (Al-Qaida: Appel à attaquer juifs et chrétiens au Maghreb). Vgl. Terrorism Monitor, Washington DC, 21.6.2007 (Islamist terrorism and energy sector security in Algeria). Vgl. als Beispiel Terrorist Monitor, Washington DC, 7.6.2007 (AQIM’s threat to Morocco’s tourism sector); Le Monde, Paris, 13.3:2008 (Al-Qaida met en garde les touristes en Tunisie). 80 Staatlicher Umgang mit Opposition der damit verbundenen schädlichen volkswirtschaftlichen Auswirkungen zu den prioritär angestrebten Zielen terroristischer Aktion. 6. Staatliche Gegenmaßnahmen Die staatlichen Sicherheitsbehörden haben auf nationaler Ebene – dem Credo der Staatsführungen folgend, gegen den Terrorismus mit aller Härte vorgehen zu wollen – auf die Gewaltakte der islamistischen Gruppen in allen Maghrebstaaten in erster Linie mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen (u.a. Aufstockung und Schulung des Personals; Verbesserung der Bewaffnung) und mit einer Ausdehnung der Verfolgungsmaßnahmen reagiert. Hinzu kam eine verbesserte Grenzüberwachung (u.a. in Nordmauretanien und an der algerisch-tunesischen Grenze), um grenzüberschreitende Bewegungen von Kämpfern und Nachschub zu unterbinden. Insbesondere die algerische Armee hat mit Anpassungen der Antiterrorstrategie und mit größeren Militäraktionen in der Kabylei und Ostalgerien den Operationsraum der islamistischen Gruppen einzugrenzen versucht – längst nicht immer erfolgreich, wie die Kritik von Generalstabschef Gaid Salah vom Februar 2008 erkennen läßt.52 Hinsichtlich der Rekrutierung neuer Sicherheitskräfte war dabei die Entwicklung in Algerien am ausgeprägtesten, wo in den 1990er Jahren zeitweise nicht nur Hunderttausende von lokalen Hilfskräften (die Groupes de Défense Légitime/GDL) bewaffnet wurden, sondern auch die regulären Polizeikräfte deutlich aufgestockt wurden, wobei dieser Prozeß immer noch nicht abgeschlossen ist, sollen doch nach Angaben von Innenminister Zerhouni vom April 2008 bis 2010 weitere 75.000 Polizisten zum Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität neu eingestellt werden.53 Dazu wurden die jährlichen Ausbildungskapazitäten von 6.000 auf 15.000 Polizisten pro Jahr ausgeweitet. Analog zu den Sicherheitsbehörden haben die Justizbehörden der Maghrebstaaten – teilweise auf der Basis verschärfter gesetzlicher Strafbestimmungen oder neu ver52 53 Vgl. El Khabar, Algier, 16.2.2008 (Gaid Salah critique les commandants des secteurs militaries de l’est). Vgl. Details La Tribune, Algier, 12.4.2008 (75000 nouveaux policiers à l’horizon 2010). Kapitel I : „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ 81 abschiedeter Antiterrorgesetze – gefaßte islamistische Gewalttäter zu hohen Haftstrafen (oftmals lebenslänglich wie die Soliman-Attentäter in Tunesien oder langjährigen Haftstrafen) verurteilt. Die nationalen Einzelmaßnahmen wurden schließlich durch ein ganzes Set von Kooperationsmaßnahmen mit regionalen oder auch internationalen Akteuren der Terrorismusbekämpfung ergänzt; hierzu gehörte in erster Linie ein verbesserter Datenaustausch mit Sicherheitsbehörden in den USA, aber auch Frankreich, Belgien, Spanien, Deutschland und selbst Rußland. Die bevorstehende Eröffnung eines FBI-Büros in der algerischen Hauptstadt ist nur die sichtbare Spitze einer inzwischen engen Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Trotz der Blockade der Arabischen Maghreb-Union seit 1994 und teilweise bilateralen politischen Spannungen (wie zwischen Algerien und Marokko) kam es auch auf maghrebinischer Ebene, bilateral oder im Rahmen z.B. von 5+5-Treffen, zu einer intensivierten Sicherheitskooperation.54 Was indes noch aussteht, aber in den Medien gefordert wird, ist die Gründung eines maghrebinischen Sicherheitsrates.55 Zusätzlich ist eine breite Berichterstattung zum Terrorismuskomplex in den maghrebinischen Medien und die Sensibilisierung der Bevölkerung festzustellen, die heute in allen Maghrebstaaten in ihrer Mehrheit – anders als z.B. in Algerien in den 1990er Jahren – Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ablehnt. So widmeten sich in den letzten Jahren zahlreiche Konferenzen der Optimierung der Terrorbekämpfung56 und selbst die Medien57 sowie die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen58 sind zunehmend in einen Reflektionsprozeß eingetreten, welchen 54 55 56 57 58 Jüngstes Beispiel sind die Gespräche des libyschen Kommandeurs Hauptmann Khamis al-Qaddafi mit dem algerischen Generalstabschef Gaid Salah; vgl. El Watan, Algier, 26.3.2008 (Algérie-Libye: La situation au Sahel au menu des discussions). Al Bayane, Rabat, 28.12.2007 (Un Conseil de Securité Maghrébin, tout au moins!). Exemplarisch sei auf die afrikanisch-arabische Konferenz zur Terrorbekämpfung vom 2.-4.4.2008 in Algier hingewiesen; Algier ist auch Sitz des Centre Africain d’Etude et de Recherche sur le Terrorisme (CAERT). So waren im März 2008 in Nouakchott Journalisten aus allen Maghrebstaaten versammelt, um zu diskutieren, wie angemessen über terroristische Vorfälle berichtet werden soll, ohne sich von den Terrorgruppen instrumentalisieren zu lassen oder Unruhe in der Bevölkerung zu schüren. Am 22.3.2008 hat so z.B. die algerische Organisation Nationale des Victimes du Terrorisme ihr erstes internationales Symposium abgehalten, um über das entspre- Staatlicher Umgang mit Opposition 82 Beitrag sie leisten können, um das Phänomen des „islamistischen Terrorismus“ eindämmen zu helfen. Perspektiven Der Terrorismus wird in allen Maghrebstaaten trotz aller oben kurz skizzierten staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen und der Aktivierung der Zivilbevölkerung sowie einer breiten internationalen Kooperation u.a. mit den USA, Frankreich und den Nachbarstaaten auch in den nächsten Jahren existieren, weil sich die Kontextbedingungen, die für die Entstehung terroristischer Aktivitäten förderlich waren, in den letzten Jahren nicht strukturell veränderten; selbst wenn gegenwärtig Entwicklungen wie in den 1990er Jahren – also ein Massenzulauf zu islamistischen Kampfgruppen nach dem Vorbild der AIS zum Sturz des Regimes – auszuschließen sind, so wird das Phänomen islamistischer Gewalt- und Terrorakte auch in Zukunft anzutreffen sein, wird immer wieder mit gezielten Bombenanschläge auf staatliche Einrichtungen und Politiker (analog dem Terrorismus der ETA in Nordspanien) sowie Entführungen zur Erpressung von Lösegeld zu rechnen sein. Es gilt nach wie vor, was bereits September 2001 der algerische Präsidentenberater General Larbi Belkheir feststellte, daß nämlich die Anschläge in den nächsten Jahren dann anhalten werden, wenn es nicht gelingt, durch eine deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage das Nachwuchsreservoir für die terroristischen Gruppen auszutrocknen. Eine langfristige Besserung wird es also in der Tat nur in dem Maße geben, in dem die strukturellen Defizite der maghrebinischen Gesellschaften überwunden werden. Positiven Ansätzen in Tunesien und Marokko steht hier aber die momentane Blockade in Algerien gegenüber. chende Thema (Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Terrorismus) zu beraten. Kapitel II Reform und Repression in Ägypten: Der Umgang mit Opposition in Zeiten des Herrschaftstransfers Florian Kohstall 1. Opposition in autoritären Systemen Wie in den meisten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens hat in Ägypten die Opposition einen schweren Stand. Eine Opposition im Sinne einer politischen Gruppierung, mit dem (verfassungsrechtlich verbrieften) Recht, auf legalem Wege die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, existiert nicht.1 Trotz dieser Einschränkung wäre es falsch, von der Abwesenheit politischer Opposition auszugehen. Neuere Forschungstendenzen gehen von einem sehr weiten Oppositionsbegriff aus und schreiben der politischen Opposition in autoritär regierten Staaten eine Reihe von Funktionen zu. Oppositionsparteien dienen der Interessenaggregation, selbst wenn ihnen der Zugang zur Macht verwehrt ist. Dadurch nehmen sie indirekt Einfluß auf das Regierungshandeln. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler William Zartman spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise von einer Ghostwriter-Funktion der Oppositionsparteien.2 Schließlich verleiht die Existenz von Oppositionsparteien den autoritären Herrschaftssystemen des Nahen und Mittleren Ostens ein „pluralistisches Antlitz“, das gerade in Zeiten verstärkter Demokratieförderung 1 2 Lediglich im Libanon, im Iran und neuerdings in Palästina ist es bisher einer Partei gelungen, durch Wahlen die Macht zu übernehmen. In allen anderen Ländern kam es zu einem Machtwechsel entweder durch Putsch, dynastische Nachfolge oder ausländische Intervention. Zartman, William I.: Opposition as support of the state, in: Dawisha, Adeed/Zartman, William I. (Hrsg.): Beyond coercion. The durability of the Arab state, London u.a. 1988, S. 61-87. 84 Staatlicher Umgang mit Opposition von erheblicher Bedeutung für das Ansehen der stark von ausländischer Unterstützung abhängigen Regime ist. Damit ist bereits eines der zentralen Dilemmata angedeutet, das den Umgang des Staates mit Opposition in Ägypten derzeit kennzeichnet. Wie viel politischer Pluralismus ist in einem autoritären Herrschaftssystem, das den Zugang der Opposition zur Macht grundsätzlich ausschließt, möglich? Wie kann sich politische Opposition unter der Voraussetzungen autoritärer Herrschaft organisieren und sich auf Dauer Freiräume erschließen? Welche Mittel des Protests stehen zur Verfügung und welche Mittel wendet der Staat an, wenn sich der Protest gegen die bestehende Herrschaftsordnung richtet? Im vorliegenden Beitrag werden zunächst zentrale Faktoren, die das Verhältnis zwischen Staat und Opposition im spezifisch ägyptischen Kontext kennzeichnen, diskutiert. Der Handlungsspielraum der Opposition ist traditionell stark eingeschränkt, gleichzeitig läßt sich in den vergangenen Jahren ein Umbau des politischen Systems beobachten, der sich auch im Umgang des Staates mit Opposition niederschlägt. Vor dem Hintergrund der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2005 wird dann im zweiten Kapitel ein Profil oppositioneller Akteure erstellt. Die Wahlen sind einerseits Ausdruck dieses sich abzeichnenden Umbaus des politischen Systems, gleichzeitig spiegeln sie die jüngere Entwicklung der Opposition wider. Bei der Beschreibung der einzelnen Akteure wird sowohl auf die Frage der Militanz als auch auf den Umgang des Staates mit diesen Akteuren eingegangen. Im dritten Kapitel werden schließlich staatliche Strategien zur Eindämmung von Opposition erörtert. 2. Der Umgang des Staates mit Opposition: Konstanten und konjunkturelle Faktoren Das Verhältnis zwischen Staat und Opposition in Ägypten ist grundsätzlich von Konstanten bestimmt, die man auch als Systemparameter bezeichnen kann. Wie die meisten Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas verfügt die formal als Republik bezeichnete Arabische Republik Ägypten über ein autoritäres Herrschaftssystem. Der Präsident ist nicht Kapitel II : Ägypten 85 nur mit sehr weit reichenden Machtkompetenzen ausgestattet, sondern sein Amt ist vom politischen Wettbewerb bisher ausgeschlossen. Trotz der Einführung eines Mehrparteiensystems 1976 basiert das System auf einer Quasi-Einparteienherrschaft durch die regierende National Demokratische Partei (NDP; Hizb al-watani). Außerdem gilt in Ägypten ein seit 1981 bestehendes Notstandsgesetz. Diesen Konstanten stehen in jüngerer Vergangenheit vor allem zwei konjunkturelle Faktoren gegenüber, die zu einer punktuellen Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Opposition geführt haben. Eine Variable ist zunehmender Demokratisierungsdruck, der seit dem 11. September 2001 gerade von den USA artikuliert wird. Die zweite Variable ist die Frage des bevorstehenden Herrschaftstransfers (tawrith al-sulta), die zunehmend die öffentliche Debatte bestimmt und als essentielle Herausforderung für das bestehende Regime beschrieben werden kann. Beide Faktoren haben in den vergangenen Jahren zu einer Belebung des politischen Protests geführt, sind aber keinesfalls Garanten für eine Demokratisierung des Verhältnisses zwischen Staat und Opposition. 2.1. Notstandsgesetzgebung und Antiterrorgesetz Das nach der Ermordung von Staatspräsident Anwar El Sadat 1981 erlassene Notstandsgesetz verbietet grundsätzlich politische Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen. Es räumt den Behörden die Möglichkeit ein, Zeitungen und Bücher zu zensieren. Politische Gegner können ohne Anklage verhaftet und von Militärgerichten verurteilt werden. Damit setzt das Gesetz verfassungsrechtlich garantierte Rechte und Freiheiten außer Kraft3 und stellt ein direktes Hindernis für die Ausübung politischer Opposition dar. Das Gesetz wurde bisher zum letzten Mal im April 2006 mit der Begründung einer anhaltenden Terrorgefahr verlängert. Tatsächlich forderten Attentate im Badeort Dahab im selben Monat mehr als 19 Menschenleben. Beobachter gehen jedoch davon aus, daß die Attentate lediglich als Vorwand dienten, um weiterhin mit harter Hand gegen die 3 Zu den einzelnen Bestimmungen des Gesetztes und den in der Verfassung verankerten Rechten, die damit außer Kraft gesetzt werden, vgl. hierzu beispielsweise: http://www.fidh.org/spip.php?article1397, letzter Zugriff: 15.3.2008. 86 Staatlicher Umgang mit Opposition politische Opposition vorgehen zu können.4 So läuft derzeit beispielsweise ein Verfahren gegen 40 Mitglieder der Muslimbruderschaft, denen wegen terroristischer Aktivitäten und Geldwäsche im April 2008 der Prozeß vor einem Militärgericht gemacht werden soll. Bei den Angeklagten handelt es sich unter anderem um Unternehmer, deren Nähe zur Muslimbruderschaft das Regime aufgrund der damit einhergehenden Ressourcen für die Organisation besonders kritisch beurteilt.5 Der Tatbestand der „Gefährdung der staatlichen Sicherheit“ durchzieht weite Teile des öffentlichen Lebens und findet auch in Gesetzen Anwendung, die nicht direkt im Zusammenhang mit dem Notstandsgesetz stehen. So erweitert beispielsweise eine Novelle des Parteiengesetztes, die im Juni 2005 im Vorfeld der Parlamentswahlen verabschiedet wurde, die Kompetenzen des Komitees politischer Parteien. Diese von der NDP kontrollierte Instanz hat die Möglichkeiten, politische Parteien zu verbieten, wenn dies im „nationalen Interesse“ ist. Eine gleichzeitige Novelle des Gesetzes über politische Rechte stellt die Verbreitung falscher Informationen und die Beeinflussung von Wahlen durch Journalisten unter Strafe. Außerdem ist es weder politischen Parteien, noch einzelnen Kandidaten erlaubt, ausländische finanzielle Unterstützung zu akzeptieren.6 Die seit Ende der 1980er Jahre vorgenommenen Einschnitte in positive und negative Freiheiten haben weiterhin Bestand,7 auch wenn sie in Zeiten eines zunehmenden Demokratisierungsdrucks neu verpackt werden. Bereits vor den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2005 kündigte Präsident Mubarak eine Aufhebung der innen- und außenpolitisch sehr umstrittenen Notstandsgesetzgebung an. In Zukunft soll das Gesetz durch ein so genanntes Antiterrorgesetz ersetzt werden, dessen Grundlagen eine 2007 verabschiedete Verfassungsänderung schafft. Auf diese Weise werden die bestehenden Regelungen verstetigt, gleichzeitig aber auch 4 5 6 7 Vgl. den Jahresbericht von Amnesty International, unter: http://www2.amnesty.de, letzter Zugriff 15.3.2008. Al-Dustur, Kairo, 25.2.2008. Zu diesen restriktivem Reformarsenal siehe auch: International Crisis Group (Hrsg.): Reforming Egypt: In search of a strategy, Brüssel 2005. Vgl. dazu ausführlich: Kienle, Eberhard: A grand delusion: Democracy and economic reform in Egypt, London 2001. Kapitel II : Ägypten 87 den „internationalen Spielregeln“ angepaßt, indem sie in den Kontext des internationalen Antiterrorkampfes gestellt werden. 2.2. Ein Quasi-Einparteisystem Trotz der Einführung des Mehrparteiensystems wird das politische Leben bisher von einer einzigen politischen Partei bestimmt. Im Gegensatz zu Marokko beispielsweise, dessen politisches System auf einem gezielten Parteienpluralismus basiert, in dem der König seine Funktion als „Schiedsrichter“ etabliert, ist die Person des Staatspräsidenten in Ägypten direkt an die Regierungspartei geknüpft. Hosni Mubarak ist Vorsitzender der regierenden NDP. Bisher beruhte seine Nominierung zum Volksreferendum auf der Zweidrittelmehrheit der Partei in beiden Kammern des Parlaments. Der von Staatspräsident Sadat im Zuge einer wirtschaftlichen und politischen Öffnung 1976 eingerichtete Parteienpluralismus ist insofern ein Dekorativ, als die NDP auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen ist. Die Quasieinparteikonstellation in Ägypten ist ein Puffer gegen die Teilnahme von Oppositionskräften am politischen Entscheidungsprozeß. Die NDP ist gezwungen bei den Parlamentswahlen ihre Mehrheit abzusichern und kann deswegen keine andere politische Partei als ernsthaften Konkurrenten neben sich dulden. Die Integrationskapazität des politischen Systems ist zu eingeschränkt, um potentiell starken Oppositionsgruppierungen wie etwa der moderat-islamistischen Muslimbruderschaft einen „Weg durch die Institutionen“ zu ermöglichen. Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften, die die Muslimbruderschaft in den 1980er Jahren als Plattform des politischen Protests und des Dialogs mit dem Regime nutzte, wurden von den Behörden deshalb sukzessive eingefroren.8 Die NDP bleibt damit bis heute eine zentrale Stütze des autoritären Herrschaftssystems, das sich außerdem auf das Militär, den Justizapparat, und die aus religiösen Rechtsgelehrten und einer theologischen Universität bestehende Al-Azhar-Institution als Wächter religiöser Werte 8 Durch die Einführung eines Quorums wurde die Wahl der Generalversammlung erschwert und die betroffene Berufsgenossenschaft unter richterliche Kontrolle gestellt. 88 Staatlicher Umgang mit Opposition stützt.9 Im Zuge eines zumindest vordergründig schwindenden Einflusses des Militärs auf den politischen Entscheidungsprozeß, nimmt die Bedeutung der NDP als Steuerungselement weiter zu. Da Wahlen und politischer Wettbewerb zwischen den Parteien auch in Ägypten an Bedeutung gewinnen, ist davon auszugehen, daß die NDP ihre Vorherrschaft über die anderen Institutionen ausbaut. 2.3. Demokratisierungsdruck Ausgehend von diesen beiden Konstanten, die man auch als Systemparameter des ägyptischen Regierungssystems bezeichnen kann, lassen sich zwei konjunkturelle Einflußfaktoren benennen, die in den letzten Jahren den Umgang des Staates mit Opposition verändert haben. Zunächst sieht sich das autoritäre Herrschaftssystem Ägyptens einem steigenden Demokratisierungsdruck ausgesetzt. US-Präsident Bush hat die ägyptische Regierung mehrfach dazu aufgerufen, der Region nicht nur „den Weg zum Frieden, sondern auch zur Demokratie zu weisen“. In den letzten Jahren führte der mangelnde politische Reformwille der ägyptischen Regierung zeitweise auch zu einer diplomatischen Verstimmung zwischen beiden Ländern.10 Ägypten ist seit dem Camp David Abkommen nach Israel das zweitwichtigste Empfängerland von Wirtschafts- und Militärhilfe der Vereinigten Staaten. Während das US-Außenministerium bisher an dieser strategischen Unterstützung festhält, wird diese von Mitgliedern des amerikanischen Kongresses zunehmend in Frage gestellt. Die Europäische Union hat einerseits in den vergangenen Jahren ihre wirtschaftliche Unterstützung weiter angehoben, gleichzeitig häufen sich auch hier Stimmen, Entwicklungshilfe stärker an Demokratisierungserfolge zu knüpfen. Im Januar 2008 veröffentlichte das Europäische Parlament ei- 9 10 Albrecht, Holger: How can opposition support the state: Lessons from Egypt, in: Democratization, London, Band 12, Nr. 13, 2005, S. 378-397. So sagte US-Außenministerin Condolezza Rice im Februar 2005 einen Besuch in Ägypten ab, um gegen die Verhaftung des Oppositionspolitikers und potentiellen Herausforderers des Staatspräsidenten bei den für Herbst 2005 geplanten pluralen Präsidentschaftswahlen, Ayman Nour, zu protestieren. Kapitel II : Ägypten 89 nen Bericht zur Menschenrechtssituation in Ägypten, der zu heftigen Reaktionen seitens des ägyptischen Parlaments führte.11 Unabhängig von der Mehrdeutigkeit einer oft sehr allgemein formulierten Demokratisierungsrhetorik häufen sich in den letzten Jahren die Hinweise, daß Ägypten gegenüber dieser Demokratisierungsrhetorik in Zugzwang gerät. Die neue geopolitische Situation hat mit Afghanistan und Irak neue, wichtige Empfängerländer westlicher Entwicklungshilfe geschaffen. Außerdem präsentieren sich andere Länder der Region, wie etwa Jordanien oder Marokko, als die „besseren Demokratisierer“. Wegen der veränderten geopolitischen Situation, aber auch wegen der schleppenden wirtschaftlichen Entwicklung in dem bevölkerungsreichen Land (Ägypten zählt derzeit 72 Millionen Einwohner), steht Kairo nicht mehr ganz oben auf der diplomatischen Prioritätenliste. Die Golfmonarchien mit ihren gigantischen Investitionsprojekten präsentieren sich als attraktive Alternative für die Besuchstournee europäischer und nordamerikanischer Politiker in der Region. Angesichts dieser veränderten Interessenslage ist es für die ägyptischen Machthaber wichtig, trotz der Fortführung autoritärer Herrschaft zumindest punktuell auf Demokratisierungsforderungen reagieren zu können und ein „pluralistisches Antlitz“ zu bewahren. Die Existenz von Opposition ist deswegen von Bedeutung, um das von der internationalen Gemeinschaft eingeforderte Kriterium der „guten Regierungsführung“ zumindest partiell erfüllen zu können.12 2.4. Herrschaftstransfer Die Frage, welche Rolle die internationale Staatengemeinschaft im Umgang des Staates mit Opposition spielt, stellt sich auch im Zusammenhang mit dem zweiten konjunkturellen Einflußfaktor, dem Herrschaftstransfer. Bis heute hat Präsident Mubarak keinen Stellvertreter (Vizepräsidenten) ernannt, der im Falle seiner plötzlichen Amtsunfähigkeit oder seines Todes bis zur Wahl eines neuen Präsidenten ad interim die Amts11 12 Al Ahram Weekly, Kairo, 24.-30.1.2008 Allal, Amin/Kohstall, Florian: Opposition within the state: Governance in Egypt, Morocco and Tunisia, in: Albrecht, Holger/Kassem, Maye (Hrsg.): Political opposition in the Middle East (in Vorbereitung). 90 Staatlicher Umgang mit Opposition geschäfte wahrnimmt. Seit Beginn des neuen Jahrtausends spielt Hosni Mubaraks Sohn Gamal eine zentrale Rolle in der Politik, weshalb viele Beobachter davon ausgehen, daß eine Art „republikanische Thronfolge“ nach dem Vorbild Syriens angestrebt wird.13 Dabei kann man allerdings davon ausgehen, daß ein derartiger Machttransfer in Ägypten verfassungsrechtlich vorbereitet wird und zumindest auf eine schweigende Zustimmung der engsten Verbündeten Ägyptens angewiesen ist. Die USABesuche Gamal Mubaraks stützen diese Einschätzung. Der politische Aufstieg Gamal Mubaraks hat in weiten Teilen der Bevölkerung ein großes Mißtrauen ausgelöst, was sich beispielsweise an den zahlreichen Witzen festmachen läßt, die seither über die Mubarakfamilie in den Cafés der Hauptstadt erzählt werden. Anders als in Marokko zu Zeiten König Hassan II. oder Syrien zu Zeiten Präsident Hafiz al-Asads ist die Kritik des Staatschefs in Ägypten kein Tabuthema mehr. Die politische Opposition, allen voran die Protestbewegung Kifaya („Genug“, oder „Es reicht!“), hat sich das Thema „über 25 Jahre Mubarak“ und „dynastische Machtübergabe“ auf die Fahnen geschrieben. Auch bei den legalen Oppositionsparteien steht die Beendigung des „tyrannischen Regierungsstils“ ganz oben auf der Agenda. Insofern schlägt die Opposition politisches Kapital aus der Frage des Machttransfers. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Staat und Opposition stellt sich dabei nicht unmittelbar die Frage, wer Hosni Mubarak an der Spitze des Staates nachfolgen wird, sondern eher welche Mechanismen in Gang gesetzt werden, um diese Frage zu regeln. Eine Reihe von Reformmaßnahmen der letzten Jahre, die zumindest vorübergehend als Zeichen einer politischen Öffnung interpretiert worden sind, müssen ebenfalls im Zusammenhang mit dem Herrschaftstransfer bewertet werden. So erleichtert die Verfassungsänderung von 2005 beispielsweise einen verfassungsrechtlich einwandfreien und quasi-demokratischen Herrschaftstransfer. Die Regierungspartei kann Gamal Mubarak bei den nächsten Präsidentschaftswahlen als Kandidaten nominieren und als einen von mehreren Kandidaten zur Wahl stellen. Die Verfassungsänderung von 13 In diesem Zusammenhang hat der ägyptische Soziologe Saad Eddin Ibrahim den Begriff „gumlukiya“ geprägt, eine Verbindung aus den arabischen Wörtern für Republik (gumhuriya) und Königreich (mamlaka). Kapitel II : Ägypten 91 2007, die unter anderem das Amt des Ministerpräsidenten aufwertete, erschien vielen als ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg zur „reibungslosen Machtübergabe“.14 Die beiden konjunkturellen Faktoren Herrschaftssicherung und Demokratisierungsdruck können insofern beide als Hintergrund eines sich in den vergangenen Jahren abzeichnenden Umbaus des politischen Systems herangezogen werden. Innerhalb von nur zwei Jahren wurde die Verfassung des Landes zweimal verändert. Zunächst im Jahre 2005, um erstmals Präsidentschaftswahlen mit mehreren Kandidaten durchzuführen. Anschließend im Jahr 2007, um Parteien mit religiösem Bezug, wie etwa die Muslimbruderschaft, definitiv vom politischen Wettbewerb auszuschließen. Beide Veränderungen spiegeln nur begrenzt die politische Realität wieder. Weder ist das Amt des Staatsoberhaupts seither gänzlich dem Wettbewerb zwischen den Parteien preisgegeben, noch wurde die Muslimbruderschaft als politische Größe ausgeschaltet. Während der Umbau des politischen Systems neue Freiräume für die Artikulation politischen Protests eröffnet, ist er gleichzeitig ein Schritt, das bestehende autoritäre Herrschaftssystem vor dem doppelten Hintergrund Demokratisierungsdruck und Herrschaftstransfer zu zementieren. Am Beispiel der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2005 läßt sich illustrieren, wie das Regime die Spielregeln des Umgangs mit der Opposition verändert, ohne die Kontrolle über die politische Agenda zu verlieren. 2.5. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2005 Das Wahljahr begann spätestens im Februar 2005 als Staatspräsident Hosni Mubarak die nationale und internationale Öffentlichkeit mit der Ankündigung einer weit reichenden Verfassungsänderung überraschte. Bei den für September 2005 angesetzten Präsidentschaftswahlen sollten erstmals Gegenkandidaten zugelassen werden. Im Auftrag des Präsidenten erarbeitete das von der NDP geführte Parlament eine Änderung des 14 Zu den Einzelheiten der Verfassungsänderung von 2007 vgl. Fürtig, Henner: Verfassungsreform in Ägypten: Meilenstein oder Mogelpackung?, GIGA Focus, Hamburg, Nr. 3, 2007. 92 Staatlicher Umgang mit Opposition Artikels 76 der ägyptischen Verfassung, der bisher die Wahl des Präsidenten durch ein Referendum vorsah. Die Verfassungsänderung ist in erster Linie als ein kluger Schachzug zu bewerten, sowohl auf außenpolitischen als auch auf innenpolitischen Druck zu reagieren. Die Proteste von Kifaya gegen den Präsidenten und die Ankündigung mehrerer Personen des öffentlichen Lebens einer „wilden Gegenkandidatur“15 standen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Entscheidung des Präsidenten. Schließlich präsentierte sich der Vorsitzende der neu zugelassenen Ghad-Partei, Ayman Nour, als Alternative zum Staatspräsidenten und dessen Sohn Gamal Mubarak und erregte damit in der ausländischen Presse, vor allem aber in den USA, große Aufmerksamkeit. Diesem Schachzug folgte in der Tat ein so genannter „Kairoer Frühling“, während dem sich die Opposition neu organisierte und Freiräume des politischen Protestes eröffnete. Sobald jedoch die Details der Verfassungsänderungen bekannt waren, erschöpfte sich diese Zeit der autoritären Entspannung. Zahlreiche Bestimmungen erschweren es den Oppositionsparteien, einen Gegenkandidaten aufzustellen. Außerdem sieht die Verfassungsnovelle unterschiedliche Regelungen für die Wahlen im September 2005 und die nächste, voraussichtlich im Jahr 2011 stattfindende Präsidentschaftswahl, vor. Die Verfassungsänderung wurde zunächst von beiden Kammern abgenommen und anschließend in einem Volksreferendum bestätigt, bei dem sich nach offiziellen Angaben mehr als 50 % der Bevölkerung beteiligten. Die säkularen Oppositionsparteien stimmten im Parlament gegen die Verfassungsänderung und riefen auch zum Boykott des Referendums auf. Zwei von ihnen, al-Ghad und Neo-Wafd, präsentierten trotzdem bei den Präsidentschaftswahlen im September 2005 einen Kandidaten. Ayman Nour erzielte mit 7,5 % der Stimmen mehr als einen Achtungserfolg gegenüber dem Amtsinhaber (88,5 %) und gegenüber dem Neo-Wafd Kandidaten Nucman Gomaa (2,9 %). Dieser Achtungserfolg war allerdings von kurzer Dauer, denn bei den folgenden Parla15 Die drei sogenannten Kandidaten der Zivilgesellschaft waren der Soziologe Saad Eddin Ibrahim, Leiter des Ibn Khaldun Centers; die Schriftstellerin Nawal El Sadaawi und der Unternehmer Mohammed Farid Hassanein. Kapitel II : Ägypten 93 mentswahlen im Oktober und November 2005 verlor Ayman Nour seinen Wahlkreis gegen einen Kandidaten der regierenden NDP und büßte damit sogar seinen Parlamentssitz ein. Nicht nur wegen des kurzen Erfolgs von Ayman Nour standen die Organisation der Präsidentschaftswahlen und der nachfolgenden Parlamentswahlen in einem direkten Zusammenhang. Keine der Oppositionsparteien rechnete mit einem Sieg gegen den Präsidenten; gleichzeitig ist nach der neuen Verfassung die Zahl der Sitze im Parlament entscheidend für die Möglichkeit, einen Kandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen im Jahre 2010 zu ernennen. Im Lichte dieser „Aufwertung“ des Parlaments galten die Parlamentswahlen den Oppositionsparteien zunächst als „founding elections“ einer weitergehenden Demokratisierung. Die Parteien einigten sich deshalb erstmals auf die Gründung einer Wahlplattform und stellten gemeinsame Listen auf. Trotz dieser bisher einzigartigen Bemühung das Monopol der NDP zu brechen, erzielte die so genannte säkulare Opposition 2005 mit nur 12 Sitzen ihr schlechtestes Ergebnis. Unter den Vorzeichen eines verschärften Wettbewerbs wurde der Konflikt um die Parlamentssitze zwischen NDP-Kandidaten, den so genannten „unabhängigen NDP-Kandidaten“ und den „unabhängigen Kandidaten“ der Muslimbruderschaft ausgetragen. Die Muslimbruderschaft erreichte schließlich mit 88 Parlamentssitzen ein Rekordergebnis. Der Staatspartei NDP gelang es wegen herber Verluste nur durch die Kooptierung der als „Unabhängige“ angetretenen Kandidaten, ihre Zweidrittel-Mehrheit im Parlament abzusichern. Das Wahljahr 2005 illustriert, daß Wahlen in Ägypten ein zentrales Instrument im Umgang mit der Opposition sind. Entscheidend sind nicht das schwache Abschneiden der säkularen Opposition und der unerwartete Erfolg der Muslimbruderschaft. Entscheidend ist vielmehr die permanente Anpassung der Spielregeln an das sich ändernde „Gleichgewicht“ zwischen Staat und Opposition. So erwies es sich beispielsweise vor dem Hintergrund einer zunehmenden Mobilisierung der säkularen Opposition als opportun, zunächst einen begrenzten Wettbewerb um das Amt des Staatspräsidenten zuzulassen. Für die säkulare Opposition war der durch die Verfassungsänderung geschaffene Erwartungshorizont trü- 94 Staatlicher Umgang mit Opposition gerisch. Im Zuge des allgemein „liberalisierten“ Wettbewerbs entwickelten sich die Parlamentswahlen zu einem Kräftemessen zwischen den beiden stärksten politischen Gruppierungen, der Muslimbruderschaft und der NDP. Mit der Verfassungsänderung ist das Wahljahr 2005 sicherlich ein Präzedenzfall, doch die Vergangenheit und der Vergleich mit anderen Ländern der Region zeigt, daß Wahlen unter einem ständigen „Reformimperativ“ stehen. So werden einerseits Mechanismen eingeführt, die als Beweis transparenter und fairer Wahlen gelten, wie etwa die richterliche Kontrolle des Wahlverlaufs oder die Verwendung nicht abwaschbarer Tinte. Gleichzeitig setzt das Regime der Opposition hohe Hürden, etwa bei den formellen Regeln zur Teilnahme an Wahlen, aber auch durch einen „wilden Wettbewerb“, der Oppositionskandidaten zwingt, sich selbst und ihre Wähler vor Übergriffen der Sicherheitskräfte und regimetreuen Anhängern zu schützen. 3. Zentrale Akteure und deren Stellung zum Staat Ausgehend von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen läßt sich ein aktuelles Profil der Opposition beschreiben. Wahlen in Ägypten können sicherlich nicht uneingeschränkt als Gradmesser der politischen Entwicklung herangezogen werden. Sie spiegeln allerdings neuere Tendenzen im Verhältnis zwischen Staat und Opposition wider. Im Zusammenhang des zunehmenden Demokratisierungsdrucks und der Frage des Herrschaftstransfers haben sich gerade die Parlamentswahlen zu einem zentralen Moment des politischen Protestes und politischer Beteiligung aller oppositionellen Kräfte entwickelt. Selbst die 2006 und 2007 stattfindende Mobilisierung der Richter und der Arbeiter steht in indirektem Zusammenhang mit dem Wahljahr. Im Hinblick auf die verschiedenen politischen Organisationen Ägyptens, denen es um eine begrenzte Teilhabe an der Macht geht, ist eine Unterscheidung zwischen systemkonformen und systemkritischen Gruppen zu treffen. Erstere, wie etwa die „säkularen Oppositionsparteien“, haben sich im System eingenistet. Sie akzeptieren die engen, vom Re- Kapitel II : Ägypten 95 gime gesetzten Spielregeln und geben sich mit einer begrenzten Teilnahme am politischen Leben zufrieden. Die systemkritische Opposition, darunter vor allem die moderat-islamistische Muslimbruderschaft,16 strebt eine Veränderung der bestehenden Ordnung an und setzt ebenso wie beispielsweise die Protestbewegung Kifaya auf die Ablösung der Regierung Mubarak. Abgesehen von dieser sehr groben Unterscheidung genügt es jedoch gerade im ägyptischen Kontexte nicht, Opposition nur als eine Reihe von Gruppierungen zu beschreiben. In den letzten Jahren ist eine Erosion des klassischen Oppositionsmodells zu beobachten. Das von Anwar El Sadat ursprünglich eingerichtete, sehr begrenzte Mehrparteiensystem, das vor allem der Kooptation gesellschaftlicher Interessensgruppen diente, ist an seine Grenzen gestoßen. Protest formiert sich seither partei- und ideologieübergreifend. Dabei kommt es sogar zu einer punktuellen Kooperation zwischen islamisch-, liberal- und linksorientierten Kräften, deren gemeinsames Ziel eine weit reichende Reform des politischen Systems ist. Die Entwicklung militanter Opposition steht in direktem Zusammenhang mit dem sehr eingeschränkten Handlungsspielraum der „legalen“ Oppositionsgruppen. Zwar kann zum jetzigen Zeitpunkt auf dem ägyptischen Oppositions-Schachbrett keine Gruppe identifiziert werden, die einen Systemumsturz durch gewaltsame Mittel erwägt. Noch in den 1990er Jahren lieferte sich allerdings das Regime mit radikalen islamistischen Gruppen wie der Jamaca al-islamiya und dem Islamischen Jihad einen regelrechten Bürgerkrieg. Seit 1997 gilt aber hier ein Waffenstillstand. Gleichzeitig wird das Regime von den meisten oppositionellen Gruppierungen aber nicht anerkannt. Militanz äußert sich heute vor allem in einer radikalen Rhetorik, die der bestehenden Herrschaftsordnung jegliche Legitimität abspricht. 16 Das Prädikat moderat-islamistisch bezieht sich hier einerseits auf die klare Absage an Gewalt als Mittel des politischen Protests, andererseits aber auch eine zunehmende Öffnung der Organisation gegenüber der koptischen Minderheit. Vgl. Roussillon, Alain: Visibilité nouvelle de la ‚question copte’: entre refus de la sédition et revendication citoyenne, in: Kohstall, Florian (Hrsg.), L’Egypte dans l’année 2005, Kairo (CEDEJ) 2006, S. 137-173. 96 Staatlicher Umgang mit Opposition 3.1. Die Muslimbruderschaft Auf dem Schachbrett der politischen Opposition nimmt die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft nach wie vor eine zentrale Rolle ein. Sie ist formal nicht zugelassen, aber de facto toleriert und gilt allgemein als der am besten organisierte Teil der politischen Opposition, die als einzige politische Kraft neben der regierenden NDP auf einen starken gesellschaftlichen Rückhalt zählen kann.17 Der Ablauf der Parlamentswahlen im Oktober und November 2005 liefert dafür einen eindrucksvollen Beweis. Dabei gelang es der Muslimbruderschaft als einzigem politischem Akteur, sich trotz massiver Einschüchterungsversuche und gezielter Repressionsmaßnahmen gegenüber der dominierenden NDP zu behaupten. Allein die Muslimbruderschaft verfügte über die dazu notwendigen Ressourcen, denn die Muslimbruderschaft ist nicht nur eine politische, sondern vor allem eine soziale und wirtschaftliche Macht. Ihre Organisation beruht auf einem weit gestreuten Netzwerk sozialer Leistungen und der Unterstützung zahlungskräftiger Unternehmer. Im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien bereitete sich die Muslimbruderschaft bereits vier Monate vor Wahlbeginn ausschließlich auf die Parlamentswahlen 2005 vor.18 Als einziger Akteur der Opposition schloß sie eine direkte Zusammenarbeit mit anderen Oppositionsparteien aus. Sie schickte zum ersten Mal ihre als „unabhängige Kandidaten“ antretenden Mitglieder mit dem klassischen islamistischen Slogan „Islam ist die Lösung“ ins Rennen. Ein eigens eingesetztes Ad-hocKomitee wählte die Kandidaten aus. Diese präsentierten sich in den Wahlbüros mit einem teils gut geschulten Personal, das den Wählern das Wahlsystem erläuterte und die Bevölkerung zur Teilnahme an den 17 18 Generell stehen keine vertrauenswürdigen Zahlen über die Mitgliederstärke der einzelnen politischen Parteien zu Verfügung. Man spricht beispielsweise von 100.000 bis 500.000 Mitgliedern der Muslimbruderschaft. Schätzungen gehen also sehr weit auseinander. Vgl. Aclimandos, Tewfik: Frères musulmans: des (bon?) usages de la confrontation, in: Klaus, Enrique/Hassabo, Chaymaa (Hrsg.): Chroniques égyptiennes, Kairo 2007, S. 109-142. Vgl. das Interview mit Essam El Ariyan veröffentlicht auf der Webseite des Senders al-Jazira (http://english.aljazeera.net/English/archive/archive?ArchiveId=15706); vgl. auch Aclimandos, Tewfik: Les Frères: De la clandestinité au tamkîn, in: Kohstall, Florian 2006, a.a.O. (Anm. 16), S. 83-107. Kapitel II : Ägypten 97 Wahlen aufrief um eine „Fälschung der Wahlen durch das Regime zu verhindern“.19 Die Muslimbruderschaft nimmt nicht an Wahlen teil, weil sie sich als politische Kraft im politischen System versteht. Im Gegenteil, sie erkennt die bestehende Ordnung, die sie als Tyrannei bezeichnet, nicht an und plädiert für eine weitreichende Veränderung des politischen Systems.20 Ihr Ziel ist es dabei vor allem, die Bevölkerung zur Teilnahme am politischen Prozeß anzuregen. Diese Strategie fügt sich ein in ein größeres Ganzes: Eine Veränderung des Systems ist ihrer Vorstellung nach nur durch eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen.21 Dabei läßt sich allerdings eine Verschiebung der Prioritäten erkennen. Der politische Prozeß, allen voran die Teilnahme an Wahlen, erscheint heute als ebenso wichtig wie es früher die Forderung nach der Einführung der islamischen Rechtsordnung war. Dabei setzt die Brüderschaft nicht auf einen direkten Konflikt mit dem Regime, sondern übt sich bisher in einer Selbstbegrenzungsstrategie: Im Gegensatz zur regierenden NDP stellte sie lediglich 150 Kandidaten für die 444 im Parlament verfügbaren Sitze auf. Gerade gegen NDP-Granden wurde kein Gegenkandidat aufgestellt, was zu Spekulationen führte, inwieweit informelle Absprachen zwischen der NDP und der Muslimbruderschaft die Wahlen begleiteten. Es ist schwierig zu beurteilen, wie sich die Muslimbruderschaft etwa nach einem eindeutigen Wahlsieg bzw. nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte verhalten würde. Die Muslimbruderschaft vollzieht derzeit einen Balanceakt zwischen Demokratiebekenntnis und Regimekritik. Bereits in den 1970er Jahren hat die Organisation der Gewalt abgeschworen. Die im Parlament vertretene Gruppe der 88 Muslimbrüder 19 20 21 Beobachtungen des Autors während der ersten Runde der Parlamentswahlen im Wahlbezirk Sayyeda Zeyneb (Kairo), Oktober 2005. Die Ablehnung des bestehenden politischen Systems bedeutet derweil nicht unbedingt direkte Konfrontation: Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen äußerte sich Mahdi Akef, Oberster Leiter der Bruderschaft, zurückhaltend gegenüber dem Präsidenten, dessen Kandidatur die Muslimbruderschaft sogar unterstützen würde, wenn der Präsident den Dialog mit der Brüderschaft suchen würde. Essam El Ariyan, der Vorsitzende des politischen Büros der Muslimbruderschaft, zog derweil die Möglichkeit einer Kandidatur gegen den Präsidenten in Betracht. Interview mit Mohammed Habib, Stellvertretender Oberster Leiter der Muslimbruderschaft, Kairo, 26.2.2008. 98 Staatlicher Umgang mit Opposition präsentiert sich als eifrige, in die Institutionen integrierte Opposition, kann aber lediglich als die Spitze des Eisbergs der weit verzweigten Organisation verstanden werden.22 Politisch agiert die Muslimbruderschaft auf nationalstaatlicher Ebene. Ihr regimekritischer Diskurs ist jedoch von außenpolitischen Ereignissen und Zusammenhängen ganz maßgeblich beeinflußt. Bei der im ägyptischen autoritären Herrschaftssystem mangelnd ausgeprägten Streitkultur ist die Mobilisierung über außenpolitische Themen wie etwa die Besatzung Palästinas durch Israel, der Krieg in Afghanistan und im Irak, bzw. ganz einfach die andauernde „Vorherrschaft des Westens über die Länder der Region“, eine Praxis aller politischen Parteien. Außenpolitische Themen sind eine beliebte, vielleicht aber auch die einzige Möglichkeit, gegenüber dem Regime mobil zu machen. Einige Aussagen, wie etwa Essam El Ariyans kürzliche Äußerung, man könne sich eine Anerkennung des Staates Israel durchaus vorstellen, lassen erkennen, daß sich die Muslimbrüder zunehmend in eine politische Kraft verwandeln.23 Das Beispiel Türkei, das oft von Kommentatoren herangezogen wird, die eine „Integration der Muslimbruderschaft in die bestehen Institutionen“ vertreten, weist Mohammed Habib allerdings aufgrund des vollkommen andersgearteten historischen und geographischen Kontexts zurück. Ein System des „power sharing“ mit der regierenden NDP könne er sich nicht vorstellen.24 Die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Muslimbruderschaft zur regierenden NDP bzw. dem von ihr geführten Staat ist für die Zukunft schwer einzuschätzen. Beide Parteien spielen insofern mit verdeckten Karten, als sie offiziell keinen Dialog miteinander führen. Abgesehen von einzelnen Aktionen, beispielsweise einer gemeinsamen Demonstrationsveranstaltung gegen den Irakkrieg 2003, „kommunizieren“ die beiden Akteure nur über die politischen Institutionen oder über Sicherheitskanäle. Die Kommunikation über die politischen Institutionen Wahlen und Parlament ist jedoch begrenzt, da das Regime die Bruder22 23 24 Vgl. hierzu Shehata, Samer/Stacher, Joshua: The Brotherhood goes to parliament, in: MERIP, Washington D.C., Nr. 240, 2006. Interview mit Amr El Choubaki, Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies, Kairo, 26.2.2008. Interview mit Mohammed Habib, Kairo, 26.2.2008. Kapitel II : Ägypten 99 schaft nicht als Organisation anerkennt. Die im Jahr 2007 vorgenommene Verfassungsänderung unterstreicht, daß man trotz dem institutionellen Erstarken der Muslimbruderschaft nicht davon ausgehen kann, daß auch nur der Versuch unternommen würde, diese Gruppierung als politische Kraft in die etablierten Institutionen zu integrieren. Mit den zahlreichen Festnahmen von Mitgliedern der Muslimbruderschaft gerade im Vorfeld von Wahlen versucht das Regime weiterhin die Organisation zu schwächen und Kommunikation auf diese Weise in informelle Räume zu verdrängen.25 3.2. Die säkularen Parteien Die so genannten säkularen oder auch liberalen Parteien sind aus den Parlamentswahlen 2005 eindeutig als Verlierer hervorgegangen. Trotz der Gründung einer Wahlplattform erreichten sie gemeinsam nur 12 Sitze (2000 waren es noch 13). Insofern spiegeln die Wahlen auch die Erosion des unter Anwar al-Sadat installierten, formellen Mehrparteiensystems wider. Die säkulare Opposition organisiert sich in insgesamt 21 Parteien, von denen allerdings lediglich die liberal orientierte Neo-Wafd, die dem arabischen Nationalismus verschriebene Nasseristen-Partei und die links orientierte al-Tagammu (Versammlung) derzeit noch von begrenzter politischer Bedeutung sind. Alle drei Parteien stehen historisch in Verbindung mit der Einparteiherrschaft. Die Tagammu-Partei ist eine Abspaltung der früheren Arabischen Sozialistischen Union (ASU), aus der auch die NDP hervorgegangen ist. Der Präsident der 1992 zugelassenen Nasseristen-Partei diente als Staatsminister unter Gamal Abdel Nasser. Die 1983 gegründete Neo-Wafd, die sich auf die vorrevolutionäre Wafd-Partei und den Unabhängigkeitskämpfer Saad Zaghloul beruft, verfügt wohl unter all diesen Parteien noch über die größte Autonomie, ist aber aufgrund andauernder interner Führungsstreitigkeiten in den letzten Jahren stark geschwächt. 25 So geht ein politischer Beobachter davon aus, dass die Festnahmen zu einem informellen Kommunikationsritual gehören, das das Regime mit der verbotenen, aber tolerierten Brüderschaft praktiziert. Interview, Kairo, 26.2.2008. 100 Staatlicher Umgang mit Opposition Die Strategie dieser Parteien zielt trotz weit reichender Verfassungsreformforderungen und einer teils militanten Rhetorik grundsätzlich nicht auf die direkte Übernahme der Macht, sondern auf eine begrenzte Teilhabe.26 Gerade in der Metropole Kairo haben sich diese auch als systemkonform zu bezeichnenden Parteien mit der Vormachtsstellung der NDP arrangiert. Ihren oft sehr langjährigen Parteivorsitzenden gesteht das Regime Handlungsfreiraum, Ämter und finanzielle Ressourcen zu. Gleichzeitig kommt es im Zusammenhang mit diesem wenig institutionalisierten „power sharing“ immer wieder zu „Strategieanpassungen“ und zu Ambitionen einzelner Persönlichkeiten, das Regime unter Druck zu setzen. Die Parteizeitungen sind in diesem Zusammenhang eine wichtige Plattform. So mobilisierte der sozialistisch orientierte Generalsekretär der Arbeitspartei (Hizb al-amal) Magdy Hussein beispielsweise die öffentliche Meinung durch das Parteiorgan al-Shacb, woraufhin die Partei von den Behörden bereits im Jahr 2000 verboten wurde. Ähnlich exponiert positionierte sich der Chefredakteur der der Nasseristischen Partei zugehörigen Tageszeitung al-Arabi, Abdel Halim Qandil. Mittels einer eigenen Kolumne in der Parteizeitung setzte er die Kritik des Staatspräsidenten 2004 auf die Agenda der Opposition. Die von der Neo-Wafd kontrollierte Parteizeitung Wafd prangert in oft drastischem Stil die sozioökonomische Situation im Lande an. Kritik an der Verschlechterung des staatlichen Bildungssystems übt die Parteizeitung nicht zuletzt deshalb, weil die „liberale“ Neo-Wafd-Partei“ innerhalb der Bildungsschicht noch einen begrenzten Rückhalt besitzt. Der Fall des Vorsitzenden der erst Ende 2004 zugelassen Ghad- Partei, Ayman Nour, gehört derweil sicher zu den bekanntesten Fällen von Dissidenz einer sonst als loyal eingeschätzten Opposition. Dem früheren charismatischen Parlamentsmitglied der Neo-Wafd gelang nach mehreren Anläufen die Zulassung seiner Partei. Kurze Zeit später wurde er wegen angeblich falscher, für die Zulassung notwendiger Unterschriften verhaftet. Auf innen- und außenpolitischen Druck wurde er 2005 freigelassen und kandidierte im September 2005 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Mubarak, bei denen er den bereits erwähnten Achtungserfolg 26 Albrecht 2005, a.a.O. (Anm. 9). Kapitel II : Ägypten 101 einfuhr. Dieser stellte sich allerdings als Pyrrhussieg heraus, da es ihm bei den darauf folgenden Parlamentswahlen nicht gelang, seinen Parlamentssitz gegen einen NDP-Kandidaten zu verteidigen. Nach den Parlamentswahlen wurde Ayman Nour zu einer fünfjährigen Haftstrafe wegen angeblicher Dokumentenfälschung verurteilt. Die Schwäche der säkularen Oppositionsparteien bedeutet keinesfalls die Abwesenheit einer säkularen Opposition, sondern vielmehr die Schwäche der „legalen Parteien“ als adäquate Organisationsform einer solchen Opposition im bestehenden politischen System. Das Monopol der NDP, restriktive Regeln zur Gründung einer Partei und zur Ausübung deren Tätigkeit, aber auch die Kooptations- und Gängelungsstrategie des Regimes erschweren es diesen Parteien, ein Gegengewicht aufzubauen. Zudem haben die säkularen Parteien aufgrund interner Spaltungstendenzen und Führungsstreitigkeiten ihre Legitimationsgrundlage in der Bevölkerung größtenteils eingebüßt. Die Schwäche der säkularen Oppositionsparteien und die Stärke der Muslimbruderschaft überschattet oft die Tatsache, daß es gerade innerhalb der Bürgerschicht weiterhin sowohl links- als auch nationalistischorientierte Kreise gibt, die dem Regime sehr kritisch gegenüberstehen. Diese Kreise finden sich an den Universitäten innerhalb der Professorenschaft, aber auch in anderen Berufsgruppen. Auch Arbeiter und Landbevölkerung lassen sich im Hinblick auf ihre politische Orientierung nicht einfach in „pro NDP“ oder „pro Muslimbruderschaft“ unterteilen. Gleichzeitig läßt sich die politische Stärke dieser Kreise unabhängig von konkreten politischen Ereignissen schwer verorten. Im Folgenden soll deshalb gezielt auf solche Ereignisse abgehoben werden. 3.3. Kifaya Die Erosion des „klassischen Parteiensystems“ hat gemeinsam mit den konjunkturellen Einflußfaktoren „Demokratisierungsdruck“ und „Herrschaftstransfer“ in den letzten Jahren die Entstehung einer außerparlamentarischen Opposition begünstigt. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahre 2005 gelten auch in diesem Zusammenhang als ein Katalysator der politischen Entwicklung. 102 Staatlicher Umgang mit Opposition Kifaya, die „Ägyptische Bewegung für den Wandel“, hat wegen eines Tabubruchs große Aufmerksamkeit im In- und Ausland erregt. Im Vorfeld des Wahljahrs 2005 sprach sich diese Gruppierung gegen eine Form dynastischer Nachfolge in Ägypten aus. In einem am 9. September 2004 veröffentlichten Aufruf heißt es: „Nein zu einer Erneuerung des Mandats! Nein zur Erbnachfolge! Ja zu einer Wahl des Staatspräsidenten mit mehreren Kandidaten!“ Das Thema der Präsidentschaftsnachfolge entwickelte sich damit zu einem Dreh- und Angelpunkt der Entstehung einer neuen außerparlamentarischen Protestbewegung. Kifaya zeichnet sich durch eine lose Organisationsstruktur aus, an dessen Spitze zahlreiche namhafte Persönlichkeiten der säkularen Oppositionsparteien stehen. So ist beispielsweise der Nasserist Abdel Halim Qandil der Sprecher Kifayas. Tatsächlich entsteht Kifaya aus dem losen Zusammenschluß einzelner Mitglieder der meisten Oppositionsparteien, zahlreicher Nichtregierungsorganisationen und verschiedener Berufsgruppen. Diese Personen gründeten zunächst, vereint in ihrer Ablehnung gegen den Irakkrieg, die „Bewegung 20 März“, und anschließend, vereint in ihrer Ablehnung gegenüber der Politik des Staatspräsidenten, Kifaya.27 Kifaya hat die Art öffentlichen Protests, der in der Region oftmals auch abwertend mit dem Begriff der „arabischen Strasse“ bezeichnet wird, stark verändert. So handelt es sich bei den Straßenprotesten Kifayas nicht um sporadische Unmutsbekundungen, wie sie bei Brotunruhen oder Gewaltausbrüchen in Verbindung mit dem Karikaturenstreits bekannt sind, sondern um eine ritualisierte Form des politischen Protests mit konkreten politischen Zielen. Das zentrale Protestrepertoire beinhaltet die Veröffentlichung von Aufrufen, Straßendemonstrationen, aber auch eine aufklärerische Berichterstattung, wie etwa ein 2006 veröffentlichter Bericht über Korruption innerhalb des ägyptischen Staatsapparats. Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 2005 nahm Kifaya aktiv Einfluß auf den politischen Meinungsbildungsprozeß, zunächst durch die ablehnende Haltung gegenüber der anstehenden Verfassungsänderung, die Abdel Halim Qandil als „Mish Kifaya“ („nicht genug“) bezeichnete, an27 Vairel, Frédéric: Quand „Assez!“ ne suffit plus: quelques remarques sur Kifâya et autres mobilisations égyptiennes, in: Kohstall 2006, a.a.O. (Anm. 16), S. 109-136. Kapitel II : Ägypten 103 schließend durch die Teilnahme an der geeinten Wahlplattform der Oppositionsparteien. Einige Wahlkandidaten warben in ihren Bezirken auch mit dem Logo „Kifaya“. Die Stärke von Kifaya rührte zweifelsohne daher, daß die Bewegung zum richtigen Moment die richtigen Fragen stellte28 und damit im Zusammenhang mit den Wahlen eine besondere Mobilisierungskraft entwickeln konnte. Doch damit ist die Protestbewegung auch als ein eher konjunkturelles Phänomen einzuordnen. Die Bewegung besitzt trotz der Gründung zahlreicher Satelliten, wie etwa „Professoren für den Wandel“, „Arbeiter für den Wandel“, „Jugend für den Wandel“ eine nur sehr schwache Rückbindung in der Gesellschaft, vor allem aber außerhalb der Hauptstadt Kairo. Zum Vergleich: Bei den von Kifaya im Vorfeld der Wahlen organisierten Demonstration nahmen in Kairo zwischen 150 und 1.500 Personen teil. Der Muslimbruderschaft gelang es derweil 20.000 Menschen für eine Kundgebung in der Provinzstadt Tanta zu mobilisieren. Gerade von Seite der bestehenden Parteien weist man darauf hin, daß Kifaya kein politisches Programm verfolgt, bzw. auch nur besitzt. Gerade dies ist aber ein Charakteristikum, das auch für die politischen Parteien gilt. Selbst die Muslimbruderschaft, die über ein weit reichendes gesellschaftliches Programm verfügt – das man jedoch nicht zwangsweise mit einer politischen Programmatik gleichsetzen kann – präsentierte sich bei den Wahlen lediglich mit dem Slogan „Islam ist die Lösung“. Die Schwäche von Kifaya ist letztendlich damit zu begründen, daß der Protest mittels Demonstrationen in Ägypten wegen des harten Durchgreifens der Sicherheitskräfte mit erheblichen Mobilisierungskosten verbunden ist. Im Zusammenhang mit der Entstehung von Kifaya ist das Thema der Militanz wieder auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt. Nicht im Sinne einer gezielten Gewaltanwendung gegen den Staat, sondern vielmehr im Sinne einer kämpferischen Rhetorik, die dem Regime und der bestehenden, undemokratischen politischen Ordnung jegliche Legitimität abspricht. Der „Umweg über die Strasse“ vieler Oppositioneller 28 Vgl. unter: http://baheyya.blogspot.com/2005/04/kifaya-asking-right-questions.html, letzter Zugriff: 10.3.2008. 104 Staatlicher Umgang mit Opposition erklärt sich auch damit, daß die bisher von der NDP geschaffenen Foren zum Dialog mit der Opposition zu keinem Ergebnis führten. Während das Regime diese Art der kämpferischen Rhetorik im Vorfeld der Wahlen zumindest teilweise gewähren lies, hat es in den vergangenen beiden Jahren den Handlungsspielraum für Kifaya wieder stark eingegrenzt. Auf die bekannte Einkreisung der Straßendemonstranten durch ein hohes Aufgebot von Sicherheitskräften folgten zahlreiche Festnahmen.29 Außerdem beantwortete es die Militanz der Rhetorik von Kifaya mit einer neuen Art des militanten Vorgehens gegen Demonstranten. Das Phänomen der „baltageyya“ (Schläger), einer Art NDP bzw. Mubarak treuer gewaltbereiter Anhänger hat sich in den vergangenen Jahren, ebenso wie das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte, verstetigt. Diese „Schläger“ mischen sich unter die Demonstranten, stiften Unruhe und verprügeln gezielt Mitglieder der Protestbewegung, aber auch Journalisten. 3.4. Strategische Berufsgruppen: Richter, Universitätsprofessoren und Journalisten In der Folge des Wahljahres 2005 hat sich der politische Protest zunehmend auf sozioökonomische Themen verlagert. Anstelle der politischen Parteien sind einige strategische Berufsgruppen in den Vordergrund der politischen Auseinandersetzung getreten. In diesem Zusammenhang sind vor allem Richter, Journalisten und Universitätsprofessoren zu nennen. Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften sind in Ägypten seit Beginn der 1990er Jahre bis auf wenige Ausnahmen von den Behörden kontrolliert. Traditionell sind Berufsgruppen trotzdem bzw. gerade aus diesem Grund als eine wichtige Plattform des politischen Protestes anzusehen. Als eine der wichtigsten strategischen Berufsgruppen haben sich bereits im Vorfeld der Wahlen die Richter hervorgetan. Der Alexandria Judges Club drohte im Juli 2005 mit dem Boykott der Wahlen, sollten die Behörden nicht auf ihre Forderung nach vollständiger und unabhän29 Bei einer Kundgebung am 16.3.2007 gegen die geplante Verfassungsänderung wurden 35 Personen festgenommen; vgl. http://arabist.net/arabawy/2007/03/16/ policecrack-down-on-kefaya-demo-35-detained/, letzter Zugriff: 15.3.2008. Kapitel II : Ägypten 105 giger richterlicher Kontrolle der Wahlen eingehen. Seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs im Juli 2000 sollen Richter die Neutralität der Wahlen garantieren. Allerdings reicht die Zahl der Richter nicht aus, Wahlen wie die des Präsidenten, die im Gegensatz zu den darauf folgenden Parlamentswahlen an einem einzigen Tag organisiert wurden, zu überwachen. Obwohl das Regime nicht auf die Forderung der Richter reagierte, überwachten diese schließlich den Wahlprozeß. In Folge der Parlamentswahlen veröffentlicht der Klub allerdings mehrere Berichte über die Unregelmäßigkeit der Wahlen, worauf das Regime einen Prozeß gegen zwei Mitglieder des Kairoer Kassationsgerichts anstrengte, Hesham Bastawisi and Mahmoud Mekki. Dieser Prozeß führt im April und Mai 2006 zu heftigen Protesten und blutigen Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften, an denen zahlreiche Mitglieder der verschiedenen Oppositionsparteien der Protestbewegung Kifaya teilnahmen. Der Protest hatte einen hohen Symbolgehalt, da die Richter in der ägyptischen Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. Die wichtigste Forderung der parteiübergreifenden Mobilisierung war die Unabhängigkeit der Richter. Das Anliegen einer freien und unabhängigen Berufsausübung ist ein zentrales Thema, das nicht nur die Richter, sondern auch andere Berufsgruppen wie beispielsweise Universitätsprofessoren und Journalisten in den Mittelpunkt ihrer Forderungen gestellt haben. So formierte sich beispielsweise die „Bewegung 9. März“, eine relativ kleine Gruppe vorwiegend links- und nationalistisch-orientierter Professoren, aus Protest gegen die Präsenz von Sicherheitskräften auf dem Universitätscampus. Gleichzeitig machte diese Bewegung aber auch gegen die fortdauernde Mobilisierung der islamistisch orientierten Studentengruppierungen mobil. Die Universitäten in Ägypten sind bis heute allein wegen ihrer Größe (über zwei Millionen Studenten und 60.000 Lehrkräfte) ein wichtiger Ort politischer Mobilisierung, auch wenn der Staat die Möglichkeiten politischer Betätigung auf dem Campus sehr stark eingeschränkt hat. Die Wahlen der Professoren- und Studentenschaft finden unter Ausschluß 106 Staatlicher Umgang mit Opposition oppositioneller Kräfte statt, der Eingang zum Campus wird von Sicherheitskräften kontrolliert.30 3.5. Unabhängigen Medien Im Zuge des anhaltenden „Reformprozesses“ hat sich auch die Medienlandschaft Ägyptens in den vergangenen fünf Jahren stark verändert. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die Bedeutung der unabhängigen Presse, aber auch auf eine sehr aktive Webblog-Szene hinzuweisen. Wiederum sind es die Wahlen 2005, die eine einschneidende Veränderung der Presselandschaft hinterlassen haben. Während das traditionell auflagenstärkste staatliche Organ al-Ahram titelte „Ägypten würde einen einzigartigen demokratischen Aufbruch erleben“,31 attackierte etwa die von dem Nasseristen Hamid Sabahi gegründete Zeitung al-Karama: „Wir schwören bei Gott, Gamal (Mubarak) wird nicht der Nachfolger“.32 Wie bereits im Zusammenhang mit der Publikation al-Arabi erwähnt, erwies sich ein Teil der Presse im Vorfeld der Wahlen 2005 als zentrales Sprachrohr der Protestbewegung und als einer der ersten gesellschaftlichen Akteure, die mit den bestehenden Tabus bricht. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Antwort der Regierung. Im Wahljahr 2005 kündigte Safwat El Sherif, Präsident des Senats, den Wechsel der Chefredakteure der staatlichen Presse an, die zum Teil seit über zwanzig Jahren Publikationen wie al-Ahram, al-Gumhuriyya, Akhbar al-Youm und Ruz al-Yussuf vorstanden und wie etwa Ibrahim Nafic (al-Ahram) in einen Korruptionsskandal verwickelt sind. In gewissem Sinne entstand durch die Verfassungsänderung und die anstehenden Präsidentschaftswahlen mit mehreren Kandidaten eine neue Situation, die eine Modernisierung der Presse erforderlich machte: Kompetitive Wahlen erfordern eine „gleichberechtigte“ Berichterstattung über einen Kandidaten, welcher zugleich auch Amtsinhaber ist, und eine Reihe anderer Kandidaten, die zwar keine ernsthafte Chance haben, die aber ebenfalls 30 31 32 Vgl. dazu auch: Human Rights Watch (Hrsg.): Reading between the „Red Lines“. The repression of academic freedom in Egyptian universities, Washington D.C., Band 17, Nr. 6, 2005. Al-Ahram, Kairo, 28.8.2005. Al-Karama, Kairo, 27.9.2005. Kapitel II : Ägypten 107 berücksichtigt werden müssen, um den Anschein von Wettbewerb zu wahren.33 Trotz der Umstrukturierung der staatlichen Presse gingen die unabhängigen Publikationen wie die Tageszeitung Misr al-Youm und die Wochenzeitung al-Dustur aus der neuen Situation zunächst als Gewinner hervor. Von Teilen der Bildungsschicht, ausländischen Beobachtern und Medien wurden diese beiden Blätter wegen ihrer einerseits seriösen, andererseits auch investigativen Berichterstattung schnell angenommen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß es Misr alYoum gelang, das staatliche kontrollierte Organ al-Ahram als bisher mit über einer Million Exemplaren auflagenstärkstes Blatt, abzulösen.34 Während die Verbreitung der Printmedien in Ägypten gerade gegenüber dem Massenmedium Fernsehen gering bleibt, kann der Umgang der Behörden mit der Presse zumindest begrenzt als ein Indikator der Bedeutung dieses Mediums als Akteur der Opposition gewertet werden. Am 13. September 2007 wurden die Herausgeber der vier Zeitungen alFajr, al-Dustur, al-Karama und Sawt al-Umma zu einjährigen Gefängnisstrafen und hohen Geldstrafen auf der Grundlage des Pressegesetzes verurteilt, das die Verbreitung von Falschinformation und Gerüchten, die die öffentliche Ordnung stören, unter Strafe stellt.35 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand dabei ein weiterer Prozeß gegen Ibrahim Issa (alDustur) wegen der Berichterstattung über den schlechten Gesundheitszustand des Staatspräsidenten. Die Initative for an Open Arab Net berichtete in diesem Zusammenhang von einem schweren Rückschlag für die Presse- und Meinungsfreiheit in Ägypten. Zunehmend würden Gerichte wieder so genannte Hisba-Fälle gegen Journalisten anstrengen, in denen die Betroffenen der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der Verletzung religiöser Gefühle bezichtigt würden. Diese richterliche Kampagne wurde zu einem 33 34 35 Vgl. dazu ausführlich: Klaus, Enrique: Le secret de polichinelle ou la constitution d’un public de scandale. A propos du changement de direction dans la presse d’Etat“, in: Kohstall 2006, a.a.O. (Anm. 16), S. 175-202. Vgl. Details unter: http://baheyya.blogspot.com/2007/09/death-of-deference.html, letzter Zugriff: 16.3.2008 (tatsächlich können solche Beobachtungen nur auf Schätzungen beruhen). Details hierzu unter: http://hrw.org/english/docs/2007/09/15/egypt16883_txt.htm, letzter Zugriff: 16.3.2008. 108 Staatlicher Umgang mit Opposition gewissen Teil von den staatlichen Medien wie Ruz al-Yussuf unterstützt, die bewußt Journalisten und Menschenrechtsaktivisten diffamierten.36 Aus der neuerlichen Kampagne gegen die unabhängige Presse und deren Reaktion läßt sich zunächst ableiten, daß die Autonomie dieser parteiunabhängigen Publikationen keineswegs garantiert ist, bzw. daß diese Art der Presse vom „good will“ des Regimes abhängig ist. Inwieweit die teils diffamierende Berichterstattung in Blättern wie Ruz al-Yussuf staatlich gesteuert ist, kann hier nicht beurteilt werden. Das Beispiel illustriert jedoch, daß sich die unabhängige Presse als Teil einer aufkeimenden Opposition gegen regimetreue „Konkurrenz“ behaupten muß. In dieser Auseinandersetzung treten Fragen der Berufsethik und religiöse Angelegenheiten zunehmend an die Stelle eines politischen Konflikts. 3.6. Eine erstarkende Arbeiterbewegung? Die bisher erwähnten Protestformen konzentrieren sich meist auf politische Forderungen. Sie sind in der Regel – mit Ausnahme der Muslimbruderschaft – auf einen relativ kleinen Personenkreis beschränkt. Doch wie steht es um wirtschafts- und sozialpolitischen Protest? Einerseits hat die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik und die Freigabe des ägyptischen Pfundes im Januar 2003 in den letzten Jahren zu einer galoppierenden Inflation geführt,37 die sehr breite Bevölkerungsschichten betrifft. Nur eine relative kleine Schicht scheint bisher unmittelbar von der Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums zu profitieren.38 Im September 2007 kam es zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres zu Streiks in der Misr Spinning and Weaving Company in Mahalla alKubra, einer Stadt mit einer halben Million Einwohnern am östlichen 36 37 38 Vgl. unter: http://openarab.net/en/reports/opinion/opinion3.shtml, letzter Zugriff: 16.3.2008. Im September 2007 gab die Central Agency for Public Mobilization and Statistics eine Preissteigerung von 12,4 % an. Die Liste wurde von „frischem Gemüse und Obst“ angeführt, die eine Preissteigerung von 37,6 % verzeichneten. Beinin, Joel: The militancy of Mahalla El Kubra, in: MERIP, Washington D.C., 29.9.2007, vgl. unter: http://www.merip.org/mero/mero092907.html, letzter Zugriff: 17.3.2008. Umfassend zu den Wirtschaftsreformen und der Politik des mangelnden sozialen Ausgleichs der letzten Jahre, siehe: Demmelhuber, Thomas/Roll, Stephan: Herrschaftssicherung in Ägypten: Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen, Berlin 2007 (Stiftung Wissenschaft und Politik). Kapitel II : Ägypten 109 Arm des Nildeltas. Die ca. 24.000 streikenden Arbeiter besetzten die Spinnerei und etablierten eine eigene Miliz, um die besetzte Fabrik vor Übergriffen der Sicherheitskräfte zu schützen. Auslöser der Streiks war die Verweigerung einer umfangreichen Lohnsteigerung, aber auch eine Anklage des Mißmanagements und der Korruption innerhalb der Fabrik, die zu den Aushängeschildern des staatlichen Wirtschaftssektors zählt. Der Protest richtete sich derweil auch gegen das Regime, die von der Weltbank verordneten Reformen und gegen die offiziellen, von den Behörden kontrollierten Gewerkschaften (in diesem Fall der ägyptischen Gewerkschaftsföderation ETUF).39 In der Regierungspresse beschuldigte man die Arbeiter, von der Muslimbruderschaft zum Streik aufgewiegelt worden zu sein.40 Tatsächlich erscheint die Politisierung des Streiks allerdings eher gering. Die Muslimbruderschaft sucht ihren Rückhalt traditionell eher in den Bildungsberufen, bei Ärzten, Anwälten, Richtern und Professoren. Auch das Ansehen der linken, säkularen Oppositionsparteien ist bei den Arbeitern gering. Derweil unterstützten einige Oppositionspolitiker vor Ort die Streikenden durch die Bildung parteiübergreifender Arbeiterkomitees.41 Kifaya organisierte am 27. September eine Protestkundgebung in Solidarität mit den Arbeitern. Insofern wurden die streikenden Arbeiter eher im Nachhinein von der Politik vereinnahmt. Die anhaltenden Streiks und die mit ihnen einhergehende Politisierung setzte das Regime derart unter Druck, daß sich der Vorsitzende der Gewerkschaft ETUF und Unternehmensvertreter schließlich an den Verhandlungstisch setzten und den Arbeitern Bonuszahlungen in der Höhe des Gehalts von 130 Arbeitstagen zusagten. Diese Reaktion unterstreicht, wie empfindlich die Behörden auf die Äußerung wirtschaftlichen Unmutes reagieren. Der Staat versucht jede Art wirtschaftlichen Protests durch Zugeständnisse, wie punktuelle Lohnerhöhung, aber auch das Beibehalten von staatlichen Subventionen zu unterdrücken. 39 40 41 Beinin 2007, a.a.O. (Anm. 37.). Siehe dazu auch: Clement, Francoise: Elections ouvrières: entre fraude et chasse aux „Frères masqués“, in: Klaus, Enrique/Hassabo, Chaymaa (Hrsg.): Chroniques égyptiennes, Kairo 2007, S. 59-86. Interview mit einem führenden Oppositionspolitiker, Kairo, 24.2.2008. 110 Staatlicher Umgang mit Opposition 3.7. Das Verhältnis zwischen Kopten und Muslimen Ein sehr sensibles politisches Thema ist bis heute auch das Verhältnis zwischen Kopten und Muslimen. Die Tatsache, daß die NDP lediglich zwei koptische Kandidaten zur Parlamentswahl 2005 aufstellte, führte zu einer breiten Diskussion über die politische Diskriminierung der koptischen Minderheit, die ca. zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die Reaktion auf die mangelnde Berücksichtigung koptischer Parlamentskandidaten war um so heftiger, als sich das Oberhaupt der koptischen Kirche, Papst Shenouda, deutlich für eine Wiederwahl Hosni Mubaraks als Staatspräsidenten ausgesprochen hatte. Viele Kopten fühlen sich durch diese Treue der koptischen Kirchenführung gegenüber dem Staatspräsidenten ohnehin nicht vertreten. Die „koptische Frage“ steht spätestens seit 2005 wieder auf der politischen Agenda. Dabei geht es um so konkrete Probleme wie die Frage der religiösen Konvertierung und den Bau von Kirchen, schließlich aber auch den politischen-rechtlichen Status der koptischen Minderheit. Konkreter Auslöser der neuen religiösen Zwietracht (al-fitna al-ta’ifiya) war wohl die „Wafa Konstantin Affäre“, als die Frau eines koptischen Priesters zum Islam konvertierte und den Staat um Schutz bat. Kopten demonstrierten daraufhin gegen die Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten. Im Oktober 2005 kam es zu tagelangen Ausschreitungen und blutigen Zusammenstössen in Alexandria, ausgelöst durch die Verbreitung eines Videos, in dem ein junger Kopte seine Konversion zum Islam bereute. Im April 2006 starben zwei Menschen bei Zusammenstössen zwischen Kopten und Muslimen, nachdem ein Muslim koptische Betende in einer Kirche angegriffen hatte.42 Die Tragweite dieser zunehmenden Spannungen kann an dieser Stelle nicht umfassend besprochen werden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang einerseits, daß die Konvertierung vom Islam zu einer anderen Religion nach ägyptischem Recht illegal ist, nicht jedoch das Gegenteil. Andererseits sehen sich viele Kopten auch politisch nicht als 42 Zu den Einzelheiten dieser Vorfälle vgl. Roussillon 2006, a.a.O. (Anm. 16) und: El Amrani, Issandr: The emergence of a „Coptic Question“ in Egypt, in: MERIP, Washington D.C., 28.4.2006, vgl. unter: http://www.merip.org/mero/mero042806.html, letzter Zugriff: 4.4.2008. Kapitel II : Ägypten 111 gleichberechtigte Bürger und fühlen sich vor allem durch die fortschreitende Islamisierung der Gesellschaft und den Wahlerfolg der Muslimbruderschaft bedroht. Ob das definitive Verbot religiöser Parteien, wie durch die Verfassungsänderung 2007 geschehen, zur Lösung des Konfliktes beiträgt, ist zu bezweifeln. 4. Staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Opposition: Zwischen Reform und Repression Vor dem beschriebenen Hintergrund wird deutlich, daß im bestehenden Quasi-Einparteisystem Ägyptens nur ein sehr begrenzter Dialog zwischen Staat und Opposition stattfinden kann. Der Umgang des Staates, bzw. des ihn dominierenden Regimes mit oppositionellen Gruppen und einzelnen „Unruhestiftern“ ist vorwiegend von repressiven Maßnahmen geprägt. Mit Ausnahme der Wahlen sind direkte, effiziente Partizipationskanäle für die Opposition weder existent noch befinden sie sich im Aufbau. Wie in den meisten autoritären Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens ist der Umgang des Staates von einer Politik geprägt, die auch mit dem Bild „Zuckerbrot und Peitsche“ umschrieben werden kann. Im Hinblick auf die konjunkturellen Faktoren „Demokratisierungsdruck“ und „Herrschaftssicherung“ muß dieses Bild jedoch nuanciert werden. Die „Politik des Zuckerbrots“ beschränkt sich nicht allein auf Kooptierung. Die „Politik der Peitsche“ ist nicht allein mit Repression gleichzusetzen. Auf der einen Seite wird die Kooptierungspolitik von einem Umbau des bestehenden politischen Systems begleitet, der zwar nicht unbedingt institutionalisierte Partizipationsmöglichkeiten schafft, gleichzeitig dem Druck der Opposition aber entgegenwirkt. Während Repressionspolitik dem Staat weiter als ein „probates“ Mittel zur Kontrolle der Opposition erscheint, nimmt die Ausübung staatlicher Gewalt unter den aktuellen Vorzeichen des Demokratisierungsimperativs neue Ausdrucksformen an. 112 Staatlicher Umgang mit Opposition 4.1. Wahlen Auch wenn die meisten politischen Akteure das bestehende System nicht anerkennen, ist die Teilnahme an Wahlen zu einem Dreh- und Angelpunkt der Aktivitäten der politischen Parteien und der Muslimbruderschaft geworden. Für die außerparlamentarische Oppositionsbewegung Kifaya war die Organisation der Wahlen ein Anstoß ihres Protests, ebenso wie für die genannten strategischen Berufsgruppen. Die Wahlen in Ägypten können insofern als ein wichtiger Katalysator des Protests beschrieben werden, als sie einen Kristallisationspunkt für die Aktivitäten der politischen Opposition darstellen. Da sie unabhängig von ihrem konkreten Ablauf als ein Element der Demokratisierung präsentiert und wahrgenommen werden, stellen sie sicherlich auch einen Transmissionsriemen für Gewalt als Form des politischen Protests dar. Die Beteiligung der genannten Akteure am Wahlprozeß, aber auch die Intention ehemals gewaltbereiter Akteure, eine Partei zu gründen,43 sind dafür wichtige Indikatoren. Als problematisch ist zu bewerten, daß der Wahlprozeß einerseits keinesfalls gewaltfrei abläuft, und die Organisation der Wahlen andererseits weiterhin unter dem Imperativ des Machterhalts der regierenden Eliten steht. Die zunehmende Bedeutung von Wahlen geht einher mit der kontinuierlichen Manipulation der Spielregeln seitens des Regimes. So läßt letzteres einerseits mehr Wettbewerb zu, um sich mit dem Prädikat „pluralistischer Wahlen“ schmücken zu können, gleichzeitig wird der Wahlablauf jedoch so zurechtgeschnitten, daß die Regierungskoalition als Gewinner aus dem Wettbewerb hervorgeht. Die Reform des Wahlprozesses führt daher nicht nur zu einer Öffnung des politischen Prozesses, sondern auch zu einer Situation der strukturellen Unsicherheit, einer Situation, an die sich die Opposition jedes Mal aufs Neue anpassen muß. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussion über die richterliche Kontrolle der Wahlen, die Organisation 43 Bisher sind zwei Initiativen ehemaliger Mitglieder der Jamaca al-islamiya und des Islamischen Jihad bekannt, nach der Phase der 1997 begonnenen ideologischen „Rekonversion“, d.h. der Absage an die bisher religiös begründete Gewaltanwendung, eine Partei zu gründen. Vgl. dazu: Rashwan, Diaa: Transformation among the Islamist groups in Egypt, Kairo 2000 (Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies). Kapitel II : Ägypten 113 der Wahlen an einem Tag oder innerhalb von drei Wochen und der sich wandelnden Bedingungen für die Aufstellung eines Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen muß die Opposition ihre Strategie ständig aufs Neue ändern und optiert für Teilnahme oder Boykott. 4.2. Der „Nationale Dialog“ und die „Politik der Räte“ Während Wahlen und folgerichtig auch das Parlament als eine institutionalisierte Form des Umgangs mit Opposition bezeichnet werden kann, setzt das Regime auch andere, weniger institutionalisierte Instrumente ein, um den Dialog mit den Oppositionsparteien zu befördern. Ein weiteres Instrument ist der sogenannte „Nationale Dialog“ (alhiwar al-watani). Er hatte lange Zeit Tradition, ist aber seit den letzten Parlamentswahlen weitestgehend eingeschlafen. Der „Nationale Dialog“ galt dabei als Indikator für die sehr asymmetrische Zusammenarbeit zwischen der Regierungspartei und den säkularen Oppositionsparteien.44 Er illustriert, in welch geringem Masse wirtschafts- und sozialpolitische Themen von den politischen Parteien artikuliert werden, bzw. im Umkehrschluß von der NDP monopolisiert werden. Im Rahmen des nationalen Dialogs wurden bisher fast ausschließlich verfassungsrechtliche Fragen und die Reform politischer Gesetze wie die Aufhebung der Notstandsgesetzgebung oder eine Reform des Komitees der politischen Parteien diskutiert. Insofern dient auch dieses Instrument nicht der Stabilisierung des Verhältnisses zwischen Staat und Opposition, sondern vielmehr der Marginalisierung der säkularen Oppositionsparteien. Letztlich ist dieses Gesprächsforum allerdings auch ein Mittel, um einen nationalen Konsens zu beschwören, selbst wenn die Agenda fast ausschließlich von der NDP dominiert wird. Im Zusammenhang dieses Dialoges zwischen Opposition und Regierungspartei muß auch die „Politik der Räte“ genannt werden. Prominente Beispiel für erstere sind der 2000 geschaffene „Hohe Rat für Frauen“ und der 2003 geschaffene „Hohe Rat für Menschenrechte“. Wie der Name der Räte bereits deutlich macht, werden hier Gremien gebildet, die sich ausschließlich mit einer bestimmten Zielgruppe bzw. einem be44 Rey, Benjamin: Les partis de l’opposition égyptienne à l’épreuve de la réforme constitutionnelle, in: Kohstall 2006, a.a.O. (Anm. 16), S. 55-82. 114 Staatlicher Umgang mit Opposition stimmten Thema beschäftigen, das sowohl international als auch innergesellschaftlich „en vogue“ ist. Beide Räte werden von zentralen politischen Persönlichkeiten geleitet. So ist die Frau des Staatspräsidenten, Susanne Mubarak, Vorsitzende des Hohen Rates für Frauen, und der ehemalige UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali steht dem Hohen Rat für Menschenrechte vor. Auch Oppositionspolitiker, wie der islamische Intellektuelle Ahmed Kamel Abu al-Magd, der als Vizepräsident des Menschenrechtsrates amtiert, sind in den Räten vertreten.45 Die Parteizugehörigkeit der Mitglieder eines solchen Rates wird jedoch bewußt dem „nationalen Interesse“ untergeordnet. Insofern dient die Schaffung eines derartigen Forums dazu, Stimmen von Dissidenten zu hören, ohne jedoch deren politischer Organisation Gehör zu verschaffen. Mit der Schaffung solcher Räte eignet sich das Regime Themen an, die zuvor von zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie beispielsweise der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte (EOHR), auf die Agenda gesetzt wurden. 4.3. Reformkomitees Auch die Schaffung von Reformkomitees ist ein Instrument, einer aufkeimenden Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Einrichtung von Komitees ist zwar kein neuer Vorgang, hat aber mit der Schaffung des „Politischen Komitees“ innerhalb der NDP unter der Führung von Gamal Mubarak eine neue Qualität erreicht. Reformkommissionen werden auf allen politischen Ebenen eingerichtet, um bei sensiblen sozial- und wirtschaftspolitischen Problemen einen politischen Konsens zu entwickeln. Bisher war die Einrichtung solcher Komitees meist Aufgabe der Minister. Für die derzeit mit Unterstützung der Weltbank durchgeführte Hochschulreform richtete der frühere Hochschulminister Moufid Shehab beispielsweise eine Reformkomitee ein und organisierte im Februar 2000 eine Konferenz, auf der ein Reformprogramm für die kommenden 15 Jahre verabschiedet wurde. An dem Komitee wurden Hochschulprofessoren der verschiedenen staatli- 45 Stacher, Joshua: Rhetorical acrobatics and reputations: Egypt’s National Council for Human Rights, in: MERIP, Washington D.C., Nr. 235, 2005. Kapitel II : Ägypten 115 chen und privaten Hochschulen, aber auch ehemalige Minister und Ministerialbeamte beteiligt. Auch wenn derartige runde Tische und Versammlungen keinesfalls repräsentativ sind und meist politische Oppositionelle im engeren Sinne von der Mitarbeit ausgeschlossen sind, so sind sie ein wichtiges Instrument, um gesellschaftliche Stimmungen einzufangen und politisch brisante Themen auf die Agenda zu setzen. Sie dienen nicht zuletzt dazu, bestimmte Eliten wie etwa Universitätsprofessoren an den Staatsapparat zu binden. Kommissionsmitglieder werden nicht als Mitglieder einer politischen Organisation berufen, sondern lediglich als „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“. Diese Art der Selektion unterstreicht wiederum die Tatsache, daß die regierende NDP keine Konkurrenz bei der Politikgestaltung duldet. Unter diesen Vorzeichen steht auch die Einrichtung mehrerer Komitees innerhalb der NDP und deren nunmehr alljährlich stattfindende Parteikongresse. Da die Staatspartei lange Zeit lediglich als Mehrheitsbeschaffer wahrgenommen wurde, richtete sie bereits nach dem relativ schlechten Abschneiden bei den Parlamentswahlen 2000 das bereits angesprochene „Politische Komitee“ unter Vorsitz von Gamal Mubarak ein. Unter dessen Führung bereitet die Partei Vorschläge zu der Reform des Bildungswesens, der Gesundheitsversorgung, der Außenbeziehungen und der Wirtschaftspolitik vor, die auf den Parteikongressen präsentiert werden. Sicherlich geht es bei dieser Art der Politikgestaltung zunächst um „window dressing“, also eine Aufbesserung des Images Ägypten in den Augen der internationalen Gemeinschaft. Das „Politische Komitee“ präsentiert sich gerne als „dritter Weg“, wobei als Vorbild die Reform der britischen Labour-Partei unter Premierminister Tony Blair gilt. Noch wichtiger ist sicherlich die Positionierung Gamal Mubaraks als zukünftiger Präsident. Schließlich versucht die NDP aber auch, ihre gesellschaftliche Integrationskapazität zu erhöhen und Forderungen der Opposition mittels einer neuen Reformprogrammatik entgegenzutreten. Abgesehen von einigen wenigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen hat diese Politikgestaltung bisher nicht zu konkreten Ergebnissen geführt. 116 Staatlicher Umgang mit Opposition 4.4. Neue Formen der Repression Die neu geschaffenen Formen des Dialogs spielen einerseits mit dem Mittel der Kooptation, gleichzeitig sind sie ein Versuch, die Legitimität des Regimes und der regierenden Partei gegenüber systemkritischen Kräften zu erhöhen. Trotz dieser Reformbemühungen bleibt die Dialogbereitschaft der regierenden NDP letztendlich jedoch gering. Gerade gegenüber systemkritischen Akteuren ist Repression das letztlich vorherrschende Mittel im Umgang des Staates mit der Opposition. Dazu zählen zunächst die Ausweitung und die Institutionalisierung des legalistischen Repressionsarsenals, das den Handlungsspielraum der Opposition stark einschränkt. Das Verbot der Muslimbruderschaft als politische Partei, die Prüfung der Zulassung neuer Parteien durch das von der NDP dominierte Komitee für politische Parteien oder auch die Kontrolle der Behörden über Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften sind dafür zentrale Beispiele. Zusätzlich zu diesem legalistischen Repressionsarsenal ist immer wieder ein arbiträres Eingreifen verschiedener Behörden zu beobachten. So sind Mitglieder der Muslimbruderschaft seit dem Erfolg in den Parlamentswahlen fast wöchentlich Opfer von Festnahmen, insbesondere im Vorfeld von Wahlen. Diese Festnahmen finden auf der Grundlage der Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation statt, obwohl die Aktivitäten der Organisation gleichzeitig toleriert werden. Die Festnahmen bei Demonstrationen von Kifaya ließen sich bei einem „Regime im Ausnahmezustand“ ebenfalls rechtlich rechtfertigen, finden aber ebenso unberechenbar und arbiträr statt. Auch die Justiz macht von der oft zitierten „roten Linie“ politischer Tabus Gebrauch, etwa im Zusammenhang der bereits genannten Hisba-Fälle, die im vergangenen Jahr gegen Journalisten angestrengt wurden. Jegliche Form der politischen Meinungsäußerung und des Protests ist dabei mit der sehr flexiblen Auslegung dieser roten Linie konfrontiert. Zusätzlich zu diesen Formen staatlich geschürter Gewalt durch die beiden zentralen Instanzen Sicherheitskräfte und Justiz kommt in den vergangenen Jahren eine neue Form quasi-staatlicher Gewalt hinzu, die von den Mubarak- bzw. NDP-nahen „baltageyya“ ausgeübt wird. Diese neue Form der Gewalt kann einerseits mit dem bereits angesprochenen Kapitel II : Ägypten 117 zunehmenden Wettbewerb zwischen den Parteien in Zeiten der Liberalisierung erklärt werden, anderseits auch mit der Ächtung staatlicher Gewalt im internationalen Kontext. In Zeiten des Demokratisierungsimperativs erweist sich eine zu exzessive Anwendung staatlicher Gewalt als schädlich und eine sukzessive Privatisierung der Gewalt als vorteilhaft für das internationale Ansehen des Regimes. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Notstandgesetzes erwähnt, ist eine Anpassung des Umgangs mit Opposition an die „internationalen Spielregeln“ zu erkennen. So wurden durch die Verfassungsänderung 2007 die Grundlagen für die Schaffung eines Antiterrorgesetzes gelegt, das den international geächteten Notstand ersetzen soll. Das neue Gesetzt schränkt Grundrechte ebenso weit ein, dient aber der offiziellen Begründung zufolge dem Antiterrorkampf. Dieser Anpassungsprozeß weist im ägyptischen Kontext also keinesfalls in Richtung einer Pazifisierung der Beziehung zwischen Staat und Opposition, sondern vielmehr in Richtung der Verstetigung autoritärer Herrschaft. 4.5. Die Politik der ideologischen Umkehr Der bereits erwähnte Waffenstillstand von 1997 zwischen dem ägyptischen Staat und den radikal islamistischen Gruppen al-Jamaca al-islamiya und Islamischer Jihad sorgt immer wieder für eine breite gesellschaftliche Diskussion. Dabei geht es einerseits um die Nachhaltigkeit der ideologischen Umkehr („Rekonversion“) ehemaliger Jihadisten, als auch andererseits um die Frage, inwieweit die ägyptischen Sicherheitsbehörden diese Umkehr gezielt befördern. Das Regime unter Staatspräsident Anwar El Sadat hatte die Entstehung dieser Gruppen in den 1970er Jahren selbst befördert, um ein Gegengewicht gegenüber der linken Opposition zu schaffen. Nach dem tödlichen Attentat einer Jihadisten-Gruppe auf Präsident Sadat 1981 übte sich dessen Nachfolger Hosni Mubarak in den 1980er Jahren zunächst in einer Doppelstrategie aus Repression und gesellschaftlicher Islamisierung. In den 1990er Jahren führte der Staat einen bis 1997 andauernden Kampf gegen den Terror dieser beiden islamistischen Gruppen, der rund 1.300 Opfer forderte. 118 Staatlicher Umgang mit Opposition Nach dem Attentat auf Touristen in Luxor am 17. November 1997, kündigte die Jamaca al-islamiya einen Waffenstillstand an. Obwohl die meisten Führungsfiguren der Jamaca al-islamiya bereits verhaftet waren, war die Organisationsstruktur der Gruppe intakt geblieben. Beinahe zeitgleich mit der Ankündigung des Waffenstillstands initiierten führende Persönlichkeiten eine ideologische Umkehr. In Büchern und Interviews mit nationalen und internationalen Medien kritisierten führende Persönlichkeiten der Jamaca al-islamiya wie beispielsweise Karam Zuhdi die Gewalttaten und widerlegten frühere ideologische Ausführungen. So verurteilten sie die Anwendung von Gewalt, widersprachen der „Pflicht zum Jihad gegen einen Staatspräsidenten, der nicht die Scharia anwendet“, und gaben ihre Ablehnung gegenüber friedlichen Mitteln der Politik, wie etwa die Gründung politischer Parteien und die Teilnahme an Wahlen, auf. Im Zuge der Attentate des 11. September 2001 distanzierte sich die Jamaca al-islamiya von al-Qaida und rief die muslimische Jugend dazu auf, nicht an terroristischen Aktionen teilzunehmen.46 Seitens des Islamischen Jihad hat in den letzten beiden Jahren ebenfalls eine derartige „Rekonversion“ stattgefunden, die unter den ehemaligen Mitgliedern der Gruppe allerdings umstritten ist. Während die Bedeutung des Islamischen Jihad innerhalb Ägypten bereits Mitte der 1990er Jahre abgenommen hatte, wandten sich einige Mitglieder dem internationalen Jihad zu, zu dessen bekanntesten wohl Ayman al-Zawahiri, der heutige Stellvertreter al-Qaidas, zählt. Trotz dieses Beispiels wird der Einfluß von Ägyptern im Netzwerk al-Qaidas von Beobachtern als gering eingeschätzt.47 Der Waffenstillstand innerhalb Ägyptens ist wohl als dauerhaft zu betrachten, da beide Gruppen weder die Absicht noch die Mittel haben, den Kampf gegen den Staat neuerlich aufzunehmen. Gleichzeitig ist die Politik der ideologischen Umkehr differenziert zu betrachten. Einerseits ist sie sicherlich eine Entwicklung mit Signalwirkung, die über Ägypten hinausreicht. Schließlich kann sich der ägyptische Staat hier eines erfolg46 47 Vgl. ausführlich: International Crisis Group (Hrsg.): Islamism in North Africa II: Egypt’s opportunity, Middle East and North Africa Briefing, Kairo/Brüssel, 20.4.2004. Tammam, Hossam: L’influence des Egyptiens dans Al-Qaëda, in: Al Ahram Hebdo, Kairo, Nr. 708, 2.-8.4.2008. Kapitel II : Ägypten 119 reichen Umgangs mit ehemaligen Terroristen brüsten. Andererseits stellen sich zwei Fragen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit dieser Absage an Gewalt. Erstens betrifft sie vor allem einige Führungspersonen, die im Gegenzug von den ägyptischen Sicherheitsbehörden aus dem Gefängnis entlassen wurden. Gerade Mitglieder des Islamischen Jihad, die sich in den internationalen Jihad abgesetzt haben, fühlen sich davon nicht betroffen. Zweitens stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese ideologische „Rekonversion“ auf die vielen, gerade von der Jamaca alislamiya einst mobilisierten Jugendlichen hat. Weder der Staat noch die Jamaca al-islamiya selbst haben bisher Strategien entwickelt bzw. Organisationen geschaffen, die als Auffangbecken für diese „traumatisierte Generation“ dienen könnten. 5. Das staatliche Gewaltmonopol In Ägypten läßt sich die Frage der Militanz im Sinne von Gewaltanwendung und Gewaltbereitschaft nur schwerlich an den bestehenden Oppositionsgruppen festmachen. Seit dem Waffenstillstand 1997 zwischen den militanten islamistischen Gruppen Islamischer Jihad und Jamaca alislamiya und der Regierung läßt sich in Ägypten keine nennenswerte Gruppierung identifizieren, die gezielt mit Gewaltakten gegen den Staat vorgeht. Die Attentate im Sinai vom 8. Oktober 2004 gehen wohl auf ein transnationales terroristisches Netzwerk zurück48 und die Anschläge in Kairo wurden in sehr dilettantischer Weise von Einzeltätern verübt. Sowohl die Oppositionsgruppierungen, wie die Muslimbruderschaft, die säkularen Oppositionsparteien und Kifaya, als auch einzelne Oppositionsfiguren schließen Gewalt als Mittel der politischen Auseinanderset48 Bis heute gibt es weder gesicherte Information zu den Urhebern der Attentate, noch über die Präsenz transnationaler terroristischer Netzwerke innerhalb Ägyptens, obwohl die Sicherheitskräfte in Folge einer exzessiven Festnahme- und Verhörwelle wohl zahlreiche Informationen zu den Hintergründen der Attentate gesammelt haben. Im Zusammenhang mit dieser Festnahmewelle, von der vor allem die örtliche Beduinenbevölkerung betroffen war, muss auch auf die andauernden Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung im Sinai und den Sicherheitskräften hingewiesen werden. Vgl. dazu ausführlich: International Crisis Group (Hrsg.): Egypt’s Sinai question, Middle East/North Africa Report, Brüssel, Nr. 61, 30.1.2007. 120 Staatlicher Umgang mit Opposition zung grundsätzlich aus. Derweil lassen die verschiedenen Diskurse der Opposition durchaus einen gewissen Grad von Militanz erkennen, angefangen von der Forderung einer radikalen Systemumgestaltung bis zum Ausschluß jeder Art von Dialog mit dem Regime. Ein weiteres Problem besteht in der Art der Proteste. Da keine adäquaten Kanäle zur Artikulation politischen, sozialen und wirtschaftlichen Protests bestehen, bricht sich dieser in der Folge punktuell, sporadisch und schwer kontrollierbar Bahn. Derweil fällt ein oft sehr gewalttätiges Vorgehen des Staates gegen Oppositionsgruppen auf. Max Weber paraphrasierend kann man feststellen, daß Ägypten von seinem „legitimen“ Gewaltmonopol geradezu exzessiv Gebrauch macht. Manche Beobachter sehen in der exzessiven Gewaltanwendung folglich das Charakteristikum der autoritären Herrschaftssysteme in Nordafrika und Nahost.49 Trotz der Anwendung eines umfangreichen Repressionsarsenals muß auch für Ägypten konstatiert werden, daß es sich dabei nur um eine Seite des Umgangs mit politischer und vor allem militanter oder systemkritischer Opposition handelt. Gleichzeitig versucht das Regime durch Reformbemühungen die Forderungen der Opposition zu neutralisieren. Bei der dritten Strategie, nämlich der Eröffnung neuer Kanäle begrenzter Partizipation, steht das Regime aufgrund der eingangs genannten Systemparameter vor einem langwierigen Prozeß. Bis heute wird Ägypten unter Präsident Mubarak von vielen internationalen Beobachtern eine hohe Stabilität attestiert. Dies ist sicherlich richtig im Hinblick auf die Stabilität autoritärer Herrschaft. Im Hinblick auf den Umgang mit Opposition, aber auch im Hinblick auf politische und sozioökonomische Konflikte ist diese Stabilität jedoch trügerisch, denn schließlich gelingt es dem Staat nicht, diese Konflikte dauerhaft beizulegen. 49 Brownlee, Jason: Political crisis and restabilization: Iraq, Lybia, Syria and Tunisia, in: Posusney, Pripstein Marsha/Angrist, Michel Penner (Hrsg.): Authoritarianism in the Middle East, Boulder CO/London 2005, S. 43-62. Reziprokes Mißtrauen: Zum Verhältnis von Staat, Bevölkerung und Opposition in Algerien Sigrid Faath Der amtierende Präsident Bouteflika repräsentiert eine Epoche, in der das Volk wie ein Kind behandelt wurde, in der es eine domestizierte, Befehlen gehorchende Masse war. Heute ist ein Wandel erkennbar, den Bouteflika nicht mehr begreift. Vor seinem übergroßen Porträt sitzend fragt er sich, was das Volk eigentlich noch will: „Den Frieden? Den habe ich ihm gebracht.“ „Gehaltserhöhungen? Die habe ich gerade unterzeichnet.“ „Noch mehr Parteien? Zu meiner Zeit gab es drei FLN-Fraktionen, heute gibt es Dutzende von Parteien.“ „Die Scharia? Ich baue gerade die größte Moschee des Maghreb. „Meinungsfreiheit? Unter Boumedienne gab es nur einen Fernsehsender, heute sind es bereits drei.“ Auszug aus Kamel Daoud: Mais que veut ce peuple algérien Le Quotidien d’Oran, 26.2.2008 Algeriens sozioökonomische Lage zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1962 war desaströs. Nach dem nationalen Befreiungskampf (1954-1962) stellte sich für die politischen und militärischen Führer deswegen nicht nur die Frage der Machtverteilung untereinander, sondern auch die Frage nach dem Entwicklungskonzept. Die Etablierung einer Zentralregierung und die Förderung der Bildung einer Nation als wichtigen Voraussetzungen für die Einleitung und Steuerung gesamtgesellschaftlich wirksamer Entwicklungsprozesse wurde durch zwei Sachlagen erschwert: Zum einen mußte ein Teil der algerischen Bevölkerung in den saharischen Südterritorien erst in politische Strukturen eingebunden werden; zum anderen mußte die politisch und militärisch während des Befreiungs- 122 Staatlicher Umgang mit Opposition kampfes straff in sechs Militärzonen organisierte Bevölkerung in Nordalgerien der Befehlsgewalt der Militärkommandanten entzogen werden. Besonders die Entmachtung der Militärkommandanten mündete in einen gewaltsamen Konflikt. Hinzu kamen in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit Machtkämpfe zwischen Repräsentanten des politischen Armes der Befreiungsbewegung, dem Front de Libération Nationale (FLN), und den militärischen Führern der Befreiungsarmee Armée de Libération Nationale (ALN). Gelöst wurden die Machtansprüche zwischen Militärführern und politischen Führern schließlich durch eine enge Verflechtung des Militärs mit den politischen Institutionen und der Wirtschaft des unabhängigen Algerien. Einheit, Konsens, Kontrolle und die Monopolisierung von Entscheidungsgewalt können seither als handlungsleitende Richtlinien der algerischen Staatsführung gelten; sie sind zu einem Großteil der konflikthaften Situation nach der Unabhängigkeit zu verdanken, in der sich politischideologisch unterschiedlich geprägte Akteure mit entsprechend abweichenden Vorstellungen über die Machtverteilung und die politische Ordnung gegenüberstanden. Zu einem formalen Bruch mit dem sozialistischgeprägten Einparteisystem und der engen Verflechtung von Militär und Politik kam es nach den landesweiten gewaltsamen Unruhen vom Oktober 1988. Nachdem bereits seit Beginn der 1980er Jahre die Streik- und Protestbereitschaft unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich ausgelöst durch die sich verschlechternden Lebensbedingungen, zugenommen hatten, sollten politische Liberalisierungsmaßnahmen und neue Formen der Partizipation die angestaute Unzufriedenheit in die „geordneten“ Bahnen eines Mehrparteiensystems lenken. Die neue Verfassung von 1989 vermied indes den Begriff „Partei“, der nach verpönter „Spaltung“ der Bevölkerung klang. Offiziell wurde das Recht verankert, „politische Vereinigungen“ zu gründen; in der Praxis wurde und wird allerdings von Parteien gesprochen. 1989 wurde in Algerien eine neue institutionelle Ära eingeleitet, die innerhalb kurzer Zeit in einen gewaltsamen Konflikt mündete, der in die algerische Geschichte als „das schwarze Jahrzehnt“ einging. Eine Rolle in diesem Konflikt kam dem im Juli 1989 verabschiedeten Gesetz zu den politischen Vereinigungen zu, das explizit Parteien verbot, die sich hauptsächlich auf eine Religion, Kapitel II : Algerien 123 Ethnie, Rasse oder ein Geschlecht stützen, in der Praxis jedoch nicht konsequent angewendet wurde. Am 6. September 1989 wurde die erste islamistische Partei, der Front Islamique du Salut (FIS), zugelassen. Die Entscheidung des damaligen Staatspräsidenten Bendjedid, trotz der Bestimmungen des Parteiengesetzes den FIS zuzulassen, war mit der Vorstellung (oder Hoffnung) verknüpft, auf diese Weise die mobilisierungskräftige islamistische Opposition politisch kooptieren und „zähmen“ zu können. Daß dies eine krasse Fehleinschätzung war, zeigte sich in den Folgemonaten: Die Zulassung als Partei gab dem FIS Handlungsspielraum und insbesondere auch durch die Teilnahme an Wahlen die Möglichkeit zur Konsolidierung seines Einflusses. Ein legales Ausbremsen des FIS auf dem Weg seiner erfolgreichen Infiltration der Institutionen wurde dadurch erschwert. Der Wahlabbruch im Januar 1992 war denn auch für das Image der Staatsführung (und insbesondere das Militär) im Ausland sehr nachteilig. Der Wahlabbruch war zudem verbunden mit der (erzwungenen) Demission des Staatspräsidenten, der Auflösung der gewählten Institutionen und dem Verbot des FIS im März 1992. Der Wahlabbruch leitete faktisch den landesweiten gewaltsamen Konflikt mit dem bewaffneten Arm des FIS ein, in den sukzessive weitere, FIS-unabhängige bewaffnete islamistische Gruppen eingriffen. Der 1992 ausgelöste bewaffnete Konflikt ist bis heute nicht beigelegt, wenngleich sich die Gruppen, die ihn tragen, ihre Ziele und Mittel, ihre geographische Verbreitung und ihre personelle Zusammensetzung veränderten,1 und der Konflikt auf bedeutend niedrigerem Niveau als in den ersten fünf Jahren nach seinem Ausbruch ausgetragen wird.2 Dennoch 1 2 Vgl. z.B. den Überblick bei Mokeddem, Mohamed: Les Afghans algériens. De la Djamaâ à la Qa’îda, Algier 2002. Der bewaffnete Konflikt der 1990er Jahre forderte – die Angaben gehen weit auseinander – mindestens 100.000 Todesopfer (200.000 ist die von einigen Vereinigungen angegebene Höchstzahl). Die Zahl der Schwerverletzten und Traumatisierten wird von offizieller Seite auf eine Million Personen geschätzt. Die Zahl der im Rahmen staatlicher Maßnahmen gegen bewaffnete islamistische Gruppen „Verschwundenen“ wird von Menschenrechtsvereinigungen mit 8.000 Personen, von staatlicher Seite mit 6.500 Personen angegeben. Auf 10.000 Personen wird die Anzahl der durch Aktionen bewaffneter islamistischer Gruppen „Verschwundenen“ beziffert. 124 Staatlicher Umgang mit Opposition kosteten die bewaffneten Auseinandersetzungen im Jahr 2007 immer noch 596 Personen das Leben.3 Die eng mit dem Konflikt verbundenen Fragen der religiösen und kulturellen Identität sowie der zukünftigen Gestaltung von Staat und Gesellschaft sind 16 Jahre nach Ausbruch des Konflikts immer noch ungeklärt. Der algerische Psychologe Noureddine Toualbi-Thaâlibi bezeichnet deswegen die gegenwärtige Lage in Algerien als „Anomie“, als „Unordnung“, in der soziale Normen und Regeln fehlen, wodurch sich die Vertrauenskrise zwischen Staatsführung und Bevölkerung vertieft und eine „Kultur des Aufstands“ (culture de l’émeute) begünstigt werde.4 Obwohl inzwischen 46 Jahre seit der Unabhängigkeit Algeriens vergangen sind, strukturelle Veränderungen im sozialen Bereich stattfanden und der Druck zur Anpassung der Wirtschaft an die weltwirtschaftliche Entwicklung seit Jahren hoch ist, wurde bei der Transformation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und bei der Anhebung des allgemeinen Lebensniveaus und der Kaufkraft kein Durchbruch erzielt. Als prägend und dauerhaft erwiesen sich indessen die starren, bürokratischen Abläufe, die Kontroll- und Monopolmanie des Zentralstaates,5 dessen klientelistische Funktionsweise unter Präsident Bouteflika durch den neuerlichen Rekurs auf regionalistische Rekrutierungsmechanismen noch verstärkt wurde. Die ungelösten Probleme im wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Bereich, die seit 1962 periodisch in gewaltsame Konflikte 3 4 5 Vgl. die von Salah-Eddine Sidhoum zusammengestellte „Chronologie 2007. 16e année de violences politiques en Algérie“, unter: www.algeria-watch.org, 1.2.2008. Vgl. Toualbi-Thaâlibi, Noureddine: L’ordre et le désordre. L’Algérie à l’épreuve de ses mythes fondateurs, Algier 2006, S. 14: „Mais à présent que cette crise de confiance entre gouvernants et gouvernés semble avoir atteint en Algérie un nouveau paroxystique, on voit poindre en parallèle un nihilisme social de plus en plus ostentatoire et qui s’organise de préférence dans ce qui s’apparente désormais à une culture de l’émeute.“ Vgl. zu den Hindernissen für Wandel im politischen und wirtschaftlichen Bereich Mattes, Hanspeter: Algerien, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Demokratisierung durch externen Druck? Perspektiven politischen Wandels in Nordafrika/Nahost, Hamburg 2005, S. 127-178, hier besonders: S. 147-175. Kapitel II : Algerien 125 mündeten,6 stehen in einem engen Zusammenhang mit der Identitätsfrage. Die identitäre Frage und ihre politische Handhabung beeinflußt wiederum die Fähigkeit zur flexiblen und pragmatischen Anpassung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft an die globalen und an die nationalen strukturellen Veränderungen.7 Mit der Identitätsfrage verbunden ist die Frage nach der Stellung der Religion in Staat und Gesellschaft. Diese beiden Faktoren, Identität und Religion, generierten nicht nur spezifische Konflikte, sie verschärften in der Vergangenheit auch Konfliktsituationen. Da sie nach wie vor zu den ungelösten Problembereichen zählen, ist davon auszugehen, daß sie auch künftig das Potential haben werden, Konflikte zu verschärfen und ihnen eine nationale Dimension zu geben. 6 7 Eine erste Phase der Opposition von 1962 bis zum Putsch Oberst Boumediennes 1965 wurde dominiert von der Machtfrage zwischen FLN-ALN-Fraktionen; die zweite Phase wurde geprägt durch Machtkämpfe im Führungszirkel des Militärs und insbesondere ab 1970 von ideologisch-begründeter Opposition, die sich gegen das Sozialismusexperiment im Agrarsektor wendete. Die sozioökonomischen Probleme lieferten der Opposition Argumente gegen diese Politik; ihre Positionen variierten zwischen grundsätzlicher Befürwortung von Reformen bis zur Ablehnung des offiziell propagierten Entwicklungsmodells. Ab 1980 nahmen die Aktivitäten von Oppositionsgruppen zu, die offen und zum Teil gewaltsam den Basiskonsens über die gesellschaftskonstituierenden Komponenten (Islam, arabische Sprache/Kultur) angriffen (wie die Bewegung der Berberophonen), und jenen, die eine radikalere Interpretation dieser in der Verfassung verankerten identitären Komponenten wünschten (Vertreter der islamistischen Bewegung). Sie argumentierten religiös-kulturell-moralisch, übten öffentlich (in Moscheen) Kritik an der offiziellen Politik und organisierten Demonstrationen. Aus ihren Reihen ging eine bewaffnete Gruppe hervor, der Mouvement Islamique Algérien, der sich 1982-1987 Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen lieferte. Demonstrationen von Frauen- und Menschenrechtsgruppen sowie von Schülern und Studenten, die auf ihre schlechte materielle Situation hinweisen wollten, mehrten sich ebenfalls in den 1980er Jahren. Vgl. zur Entwicklung von Opposition und Protesten nach der Unabhängigkeit Algeriens Faath, Sigrid: Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre, Hamburg 1990, S. 181-288. Toualbi-Thaâlibi (a.a.O., Anm. 4, S. 33 ff.) sieht nur dann eine Chance für die Transformation der algerischen Gesellschaft und Wirtschaft und ihren Anschluß an die globale Entwicklung, wenn die seit der Unabhängigkeit fortgesetzte „Sakralisierung der kollektiven Identität“ (Islam als Religion, arabische Sprache) auf Kosten anderer identitätsstiftender Werte und Bezüge aufgehoben wird, und der Anschluß „an die intellektuelle und soziale Modernität“ gezielt gesucht und gefördert wird. 126 Staatlicher Umgang mit Opposition 1. Rahmenbedingungen für Opposition 1.1. Die Institutionalisierung von politischer Opposition 1989 Am 4. Oktober 1988 brachen in Algier soziale Unruhen aus, die an den Folgetagen auf weitere Städte Nordalgeriens übergriffen. Am 13. Oktober 1988 waren die Unruhen wieder abgeklungen, sie hatten aber in diesem Zeitraum nach offiziellen Angaben 159 Tote und 154 Verletzte gefordert und Zerstörungen der Infrastruktur im Wert von 1,21 Milliarden Dinar im öffentlichen und von 30 Millionen Dinar im privaten Sektor verursacht.8 Die „Oktoberunruhen“ waren Auslöser für die Lockerungen des Vereinsgesetzes am 24. Oktober 19889 und die nachfolgende Modifikation der Verfassung. Nachdem die Mobilisierung der Bevölkerung (geordnete Protestaktionen, Streiks an Schulen, staatlichen Unternehmen; Forderung von Repräsentanten der Amazigh-Bewegung10 und Islamisten) bis in den Januar 1989 anhielt, kündigte Präsident Bendjedid an, zukünftig politischen Pluralismus dulden und ein Mehrparteiensystem etablieren zu wollen. Mit Referendum vom 23. Februar 1989 wurde die neue Verfassung angenommen und am 5. Juli 1989 das Gesetz für „Vereinigungen mit politischem Charakter“ verabschiedet. Das Gesetz vom Juni 1989 zur Gründung von politischen Vereinigungen verpflichtet diese zur Achtung der verfassungsmäßig verankerten Grundfreiheiten, der nationalen Einheit, der territorialen Integrität, der Unabhängigkeit des Landes, der Souveränität des Volkes, der Republik als Staatsform und der „demokratischen Organisation“. Artikel 5 verbietet explizit die Zulassung von politischen Vereinigungen, die ihre Aktivitäten auf konfessionelle, linguistische, regionalistische, geschlechtsspezifische und 8 9 10 Details hierzu in: Faath 1990, a.a.O. (Anm. 6), S. 289-394; vgl. auch die Analyse von Boukhobza, M’hammed: Octobre 88. Evolution ou rupture?, Algier 1991. Das Gesetz für Vereinigungen nichtpolitischen Charakters bezog sich auf Vereinigungen mit kulturellen, wissenschaftlichen und sportlichen Zielsetzungen. Nicht eingeschlossen waren Vereinigungen religiösen Charakters. Die Bewegung wird hauptsächlich von Befürwortern einer Aufwertung und Gleichstellung der berberischen (Amazigh) Kultur und Sprache mit der arabischen Kultur und Sprache getragen; sie entstand in der Kabylei und unter Algeriern an französischen Universitäten, die aus der Kabylei stammten. Vgl. als Überblick Kratochwil, Gabi: Die Berber in der historischen Entwicklung Algeriens von 1949 bis 1990. Zur Konstruktion einer ethnischen Identität, Berlin 1996. Kapitel II : Algerien 127 rassenspezifische Grundlagen stellen. Eine Folge des Gesetzes war die inflationäre Gründung von Parteien. Die ersten pluralen Kommunalwahlen Algeriens fanden 1990 statt. Die ersten pluralen Legislativwahlen wurden jedoch am 4. Januar 1992 abgebrochen, um den Wahlsieg des islamistischen FIS zu verhindern. Gleichzeitig wurde der damalige Präsident, Chadli Bendjedid, der bei einem Wahlsieg zu Konzessionen an die Islamisten bereit war, von der Militärführung zum Rücktritt gezwungen. Nach diesem Eingriff und der Auflösung des Parlaments folgten (plurale) Präsidentschaftswahlen im November 1995;11 Legislativ- und Kommunalwahlen fanden nach der „schwarzen Dekade“ erst wieder 1997 statt (danach regulär 2002, 2007). Die Konzessionen der Staatsführung im Anschluß an die Unruhen vom Oktober 1988 waren Ausdruck ihres wachsenden sozialen Kontrollverlusts12 und der Beeinträchtigung ihrer Handlungsfähigkeit. Die in den 1980er Jahren zunehmenden sozioökonomischen Probleme13 trugen maßgeblich zu diesem sozialen Kontrollverlust bei, der bis heute anhält. Denn ungeachtet der positiven makroökonomischen Bilanz Algeriens seit 200414 nahmen die sozialen Disparitäten und die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem Lebensstandard und den staatlichen Leistungen kontinuierlich zu. Protestaktionen und die Artikulation von Opposition 11 12 13 14 Vorgezogene Präsidentschaftswahlen im April 1999 folgten nach dem Rücktritt Präsident Zerouals; Abdelaziz Bouteflika galt damals als derjenige Kandidat, der von der Militärführung unterstützt wurde, und ging dementsprechend siegreich aus der Wahl hervor; seine Wiederwahl erfolgte 2004. Eine nochmalige Wiederwahl 2009 wäre nur nach einer Verfassungsänderung möglich; diese wird zur Zeit vorangetrieben, wenngleich offen ist, ob der kranke Bouteflika selbst noch einmal antritt oder lediglich die Weichen für eine längere Amtszeit des künftigen Präsidenten stellt. Das bedeutet, die Fähigkeit der Staatsführung, die Bevölkerung in ihrem Sinne zu Verhaltensmustern zu bewegen, schwand. Vgl. Migdal, Joel: Strong societies and weak states, Princeton NJ 1988. In Algerien hat der soziale Kontrollverlust der Staatsführung seit den 1980er Jahren negative Auswirkungen auf die Verwendung der Ressourcen für gesamtgesellschaftliche Ziele: Sie werden oft eingesetzt, um Interessengruppen, die „ruhig“ gestellt werden sollen, durch Zuwendungen zu binden. Vgl. z.B. Algerien im Spiegel ausgewählter Sozialreportagen. Ausgewählt und eingeleitet von Hanspeter Mattes, in: Wuqûf, Band 6, Hamburg 1991, S. 269-310. Algerien reduzierte seine Auslandsschulden in Höhe von 15,5 Mrd. $ 2006 binnen Jahresfrist auf 4,7 Mrd. $; seither wurden sie noch weiter abgebaut. Die Deviseneinnahmen aus dem Energieexport betrugen allein 2007 59 Mrd. $ (2008: ca. 75 Mrd. $). Die Devisenreserven belaufen sich inzwischen auf 145 Mrd. $ (2008); Anstieg bis 2010 auf 200 Mrd. $. 128 Staatlicher Umgang mit Opposition gegen die staatliche Politik oder staatliche Ineffizienz sind alltäglich geworden. Die sozial angespannte Lage 2007/2008 basiert somit auf Frustrationen und Enttäuschungen, die denen des Jahres 1988 ähneln. Sie werden allerdings – und dies ist ein Unterschied zu den 1980er Jahren, als Algerien im Ausland hoch verschuldet war – durch das Wissen über die zur Zeit vorhandene Finanzkraft des Landes verschärft. Die Zunahme der innenpolitischen Konfrontationen ist zum einen Resultat der sozialen Spannungen, die eng mit dem demographischen Wachstum zusammenhängen und seit den 1980er Jahren in eine Bedürfnisexplosion mündeten. Zum anderen sind sie Resultat der voranschreitenden Aufkündigung des Basiskonsens der nachwachsenden Generationen mit der Staatsführung, weil deren „klassische“ Erwartungen in den Staat als Arbeitgeber, Dienstleister und „Versorger“ (in paternalistischer Tradition) mit der Realität nicht mehr übereinstimmen. Zudem stehen nach Ansicht vieler, vor allem auch junger Algerier die staatlichen Institutionen nicht im Dienst der Gesamtbevölkerung; seit den 1980er Jahren verstärkte sich deshalb die Tendenz, staatliche Institutionen und ihre Vertreter subjektiv als „Gegner“ bzw. als Einrichtungen zu werten, die nur ihre eigenen Interessen wahren. Diese verbreitete Einstellung erleichtert es Jugendlichen, ihren Unmut über die eigene Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und über die fehlenden Konsummöglichkeiten in gewaltsamen Akten gegen staatliche Symbole (von Gemeindeverwaltungen bis zu Polizeistationen) auszudrücken. Das 1989 eingeführte Mehrparteiensystem bot für diese Art von Frustrationen und Problemen keine Lösung; die Parteien, ob an der Regierung beteiligt oder in der Opposition, werden in dem auf Klientelismus basierenden System nicht als Chance und Möglichkeit zur Mitgestaltung von Politik betrachtet, sondern nur als Wahrer der Interessen ihrer direkten Klientel und insbesondere als „Versorgungseinrichtung“ (Bereitstellung von Einkommen, Privilegien; Zukunftssicherung) für ihre Kader (und deren Familien) wahrgenommen. 1.2. Die Systemstruktur und die Problemlagen Seit der Unabhängigkeit 1962 hat sich in Algerien ein hierarchisch-zentralistisches, autoritäres System etabliert und konserviert. Der Frontcha- Kapitel II : Algerien 129 rakter des FLN während der Einparteiherrschaft (1963-1989) verlangte von der Staatsführung stets die Umsetzung einer Politik des Ausgleichs und der Anbindung wichtiger Unterstützer durch Gewährung von Privilegien und staatlichen Leistungen. Nach den Erleichterungen für die Zulassung von Vereinigungen 1988, der Zulassung von Parteienpluralismus 1989, der Aufhebung des Monopols der nationalen Berufs- und Gewerkschaftsverbände zur Organisierung der berufsspezifischen Interessen und nach weiteren politischen Liberalisierungen im Printmedienbereich wurde dieses Mittel der Anbindung beibehalten. Unterstützung, Dissens oder Opposition werden seither im Parlament und in den regionalen und kommunalen Institutionen sowie bei Wahlen, in den Printmedien Algeriens und in spontanen Protestaktionen zum Ausdruck gebracht. Verhaltensleitend und prägend für oppositionelles Verhalten (im weitesten Sinne von „Nichtübereinstimmung“) ist jedoch das intakte Klientelsystem. Die Bereitschaft der Bevölkerungsmehrheit, das auf informellen Beziehungen basierende System der gegenseitigen Verpflichtung zu unterstützen, wenn die „Leistungen“ im Rahmen der klientelistischen Anbindung befriedigend ausfallen, sichert dem Staatspräsidenten und den Regierungsparteien Gefolgschaft (Wählerschaft), die sie allerdings durch entsprechende Zuwendungen, Privilegien usw. regelmäßig binden müssen. Dieses System der klientelistischen Solidarität verhindert wiederum, daß sich massive Gegnerschaft organisiert, wenn rechtzeitig z.B. durch Leistungsversprechungen (u.a. durch finanzielle Zusagen für regionale Entwicklungsprojekte) oppositionelle Aktivitäten im Vorfeld verhindert oder abgeblockt werden. Das Verhalten des Staatspräsidenten gegenüber seinen Ministern, den hohen Funktionären der Zentral-, Regional- und Lokaladministration sowie gegenüber seinen Wählern und den ihn stützenden Parteien trägt diesen Klientelerwartungen Rechnung. Somit ist bei aller Kritik an politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die von der legalen Opposition, den Gewerkschaften, sonstigen Interessengruppen und den Medien geübt wird, die Staatsführung der einflußreichste Akteur, der den politischen, sozialen und ökonomischen Kurs vorgibt. Neben dem Staatspräsidenten stellen die Militärführung inklusive der Geheimdienste und die Führungsspitzen der anderen Sicherheitsdienste die wichtigsten politischen Akteure und Interessengrup- 130 Staatlicher Umgang mit Opposition pen dar; sie garantieren die Orientierung des Staates, weil ihnen die Funktion einer potentiellen Vetomacht zufällt. Trotz dem formalem Rückzug der Militärführung aus der Politik ist diese immer noch ein zentraler Faktor im politischen System Algeriens geblieben; die ehemaligen Generäle stellen zudem gleichzeitig eine einflußreiche wirtschaftliche Interessengruppe dar.15 Durch die Verankerung eines formal pluralen politischen Systems mit der Verfassung von 1989 und nach dem offiziellen Bekenntnis zur marktwirtschaftlichen Transformation im Jahre 2000 nahm zwar die Zahl der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure gerade auch im oppositionellen Spektrum zu: Strukturverändernde Reformen wurden dadurch aber in Algerien nicht begünstigt; noch sind die reformbremsenden Akteure zu einflußreich. Es akzentuierten sich jedoch die Trennlinien zwischen den einzelnen Akteuren, die seither offen ihre Rivalität austragen und ihre politisch-ideologischen, machtpolitischen, ökonomischen und sozialen sowie kulturell-identitären Interessen durchsetzen wollen. Die seit den Wahlen 2004 in der „Allianz des Präsidenten“ zusammengeschlossenen Regierungsparteien FLN, islamistischer Mouvement Social pour la Paix (MSP) und Rassemblement National Démocratique (RND) passen sich in der Praxis dem jeweiligen Programm des Präsidenten an. Erst im Vorfeld von Wahlen werden die Parteiunterschiede herausgestellt, wobei die Präsidialstruktur und der Macht- und Kontrollanspruch des Präsidenten dafür sorgt, daß letztendlich eine auf Ausgleich bedachte Politik durchgesetzt wird und alle, die von staatlichen Ressourcen profitieren wollen, sich einbinden lassen müssen. In der politischen Praxis verschwimmen deswegen bei den Regierungsparteien die Konturen. Lediglich der MSP (s.u. Abschnitt 2) verfolgt eine Dop15 Der Handlungsspielraum des Staatspräsidenten und „seiner“ Regierung wird durch die Rolle der ehemaligen und aktiven hohen Kader der Sicherheitsorgane, die es vermochten, Kraft ihrer zentralen Positionen in den Sicherheitsinstitutionen eine eigene Klientel heranzuziehen, eingeschränkt. Der Staatspräsident muß ihre Interessen sowohl während ihrer aktiven Dienstzeit als auch nach der Pensionierung berücksichtigen. Seit der Stärkung und gesetzlichen Regelung privatwirtschaftlicher Aktivitäten 1982 sind ehemalige Offiziere nicht nur im öffentlichen Sektor, sondern überwiegend im privatwirtschaftlichen Bereich aktiv geworden. Vgl. Bencheikh, Madjid: Algérie: un système politique militarisé, Paris 2003. Kapitel II : Algerien 131 pelstrategie und präsentiert sich je nach Sachlage auch als „Opposition im Regierungslager“. Die Bereitschaft zahlreicher Parteien, ihre Interessen durch Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Präsidenten zu fördern, stabilisiert das System und die Stellung des Präsidenten. Bei parlamentarischen Diskussionen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformfragen wird zwar heftig gestritten; bei der Mehrzahl der Themen haben sich bislang aber stets die Reformen bremsenden oder die Reformen blockierenden Kräfte durchgesetzt, weil der Präsident eine ausgeprägte Konsenspolitik verfolgt und er keine Gegnerschaft provozieren möchte. Zudem ist sich die Staatsführung der „Angst“ eines jeden einzelnen Verwaltungs- und Staatsbeamten vor „Veränderungen“, die den Status quo bzw. bisherige Privilegien tangieren; diese Angst weckt um so stärkere „Abwehrmechanismen“, weil Veränderungen nicht nur das Individuum, sondern auch die von ihm abhängige Familie betreffen. Der Gestaltungsspielraum der Staatsführung ist zudem im sozioökonomischen Bereich durch das Mobilisierungspotential der seit 2003 sehr aktiv gewordenen „autonomen“ Gewerkschaften (s.u.) und die seit 2001 gestiegene Protestbereitschaft der Bevölkerung zusätzlich „eingeschränkt“. 1.3. Prägende Einstellungen für Opposition und staatliche Reaktionen Ein quantitativer und qualitativer Sprung bei der offenen Artikulation von Opposition setzte in Algerien erst Ende der 1980er Jahre mit der Zulassung von Vereinigungen und Parteienpluralismus ein. Kritik an staatlicher Politik und staatlichem Verhalten bedeutet jedoch nicht immer, daß ein oppositioneller Akteur konsequent jedes Kooperationsangebot der Staatsführung zu jedem Zeitpunkt und dauerhaft ablehnt; ganz im Gegenteil gehört pragmatische Interessenpolitik von Individuen wie von oppositionellen Gruppen, Vereinigungen und Parteien mit zum Verhaltensrepertoire. Gegenseitiges Mißtrauen wird gerade aus diesem Grund verstärkt und ist eine prägende Grundeinstellung in der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten sowie zwischen Regierenden und jedweder Art von Opposition.16 16 Bei der Besetzung (vor allem höherer Funktionen) ist deswegen der Rückgriff auf die eigene Klientel immer noch prägend; da diese oft eine Region repräsentiert, ist der 132 Staatlicher Umgang mit Opposition Das Mißtrauen zwischen Regierenden und Regierten, Regierenden und Opposition und das Bedürfnis der Staatsführung, die Kontrolle über Reformprozesse nicht zu verlieren, beeinflußte auch die Ausgestaltung des Wahlrechts und bestimmte die Rolle, die offiziell der legalen Opposition zugebilligt wurde. Wenngleich eine kontrollierte Artikulation von Interessen im Rahmen von Parteiorganisationen und nichtpolitischen Vereinigungen erfolgen soll, um den formalen Regeln einer verfassungsmäßig verankerten demokratischen Republik mit Mehrparteiensystem zu entsprechen, so wurde das Wahlrecht jeweils angepaßt, wenn die getroffene Regelung den Interessen der Staatsführung nicht förderlich war. Die als staatstragend und loyal geförderten Parteien FLN und der 1997 legalisierte RND, gegründet von Mitgliedern des reformwilligeren Flügels des FLN, sollen jeweils die Dauerhaftigkeit des im Prinzip säkular orientierten politischen Systems garantieren. Das seit 1997 gültige Verhältniswahlrecht17 begünstigt diese beiden Parteien. Der formal plurale Charakter der Wahlen soll zwar ein breites Spektrum von Opposition binden, gleichzeitig aber sicherstellen, daß das Risiko „unerwünschter Wahlsieger“ gemindert wird.18 Die Aufrechterhaltung des am 9. Februar 1992 verhängten Notstands19 kann ebenfalls in diesem Licht interpretiert werden: Die 1992 17 18 19 Begriff Regionalismus in Algerien negativ besetzt. Unter Präsident Bouteflika stammen z.B. zahlreiche Minister und höhere Beamte aus Westalgerien (Region Tlemcen). Vgl. hierzu auch das bei Toualbi-Thaâlibi wiedergegebene Zitat Präsident Bouteflikas (a.a.O., Anm. 4, dort S. 158): Auf die Frage eines Journalisten zu dieser Tendenz, hohe Posten nach regionalistischen Kriterien zu besetzen, hätte der Präsident geantwortet, es sei eben weniger riskant jemanden, den man kenne, auf einen verantwortungsvollen Posten zu ernennen, als jemanden, den man nicht kenne. Zur Wahlrechtsentwicklung und den damit verbundenen Überlegungen zur Machtsicherung vgl. ausführlich die entsprechenden Ausführungen zu Algerien bei Axtmann, Dirk: Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika. Verfassungs- und Wahlrechtsreformen in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988 und 2004, Wiesbaden 2007. Details zur Entwicklung 1989 bis zum Wahlabbruch, zum Ausbruch des bewaffneten Konflikts und den institutionellen Regelungen bis zur neuerlichen Wahl eines Präsidenten und eines Parlaments 1997 sind in komprimierter Form nachzulesen in den Beiträgen zu Algerien in: Nahost-Jahrbuch 1989 ff., Opladen 1990 ff. Vgl. Dekret 92-44, 9.2.1992 (Text im algerischen Staatsanzeiger JORA, Nr. 10, 9.2.1992, S. 222-223). Die Maßnahme wird im Vorspann des Dekrets damit begründet, daß „schwerwiegende und andauernde Angriffe auf die öffentliche Ordnung an zahlreichen Orten des nationalen Territoriums“ stattfinden und die Stabilität der In- Kapitel II : Algerien 133 ausgebrochenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitsorganen und bewaffneten islamistischen Gruppen konnten durch massiven militärischen Einsatz sukzessive eingegrenzt werden; seit Frühsommer 1999 trugen zudem verschiedene Versöhnungs- und Amnestieangebote an Mitglieder und Unterstützer der bewaffneten Gruppen zu einer weiteren „Befriedung“ bei. Da diese Angebote aber keine definitive Auflösung der bewaffneten Gruppen herbeiführten, wird diese Tatsache bzw. die Sicherheitslage weiterhin argumentativ in die Waagschale geworfen, wenn es darum geht, die Aufrechterhaltung des Notstands zu rechtfertigen. Der Konflikt mit den bewaffneten Islamisten prägt somit bis heute das öffentliche Leben und wirkt sich auch auf den praktischen Umgang mit der legalen Opposition aus. Der Notstand schränkt die politischen Aktivitäten der legalen Opposition ein, die keine öffentlichen Versammlungen ohne Genehmigung abhalten und in der Hauptstadt Algier z.B. auch keine Demonstrationen durchführen kann. Das bedeutet, daß die öffentliche Versammlungsfreiheit, das Streik- und Demonstrationsrecht deutlich beeinträchtigt wird. Ferner schränkt der Notstand die bürgerlichen Rechte ein, denn solange die Bestimmungen in Kraft sind, können Personen und Einrichtungen, die verdächtigt werden, in Aktivitäten verwickelt zu sein, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder den regulären Ablauf der Institutionen gefährden, durch präventive Maßnahmen am Handeln gehindert werden (dies kann bis zum Verbot reichen). Die Aufrechterhaltung des Notstands hat allerdings die Aktivitäten nicht organisierter Opposition (in Form sozialer Proteste), die im April 2001 in der Kabylei ihren Ausgang nahmen und seither in zahlreichen Regionen (kleinen, mittleren Städten) zu Protestkundgebungen (oft mit Zerstörungen verbunden) führten, nicht verhindert. Seit 2007/2008 verstärkten sich zudem die von sogenannten autonomen Gewerkschaften stitutionen und die Sicherheit der Bürger gefährdet sind. Gemäß Verfassung von 1996, Artikel 91 und 96 ist der Notstand eine Maßnahme zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung. Ergänzende interministerielle Erlasse und präsidentielle Dekrete regeln die Möglichkeit, Gesellschaften, Organe, Einrichtungen und Unternehmen jeder Art zu verbieten, wenn deren Aktivitäten die öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit, das normale Funktionieren der Institutionen des Landes oder die höheren Interessen des Landes gefährden. 134 Staatlicher Umgang mit Opposition organisierten Protestkundgebungen gegen die sinkende Kaufkraft bzw. zugunsten von Lohnerhöhungen. 1.4. Opposition und ungelöste Konflikte 2008 Zu den wichtigsten Konflikten, die Algerien prägen und Opposition fördern, zählen die seit der Unabhängigkeit ungelösten Konflikte über - die Identität und die Grundlagen (sowie die Zukunftsvision) von Staat und Gesellschaft. In diesem Konflikt geht es somit um die gemeinschaftsbildende Vision und Einigung der Mehrheitsgesellschaft auf ihre staatliche und gesellschaftliche Organisation. Die Regelung des kulturellen, sprachlichen und religiösen Pluralismus, die offizielle Respektierung und der Schutz dieser Pluralität und Differenz steht in diesem Kontext an. Die von Toualbi-Thaâlibi geforderte Aufhebung der Sakralität des Islam und der arabischen Sprache wäre hierfür eine wichtige Voraussetzung. In diesem Zusammenhang wäre gleichfalls die Stellung der Religion in Staat und Gesellschaft (und damit die Handlungsspielräume für die islamistischen Organisationen) zu klären. - den Umgang mit radikalen Islamisten. Dieser Konflikt ist vielschichtig und umfaßt den Umgang mit noch im Untergrund aktiven radikalen Islamisten, die politische Handhabung dieses Problems (zur Minderung des Nachschubs; zur Immunisierung gegen die Propaganda) sowie Regelungen zur Reintegration von ehemaligen Mitgliedern bewaffneter islamistischer Gruppen; auf der anderen Seite sind die Interessen von Opfern des islamistischen Terrorismus wie der Interessen von Opfern der staatlichen Repression im Zusammenhang mit der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus so zu berücksichtigen, daß ein gewisses Maß an „Zufriedenheit“ mit der Lösung bei den Betroffenen entsteht (was bislang nicht der Fall ist). - die künftige politische Ordnung. „Nichtübereinstimmung“ mit den Parteien der Regierungskoalition und zahlreichen nationalen Organisationen und Vereinigungen äußert sich in dieser Hinsicht seit 2007 vor allem in Bezug auf die geplanten Verfassungsänderungen. Widerspruch löste auf individueller Basis und bei einigen Oppositionsparteien vor allem die Absicht aus, die Beschränkungsklausel für die Wiederwahl des Staatspräsidenten (bislang zwei Amtszeiten von je fünf Jahren) aufzuheben und damit politischen Wechsel an der Staatsspitze weiter zu erschweren. Details über die Vorstellungen der angestrebten Regelung (ob nur mehr als zwei Mandate gewährt werden sollen oder ob die Mandatsbeschränkung vollständig aufge- Kapitel II : Algerien 135 hoben werden soll; Verlängerung der Mandatszeit von derzeit fünf auf z.B. sieben Jahre) lagen im April 2008 noch nicht vor. - die staatliche Leistungskapazität für die Gesamtgesellschaft und die staatliche Wirtschaftspolitik. Die als ungenügend empfundene soziale und sozioökonomische Leistungsfähigkeit des Staates löst zunehmend Konflikte aus; die Manifestationen von Unzufriedenheit richten sich in den letzten Jahren verstärkt gegen die staatliche Wirtschaftspolitik. Fordern die einen (wie z.B. einige Privatunternehmer) mehr Liberalisierung und Bürokratieabbau, plädieren die anderen für mehr staatliche Steuerung und die Reduzierung der Privatisierungsinitiativen. Der soziale und sozioökonomische Konfliktstoff ist von nationaler und politisch-ideologisch sowie generationenübergreifender Dimension. Die Neigung zur Koppelung der sozioökonomischen Problematik mit identitären Aspekten (kulturell-linguistisch oder religiösidentitärer Art) ist zu beobachten; in der Regel verschärft sich dadurch die Opposition und die Konfliktbereitschaft. 2. Opposition in Algerien: Das Spektrum der organisierten Gruppen und spontanen Akteure Seit der Zulassung von Parteien und den Erleichterungen für die Gründung von Vereinigungen in Algerien 1989 fällt die Neigung zur Parteien- und Vereinigungsvielfalt auf, die sich weniger programmatisch als mit den persönlichen Ambitionen einzelner Mitglieder begründen läßt. Waren 1997 bei der ersten pluralen Legislativwahl nach dem Wahlabbruch vom Januar 1992 und dem Beginn des Konflikts mit bewaffneten islamistischen Gruppen nur zehn Parteien (2002: neun Parteien) im Parlament vertreten, sind es seit den Wahlen von 2007 21 Parteien. Die Gruppe der Unabhängigen konnte zudem seit 1997 ihre Repräsentanz von elf Sitzen (1997), 30 Sitzen (2002) auf 33 Sitze (2007) erhöhen. Konstant blieb seit 1997 trotz stark variierendem Stimmengewinn der Regierungsparteien die Zusammensetzung der Regierungskoalition. Sie besteht aus drei Parteien: dem FLN, dem 1997 neu gegründeten RND, in dem sich die stärker für Reformen eintretende, antiislamistisch und säkular orientierte Fraktion des FLN unter Generalsekretär Ouyahia sammelte, und dem islamistischen MSP, der sich vom Gewaltkurs des FIS 136 Staatlicher Umgang mit Opposition distanzierte und sich als Kooperationspartner der Staatsführung anbot. Die von Staatspräsident Zeroual20 1995 angebotenen Gespräche mit allen, die Gewalt ablehnen, insbesondere auch mit Vertretern des verbotenen FIS, wurden von Bemühungen flankiert, „reuige“ Mitglieder bewaffneter Gruppen in die Gesellschaft zu reintegrieren und gewaltablehnende, kooperative islamistische Parteien in das politische System einzubinden – die Regierungsbeteiligung des MSP ist Resultat dieser Politik. Trotz seiner Einbindung in die Regierung „pflegt“ der MSP jedoch weiterhin auch ein „Oppositionsimage“; wegen dieser Doppelstrategie wird die Partei in die Rubrik „legale Opposition“ aufgenommen. Die Auswertung der Wahlergebnisse (ob Legislativwahlen oder Wahlen zu den Kommunal- und Provinzräten) unter dem Gesichtspunkt der politischen Orientierung der partizipierenden Parteien zeigt, daß sich neben den Unabhängigen, die eine kooperative, loyale Opposition darstellen, drei Haupttendenzen politischer Orientierung behaupten konnten: - 20 Die explizit arabisch-nationalistische, nationalistische, konservativ bis reformerisch orientierte Tendenz, die aus der ehemaligen Einheitspartei FLN hervorging. Für die arabisch-nationalistische, religiös-konservative Tendenz steht die ehemalige Einheitspartei FLN als Partei mit „historischer Legitimität“, die unter der älteren Generation noch Vertreter sozialistischer Ideen hat; allerdings hat der FLN seinen Frontcharakter beibehalten und besitzt auch nach der Abspaltung des RND (s.u.) eine reformwilligere Fraktion. Der FLN konnte bei den Wahlen 2002 und 2007 gegenüber dem Rivalen RND, der 1997 noch 3,5 Mio. Stimmen auf sich vereinte (156 Sitze im Parlament), erneut eine führende Position erringen: 2002 sammelte der FLN 2,6 Mio. Stimmen und sicherte sich damit 199 Sitze im Parlament (RND: rund 610.000 Stimmen/47 Sitze). 2007 mußte der FLN zwar einen Stimmenverlust hinnehmen (1,3 Mio. Stimmen/136 Sitze), blieb jedoch Wahlsieger (RND: rund 591.000 Stimmen/61 Sitze). Diesen neuerlichen politischen Einfluß verdankt der FLN der Tatsache, daß der 1999 gewählte Staatspräsident, Abdelaziz Bouteflika, ihn prak- Liamine Zeroual, General im Ruhestand, war seit 10.7.1993 Verteidigungsminister in der kollektiven Staatsführung (Haut Conseil d’Etat), die seit dem Wahlabbruch im Januar 1992 die Exekutive stellte. Am 30.1.1994 ernannte diese kollektive Staatsführung Zeroual zum neuen Staatspräsidenten. Im Oktober 1994 kündigte Präsident Zeroual als ersten Schritt zur Normalisierung der Institutionen plurale Präsidentschaftswahlen an. Am 16.11.1995 wurde er zum Staatspräsidenten gewählt. Kapitel II : Algerien 137 tisch zur „Partei des Präsidenten“ machte, indem er die FLN-Ehrenpräsidentschaft übernahm. Macht und Ressourcenzugang werden folglich in der Tradition und Funktionslogik des Systems über die Mitgliedschaft und Unterstützung der „Partei des Präsidenten“ gesichert, so daß sich automatisch der Kreis der loyalen Gefolgschaft für die jeweilige „Partei des Präsidenten“ erhöht.21 2007 etablierte sich mit 13 Deputierten eine weitere konservative Partei, der Front National Algérien (FNA). Manche algerischen Beobachter bezeichnen ihn als Partei der „Neokonservativen des FLN“,22 die den Islamisten sogar näher stünden als der jetzige FLN-Generalsekretär und Regierungschef Belkhadem. Der 1998 gegründete, 1999 legalisierte FNA wird von dem Sohn eines ehemaligen Kämpfers im algerischen Befreiungskrieg geleitet, der in den 1990er Jahren die nationale Organisation der „Kinder der Befreiungskämpfer“ (CNEC) präsidierte. Vom FLN spaltete sich 1997 der RND ab, der stärker reformorientiert, säkular und modernistisch eingestellt ist; er erteilte dem Sozialismus eine Absage und plädiert für eine wirtschaftliche Liberalisierung. Der RND ist jedoch grundsätzlich zur Kooperation mit dem FLN bereit. Die Partei ist eine Art Bindeglied zwischen dem arabisch-nationalistischen, religiös konservativen FLN auf der einen Seite und den säkularen, für politische und gesellschaftliche Reformen sowie die Gleichberechtigung der berberischen Kultur und Sprache eintretenden Parteien (wie FFS, RCD) und (kulturellen) Vereinigungen auf der anderen Seite. 21 22 - Die islamistische Tendenz. Sie umfaßt Parteien wie MSP, Mouvement Nahda (MN) und Mouvement du Renouveau National (MRN). Sie verloren allerdings seit 1997 an parlamentarischer Repräsentanz: Hatten sie 1997 zusammen noch 203 Sitze gewonnen, waren es 2002 noch 82 und 2007 lediglich 60 Sitze. - Die säkulare, liberal-demokratische Reformen fordernde, sozialdemokratisch bis sozialistisch orientierte Tendenz. Hierzu zählen die säkularen, für liberale und demokratisierende Reformen und die Förderung der Berbersprache und Berberkultur eintretenden Parteien (wie FFS, RCD) mit überwiegender Verankerung in der Als 1997 der neu gegründete RND bei den Wahlen 3,5 Mio. Stimmen (156 Sitze) auf sich vereinte (FLN: 1,4 Mio. Stimmen, 62 Sitze), war dies einer ähnlichen Interpretation der Beziehung Staatspräsident Zerouals zur Partei RND zu verdanken: Der RND galt zu diesem Zeitpunkt als „Partei des Präsidenten“. So z.B. der Politikwissenschaftler Rachid Grim in einem Interview mit El Watan (Algier, 2.12.2007: „Le FNA est une création des néo-conservateurs du FLN“). 138 Staatlicher Umgang mit Opposition Kabylei und die sich „links“ definierenden Parteien; unter ihnen ist mit Abstand der Parti des Travailleurs (PT) die einflußreichste Partei (2007: 26 Sitze im Parlament); wirtschaftspolitisch ist der PT allerdings nach wie vor stark sozialistisch geprägt. Im Gewerkschaftsverband UGTA mit derzeit immer noch über einer Million Mitgliedern sind so z.B. diese drei Haupttendenzen vertreten. Es sind somit drei Gruppen: 1. die Reformwilligen (Minderheit), 2. die Status-quo-Bewahrer und 3. die Gegner von liberalisierenden Reformeingriffen zu unterscheiden. Gegen modernisierende Angleichungen an westliche Ordnungskonzepte stellen sich die Islamisten; Angleichungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich lehnen auch arabisch-nationalistische, stark von sozialistischen Idealen der 1970er Jahre geprägte Personen und Anhänger „linker“ Gruppen ab. Diese Trennlinie, die politische Akteure wie die Gesellschaft insgesamt prägt, verläuft vereinfacht ausgedrückt zwischen (1) Islamisten und (2) dem ausdifferenzierten Spektrum all jener, die religiös-konservativ und paternalistisch geprägt sind und einen Großteil der moralisch-sittlichen Normen, nicht jedoch das politische Konzept der Islamisten teilen, (3) jenen, die sich einen starken modernen Staat wünschen, den Monopolanspruch der Islamisten aber gleichfalls ablehnen und (4) jenen, die für eine Trennung von Staat und Religion, Pluralismus und eine Modernisierung aller Bereiche eintreten. In den Positionen der unterschiedlichen Akteure spiegeln sich die politischen, ökonomischen und kulturellen sowie religiös-identitären Verankerungen der Bevölkerung wider, die sich in unterschiedlicher Intensität auch bei Wahlen artikulieren: Über 50 % der Wahlberechtigten gehen in der Regel nicht zur Wahl.23 Wahlenthaltung, „Nichtwählen“ oder Wahlboykott kommt zwar einerseits den islamistischen Parteien zugute, die ihre Klientel stets mobilisieren können, andererseits haben 23 Die Wahlbeteiligung sank von 67,08 % 1997 auf 46,17 % (2002) und 35,65 % (2007). Selbst wenn die Aufrufe zum Boykott der Wahlen seitens des FFS 2007 berücksichtigt werden, kann von einer seit 1997 um rund 20 % gesunkenen Wahlbeteiligung ausgegangen werden, die aus der Unzufriedenheit mit den Parteien und mit der Funktion von Wahlen entstand. Apolitische Tendenzen (Alltags-Überlebenssicherung steht im Mittelpunkt) und eine Tendenz, die Exekutive direkt herauszufordern und durch unorganisierte spontane Aktionen zu konkreten Maßnahmen zu zwingen (soziale Protestbewegung), dominieren gegenwärtig das Verhalten vor allem junger Bevölkerungsteile. Kapitel II : Algerien 139 auch sie in Algerien im Parlament an Einfluß eingebüßt. Akteure, die sich jedoch nicht auf die Religion beziehen oder keinen direkten Zugang zur Staatsführung und den Ressourcen des Staates haben, können bei der Wählerschaft erst recht nur sehr geringe Unterstützung mobilisieren. 2.1. Legale Opposition (Parteien und Vereinigungen) Parlamentarische Opposition und legale, nicht im Parlament vertretene Opposition Von insgesamt 29 legalen Parteien sind 21 seit den letzten Legislativwahlen 2007 im Parlament vertreten, darunter die drei Parteien der Regierungskoalition; ihnen fallen von den 389 Sitzen der ersten Kammer zusammen 249 Sitze zu (FLN: 136, RND: 61, MSP: 52 Sitze). Während die Unabhängigen, die als „loyale“, kooperative Opposition gelten können, 33 Deputierte umfassen, belegt der PT als „größte“ der Oppositionsparteien im Parlament mit Abstand (26 Deputierte) die meisten Sitze, gefolgt vom RCD (19 Sitze) und dem konservativen, der islamistischen Tendenz nahestehenden FNA (16 Sitze). Die restlichen 46 Sitze verteilen sich auf 16 Parteien. Unter der parlamentarischen Opposition sind mit Ausnahme des PT und des RCD nach dem Einflußverlust des von inneren Querelen und Machtkämpfen zerstrittenen Mouvement du Renouveau National (MRN)24 keine größeren Oppositionsgruppen vorhanden, die sich programmatisch nicht in allen Punkten sofort der Regierungsvorlage anschließen. 24 Der islamistische MRN (Kurzbezeichnung auch „al-Islah“/Erneuerung), eine ebenfalls als Folge parteiinterner Machtkämpfe entstandene Partei, die 1999 aus dem 1990 gegründeten Mouvement de la Nahda (MN; Bewegung der Erweckung) hervorging, schnitt bei den Legislativwahlen 2002 gut ab (über 700.000 Stimmen, 43 Deputierte), da es dem Parteipräsidenten Djaballah gelungen war, Stimmen aus den Reihen des Ex-FIS zu sammeln. Der MRN war dadurch vor dem islamistischen MSP (38 Deputierte) drittstärkste Partei geworden. Eine Regierungsbeteiligung zog Djaballah nie in Erwägung. Die internen Querelen führten zur Absetzung Djaballahs als Parteipräsident, wodurch die Partei zunehmend geschwächt wurde, da Djaballahs Persönlichkeit ihre Bindekraft ausmachte. Der Staatsführung konnte diese Schwächung nur recht sein, denn damit kann die Partei, die sich in der Vergangenheit im Parlament nicht als loyale, kooperative Opposition verhielt, ihre Rolle als „Störfaktor“ im Parlament nicht mehr wahrnehmen. 140 Staatlicher Umgang mit Opposition Parti des Travailleurs (PT; 26 Sitze) Der PT, der aus trotzkistischen Gruppen hervorging, nennt als seine wichtigsten Ziele: Demokratie, Laizität des Staates, Gleichheit von Mann und Frau; die Förderung des Berberischen als nationale Sprache und soziale Gerechtigkeit. Er lehnt die Privatisierungspolitik der Staatsführung als „Zerstörung der nationalen Wirtschaft, der nationalen Einheit und den Errungenschaften der Arbeiterklasse“ (PT-Präsidentin Louisa Hanoun) ab. Der PT artikuliert hauptsächlich und am vehementesten „Nichtübereinstimmung“ mit der Staatsführung in wirtschaftspolitischen Fragen. Der PT tritt zudem – ebenfalls im Widerspruch zur Politik und den Verlautbarungen des Staatspräsidenten – für eine Rehabilitierung der ehemaligen FIS-Mitglieder und deren politische Partizipation ein. Rassemblement Culturel et Démocratique (RCD; 19 Sitze) Der RCD tritt in langfristiger Perspektive für die Errichtung eines demokratischen Systems ein, fordert Wirtschaftsreformen und die Durchsetzung der Marktwirtschaft. Der RCD, der aus der Bewegung der Berberophonen in den 1980er Jahren hervorging, tritt dementsprechend für die Anerkennung des Berberischen als nationale und als zweite offizielle Sprache ein. Säkular und modernistisch orientiert plädiert der RCD für die Gleichstellung von Mann und Frau. Den Islamismus lehnt der RCD ab. Der RCD setzt sich auch nicht wie FFS und PT für eine Rehabilitierung und politische Einbeziehung der ehemaligen FIS-Mitglieder ein. Seit den Unruhen in der Kabylei (2001-2004) tritt der RCD für die Einführung eines Regionenmodells ähnlich dem spanischen Vorbild ein. Eine Kooperation mit anderen Parteien findet nicht statt; der FFS gilt als Konkurrent. Wenn sich auch Programmatik und Zielsetzung von RCD und FFS in vielen Punkten ähneln, so unterscheiden sie sich in zentralen wirtschaftlichen Fragen und was den Umgang mit Islamisten anbelangt. Front des Forces Socialistes (FFS)25 Von den legalen, nicht im Parlament vertretenen Parteien, die eine oppositionelle Agenda zur Regierung vertreten, ist insbesondere der FFS zu nennen. Alle anderen Parteien sind bedeutungslos. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind die politischen Ziele der Partei. Wie der PT plädiert der FFS für die Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte in den politischen Prozeß, d.h. auch der ehemaligen Mitglieder des FIS. Weitere Eckpunkte des FFS-Programms sind die Anerkennung des Berberischen auch als offizielle Sprache (auf friedlichem Weg), die Laizität des Staates und die Umsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der FFS fordert seit dem Wahlabbruch 1992 konstant eine 25 Der FFS boykottierte die Legislativwahl 2007; 2002 hatte er zur Wahlenthaltung aufgerufen; 1997 gewann er rund 500.000 Stimmen (20 Sitze), etwas mehr als der RCD, der 19 Sitze erhielt. Es ist anzunehmen, daß der FFS 2007 bei einer Wahlteilnahme ähnlich abgeschnitten hätte wie der RCD. Kapitel II : Algerien 141 „konstituierende Versammlung“, in der alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte und Orientierungen repräsentiert sein sollen, um einen neuen politischen und gesellschaftlichen Konsens auszuarbeiten. Der FFS setzt sich für eine sozial gerechte Wirtschaftspolitik ein; sein Konzept sieht einen starken Staatssektor vor; parallel zur Stärkung des Staatssektors soll jedoch die Privatwirtschaft gefördert werden. Die Verjüngung der Parteistrukturen (sichtbar auch am Alter des Generalsekretärs der Partei, Tebbou, der 34 Jahre alt ist) und die Stärkung des Frauenanteils soll die Partei für Jüngere attraktiver machen; der 1926 geborene Gründer der Partei, Hocine Ait Ahmed, lebt im europäischen Ausland, übt jedoch als Parteipräsident immer noch Einfluß auf die Entscheidungen der Partei aus und grenzt mit dem Gewicht seiner „historischen Legitimität“ den Handlungsspielraum der jüngeren Führungsriege automatisch ein. Ein Sonderfall legaler parteipolitischer Opposition: Der MSP Als „Sonderfall“ parteipolitischer Opposition ist der islamistische MSP zu bezeichnen, weil er trotz seiner Regierungsbeteiligung (Mitglied der „Allianz des Präsidenten“) in bestimmten Sachfragen im Rahmen der Regierung und in der politischen Positionierung gegenüber seinen Mitgliedern „Nichtübereinstimmung“ mit den übrigen Regierungsmitgliedern signalisiert bzw. zum Teil konträre Positionen zum Regierungsprogramm vertritt.26 Die arabisch-islamische Identität macht für den der Muslimbruderschaft verbundenen MSP die algerische Persönlichkeit aus und garantiert demnach die Einheit des Landes. Der MSP optierte seit seiner Gründung 1990 für den organisationserhaltenden „gewaltfreien“ Weg, wenngleich das nicht bedeutete, daß der MSP Gewalt als politisches Mittel durchgängig ablehnt. Das Ziel des MSP ist der „islamische Staat“, in dem die Scharia Politik und Gesellschaft prägt. Die Partei paßte sich lediglich den Bestimmungen des neuen Parteiengesetzes von 1997 an, das direkte Bezüge (im Namen und im Programm) auf die Religion verbietet, so daß sich das Programm des MSP seither wie eine Sammlung von Schlagwörtern ließt, die sich bei allen Parteien wiederfinden: Demokratie, Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit usw. Das Parteiengesetz von 1997 ist somit dafür verantwortlich, daß die Parteiprogramme aller islamistischen Parteien (so auch die Programme des MN, MRN) nicht mehr als solche zu erkennen sind. Indem der MSP den legalen Weg an die Macht bzw. in die Institutionen einschlug und sich den Gesetzesbestimmungen beugte und schließlich sogar soweit ging, 1997 in die Regierung einzutreten, wurde die „Arbeitsteilung“ (Amghar/Boubekeur) zur Stärkung der islamischen Identität ausgebaut; d.h. die parteipolitischen Akteure sind mit der Verbreitung der 26 Vgl. hierzu ausführlich Amghar, Samir/Boubekeur, Amel: Les partis islamistes en Algérie: Structures révolutionnaires ou partis de gouvernement?, in: Maghreb-Machrek, Paris, Nr. 194, 2007-2008, S. 18 ff. 142 Staatlicher Umgang mit Opposition offiziellen, „weicheren“ Parteipositionen beauftragt. Im Gegenzug verbreiten die dem MSP angegliederten Vereinigungen die eigentlichen islamistischen Positionen in Bezug auf Werte und Verhaltensnormen. Im Rahmen seiner Regierungstätigkeit nimmt sich der MSP heraus, in bestimmten Fragen, vor allem solchen mit religiösem Bezug, Widerspruch geltend zu machen. Opposition von Gewerkschaften Die Führung des Gewerkschaftsverbandes UGTA um ihren Generalsekretär Sidi Said verhält sich seit der direkten Unterstützung der Wiederwahl von Präsident Bouteflika 2004 gegenüber der Staatsführung sehr kooperativ, d.h. sie versucht, die Lohnverhandlungen ohne Rückgriff auf Streiks zu lösen. Die Staatsführung wiederum favorisiert eine Einbettung der Einzelgewerkschaften in die UGTA und die Klärung von Interessengegensätzen und Absprachen über Lohnerhöhungen usw. am Verhandlungstisch. Die Einzelgewerkschaften bzw. die gewerkschaftliche Basis ist wegen der kontinuierlichen Verschlechterung der Kaufkraft und Verzögerungen der Lohnzahlungen mit dem konzilianten Kurs der Gewerkschaftsführung unzufrieden. Die sogenannten autonomen Gewerkschaften, d.h. Gewerkschaften, die sich vom offiziellen Kurs des Gewerkschaftsverbandes UGTA distanzieren (zum Teil jedoch Mitglied der UGTA sind), aktivieren sich zur Durchsetzung sektorspezifischer, korporatistischer Interessen und drohen mit Streiks bzw. treten in Streik und tragen die Streiks ablehnende Position der UGTA-Führung nicht mit. Die Aktivitäten der autonomen Gewerkschaften27 nahmen seit 2001 zu und intensivierten sich 2007/2008. Die Gründung einer Nationalen Konföderation der autonomen Gewerkschaften (Confédération Algérienne des Syndicats Autonomes/CASA) wurde bislang nicht offiziell genehmigt. Autonome Gewerkschaften gründeten sich überwiegend im Bildungssektor und in der öffentlichen Verwaltung. Zu ihnen werden die folgenden, offiziell zugelassenen Gewerkschaften gezählt: Syndicat National Autonome des Personnels de l’Administration Publique (SNA27 Diese Gewerkschaften entstanden ab 1990, nachdem das Monopol der nationalen Organisationen zur Interessenvertretung spezifischer Bevölkerungsgruppen im Rahmen der politischen Liberalisierung 1989 aufgehoben wurde. Die autonomen Gewerkschaften sollen zusammen rund 200.000 Mitglieder haben; größte Organisation ist die autonome Einzelgewerkschaft für den öffentlichen Dienst SNAPAP. Kapitel II : Algerien 143 PAP; gegründet 1990); Syndicat Autonome des Travailleurs de l’Education et de la Formation (SATEF; gegründet 1990); Syndicat National des Professeurs d’Enseignement Paramédical (SNPEPM; gegründet 1996); Syndicat National des Travailleurs de l’Education (SNTE; gegründet 2000); der erst 2007 zugelassene Conseil National des Professeurs de l’Enseignement Secondaire et Technique (CNAPEST; gegründet 2003).28 Die UGTA wird von diesen Gewerkschaften nicht mehr als Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten angesehen. Opposition von Vereinigungen Vereinigungen, die spezifische Gruppeninteressen vertreten, die mit dem Befreiungskampf 1954-1962 in Zusammenhang stehen, zählen in Algerien zu den einflußreichsten und (für ihre Mitglieder) effektivsten Organisationen mit landesweiter Präsenz. Sie verfügen sogar über ein eigenes Ministerium, das sich um die Belange dieser Bevölkerungsgruppe kümmert: Nicht nur die noch lebenden, direkt am Befreiungskrieg beteiligten „Mujahidun“, sondern auch ihre Nachfahren haben sich Vergünstigungen gesichert, zu denen u.a. Gewerbelizenzen, reservierte Arbeitsplätze in Unternehmen, Ausbildungsvergünstigungen und Renten zählen. Die Organisationen dieser spezifischen Bevölkerungsgruppen wie die Organisation Nationale des Moudjahidine, die Organisation Nationale des Enfants des Moudjahidin und die Coordination Nationale des Enfants des Chouhada wachen über die Einhaltung und Fortdauer dieser Vergünstigungen und sind bereit (wie in den 1980er Jahren die Nachfahren, Witwen und Waisen aus dem Befreiungskrieg), für diese Rechte und materiellen Absicherungen gegebenenfalls aktiv (Demonstrationen) zu mobilisieren: Neben dem Gewerkschaftsverband UGTA bilden diese Organisationen die mitgliederstärkste Interessengruppe. Vereinigungen, die im sozialen und kulturellen Bereich sowie im Bereich Frauenförderung und Frauengleichstellung aktiv sind, sind als Organisationen schwach und derzeit ohne Einfluß auf die Politik. Ein Teil der Vereinigungen steht politischen Parteien nahe, d.h. die Mitgliedschaften überlappen sich. Seit einigen Jahren geht die Tendenz bei den 28 Vgl. nähere Angaben in: Le Soir d’Algérie, Algier, 10.2.2008 (Qui sont ces syndicats autonomes?). 144 Staatlicher Umgang mit Opposition Vereinigungen verstärkt hin zu lokalen Aktivitäten, was auch ihrer Organisationsstruktur, ihren Mitteln und ihrer Mitgliederzahl eher entspricht. Nur wenige erreichen durch entsprechende Medienberichterstattung eine „nationale Präsenz“.29 Aktive Artikulation oder aktive Mobilisierung von „Nichtübereinstimmung“ mit der Staatsführung oder einzelnen politischen Maßnahmen findet auf der Ebene der legalen Vereinigungen aus ähnlich gruppenspezifischen Interessen statt wie im Falle der Gewerkschaften. Übergeordnete Ziele und Anliegen, die auf die Bevölkerung insgesamt ausgerichtet sind, vertreten nur einige wenige Menschenrechtsorganisationen wie die LADH oder die LADDH. Opposition bzw. Nichtübereinstimmung mit der Politik der Staatsführung konzentriert sich auf Menschenrechtsanliegen und Entschädigungsanliegen der Opfer terroristischer Anschläge oder staatlicher Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bekämpfung islamistischer bewaffneter Gruppen in den 1990er Jahren. Zu den diesbezüglich aktiven Vereinigungen zählen: - das Comité National contre l’Oubli et la Trahison (CNOT), am 14. Januar 1999 gegründet; die Association Nationale des Familles Victimes du Terrorisme (ANFVT), 1996 gegründet; das Comité de Coordination pour la Vérité et la Justice (CCVJ), Dezember 1999 oder Januar 2000 gegründet; die Association Somoud (Vereinigung „Standhaftigkeit“), gegründet 1998; die Association Nationale des Familles des Disparus (ANFD), gegründet 1998; in dieser Organisation sind überwiegend Angehörige von Islamisten organisiert, die im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen islamistischen Gruppen und Sicherheitsorganen nicht mehr zu den Familien zurückkehrten. Die ANFD fordert Aufklärung über den Verbleib bzw. das Schicksal der Verschwundenen. Die Vereinigungen werden seit ihrer Gründung von einzelnen Parteien und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterstützt. Etliche Forde29 Vgl. hierzu ausführlich Derras, Omar: Le phénomène associatif en Algérie, Algier (Friedrich-Ebert-Stiftung), 2007, 154 S.; Volltext unter: www.fesalger.org. Soziale und kulturelle Vereinigungen sowie Sportvereine bilden das Gros der insgesamt 75.000 beim Innenministerium registrierten Vereinigungen. Nur 1.000 bis 1.500 sind nach Derras auf nationaler Ebene aktiv. Kapitel II : Algerien 145 rungen, die sie seit 1997 formulierten, wurden erfüllt oder zumindest die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen. Gegenwärtig kümmern sich diese Vereinigungen hauptsächlich um die Umsetzung der Gesetze.30 Die Bewegung der Berberophonen, die von Aktivisten zur Förderung der berberischen Sprachen und Kultur in den 1980er Jahren gegen die Dominanz des Arabischen ins Leben gerufen wurde, führte zur Gründung zahlreicher allerdings unter sich zerstrittenen Vereinigungen, die zwar bei bestimmten Anlässen Mobilisierungskraft entfalten (z.B. Schulstreiks) und die Einführung des Berberischunterrichts an den Schulen durchsetzen konnten, die jedoch bei der berberophonen Bevölkerung (rund 20 % der Gesamtbevölkerung) nicht als dauerhafte Interessenvertretung anerkannt sind. Die Vereinigungen – wie der bekannte, 1981 gegründete Mouvement Culturel Berbère – sind die letzten Jahre auf lokaler Ebene im kulturellen Förderbereich aktiv. Die Militanz der 1980er Jahre ist momentan bei ihnen nicht dominierend. Der begrenzte Einfluß dieser (kulturellen) Vereinigungen zeigte sich nach einem Zwischenfall mit Todesfolge im April 2001 in der Kabylei: Es kam zwar zu einer allgemeinen Protestwelle in der Kabylei, die sich erst 2004 beruhigte, die Berbervereinigungen und die beiden in der Kabylei verankerten und für die Stärkung des Berberischen eintretenden politischen Parteien FFS und RCD spielten bei der Organisation dieser Proteste aber keine Rolle (s.u. Abschnitt 3). Die überwiegend jugendlichen Träger der Protestbewegung gaben sich eigene Koordinierungsstrukturen, um die Anerkennung des Berberischen als zweite nationale und offizielle Sprache und sozioökonomische Forderungen durchzusetzen. Ihre anhaltende Mobilisierung führte 2002 zu einem Zugeständnis: Das Berberische wurde – verfassungsmäßig verankert – als zweite nationale Sprache anerkannt. Von einer Diskriminierung in Bezug auf die Berberophonen kann in Algerien jedoch nicht gesprochen werden: Amazigh ist zweite nationale Sprache und wird unterrichtet sowie in den Medien benutzt; es gibt kultureigene 30 Das am 17.2.1999 in Kraft getretene Exekutivdekret 99-47 (Staatsanzeiger JORA, Band 9, 17.2.1999, S. 4-14) zugunsten der Familien der Opfer des Terrorismus, das Dekret 97-49 vom 12.2.1997, das den Kreis erweiterte und die Opfer/Opferfamilien besserstellte, ist ihren Protesten zu verdanken. Desgleichen das Exekutivdekret 99-48 vom 17.2.1999 (a.a.O., S. 15-18) zur Regelung der Fürsorge für Waisen (Opfer des Terrorismus). 146 Staatlicher Umgang mit Opposition Einrichtungen und Festivals; Berberophone sind politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich an exponierten Stellen vertreten. Militante Rhetorik, in der sich auch die politische und soziale Frustration ausdrückt, findet sich bei den (jungen) Musikern, die sich in die Tradition des kabylischen Sängers Matoub Lounès stellen, und das Medium des Rap oder Hiphop zur Artikulation von Kritik nutzen.31 In der Regel sind es Proteste in Form von Manifestationen, Sit-ins, Streiks mit denen versucht wird, die Aufmerksamkeit der politisch Verantwortlichen – mit anderen Worten: des Präsidenten – auf sich zu ziehen und Reaktionen zu provozieren. 2.2. Opposition außerhalb eines legalen Rahmens Zu dieser Kategorie zählen - - erstens nicht zugelassene Parteien und Vereinigungen; zweitens die ehemaligen Mitglieder des verbotenen FIS und andere amnestierte Islamisten des Ex-FIS, seines bewaffneten Armes AIS und anderer islamistischer Organisationen, die eine Parteigründung anstreben; drittens die nicht organisierte soziale Protestbewegung; viertens die weiterhin im Untergrund aktiven, bewaffneten islamistischen, terroristische Mittel32 einsetzenden Gruppen. Während die „Nichtübereinstimmung“ mit der Staatsführung sich bei den Vertretern der Kategorien 1 bis 3 unter Umständen (und zeitweilig) auch militant äußern kann, indem mit Gewalt gedroht wird oder es im Laufe der Protestaktion zu einzelnen, allerdings in der Regel spontanen, gewaltsamen Akten der Zerstörung kommen kann, ist die islamistische Opposition in der vierten Kategorie eine geplant gewaltsame. Diese vierte Oppositionskategorie wird deswegen in einem eigenen Abschnitt (s.u. 2.3.) behandelt. 31 32 Ein signifikantes Beispiel für diese Form der Kritik ist die Gruppe MBS (Le Micro brise le silence). Vgl. das Interview mit dem Frontsänger der Gruppe Rabah unter: www.youtube.com/watch?v=_rtyheK8csc. Der Einsatz von „terroristischer“ Gewalt z.B. in Form von Massakern, Sprengstoffanschlägen, Selbstmordanschlägen ist Kriterium zur Bezeichnung dieser Gruppen als „terroristische“ Gruppen. Die eingesetzten Mittel unterscheiden sie wesentlich von kriminellen Gruppen, die Gewalt anwenden. Kapitel II : Algerien 147 Nicht zugelassene Parteien und Vereinigungen Unter den nicht zugelassenen Parteien ist der im Jahr 2000 von dem ehemaligen Außenminister Talib Ibrahimi gegründete Mouvement de la Fidélité et de la Justice, kurz „Wafa“ genannt, hervorzuheben. Talib Ibrahimi wollte mit dieser Partei insbesondere auch den Islamisten des verbotenen FIS eine neue Plattform geben. Das Innenministerium verweigerte aus diesem Grund die Legalisierung; die Organisation ist inzwischen als bedeutungslos einzustufen. Mit militanter Rhetorik tritt eine gleichfalls nicht zugelassene Vereinigung mit separatistischem Anliegen auf, der im Juni/Juli 2001 gegründete Mouvement pour l’Autonomie de la Kabylie (MAK), präsidiert von dem kabylischen Sänger Ferhat M’Henni. M’Henni lebt in Frankreich; die Vereinigung stößt mit ihren Forderungen selbst unter Berberaktivisten in Algerien nicht auf breite Sympathien.33 Eine Parteigründung anstrebende Islamisten Für die amnestierten Islamisten vor allem des Ex-FIS hat die Versöhnungspolitik Präsident Bouteflikas neue Handlungsspielräume eröffnet, auch wenn ihnen eine Parteigründung bislang untersagt ist und Führungskader von politischen Aktivitäten ausgeschlossen wurden, um die Opfer und Angehörigen von Opfern terroristischer Anschläge nicht zu brüskieren und die nationale Versöhnung in Frage zustellen. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ehemaligen FIS-Kader und amnestierten Mitglieder des bewaffneten Armes des FIS (mindestens 7.000 ehemalige Kämpfer mit ihren zahlreichen Angehörigen), angeführt von Madani Mezraq, versuchen werden, zunächst verbal den Druck auf die Staatsführung zu erhöhen.34 Die geltenden Notstandsgesetze (u.a. öffentliches Versammlungsverbot in den Großstädten) engen allerdings ihren Aktionsradius ein. Unterstützung erhalten die ehemaligen FIS-Kader von den legalen islamistischen Parteien (vor allem dem MSP), die 33 34 Vgl. die Webseite der Vereinigung www.makabylie.info. Auf nationaler Ebene verurteilte Madani Mezraq die Selbstmordanschläge der GSPC/al-Qaida im islamischen Maghreb vom April 2007 in Algier und forderte schließlich im August 2007 die GSPC-Führung auf, die Waffen niederzulegen. Weder Madani Mezraq noch andere ehemalige Mitglieder des FIS haben allerdings Einfluß auf die bewaffneten Gruppen. 148 Staatlicher Umgang mit Opposition hoffen, damit den islamistischen Einfluß auszubauen. Für eine politische Partizipation „aller Tendenzen“ setzen sich jedoch auch der FFS und der PT ein. Die amnestierten ehemaligen FIS- und AIS-Mitglieder und die „Reuigen“ anderer bewaffneten Gruppen, die seit 1999 das staatliche Angebot der Reintegration (s.u. Abschnitt 3) in die Gesellschaft nutzten, treten zum Teil auf lokaler Ebene gegenüber ihren Mitbürgern militant auf; d.h. einige werben erneut für den bewaffneten Kampf oder sie versuchen, die Umgebung einzuschüchtern und ihre Moralvorstellung und Religionsauffassung aufzuzwingen (islamischer Schleier, Hijab, für Frauen; Druck auf liberalere Imame, ihre Predigten zu modifizieren). Nachgewiesen sind auch mehrfach Fälle, wo amnestierte Islamisten nach einer „Pause“ wieder die Waffen aufgenommen haben. Soziale Protestbewegung Die Bereitschaft der Bevölkerung in den Städten wie auf dem Land, sich zu spontanen Protesten zusammen zu finden, um gegen den schlechten Zustand der Infrastruktur, mangelnde staatliche Dienstleistungen, das sinkende Lebensniveau usw. zu demonstrieren, ist seit 2001 signifikant gestiegen. Diese Mobilisierung erfolgt zum Teil spontan, zum Teil wird sie durch lokale Vereinigungen organisiert. Dauerhafte Strukturen entwickelten sich daraus aber bislang nicht. 2.3. Gewaltsame, terroristische Opposition Die zur Zeit Gewalt planende und systematisch umsetzende Opposition ist ausschließlich islamistisch orientiert. Es handelt sich um bewaffnete terroristische Gruppen, die aus den Anfang der 1990er Jahre aufgebauten bewaffneten Gruppen entstanden. Die noch aktiven Gruppen ordnen sich selbst den „Salafiten“35 (auch: Salafisten) zu. Sie sind aus der 1998 ge35 Sie sind vom rigorosen wahhabitischen Islam Saudi-Arabiens beeinflußt und ordnen sich selbst der internationalen islamistischen Bewegung zu. Sie stehen damit im Gegensatz zu einer „nationalen“ Strömung innerhalb der algerischen Islamisten, die eine algerische Variante des Islamismus anstrebt und keine internationalen Ambitionen hat; diese Spaltung in „Internationalisten“ und „Algerianisten“ (auch „Jazaristen“, von al-Jaza’ir/Algerien) kennzeichnete bereits den FIS. Er war von beiden Strömungen durchzogen, die sich in den 1990er Jahren intern bekämpften. Kapitel II : Algerien 149 gründeten Salafitischen Gruppe für Predigt und Kampf (Groupe Salafite pour la Prédication et le Combat/GSPC) hervorgegangen und betonten im Januar 2007 durch ihre Umbenennung in al-Qaida des islamischen Maghreb36 ihre Nähe zu Usama Ibn Ladins al-Qaida-Netzwerk. Im Vergleich zu den 1990er Jahren ist das Spektrum der Gruppen, die inzwischen als mobile Kleinsteinheiten in geographischen Rückzugsgebieten aktiv sind,37 reduziert auf diese salafitische, dem „Jihad (heiligen Krieg) gegen alle Ungläubige“ verpflichtete Organisation ohne politische, direkt auf Algerien bezogene Agenda. Die Erweiterung des terroristischen Instrumentariums um Selbstmordanschläge hat ihre gesellschaftliche Marginalisierung weiter vorangetrieben, wenngleich sie immer noch Nachschub rekrutieren, dabei allerdings auf zunehmend jüngere Personen zurückgreifen (Werbung auf Schulhöfen). Die noch aktiven terroristischen Gruppen, über deren Anzahl keine gesicherten Angaben gemacht werden können (die Schätzungen variieren zwischen 300 bis 500 und 600 bis 800), haben zwar keinen breiten gesellschaftlichen Rückhalt; sie verfügen jedoch über das Potential, durch Anschläge wie am 11. April 2007 auf den Regierungssitz in Algier oder am 11. Dezember 2007 auf das Höchste Gericht und das UNDPBüro in Algier das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu unterminieren und ausländische Investoren abzuschrecken sowie eine Öffnung für den Tourismus zu vereiteln. 3. Staat und Opposition: Zum Muster einer Beziehung Die auf den Präsidenten zugeschnittene hierarchische Staatsstruktur und die klientelistischen Beziehungsstrukturen, die Loyalität und Gefolgschaft „belohnen“, Nichtübereinstimmung und Kritik jedoch als „Opposition“ verpönen und „bestrafen“, wirkt sich auf die dominierende Form 36 37 Vgl. unter: www.algeria-watch.org/fr/aw/gspc_etrange_histoire.htm, 22.9.2007 mehrere Beiträge zur Entstehungsgeschichte und den Beitrag in Kapitel I der vorliegenden Studie. Sie konzentrieren sich 2007/2008 vor allem in der Kabylei um Tizi-Ouzou, in Ostalgerien (Grenzgebiet zu Tunesien), im Gebiet um El-Oued und im äußersten Süden Algeriens (Grenzgebiet zu Mali und Mauretanien). 150 Staatlicher Umgang mit Opposition der Konfliktbearbeitung aus. Die Einleitung von Gerichtsverfahren wegen Störung der öffentlichen Ordnung oder Beleidigung des Präsidenten ist ein probates Mittel zur „Domestizierung“ von einzelnen Kritikern und Oppositionellen (z.B. Journalisten); die fehlende Autonomie der Justiz sorgt für eine Rechtssprechung im Sinne des Präsidenten. Bei sozialen Protesten wird zunächst der Sicherheitsapparat eingesetzt; Organisatoren, die sich nicht für eine kooperative Lösung entscheiden, werden verhaftet, um dann in einem zweiten Schritt bei anhaltenden Protesten zum Mechanismus der Anbindung und Beruhigung über materielle Zugeständnisse zu schreiten. Steht hinter den Protesten eine mobilisierungskräftige Organisation, die landesweit verankert ist und über eine hohe Kapazität zur Störung der öffentlichen Ordnung und normalen Funktion von Wirtschaft und Verwaltung verfügt, wie dies bei dem Gewerkschaftsverband UGTA der Fall ist, dann versucht die Staatsführung durch Zugeständnisse an die Gewerkschaften im Rahmen eines institutionalisierten Verhandlungsprozesses („sozialer Dialog“ zwischen Vertretern des Staates, der Arbeitgeber und Gewerkschaften) die Unterstützung der Gewerkschaften zu sichern und die Streikgefahr abzuwenden. Der Umgang der Staatsführung mit Opposition hängt zum einen von der angenommenen Mobilisierungskapazität der Opposition und zum anderen von der angenommenen Unterstützung der staatlichen Politik durch die Bevölkerungsmehrheit ab. Anhand von drei Fallbeispielen: (1) dem Umgang des Staates mit militanten und gewaltumsetzenden Islamisten seit 1999, (2) dem Umgang des Staates mit dem 2001 ausgebrochenen soziopolitisch und identitär bedingten Konflikt in der Kabylei und schließlich (3) dem Umgang mit den spontanen sozialen Protesten, die seit 2001 regelmäßig in allen Landesteilen auftreten, soll das Beziehungsmuster zwischen Staat und Opposition näher verdeutlicht werden. 3.1. Zum Umgang mit militanten, Gewalt abschwörenden und gewaltsamen Islamisten seit 1999 Die terroristischen Untergruppen des GSPC/al-Qaida im islamischen Maghreb haben 2007 bewiesen, daß sie in der Lage sind, Selbstmordattentate in der an sich gut geschützten Hauptstadt Algier und ihrer näheren Umgebung durchzuführen (z.B. Anschläge im April und im Dezem- Kapitel II : Algerien 151 ber 2007 auf offizielle Einrichtungen). Die innenpolitische Stabilität gefährden sie indes nicht, da ihr Unterstützungs- und Mobilisierungspotential zu gering ist. Für die bewaffneten Gruppen haben sich insbesondere ihre Lebens- und Überlebensbedingungen sowie die materielle Nachschubfrage deutlich verschlechtert. Verantwortlich hierfür ist die seit 2000/2001 erfolgte Aufstockung der Spezialeinheiten zur Terrorismusbekämpfung und ihre kontinuierlich verbesserte Ausbildung und technische Ausrüstung, die eine Optimierung und Intensivierung der Bekämpfungsmaßnahmen ermöglichten. Die angestrebte gesellschaftliche Reintegration der Islamisten des verbotenen FIS und anderer Gruppen, die den bewaffneten Kampf aufgaben, ist problembehaftet. Die Staatsführung bietet seit 1999 verschiedene Varianten zum „Ausstieg“ aus dem terroristischen Untergrund an. Sie weitete das Angebot schließlich aus und ließ im September 2005 per Referendum über die „Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung“38 abstimmen, die auch die Rechte der Opfer des Terrorismus anerkennt und in ihren Durchführungsbestimmen die Modalitäten der „Versöhnung“ regelt. An der politischen Zielsetzung der Islamisten, der Umsetzung des „islamischen Staates“, halten die islamistischen Führungskader bis heute unvermindert fest, wodurch die Charta als Versöhnungsprojekt die Meinung in der Bevölkerung spaltet; dennoch war die Zustimmung zur Charta hoch, weil auch die Gegner bzw. Kritiker einzelner Bestimmungen39 darin die einzige Möglichkeit sahen, die terroristischen Anschläge durch personelle Ausdünnung der Gruppen einzudämmen, da sicherheitspolitische Maßnahmen dies alleine nicht vermocht hatten. Die Charta untersagt – trotz Amnestie und Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte – eine politische Betätigung für ehemalige FIS-Führungskader und eine Parteigründung. Im Vorfeld der Legislativwahlen von 2007 verstärkten sich die politischen Forderungen vor allem des 38 39 Ordonnanz vom 27.2.2006, Dekrete vom 28.2.2006, vgl. Staatsanzeiger JORA Nr. 11, 28.2.2006. Zu diesen Kritikern zählten der FFS, der wie der RCD zum Boykott des Referendums aufrief, mehrere kleine Parteien und die Opfervereinigungen (s.o.) sowie der Führer der terroristischen Gruppe GSPC. Die Ex-FIS-Kader im In- und Ausland waren im Prinzip – trotz einigen Vorbehalten, weil keine Generalamnestie in Aussicht gestellt wurde – dafür (oder gaben keine Meinung ab, weil sie sich aus den politischen Angelegenheiten zurückgezogen hatten). 152 Staatlicher Umgang mit Opposition ehemaligen Führers der bewaffneten Gruppen des FIS, Madani Mezraq, der unverhohlen auch mit dem Rekurs auf Gewalt drohte. Die legalen islamistischen Parteien MN, MRN und der Mouvement de l’Entente Nationale (MEN; 1,3 % der Stimmen/4 Sitze bei der Legislativwahl 2007) boten sich als „Aufnahmepartei“ und Interessenvertretung der amnestierten Islamisten an und stellten Rivalitäten zur Förderung des generellen Ziels, „Stärkung des islamistischen Einflusses“, vorübergehend zurück. Staatspräsident Bouteflika seinerseits schlug einen zweigleisigen Kurs ein, um sein Hauptziel, die innere Befriedung, durchzusetzen und die Bevölkerungsmehrheit an sich zu binden: Zum einen unterstützte er die in traditionellem, arabisch-islamischem und arabisch-nationalistischem Gedankengut verhaftete FLN-Fraktion um Generalsekretär Belkhadem; diese Fraktion steht den Islamisten nahe. Zum anderen nahm er Rücksicht auf die Befindlichkeiten sowohl der Opfer des Terrorismus und ihrer Angehörigen als auch der zwar traditionell geprägten, aber nicht mehrheitlich islamistisch orientierten Bevölkerungsteile; er berücksichtigte aber auch die Position der Militärführung, die wie die beiden anderen Gruppen eine Neuauflage des FIS als Partei ablehnen. Wie sich die „Nationale Versöhnung“ unter den Vorzeichen der offensiv auftretenden Ex-FIS-Kader gestalten läßt, ist ebenso wie die Bereitschaft der amnestierten Islamisten, einen Konflikt mit der Staatsführung zu riskieren, schwer einzuschätzen. Die „Nationale Versöhnung“ ist auf jeden Fall fragil, wenngleich die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, die innere Ordnung und Sicherheit durch die Amnestie und Wiedereingliederung von Mitgliedern bewaffneter islamistischen Gruppen (terroristischer Gruppen) zu fördern, hoch ist. Allerdings plädieren sie für die Umsetzung der Bestimmungen wie sie die Charta vorsieht und lehnen die zu „weiche“ Auslegung ab, die zu einer Inflation von intransparenten Amnestien führte, von denen auch Personen profitierten, die in Gewaltakte involviert waren, die laut Charta eigentlich von einer Amnestie ausgenommen sind. Die Opfer des Terrorismus empfinden diese Handhabung der Bestimmungen als Hohn. Kritisiert wird auch, daß die Übergriffe (Menschenrechtsverletzungen), die von Mitgliedern der staatlichen Sicherheitsorgane begangen wurden, gemäß den Chartabestimmungen nicht aufgearbeitet und geahndet werden können. Kapitel II : Algerien 153 Die Charta wurde zwar von der Bevölkerung als Chance und verbliebene Möglichkeit zur Wiederherstellung von Normalität per Referendum angenommen, das Mißtrauen gegenüber den Islamisten und den Amnestierten ist jedoch, gerade wegen der großzügigen Auslegung des Chartatextes, in der Praxis ausgeprägt. Das künftige Verhalten der amnestierten Islamisten wird wesentlich über das Gelingen der Versöhnung oder das Wiederaufleben konflikthafter Situationen, in denen der Einsatz von noch mehr staatlicher Repression zur Wiederherstellung der Ordnung nötig sein wird, entscheiden. Die amnestierten Führungskader bewaffneter Gruppen versuchen nach wie vor politische Zugeständnisse von der Staatsführung zu erhalten, die ihnen erlauben sollen, sich politisch zu betätigen. Zudem wächst unter ihnen die Unzufriedenheit über die Umsetzung der in der Charta zur Nationalen Versöhnung festgelegten Reintegrationsmaßnahmen.40 Ein neuerlicher Konflikt zeichnet sich demnach ab, unabhängig davon, wie sich die Staatsführung verhält: Bleibt sie bei ihrer jetzigen Position, verschärft sich die Konfrontation mit den amnestierten Islamisten und die „nationale Versöhnung“ wird in Frage gestellt; gibt sie der Forderung der Islamisten nach, ist zu erwarten, daß breite Teile der politisch und zivilgesellschaftlich organisierten Bevölkerung (vor allem auch die Opfer des Terrorismus und ihre Angehörigen sowie die nicht islamistisch orientierten Parteien) dem Präsidenten ihre Unterstützung entziehen. 3.2. Zum Umgang mit dem Konflikt in der Kabylei und den sozialen Protesten in Südalgerien Der Konflikt mit der Bürgerbewegung der Kabylei, der im Frühjahr 2001 ausbrach, hat mehrere Dimensionen: eine kulturell-linguistisch-identitäre (Berberisch als zweite nationale und offizielle Sprache), eine politische (Wunsch nach neuen Beziehungsstrukturen Staat-Bevölkerung) und eine sozioökonomische (Forderung nach entwicklungspolitischen Maßnahmen). 41 Der algerische Psychologe Toualbi-Thaâlibi bezeichnet diesen 40 41 Die Wiedereingliederung der „Reuigen“ in die Gesellschaft durch die Provinzgouverneure wird von ehemaligen Führern bewaffneter Gruppen als zu zögerlich kritisiert (vgl. u.a. Le Jour d’Algérie, 18.6.2007: Ahmed Benaicha, ancien émir de l’AIS). Vgl. als kurze Überblicke zur Fortschreibung des Konflikts 2001-2004 den AlgerienBeitrag in: Nahost-Jahrbuch 2001 und 2002, Opladen 2002 und 2003; Nahost-Jahr- 154 Staatlicher Umgang mit Opposition Konflikt als „mouvement de défiance collective“42 gegenüber der Politik, ihren Manipulationsversuchen und leeren Versprechungen. Auf die Versprechungen zur Förderung der berberischen Sprache und Kultur in den 1980er Jahren waren nämlich keine umfassenden und konsequent durchgesetzten Maßnahmen erfolgt; im Gegenteil, seit 1998 verstärkten sich sogar die Arabisierungsstrategien des Staates. Diese Enttäuschungen erklären auch das Wahlverhalten (s.u.) und die Organisierung des Protests in neuen „alten“ lokalen Strukturen, den „Aarchs“ (Stämme), die historisch gewachsen sind und den Bruch mit den Institutionen des Staates sowie den Vertrauensverlust in diese Institutionen und ihre Repräsentanten ausdrücken. Die Unruhen, die am 18. April 2001 nach dem Tod eines Gymnasiasten im Gewahrsam der Gendarmerie Nationale ausbrachen, setzten sich – durch weiteres ungeschicktes Verhalten der Gendarmerie Nationale angestachelt – in anderen Orten der Kabylei fort. Der angestaute Unmut der überwiegend jugendlichen Demonstranten mündete in die Zerstörung von offiziellen Einrichtungen, Plünderungen und in Angriffe auf die Brigaden der Gendarmerie Nationale. Es folgten täglich in der Regel gewaltsame Proteste, in die Schüler, Gymnasiasten und Studenten involviert waren. Im Juni weiteten sich die Proteste auf Ostalgerien aus. Die staatliche Reaktion war zunächst repressiv; die Gendarmerie Nationale setzte scharfe Munition ein. Von April bis Juni 2001 gab es 97 Tote (überwiegend zwischen 11 und 39 Jahren alt) und rund 1.500 Verletzte. Ab Mai 2001 organisierten sich die Komitees der Dörfer und Aarchs, um die Unruhen selbst unter Kontrolle zu bringen und Konfliktlösungen zu erarbeiten. Diese Komitees auf Gemeinde-, Daira-43 und Provinzebene wählten sich wiederum Koordinierungskomitees, um sich abstimmen zu können. Es gelang diesen lokalen Komitees zwar nicht, die Ausschreitungen und Proteste noch 2001 einzugrenzen, aber es wurde eine Liste 42 43 buch 2003 und 2004, Wiesbaden 2004 und 2005; vgl. auch International Crisis Group: Algeria: Unrest and impasse in Kabylia, Kairo/Brüssel, 10.6.2003, 42 S.; Layachi, Azzedine: Ethnicité et politique en Algérie. Entre inclusion et le particularisme berbère, in: Naqd, Algier, Nr. 19, 2004, S. 27-54; Ait-Kaki, Maxime: De la question berbère au dilemme kabyle à l’aube du XXIe siècle, Paris 2004. Vgl. Toualbi-Thaâlibi, a.a.O. (Anm. 4), S. 130. Daira ist eine staatliche Verwaltungseinheit, die den Gemeinden vorgeordnet und den Provinzen nachgeordnet ist. Kapitel II : Algerien 155 von Forderungen erarbeitet, die an die Staatsführung übergeben wurde. Die Forderungen spiegeln die Unzufriedenheit der Bevölkerung wider, die den gewaltsamen Konflikt begünstigte. Die Plattform von El Kseur vom 17. Mai 2001 umfaßte 15 Punkte.44 Enthalten waren Forderungen, - - - die sich auf die Konfliktereignisse direkt bezogen (Straffreiheit für die während des Konflikts verhafteten Personen; Entschädigung der Opfer usw.), die politische und identitäre Aspekte ansprachen (wie die Anerkennung des Berberischen als nationale und offizielle Sprache ohne ein Referendum abzuhalten; die Förderung der Sprache; der Respekt der individuellen und kollektiven Freiheiten; die Abschaffung aller Formen der Ungerechtigkeit und Marginalisierung und der „Hogra“;45 der Abzug der Gendarmerie Nationale aus der Kabylei) und die sozioökonomische Aspekte betrafen (u.a. Bekämpfung der Unterentwicklung und Verarmung in der Kabylei; Rehabilitierung der Industrie und Landwirtschaft; Förderung von arbeitsplatzschaffenden Projekten; Errichtung von Sozialwohnungen; Einrichtung eines sozioökonomischen Notplanes für die Kabylei). Die ersten Reaktionen der Staatsführung auf die Unruhen wirkten provozierend (Rede des Staatspräsidenten in Hocharabisch) und waren nicht ausreichend (Abzug der Gendarmerie Nationale erst im März 2002; Übernahme ihrer Aufgaben von der Polizei), um den Konflikt zu beenden, weil die Hauptforderungen identitärer und politischer Art nicht aufgegriffen worden waren. Erst 2004, nach drei Jahren, in denen es immer wieder zu gewaltsamen Protesten kam, flaute der Konflikt ab, weil die Bevölkerungsmehrheit schließlich protestmüde wurde und die ökonomischen Folgen für die Region gravierend waren. Dennoch kommt es auch seit 2004 nach wie vor zu lokalen sozialen Protesten, um konkrete Anliegen zugunsten einer Gemeinde durchzusetzen (z.B. Infrastrukturprojekte); das Lokale46 dominiert die „Weltsicht“ und das politische Verhalten. 44 45 46 Text vgl. www.algeria-watch.de/farticle/kabylie/revendications.htm. Mit dem Begriff „Hogra“ wird in Algerien die „verachtende“ Haltung der staatlichen Funktionäre gegenüber der Bevölkerung und die damit verbundene „Demütigung“ und „Erniedrigung“ des einzelnen Staatsbürgers bezeichnet. Diese Entwicklung beschreibt anschaulich Salhi, Mohamed Brahim: Elites entre modernisation et retraditionalisation: les acteurs de la contestation politique et iden- 156 Staatlicher Umgang mit Opposition Neben der Protestmüdigkeit und der Frustration über die zerstörte Infrastruktur half die Erfüllung weiterer Teilforderungen, darunter die verfassungsmäßige Verankerung des Berberischen als zweite nationale Sprache und die Zusage von Geldern für sozioökonomische Projekte,47 den Konfikt zu beruhigen und der Bürgerbewegung die Kraft zur fortgesetzten Mobilisierung zu nehmen. Die Verhandlungsangebote der Staatsführung hatten die Bewegung früh in einen zu Konzessionen bereiten Teil und einen radikaleren Teil gespalten. Beide Teile der Bürgerbewegung haben seit 2004 an Einfluß verloren. Im Juni 2007 kündigte Präsident Bouteflika die Gründung einer Académie Algérienne de Langue Amazighe an. Der Konflikt ist damit vordergründig beruhigt. Die verstärkten Aktivitäten des GSPC in der Region seit 2007 machten die neuerliche Stationierung von Brigaden der Gendarmerie Nationale notwendig, deren Verhalten gegenüber den Bürgern sich seit 2001 nach Auffassung einiger Beobachter nach speziellen Schulungen „verbessert“ habe. Das Wahlverhalten bei den Teilwahlen zu den Gemeinde- und Provinzräten der Kabylei im November 2005 und im November 2007 zeigte allerdings ebenso wie das Wahlverhalten bei den Legislativwahlen im Mai 2007, daß die Parteien (und damit die offizielle Politik und ihre Institutionen) an Vertrauen eingebüßt hatten: Bei den Wahlen zu den Gemeinde- und Provinzräten 2005 gingen lediglich rund 30 % der Wahlberechtigten zur Wahl und von diesen 30 % votierte die Mehrzahl für die Regierungsparteien FLN und RND; 2007 gingen nach offiziellen Angaben in der Kabylei je nach Provinz zwischen 40,67 % bis 41,71 % der Wahlberechtigten zur Wahl, wobei die höhere Wahlbeteiligung auf die Teilnahme des FFS und RCD zurückgeführt wurde. Bei den Legislativwahlen vom Mai 2007, an denen der RCD teilnahm, die jedoch vom FFS boykottiert wurden, lag die Wahlbeteiligung noch weitaus niedriger als der nationale Durchschnitt von 35,51 %: Im Wilaya Tizi-Ouzou lag 47 titaire en Kabylie (1980-2001), in: Lardjane, Omar (Hrsg.).: Elites et société dans le monde arabe. Les cas de l’Algérie et de l’Egypte, Algier 2007, S. 155-180. Der Staat gewährte im Rahmen des „Plan de soutien à la relance économique“ 2007 11 Mrd. Dinar Finanzhilfe für den Ausbau der Infrastruktur im Wilaya Tizi-Ouzou; weitere 645 Mio. Dinar wurden für Infrastrukturmaßnahmen und 950 Mio. Dinar für Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit bereit gestellt. Kapitel II : Algerien 157 die Wahlbeteiligung bei 16,14 %, in einigen Gemeinden noch weit darunter (9,57 % in Beni Douala). Die Zusage zur Finanzierung eines regionalen Förderprogramms, die Anerkennung des Berberischen zwar nicht als zweite offizielle, aber als zweite nationale Sprache, sind als Teilerfolg der Bürgerbewegung zu werten. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß unvorhersehbare Vorfälle – vergleichbar dem Auslöser der Proteste 2001 – zu neuen gewaltsamen Protesten unter der Bevölkerung führen können, wenn in absehbarer Zeit keine spürbare Verbesserung der sozialen Situation vor allem der jüngeren Bevölkerung eintritt, denn eine Hauptforderung während der Proteste war die Forderung nach Arbeitsplätzen. Auslöser für die sozialen Proteste im südalgerischen Ouargla (2004) waren die Lebensbedingungen: Wohnungsnot, fehlende öffentliche Transportmittel, Preiserhöhungen, Arbeitslosigkeit und das Gefühl, bei der Arbeitsplatzvergabe (Erdgasbereich) zugunsten von Arbeitskräften aus Nordalgerien übergangen zu werden. Die Händler im Mzab protestierten gegen die Duldung informeller Märkte, die ihre Lebensgrundlage bedrohten. Die Proteste mündeten regelmäßig in die Errichtung von Straßensperren oder die Besetzung und Zerstörung staatlicher Gebäude; der daraufhin erfolgende Einsatz der Sicherheitsorgane und die Verhaftungen lösten wiederum neue Proteste aus. In diesem Kontext gründete sich am 11. März 2004 die Vereinigung Mouvement du Sud pour la Justice (MSJ), die eine Plattform mit „Beschwerden“ ausarbeitete, in der die soziale Not und die Marginalisierung der Südwilaya beklagt wurde. Der Sprecher der Bewegung, der Journalist und Menschenrechtler Hafnaoui Ghoul, wurde daraufhin verhaftet und vor Gericht gestellt. Der Konflikt wurde wiederum beruhigt durch die Ankündigung Präsident Bouteflikas am 23. September 2005, ein Sonderentwicklungsprogramm für die Südwilaya zu finanzieren. Die „émeutes de chômages“ in Ouargla vom November 2007 sind allerdings ein Zeichen dafür, daß das Sonderprogramm zumindest das Arbeitsplatzproblem nicht gelindert hat. Die sozialen Spannungen in allen Provinzen haben ein Ausmaß angenommen, daß selbst der Präsidentenberater und Vorsitzende der Commission Nationale Consultative de Promotion et de Protection des Droits de l’Homme, Farouk Ksentini, die Spannungen als sehr gravierend ein- 158 Staatlicher Umgang mit Opposition schätzte und in einem Gespräch im Februar 2008 erneut vor einem bevorstehenden sozialen Konflikt, ja einer „sozialen Explosion“ warnte. Die sozialen Protestbewegungen mündeten bislang nicht in dauerhaftere Strukturen, die als Interessenvertretung gegenüber den lokalen oder regionalen Vertretern der Staatsführung agieren könnten; wenn es Ansätze dazu gab wie die Gründung der Bürgerorganisationen in der Kabylei oder des MJS, dann sorgten staatliche Eingriffe (Verhaftung der Verantwortlichen usw.) zumindest für ihre Schwächung. Die Strukturen haben deswegen nur kurzfristige Effekte; der Staat blieb bislang mit seiner repressiven Politik zur Marginalisierung der neuen Akteure erfolgreich und verstärkte diesen Erfolg durch kooptierende Befriedungsmaßnahmen über die Rentenverteilung. Die Problemlagen an sich, die den Ausschlag für die Protestbewegung gaben, wurden nicht zum Gegenstand der offenen Auseinandersetzung und gemeinsamen Lösungssuche. Vielmehr tritt der Präsident oder sein Repräsentant als Konfliktlöser auf, indem (materielle) Versprechungen gemacht werden. Die breite Mediatisierung der Förderprogramme für die Provinzen des Südens und der „Hochebenen“,48 wo es seit 2001 gleichfalls regelmäßig zu sozialen Protesten kommt, sind mit Beginn der Sonderförderprogramme („Regionalgleichstellungsprogramme“) Anfang 2006 beruhigt, aber nicht beendet worden. Die Bevölkerung ist extrem ungeduldig mit der Staatsführung und erwartet schnelle positive Effekte. Die Kenntnis von den hohen Einnahmen des Staates aus dem Kohlenwasserstoffexport erhöhte die Erwartungshaltung gegenüber der Staatsführung; gefordert werden Investitionen, in erster Linie zur Schaffung von Arbeitsplätzen, und eine verbesserte Versorgung mit Wohnungen, Gas, Elektrizität und Trinkwasser sowie mit Gesundheits-, Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen. Die künftige Protestbereitschaft in diesen Provinzen wird – wie in der Kabylei – von den konkreten Auswirkungen der bewilligten Gelder und den aufgestellten Entwicklungsprogrammen abhängen. Das Instrument „Protest“ schließt tätliche Angriffe auf staatliche Einrichtungen zur Arti48 „Hauts Plateaux“ oder „Hauts Plaines“; es handelt sich um das Gebiet zwischen den Gebirgen des Tell Atlas im Norden und dem Saharischen Atlas als südlicher Begrenzung zur Sahara. Kapitel II : Algerien 159 kulation der Unzufriedenheit mit dem Staat und seinen Leistungen mit ein. Es ist die letzten Jahre in Algerien für die jüngere Bevölkerung zum wichtigsten Ausdrucksmittel für Unzufriedenheit und zum wichtigsten „Kommunikationsmittel“ mit dem Staat geworden. 3.4. Staatliche Politik als Gegenmittel zu Opposition Die inneralgerischen Konflikte und Problemlagen wurden zu Beginn der Amtszeit von Präsident Bouteflika 1999 sowohl identifiziert als auch analysiert und dementsprechend Reformbereiche definiert. In seiner Rede vor Algeriern in Deutschland am 2. April 200149 listete Bouteflika die einzelnen Bereiche, die zu modernisieren und zu reformieren seien, auf (Wirtschaft, Justiz, Bildung, Staatsstrukturen, Religion). Er kündigte als wichtigen Schritt und erste Priorität die Wiederherstellung der „staatsbürgerlichen und nationalen Eintracht“ an, wozu entsprechende Versöhnungs-, Reintegrations- und Entschädigungsmaßnahmen notwendig seien. Um ein krisengeschütteltes Land zu verändern, müßten „die moralischen, politischen, ökonomischen und sozialen Grundlagen“ wieder aufgebaut werden. Dies sei eine Arbeit, die nur langfristig zu realisieren sei, weswegen Bouteflika auch vor „Ungeduld“ warnte. Einen wichtigen Aspekt zur Besänftigung einer aktiven Opposition in Algerien und zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts vergaß der Präsident bei der Auflistung der Reformvorhaben allerdings: Die Klärung der identitären Frage, d.h. die Berücksichtigung der Forderungen der Amazigh-Bewegung. Diese Forderungen wurden erst – als sich der gewaltsame Konflikt im Laufe des Jahres 2001 nicht beruhigen wollte – nachträglich und „gezwungenermaßen“ auf die Agenda gesetzt. In der oben genannten Rede vom 2. April 2001 wies der Präsident auch daraufhin, daß er zur Beratung über die Reformschritte (Art, Tempo, Reichweite) „Spezialisten der öffentlichen Meinung“ heranziehen werde. In der Praxis bedeutet dies, daß er nach (oft „vollmundig“) angekündigten Reformen50 und nach Konsultation eben dieser „Speziali- 49 50 Vgl. unter: www.el-mouradia.dz/francais/president/recherche/Presidentrech.htm. Während des Wahlkampfs zur Präsidentschaftswahl 1999 kündigte Bouteflika eine Modernisierung des Familienrechts und umfassende Maßnahmen zur Gleichstellung 160 Staatlicher Umgang mit Opposition sten der öffentlichen Meinung“ bzw. der öffentlichen Stimmung, die de facto trotz Verbesserungswünschen konservativ und Status quo verhaftet ist und von Reformängsten und von der Angst vor Privilegienverlust dominiert wird, stets von grundlegenden, strukturellen Eingriffen absah und geplante Maßnahmen abschwächte. Der Staatspräsident nimmt, trotz aller verfassungsmäßigen Machtbefugnisse, stets Rücksicht auf die Meinung jener Vertreter der „öffentlichen Meinung“, die er als mobilisierungskräftig einstuft (wie den Gewerkschaftsverband, die islamistische Bewegung, die konservativen und bisherigen Profiteure des Regimes, die allesamt Veränderungen abgeneigt sind).51 Im Gegenzug führte der Widerstand einiger gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen gegen die „entmodernisierenden“, den Vorstellungen der Islamisten und Konservativen angepaßten Reformen zu einer Verhärtung von Präsident Bouteflikas Positionen und einer Verstärkung seiner autoritären Tendenzen ihnen gegenüber: gemeint sind die Gleichschaltungsversuche und Drohungen gegen Oppositionelle, wobei insbesondere auch die kritischen Medienvertreter ins Visier genommen wurden. Die Strafschärfungen für „Diffamierung eines Repräsentanten der öffentlichen Ordnung“ und „Diffamierung des Staatspräsidenten“ (Artikel 144 des Strafgesetzes) sind besonders für Journalisten einengend. Die Reformen in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Ausbildung, staatliche Religionspolitik und Frauenpolitik fallen seit 1999 sehr begrenzt aus und sind keinen langfristigen Zielen verpflichtet. Dagegen nahmen kurzfristig intendierte Maßnahmen zur Beruhigung von akuten Konflikten wie z.B. Zugeständnisse von Geldern zur Entwicklungsförderung für die Kabylei oder für die 13 Südwilaya zu.52 Der sehr kritische Bericht des Nationalen Wirtschafts- und Sozialrats (CNES)53 über die 51 52 53 der Frau an; das schließlich im Februar 2005 verabschiedete, „reformierte“ Gesetz brachte diesbezüglich keinen Durchbruch. Zu den Reformgegnern und Widerständen vgl. auch Mattes 2005, a.a.O. (Anm. 5). Nach Angaben von staatskritischen Algeriern, die mit der Situation in der Kabylei vertraut sind, wurden zwar einige Projekte umgesetzt, der Effekt hinke jedoch weit den Erwartungen der Bevölkerung hinterher. Dasselbe gilt für die Südwilaya, wo im April und Juni 2001 20 Mrd. AD für das Reformprogramm „Plan Sud“ bereitgestellt wurde (www.cg.gov.dz/dossiers/plan-sud.htm). Conseil National Economique et Social (Hrsg.): Rapport National sur le développement humain. Algérie 2006, Algier 2007, 102 S., Bericht im Internet unter: planipolis.iiep.unesco.org/upload/Algeria/Algeria%20HDR.pdf. Kapitel II : Algerien 161 soziale und wirtschaftliche Lage und Entwicklung in Algerien 2006 belegt indessen, daß sich die Situation für die Bevölkerung nicht besserte. Die Erwartungen jener Islamisten, die sich zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes und zur Reintegration in die Gesellschaft entschlossen, haben sich ebenfalls nicht so erfüllt, wie es erhofft wurde. Vor allem die bislang konsequente Absage an eine Parteigründung und die Zulassung von politischer Betätigung für ehemalige Führungskader sind offene Streitpunkte. Die Erwartungen der säkular eingestellten Opposition (Parteien, Vereinigungen), wenngleich eine Minderheit, blieben ebenso unerfüllt wie die Erwartungen der breiten Masse der Bevölkerung in einen wirtschaftlichen Aufschwung mit einer spürbaren sukzessiven Verbesserung der Lebensumstände und Fortschritten bei dem Angebot an Arbeitsplätzen für die Jüngeren (aller Bildungsniveaus). Die Bereitschaft, das Land zu verlassen, ist deshalb nach wie vor ausgeprägt. Die soziale Kohäsion ist aufgebrochen; es ist gerade bei Jugendlichen eine Tendenz zur Distanzierung von allem, was den Staat und Politik repräsentiert, zu beobachten. Die Staatsführung hingegen funktioniert nach altem Einheitsparteimuster; sie sucht ständig Zustimmung zu ihrer Politik und will alle Positionen miteinander in Einklang bringen, indem sie für Zustimmung „belohnt“. Sie ist aber nicht geneigt, konstruktiv und in einer transparenten und öffentlichen Debatte über die in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen vorhandenen Ängste und Wünsche, aber auch ihre Vorstellungen zur Zukunftsgestaltung von Staat und Gesellschaft zu diskutieren.54 Das Werben um Zustimmung (Konsens) durch die Koppelung von Zustimmung an „Belohnungen“ wirkt nur punktuell und kurzfristig konfliktmildernd; die „Begünstigung“ der Reformbremser, der religiös-konservativ bis islamistisch Eingestellten, der in sozialistisch-bürokratischem, zentralistischem Kontrolldenken Verhafteten verstärkt zum einen die „Nichtübereinstimmung“ (Opposition) und zum anderen 54 Ein anschauliches Beispiel bietet die seit Februar 2008 intensivierte „Propaganda“ der Regierungspartei FLN zugunsten einer Verfassungsmodifikation, die u.a. die Beschränkung der Wiederwahl des Staatspräsidenten auf zwei Mandate aufheben soll. Die im Februar 2008 veröffentlichte Petition gegen eine solche Verfassungsänderung, die über 500 Personen namentlich unterzeichneten, ins Leben gerufen von einer Gruppe Intellektueller (Persönlichkeiten aus dem Universitäts- und Medienbereich, Mitglieder von Vereinigungen, Ärzte, Studenten), wird bislang offiziell ignoriert; vgl. zu den Unterzeichnern und den Zielen www.respecterlaconstitution.com. 162 Staatlicher Umgang mit Opposition die pragmatische Hinwendung des Einzelnen zur individuellen oder gruppenspezifischen Interessendurchsetzung (durch Unterordnung unter den Konsens oder durch Proteste, militantes Verhaltungen). Die auf Seiten des Staates zu erkennende „Hemmung“, vom Grundsatz des größtmöglichen Konsens abzuweichen, obwohl die von einigen staatlichen Institutionen und Politikern erstellten Problemanalysen, die die Notwendigkeit von zügigeren Reformen und grundlegenden Veränderungen herausstellen, ist zumindest zum Teil eine Folge der Angst vor unkontrollierbarer „Unordnung“ und Mißtrauen.55 3.5. Außenpolitische Faktoren und militante Opposition Externe Faktoren haben die Militanz islamistischer Gruppen in Algerien seit Ende der 1980er Jahre verstärkt und schließlich die Entscheidung zum bewaffneten Kampf gegen die Staatsführung begünstigt: - - Einer dieser Faktoren war die finanzielle Unterstützung islamistischer Gruppen (u.a.) in Algerien durch saudi-arabische Gelder, wodurch Mittel zur Waffenbeschaffung und (nachweislich) zum Stimmenkauf (bei den ersten pluralen Wahlen zu den Kommunal- und Provinzräten 1990) sowie zum Ausbau der Infrastruktur vorhanden waren. Der zweite begünstigende Faktor war die Rückkehr zahlreicher kampferprobter algerischer Afghanistankämpfer ab 1992, nachdem der Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan den „Befreiungskampf“ überflüssig machte.56 Sie bauten in Algerien Trainingslager für die Vorbereitung zum bewaffneten Kampf gegen die Staatsführung auf, der ab Sommer 1992 schnell eskalierte. Die vor staatlicher Repression seit Anfang der 1990er Jahre überwiegend ins europäische Ausland geflohenen Mitglieder und Kader des FIS, von denen einige seit 1999/2000 (Amnestieangebot der Staatsführung) wieder nach Algerien zurückkehrten, sprechen sich inzwischen gegen Gewalt aus und verurteilen die Selbstmordanschläge der GSPC/al-Qaida im 55 56 So auch die Einschätzung einiger algerischer Analysten (Gespräche im Februar 2008). Die Untersuchungen des algerischen Psychologen Toualbi-Thaâlibi (a.a.O., Anm. 4) unterstützen diese Interpretation. Vgl. hierzu im Detail Faath, Sigrid/Mattes, Hanspeter: Die „Arabischen Afghanen“. Faktor interner Konflikte in Nordafrika/Nahost und des internationalen Terrorismus, in: Wuqûf-Kurzanalysen, Hamburg, Nr. 4, 1996, 53 S. Kapitel II : Algerien 163 islamischen Maghreb seit 2007. Einige algerische Islamisten im Ausland gründeten eine „politische, soziale und intellektuelle Sammlungsbewegung“ des Namens „Rashad“ („Richtiges Handeln“) und bieten sich auf ihrer Webseite als Alternative zu den bestehenden Parteien an.57 Sie wollen „radikalen Wandel“ durch gewaltfreie Mittel; auf ihrer Webseite formulieren sie explizit kein islamistisches Konzept für den algerischen Staat. Diese Auslandsopposition ist inneralgerisch bedeutungslos. Der Fortbestand des internationalen al-Qaida-Netzwerkes wirkte sich indirekt auf die algerischen bewaffneten Gruppen aus. Der GSPC erhielt dadurch die Möglichkeit, durch seine Umbenennung in al-Qaida des islamischen Maghreb neue Bedeutung zu simulieren und für potentielle Mitglieder an Attraktivität zu gewinnen. Die Militanz, die in Algerien seit 2000/2001 regelmäßig in (sozialen) Protestaktionen zum Ausdruck kommt, ist ausnahmslos innenpolitischen Bedingungen und Entwicklungen zu verdanken. Sie wird allerdings verschärft durch die Auswirkungen der globalen Wirtschaftsentwicklung (Preissteigerungen für Energie, Weizen usw.). Verschärft wird die Unzufriedenheit mit den staatlichen Leistungen aber auch durch die via SATTV, Internet und durch Reisen gewonnenen Informationen und Eindrücke über die bessere Lebenssituation in anderen Ländern, selbst in den ressourcenschwachen Nachbarstaaten Marokko und Tunesien. 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen im Umgang mit Opposition On ne conduit le peuple qu’en lui montrant un avenir: un chef est un marchand d’espérence. Napoleon Bonaparte (1769-1821) Die Übernahme der Präsidentschaft durch Abdelaziz Bouteflika im April 1999 hatte zweifellos direkte Folgen für den Umgang mit der gewaltbereiten bzw. bewaffneten islamistischen Fundamentalopposition und den bewaffneten Gruppen, die seit 1997 einen einseitigen Waffenstillstand 57 Vgl. www.rachad.org. Die englische volle Namensbezeichnung lautet: Movement for Justice and Rational Rule in Algeria (Bewegung für Gerechtigkeit und rationales Regieren in Algerien). 164 Staatlicher Umgang mit Opposition aufrechterhielten. Das weitreichende Amnestieangebot Präsident Bouteflikas gab den Ausschlag für den relativen Erfolg dieser Befriedungsversuche, wenngleich Teile der bewaffneten Gruppen weiterhin aktiv sind und seit 2007 durch Selbstmordanschläge von sich reden machen. Die seit 1999 umgesetzten zwei Etappen der „Versöhnung“ und „Reintegration“ ehemaliger Mitglieder bewaffneter Gruppen in die Gesellschaft führten zwar in Einzelfällen zu einem Rückzug ins Private und zu einer „Entpolitisierung“; insgesamt konnten die ehemaligen Führungskader der bewaffneten Gruppen jedoch den Zusammenhalt als Gruppe sichern und entsprechende Organisationsstrukturen aufrechterhalten. Dies gilt sowohl für den ehemaligen bewaffneten Arm des FIS, die Armée Islamique du Salut (AIS), als auch die anderen Gruppen, die sich 1997 dem von der AIS ausgerufenen Waffenstillstand angeschlossen hatten. Der Gruppenzusammenhalt bedingt wiederum, daß die militante Rhetorik beibehalten wird und die Führungskader dem Staat gegenüber sogar „drohen“ (z.B. mit Wiederaufnahme der Waffen), wenn die Gegenleistungen für die Bereitschaft zum Verzicht auf Gewalt nicht zügig und im erwarteten Umfang umgesetzt werden. Von den im Rahmen des nationalen Versöhnungsprojekts amnestierten Islamisten geht in Gemeinden und Wohnvierteln, in denen sie stärker präsent sind, immer noch Druck (Drohung mit Gewalt) auf ihre Umgebung aus, sich den islamistischen sittlich-moralisch-religiösen Vorstellungen anzupassen. Der Umgang mit Gewalt ablehnender Opposition (Parteien, Vereinigungen, Gewerkschaften, Individuen) ist „kooperativ“, sofern sie sich dem Konsens anpassen bzw. im Rahmen „loyaler“ Opposition agieren. Allerdings bietet das Strafgesetz jederzeit die Möglichkeit, unliebsame Kritik an staatlichen Repräsentanten und Institutionen zu unterbinden und zu sanktionieren. Die algerischen Medien, vor allem das Radio und das Fernsehen, sind streng kontrolliert; die Presse wird zwar durch ein breites Spektrum an Meinungen und Positionen charakterisiert; die Anzahl der Zeitungen, die oppositionelle Meinungen vertritt und sich sehr kritisch mit der Staatsführung und ihrer Politik auseinandersetzt, ist beträchtlich, besonders im Vergleich zur Presse in Tunesien, aber auch in Marokko. Dennoch ist das Damoklesschwert der Zensur stets präsent. Nach Selbsteinschätzung algerischer Journalisten ist die Situation in Tu- Kapitel II : Algerien 165 nesien und Marokko diesbezüglich allerdings „klarer“, weil die Tabus und Grenzen präziser definiert sind. Diese Kalkulierbarkeit staatlicher Reaktion fehle in Algerien. Trotz der massiven sozioökonomischen Probleme Algeriens, dem fehlenden Durchbruch bei der Umsetzung wirtschaftlicher Entwicklung und dem hohen Grad an (landesweiter) Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen änderte sich das Repertoire der Staatsführung zum Umgang mit der Bevölkerung und ihrer Unzufriedenheit nicht. Festgehalten wird vielmehr - am Mittel der Kooptierung auf der Basis regionaler und familiärer Strukturen (verstärkt seit 2004);58 am Mittel der Marginalisierung der Parteien und des Parlaments, eine Strategie, die durch Privilegien und finanzielle Zuwendungen „versüßt“ wird und selbst Nachfrage generiert.59 Da eine aus mehreren Parteien bestehende Regierung die konsensuale Entscheidungsfindung erschwert, verlagerte Präsident Bouteflika die Entscheidungsfindung in einen engen Zirkel von Vertrauten und ausgewählten Ministern. Die Parteien der Regierungskoalition wie auch das Parlament und die parlamentarische Opposition wird jeweils vor vollendete Tatsachen (Beschlüsse) gestellt. Ohne vorausgehende Debatte und oftmals ohne Offenlegung aller Fakten und des eigentlichen Ziels (jüngstes Beispiel ist die 2008 geplante Verfassungsänderung) wird Zustimmung zum Projekt des Präsidenten bzw. seiner Regierung verlangt: Wer sich dieser Zustimmung verweigert, muß Sanktionen einkalkulieren. Diese anhaltende Praxis der systematischen Marginalisierung von Parteien und der Legislative zementiert das „schlechte“ Ansehen dieser Institutionen und fördert den Rückzug der Bevölkerung aus der Politik (ins Private) und den Rekurs auf klientelistische Bindungen zur Wahrnehmung der eigenen Interessen. Eine weitere Folge ist das negative Ansehen von Wahlen und die Hinwendung zum Kommunikationsmittel „sozialer Protest“. Wenn auch die politische Ordnung in Algerien als stabil zu bezeichnen ist und von der derzeitigen bewaffneten Opposition 58 59 Vgl. hierzu auch Toualbi-Thaâlibi 2006, a.a.O. (Anm. 4), S. 115. L’Expression, Algier, 10.4.2008 (Zerhouni devant les députés: Les ONG viennent pour ramasser l’argent“). 166 Staatlicher Umgang mit Opposition keine Gefahren für das System drohen, so führt die Politik der Staatsführung zu einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und wirkt dem Aufbau eines Gemeinsinns und gemeinschaftlicher Ziele entgegen. Langfristig ist diese Politik – weit davon entfernt, eine Zukunftsperspektive aufzuzeigen – nicht geeignet, Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von spezifischen Eigeninteressen einzelner Bevölkerungsgruppen zu diskreditieren. The Jordanian Opposition A Problematic Relationship with the State Raëd Moussa The political opposition: an overview The Jordanian Muslim Brotherhood and its political offshoot, the Islamic Action Front Party (IAF), is the most powerful political opposition group in Jordan. One fact that comes across clearly to any observer is that there is a great difference between the impact of the Muslim Brotherhood and that of any other opposition party, such as the nationalist or leftist parties, both in terms of political positions and social or cultural ideologies. Hence, this study intends to focus first on the Muslim Brotherhood as a model of political opposition in Jordan and, secondly, on the Salafi Jihad movement as a model of armed opposition which rejects political involvement and therefore constitutes a menace to the stability of the state through its various armed activities. Before proceeding to analyse these two models, it is necessary to draw a map of the political opposition in Jordan. Fourteen opposition parties are loosely connected under the umbrella of the Coordination Committee of Jordanian Opposition Parties1, which includes the Islamic, national and leftist parties. The most prominent of these parties in Jordan are: The Nationalist parties: - The Jordanian Baath Arab Socialist Party - Al-Baath Progressive Party - The Arab Democratic Jordanian Party - The National Action Front 1 See www.kinghussein.gov.jo/his_list.html. 168 Staatlicher Umgang mit Opposition The Islamic Party: The Islamic Action Front (IAF) The Leftist parties: The Jordanian Communist Party The Social Democratic Jordanian Party The Jordanian People’s Democratic Party (HASHD) The Jordanian Democratic Popular Unity Party The Muslim Brotherhood with its political arm, the Islamic Action Front, has become the most significant and largest opposition force in the country. In addition, it is crucial to mention that a number of Jordanian parties are merely an extension of Palestinian organizations, especially the “Jordanian Democratic Popular Unity Party”, which is closely related to the Popular Front for the Liberation of Palestine, and the “Jordanian People’s Democratic Party” (HASHD), which is a part of the Democratic Front for the Liberation of Palestine. While not a single member of Parliament belonged to a leftist party between 2003 and 2007, there were clear indications of the activities of leftist forces in municipal and in student elections of Jordanian universities, as well as evidence of the Left having a strong presence in numerous trade unions such as the Association of Jordanian Writers and the anti-globalisation movement, a student movement with a leftist orientation2. In this context, liberal reforms related to the electoral law and the formation of the government through a peaceful transfer of power are being attributed, by people such as Jamil Abu Bakr3, a main opposition figure in Jordan, to a national bloc return to Islamic culture. In view of this return, the draft project of the Jordanian government seems to project anti-Zionist sentiments, insisting on the deep affiliation of Jordan with the Arab world in particular, and the Islamic community in general. Abu Bakr believes that the role of Jordan in the Arab world and 2 3 Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman (researcher on Jordan’s Islamic movements), Amman, December, 2007. Interview with Mr. Jamil Abu Bakr (Vice-general controller of the Jordanian Muslim Brotherhood group), Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 169 internationally should be different from what it is at the moment, particularly in terms of independence and influence. In general terms, it can be categorically stated that two political factions, namely the parties associated with the state and the Muslim Brotherhood, determine the Jordanian politics, while the leftist and nationalist parties do not appear as influential forces in Jordanian policymaking. Although the present study focuses on the Jordanian opposition after 2000, 1993 was considered by many researchers a major turning point in the political life of Jordan, since it marked the application of the State Law of “one man one vote” in the holding of parliamentary elections, ultimately leading to the weakening of the parties and institutions that were accused of partisan affiliations. In that year, the Islamic opposition was capable of gathering nearly one hundred thousand votes, while the left was able to gather approximately ten thousand votes. Significantly, a council of deputies (as was demonstrated in the elections of 1989) represented the Islamists, the Left and the Nationalists. However, it was the launching of the peace negotiations between Jordan and Israel and the collapse of the Soviet Union that led to the collapse of the opposition groups which had received support from abroad, such as several Palestinian factions as well as the Communist Party. This led to the elimination of any real opposition in the country except for that of the Muslim Brotherhood4. 1. The main opposition groups 1.1. The Muslim Brotherhood The Muslim Brotherhood was founded in Jordan in November 1945. The movement was granted legal status as a charity association in January 1946, during the reign of King Abdallah I (1921-1951). The relations between the Muslim Brotherhood and the Jordanian government were 4 Interview with Mr. Yasser Abu Hilala (Director of Aljazeera Channel office in Jordan), Amman, December, 2007. 170 Staatlicher Umgang mit Opposition extremely cordial. The state considered it to be a strategic ally in the face of the major opposition forces such as the nationalist Arabs, communists and other leftist parties. For that reason, the State allowed the Muslim Brotherhood to open branches in various parts of the country, and it was among the few organizations that were allowed to operate under the martial law that governed the country between 1957 and 1989 while many other civil society organizations, as well as political parties were banned. In return, the group publicly supported the state and King Hussein (1953-1998) throughout confrontations with the Arab nationalists. In 1970, in the wake of the bloody confrontations between the Jordanian State and the Palestine Liberation Organization during the so-called “Black September”, which ended with the termination of the activity of these factions in Jordan, the state allowed the Muslim Brotherhood to fill the vacuum left by the Palestinian organizations5. Although a number of confrontations have erupted between the regime and the Muslim Brotherhood, there has been a kind of understanding that has governed the relationship between the two parties. However, this understanding seems to have collapsed in recent years, especially since the Jordanian State started peace negotiations with Israel at the beginning of the 1990s. The Muslim Brotherhood was viewed by the regime during this phase as part of the problem and not as part of the solution, while the Muslim Brotherhood saw the Jordanian state as an ally of the United States of America (USA) and Israel. Moreover, the regime took several measures to curtail the Muslim Brotherhood during the 1990s, intensifying these measures during the reign of King Abdallah II6. 5 6 The confrontations between the Palestinian factions and the Jordanian security forces constituted a real danger to the Jordanian regime, and almost led to a war between those that supported the government on the one hand, and those that supported the Palestinian factions on the other. The Jordanian State, in an attempt to avoid repeating the experience of “Black September”, dealt more harshly with Jordanian opposition in the 1970s and 1980s, succeeding for the most part in eradicating strong leftist and nationalist opposition. Another result of “Black September” was the new approach towards the Muslim Brotherhood, which the Jordanian authorities encouraged and supported in the 1970s. Sara Lei Spara et al., Islam and Civil Society: Case Studies from Jordan and Egypt, Copenhagen (Danish Institute for International Studies), October 2007. Kapitel II : Jordanien 171 The political activity of the Muslim Brotherhood According to some specialists, the Muslim Brotherhood is more of a social group than a political force, working on social capital investment in the political field. The Muslim Brotherhood has participated in parliamentary elections since 1954, but boycotted the elections between 1997 and 2003. Their representation in the Council of Representatives has varied from four to twenty-two deputies. One of their deputies – Abd al-Latif Arabiyat – assumed the presidency of the Council for three consecutive sessions of the Eleventh Council (1989-1993). The Muslim Brotherhood also participated in the government in 1991, and took charge of a number of ministries such as religion, health, education and social development. Muslim Brotherhood members have also been involved in the senate. However, in the last parliamentary elections (in November 2007), which were severely marred by controversy concerning rigging and vote buying, the group won six seats only. The Muslim Brotherhood formed the Islamic Action Front Party in 1992 to function as the political front for the group, to lead political action and form political alliances. In 2005 the Islamic Action Front Party presented its vision of reform in a draft put to the public as “the draft of the Islamic Movement for Reform in Jordan”7. The Muslim Brotherhood is active mainly in professional unions and has controlled most of them since the 1980s. The professional unions today are thought to be the most important outlet for the Jordanian opposition’s political activity. It should be mentioned as well that the State laws – which limited the extension – had not yet been applied on the professional unions. In contrast, student councils, mosques, etc., which were controlled by the Muslim Brotherhood, offered the group a place for its recruitments and mobilization. However, some of the personalities who were 7 Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. See the website of the Muslim Brotherhood in Jordan for more details about “the draft of the Islamic Movement for reform in Jordan”, www.ikhwan-jor.com. 172 Staatlicher Umgang mit Opposition interviewed8, have confirmed that it is a commonly held view that the state restricted the role of professional unions. Furthermore, in the 1990s the Muslim Brotherhood also gained control of student councils in Jordanian universities, which prompted the state in 2000 to impose a new law – particularly at the University of Jordan – which allows only half of the students on the university council to be chosen according to the one man one voting system, while the university administration chooses the second half. The social network of the Muslim Brotherhood Traditionally, the Muslim Brotherhood Group has had close ties to civil society organizations, especially the Islamic Center Society (founded in 1963), which formally belongs to the group. The Islamic Center Society provides assistance today to more than 13,000 orphans, offers assistance to more than 4,500 families, and has around 3,500 employees working in institutions in various parts of the Kingdom. Furthermore, it runs a number of schools, community colleges, clinics and orphanages, along with two hospitals, one in Amman and the other in the city of Aqaba9. There are also other associations that are closely related the Muslim Brotherhood Group such as the Al-Afaf Society (chastity) headed by Dr. Abd al-Latif Arabiyat (member of the group and a former chairman of the Jordanian parliament), as well as the Zakat Committees, many women’s associations, and other smaller cultural associations, such as the Organization for the preservation of the holy Quran which has dozens of branches in numerous Jordanian cities. In July 2006, when the Islamic Center Society was accused of corruption, the tense relationship between the State and the Muslim Brotherhood affected the Brotherhood’s entire social network. The state dissolved the board of administration and selected a new board for the functioning of the Islamic Center Society. Since that time, there is a firm belief that the matter is being reviewed by the State. 8 9 Mr. Zaki Bani Arshid (General Secretary of the Islamic Action Front Party), Amman, December, 2007. Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 173 1.2. Salafi Jihad in Jordan: armed opposition to the state It is imperative to mention here that the Salafi movement is composed of different elements, the most prominent being the cultural Salafi tradition that focuses its activities on mosques and on publishing books on Islamic heritage, but which is rather politically inactive. The emergence of the Salafi movement in Jordan was associated with the arrival of the Syrian scholar Nasr al-Din al-Albani in Jordan in the early eighties of the last century. Today, the most prominent representative of this movement is Ali al-Halabi. The State has been supporting the activities of this movement by providing various facilities, support which is viewed as part of its strategy to curb the Muslim Brotherhood. It is worth noting here that the traditional Salafi movement adopts a set of ideas that overlap with the ideas projected by the Salafi Jihad, but it considers human legislation (governing) a kind of immorality or injustice, tantamount to blasphemy. Hence, most of the figures interviewed in the context of this study doubt the feasibility and results of the state subsidy of these types of movements. Another faction, the Salafi Jihad, calls for the establishment of the state of “al-Khilafa” (Caliphate) as a manifestation of the “Nation of Islam from the Atlantic Ocean to the Pacific”, and calls for the so-called “jihad request” (request to fight the enemy). The Salafi Jihad project calls for a nation, unencumbered by time or place and thinks that the existing political system’s regulations do not apply the law of God and must be removed in the order to ensure the restoration of Islamic life in keeping with the tradition of the early Caliphs after the Prophet Mohammed’s death. Salafi Jihad considers “Jihad, the only and best way to resume the Islamic life,” and sees “no other option” than Jihad to restore society to this notion of Islamic life. In this sense the Salafi Jihad does not have a political agenda as Salafi Jihad rejects the modern political process in its very essentials. Neither rulers nor regulations, parliaments and political parties are accepted. The members of Salafi Jihad have always acted to 174 Staatlicher Umgang mit Opposition stage a “revolution”, to realize their vision of a state reflecting their interpretation of religion10. The emergence of the militant Salafi Jihad in Jordan, a movement linked and ideologically attached to the network Al-Qaeda, can be traced to figures such as Muhammad Salem al-Rahhal, the head of the Islamic Jihad organization in Jordan accused of participating in the assassination of President Sadat in Egypt in 1981, Issam al-Barqawi (Abu Muhammad al-Maqdisi) and Ahmed al-Khalayla (Abu Mus‘ab al-Zarqawi). The militant Salafi Jihad movement gained strength in Jordan between 1993 and 1999. Since 1999, the Salafi Jihad movement has been very active through the efforts of Abu Muhammad al-Maqdisi and Abu Mu‘sab al-Zarqawi. In the meantime it has become very professional Abu Mus‘ab al-Zarqawi appeared in Afghanistan and Iraq. The main task of the Salafi Jihad movement in 1999 was to send young Jordanians abroad for training, and then return them to Jordan. The security agencies in Jordan were initially unable to deal with the challenge imposed by these actions of the Salafi Jihad movement. Some observers feel that what the state did to curtail the Muslim Brotherhood benefited the Salafi Jihad movement immensely. However, the killing of Abu Mus‘ab al-Zarqawi in Iraq in 2006 weakened the Salafi Jihad movement in Jordan in terms of political effectiveness and security. There are certain areas in Jordan where the ideas and ideology of the Salafi Jihad movement remain popular, for example in the regions of AlSaltt or Ma’an, as well as in some Palestinian refugee camps. Yet the attraction of the Salafi Jihad movement is in decline: According to a survey conducted by the Center for Strategic Studies, University of Jordan in Amman, only 5 per cent of Jordanians actually supported the Al-Qaeda11 after the Amman explosions in 2005 for which Al-Qaeda took responsibility. 10 11 See the website of Jama‘at al-Tawhid wal-Jihad (Group of monotheism and Jihad) which is offering the Salafi Jihad ideas. Interview with Mr. Yasser Abu Hilala, Mr. Muhammad Abu Rumman and Mr. Marwan Shahada, Amman, in December 2007 and January 2008. Kapitel II : Jordanien 175 2. The strategy of the state to contain the opposition This article attempts to shed light on the policy and strategy of the Jordanian state in dealing with the opposition, and to show how the system was able to succeed in excluding the Islamic opposition. We will see how the state invested in all kinds of policies designed to curtail the Islamic opposition. Islamic leaders have claimed that the opposition was so deeply rooted within the people that it could not be uprooted because the Jordanian Muslim Brotherhood’s budget was equivalent to that of some third world countries. In addition, their medical centers, hospitals and schools are well-established in the Kingdom, and their charitable organisations serve almost the majority of Jordanians. The following describes the methods used by the government to exclude the Islamic opposition from the political process. The new international situation and the changes that have occurred on international and Mid-East regional levels after September 11, 2001 and the intervention of the USA in Iraq 2003 have made the Jordanian regime formulate special ways of controlling and containing the Jordanian Islamist groups and of hindering an influx of Islamists into Jordan from neighboring countries, as had happened in Gaza. The Jordanian authorities feared that such an influx of Islamists from outside Jordan could strengthen the Jordanian Islamists (especially the “hardliners” and extremists) and could lessen the loyalty to the Jordanian state of the main Islamist opposition group, the Muslim Brotherhood. 2.1. The democratic choice Jordan was one of the first Arab countries in the Near East to experiment with political liberalisation and a formal democratic opening of the political system, by deciding in 1989 to put an end to the state of emergency that had prevailed in the country since 1957. The liberalisation process brought not only an end to martial law but prompted also the emergence of political parties which were allowed to participate in parliamentary elections. The period between 1989 and 1993 witnessed political pluralism and genuine accountability for the application of policies brought about by the new democratic government. 176 Staatlicher Umgang mit Opposition Parliamentary personalities, personal opponents to the Presidency of the Chamber of Deputies, and the opposition Islamic movement were all represented in the Government. Many observers thought that the political situation during the four years following the 1989 elections represented the beginning of a democratic transition in Jordan which, through time and care, would evolve until it reached an irreversible turning point. However, the following stages in Jordan proved contrary to expectations since the change was more rhetorical than real, as the last two decades have shown. Rather, the Jordanian policies of the last twenty years appear to have succumbed to the directions and ideas of the heads of successive governments, and their various agendas12. The Jordanian “democratic opening” after almost two decades of experimentation is in a very unstable condition. Despite all the political initiatives implemented by King Abdallah II at the beginning of this century, such as “Jordan First”, “the National Agenda” and “We are all Jordan”, as part of a project of political reform in the Kingdom, the Jordanians have still not been able to resolve the issue of the right to citizenship, equality, freedom, justice, and the exchange of power. The tackling of these issues would be a precondition to any structural transformation of the political system in Jordan. None of these political initiatives have achieved tangible success; on the contrary, institutions dealing with issues of Islamic and Arab nationalism as well as civil society institutions face many difficulties in participation or entry into the political arena. The Hashemite regime failed to asses the magnitude of Islamist political power, and thus was surprised when the Jordanian people elected twenty-two deputies (out of a total of eighty) from the Muslim Brotherhood in the 1989 elections. The situation after the elections led the authorities in the Kingdom to consider how they could stop the rise of the Islamic movement in future elections. One strategy was to implement fair democratic elections aimed at downsizing and reducing their access to parliament. The Jordanian authorities understood that the 12 These agendas concentrated on military, security or economic issues, and oscillated between a conservative and liberal orientation. Kapitel II : Jordanien 177 existence of a strong Council of Representatives with an effective party opposition would be a burden for the monarchy under the policy of rapprochement pursued with the USA and Israel13 so the authorities took counter-measures. The strategies implemented have been effective as the number of deputies from the Islamic movement in Jordan is in constant decline: In the last elections in November 2007 they earned six seats out of 110 although they had managed to get twenty-two seats in the 1989 elections. 2.2. Regional and international circumstances and their impact on the political process in Jordan The Islamic movements – whether “moderate”14 or extremist like the Salafi Jihad, which believes in pursuing violence to achieve its political goals – have replaced the ideologies of socialism and Marxism, which ceased to be influential in several Arab countries in North Africa and the Middle East after the collapse of the Soviet Union in the early nineties of the last century. This sudden and rapid change in the international scene created a problem for Arab regimes as to how they would manage the absorption and cooption of Islamic movements in their countries. The Jordanian authorities attempted to co-opt the Muslim Brotherhood from the beginning by allowing the group to be socially and politically active, including political participation in the government. However, the relationship between the authorities and the Muslim Brotherhood was unstable, with the tenor of the relationship depending on regional and international factors. It reached its lowest ebb in the last seven years with the growing visibility of the Salafi Jihad ideology15. At the outset, there were US government calls for political reforms in Arab and Islamic countries, especially after the September 11, 2001 attacks in New York and Washington. Persistent US government demands for fair elections in the Middle East led to the Jordanian 13 14 15 Muhammad Abu Rumman, Al-Hayat, 8 November 2007. “Moderate” indicates in this context that a group excludes violence as a means of political action. Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, and Mr. Marwan Shahada, Amman, December, 2007. 178 Staatlicher Umgang mit Opposition parliamentary elections in 2003 followed by elections in Iraq and Egypt in 2005 and later in Palestine in 2006. However, this promotion of pluralist elections in the region did not fulfil the interests of the US government. Although the elections raised popular support, opposition to growing US influence and interference in the region’s affairs still persist. As the neo-conservatives in the US government and administration prioritised US national security and US vital interests over demands for liberalizing reforms of the political system16, the reform demands were no longer a pressing issue in bilateral discussions. This suited the Jordanian government, allowing it to postpone political reforms. Changes in some parts of the Arab world due to the failure of US politics in Iraq since 2003 and the recent war between the Lebanese Hezbollah and Israel during the summer of 2006, as well as the tragic developments in Gaza in the summer of 2007, led the Jordanian government to repress and politically marginalize Islamic movements even more. These preemptive measures sought to ensure that the Islamic movements in Jordan would not become a threat to the regime. The US government’s request that the escalation of Iranian influence in the Arab states be halted and that the Iranian regime’s support of Islamic groups be curbed, went along with the acceptance of Jordan’s slowing down of the political reform process. The fear of the Jordanian government that political reform under current internal and external (regional) circumstances could pose a threat to internal instability, was taken seriously by the US government. 2.3. The provisional laws Practices exercised by the government, such as prosecutions, arrests, surveillance, and the priority of security over all else in dealing with moderate and extremist Islamist groups, meant that, due to a fear of the development of extremism17, the emergence of political movements in 16 17 Interview with Mr. Zaki Bani Arshid, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Yasser Abu Hilala, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 179 general was stunted. Upon the arrival of King Abdallah II18, the state opened a security file on the Muslim Brotherhood. The state adopted a policy of politically excluding the opposition through various laws proposed by the government and approved by the Council of Representatives, including the Public Meetings Law, the Law of Preaching and Guidance in Mosques, the Press and Publication Law in 2007 (which included the imprisonment of journalists), and the antiterrorism law, which did not target only the Salafi Jihad movement but also other parties such as the Muslim Brotherhood. In addition, the government established military tribunals, which may in exceptional cases punish civilians, and which are not subject to the standards of an independent judiciary, where judges belong to the executive and administrative staff. Most researchers see that the “One Man One Vote Law”19 of 1993 was originally designed to curtail the Islamic movement but that it led to the destruction of political life. Whereas most of the parties that emerged in the 1993 elections were without seats, only the Islamic movement maintained a presence, winning 17 seats in these elections, the result would have been much better if the political climate had remained similar to that of the elections in 1989. The “One Man One Vote Law” was subjected to criticism by various political parties and was considered a setback to the democratic process because it encouraged clan and family loyalties, as well as ethnic and regional ties at the expense of political options. Most researchers here agreed that the “One Man One Vote Law” changed the Council of Representatives from a platform of political progress and the protection of public interests to a place or a tribune for personalities who are looking for economic influence, political power and societal prestige. The state adhered to this law despite the opposition of all political parties and their attempts to repeal this law. Opposition claimed that it effectively limited the role of parties outside government control. 18 19 Interview with Mr. Zaki Bani Arshid and Mr. Yasser Abu Hilala, Amman, December, 2007. Until that moment voters had had as many votes as there were MPs in their constituency. 180 Staatlicher Umgang mit Opposition The government decided to postpone the elections planned for 2001 due to increasing fears that the regional situation and the economic recession would lead to the success of the opposition. At that particular time, the government claimed that the main reason for the postponement of the elections was due to amendments being made to the election law, but in his speech in August 2002, King Abdallah II indicated that the postponement was indirectly linked to developments inside and outside Jordan. These elections, which were rescheduled for the end of 2002 were postponed once again due to the tense regional situation (US confrontation with Iraq; preparations for an intervention in Iraq). They were finally held on June 17, 2003. Since the arrival of King Abdallah II to the throne in Jordan in 1999, the gap between the government and the opposition has widened due to the issuing of more than 160 temporary laws20 by the Jordanian authorities. These included new restrictions on the freedom of assembly and the freedom of the press. These laws forbid demonstrations and public assembly without licences and permit from the authorities and led to the reduction of public appearances by the opposition parties. They reduced demonstrations and rallies against policies such as the US intervention in Iraq 2003 or Israel’s policy in the Occupied Palestinian Territories in the West Bank and Gaza Strip. Many other laws were issued under the pretext of political reform, such as the Press and Publication Law, the anti-terrorism law (Prevention of Terrorism Act), and the laws about political parties. The authorities also recognized the existence of injustice in the division of constituencies and ratios of representation in the electoral law21 – for example, three seats were allotted to the Circassian and Chechan ethnic minorities, nine seats were allotted to the Christians, nine to the Bedouins and six to women. The government’s policy tends to establish new parties in order to compete with the Muslim Brotherhood. Another method used by the 20 21 Hani al-Hourani, in Aljazeera.net. Shaker al-Nabulsi, in ikhwan.net. For more information see the website of the CNN. See: http://arabic.cnn.com. Kapitel II : Jordanien 181 Government was to allow newly wealthy22 candidates to buy votes or to falsify23 the results of the elections in order to gain seats in Parliament24. The Jordanian National Movement Party, in the process of being established, led the Muslim Brotherhood to believe that it would be a real threat to them, while the members of the party themselves claimed that the party would be moderate and that it was not established to counter the Islamic movement. 2.4. The opposition is accused of radicalism Charges were levelled against many opposition parties of being loyal to outside movements. Islamists were accused of having relations with Hamas in the Palestinian territories as well as with Muslim Brotherhood branches in several countries. Similarly, Baathists were accused of having organizational relations and financial ties with Iraq under Saddam Husain and with Syria, and still others were accused of having organizational and financial relations with factions of the Palestine Liberation Organization. The successive governments did not emphasize the application of the law on political parties rigorously, but they were ready to apply the law when the moment seemed appropriate and when the state wanted to prevent any political party having any financial or ideological links with outside groups25. Sometimes the government exploited the opposition’s relations with foreign organisations in neighbouring countries to curtail the opposition and to create a rift among the opposition parties themselves. This is what happened when the Palestinian Hamas was supported by the Jordanian Muslim Brotherhood and not by other Jordanian opposition parties, which either did not have a religious orientation, supported other 22 23 24 25 Bassam al-Badarin, in Al-Quds al-Arabi, 29 October 2007. Khaled Hroub, “Jordan: the possibility of transition from electoral rut to a ‘constitutional’ democratic monarchy”, Arab Reform Initiative, Washington D.C., December, 2007. See also the Website of the Jordanian National Centre for Human Rights, www.nchr.org.jo. Interview with Mr. Zaki Bani Arshid, Amman, December, 2007. Alarabiya TV, see the archive of www.alarabiya.net. 182 Staatlicher Umgang mit Opposition Palestinian factions, or simply did not want to interfere in the internal affaires of Palestine and therefore abstained from supporting Hamas26. There is no doubt that the continuation of the Palestinian crisis, with the increase in settlement activity by Israel and the rise to power and electoral success of Hamas, led to confusion in Jordanian politics. Moreover, the deteriorating situation in Iraq and the uncertainty in Lebanon encouraged the Jordanian regime to tighten its grip on security matters, for fear that the situation may be exploited by some parties. The events of September 11, 2001 as well as the second Intifada (AlAqsa Intifada) gave the Jordanian authorities the opportunity to take action against the Islamic opposition, to arrest the leaders of the committees resisting “normalization”27 with Israel and to clash with some professional unions28. The war in Iraq added new elements of tension, creating greater divergence between the regime and the opposition in Jordan. When several deputies from the opposition traveled to the city of Al-Zarqa in 2006 in order to offer their condolences to the family of Abu Mus‘ab alZarqawi29, who was killed in Iraq in the same year, the Jordanian government took the opportunity to arrest four members of parliament from the Islamic Action Front. This incident deepened the chasm between the state and the Muslim Brotherhood, with the state claiming that giving condolences to a person who had been condemned by the state meant supporting him and planning operations against the Jordanian government. Not only did the state tighten its security on the Muslim Brotherhood, but worked to emphasize the relationship between extremists such as Zarqawi and his group, which was banned in Jordan, and the Brotherhood, which had been authorized to carry out political activities within the Kingdom of Jordan. 26 27 28 29 Jamil Abu Bakr, in the site of the Jordanian Muslim Brotherhood. www.ikhwanjor.com; more details can be found on the news site of the Fatah movement, www.palvoice.com. “Normalization” here means acceptance of Jordan making ties with Israel. Hani al-Hourani in www.aljazeera.net. Seventeen deputies offered their condolences at the same time as the other deputies from the Islamic Action Front Party. Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 183 This led to the deterioration of support for the Muslim Brotherhood by the general public, who were intimidated into not following Islamic groups. Another means of crushing the Islamic Action Front and Muslim Brotherhood was to appoint a temporary ministerial board to run the Islamic Charity Centre, officially “to avoid financial mismanagement”30. By means of such a step, the state tried to stop the social activities and the charitable work of the Muslim Brotherhood which played a great role in enhancing the positive reputation of the organisation. The social institutions of the Muslim Brotherhood have been described by some analysts as “a state within a state” in Jordan. They have a budget of nearly half a billion dollars31, relying on private support and the public, and fall under the direct control direct of the state. The new King of Jordan has, since becoming head of state, applied a new policy aimed at making Jordan reach an advanced and distinguished international status. Indeed, such policies were successful in providing Jordan with a positive international image. As a result, Jordan is accepted as a reliable partner in international institutions. Owing to Jordan’s active participation in international organizations and administrations, Amman has become one of the few Middle Eastern capital cities to host many regional and international meetings and conferences in recent years. Despite this, Jordan has witnessed a dichotomy between outwardoriented globalisation, and the internal political and social situation in which tribalism, ethnic loyalties and regional interests still dominate. Thus, a dual discourse was created by the state: on the one hand, it represents the modern world by promoting human rights and national citizenship and on the other hand, it consolidates traditional cultures around society’s patriarchal structure, both at the cultural and political levels. There is a widespread belief among Jordanian political analysts that the next few years will be crucial in determining the fate and future of the West Asian region in general and Jordan in particular. Therefore, the 30 31 See The Jordan Times, Amman, 11.7.2007. Interview with Mr. Marwan Shahada, Amman, December, 2007. 184 Staatlicher Umgang mit Opposition Jordanian government is still postponing internal reforms and will continue to do so as long as the political situation in its neighbouring countries is unstable and the repercussions, for example, of the worsening security and economic situation in Iraq are directly felt in Jordan as the country hosts about one million Iraqi refugees. 3. The reaction of the opposition to the government’s strategy 3.1. The Muslim Brotherhood’s difficult position The Muslim Brotherhood has been unable to maintain a policy of moderation in its relationship with the Jordanian regime. Many young people within the organization have been deeply influenced by the emergence of the Palestinian Hamas movement, whose ideas and struggles they considered to be their own. This influence by Hamas changed the position of the Muslim Brotherhood into one that contradicted the directives of the Jordanian government, thus ending the “historical alliance” between the group and the regime. When disputes emerged between the Jordanian authorities and Hamas in 1999 and many Hamas leaders were expelled from Jordan32, an indication that the new King did not want to get involved in Palestinian affairs, the Muslim Brotherhood chose to side with their allies from Hamas. This made matters worse, widening the gap between the Muslim Brotherhood and the government. In addition, in the internal Lebanese conflict between the majority and minority parties, the Muslim Brotherhood chose to support the Lebanese opposition, while the Jordanian government supported the government of Fu’ad Siniora. The Jordanian Islamic movement – the Muslim Brotherhood and its political arm the Islamic Action Front – tried to resist the policy of marginalization which resulted from the “One Man One Vote Law” by boycotting the parliamentary elections in 1997. However, finding this strategy unsuccessful, the movement felt that the only solution was to once again participate in elections in 2003, and managed to win the same 32 Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 185 number of seats as they had in 1993. We can, however, observe that the power of the Islamic movement in Jordan has been in decline since the arrival to the throne of the young King Abdallah II. He pushed the Muslim Brotherhood to self-revision and to improve their performance and to undergo attempts to limit cleavages and internal differences by developing an Islamic discourse commensurate with the new conditions under the young monarch. The Amman explosions in 2005 by Al-Qaeda members set the opinion of the people in the street against the Islamic movement33, leading people to drop their support for the Muslim Brotherhood or to vote for other candidates in the recent elections. This caused a rift within the Muslim Brotherhood, a division resulting from deep internal disagreements between the “moderates” and “hardliners” (“doves and hawks”)34. The Muslim Brotherhood knew that the regime needed the moderates to strengthen the internal front, and that the regime understood well that the leadership of the Muslim Brotherhood opposed the level of rigour in their policies. Although there were many moderates within the Muslim Brotherhood who were ready to negotiate with the government, the regime wanted nothing to do with the more militant members of the group and thus excluded the Muslim Brotherhood entirely. However, the Government needed the Islamic movement to participate in the elections of 2007 in order to reduce the state of frustration and the reluctance of the Jordanian citizens to vote in the municipal elections. An agreement was reached between the Government and some leaders of the Islamic movement, in which the Government offered to hold elections fairly and transparently. The Government aimed to raise the proportion of participants and end any revengeful policies between different parties that resulted from past positions in the municipal elections and the withdrawal of some members due to fraud35. Observers of the recent elections concluded that the Islamic movement heeded the Government’s desire to curtail its political 33 34 35 Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. 186 Staatlicher Umgang mit Opposition involvement, agreeing to the conditions placed by the Government for the elections of November 2007, thus nominating only twenty-two candidates, instead of thirty, as in previous elections. All of the twentytwo candidates nominated were moderates. The Islamic movement decided to participate in the elections, despite government policy, which they considered was directed against them. They abstained from a boycott as in 1997 in an attempt to maintain popular support and avoid political isolation. Some observers of the Jordanian situation said that the decision of the Muslim Brotherhood to go along with government policy and to choose moderate representatives and accept dialogue with the government, was a result of their sense of loss of popularity among the Jordanian people who had come to suspect the views and positions of some of the “hardliners”. In addition, the Muslim Brotherhood desired peace with the government and regime. This decision came too late and did not change popular opinion of the Muslim Brotherhood. They lost in the elections even with the moderates and doves as candidates. Besides the unpopularity of the Islamic movement that resulted from some Islamist groups’ use of violence, several other factors affected the vote: The fact that the Muslim Brotherhood had gone into the elections with old slogans, a lack of organization, and a failure to address the real worries and needs of Jordanians also had a negative impact on their popularity. The Islamic movement did not offer any alternatives or realistic options to the current official economic, administrative or political policies so the state could not but benefit from these failures of the Islamists. Since the elections of 2007 the Muslim Brotherhood leadership seems to have been attempting to reformulate its organization, programmes, and its relationship with society and the state. It has been trying to critically review its situation and be better able to cope with the new future situation and to resist the policy of downsizing that has afflicted them for the last fifteen years. Such an attempt is not easy, due to the inherent internal conflicts between leaders who are divided between “hawks and doves”. In fact these disputes may well broaden into conflicts at the grassroots level. These differences reveal more than Kapitel II : Jordanien 187 simple disagreements in opinion36 – as held by some officials within the leadership of the Muslim Brotherhood – on some issues, the latest and most important being the list of candidates for the recent elections. The struggle within the Islamic Action Front Party ended in the dismissal of certain members, who then decided to participate in elections as independents37. Differences had erupted within the ranks of the Islamic movement concerning party lists for the elections when the party had dismissed three of its members in 1993 for the same reason. The Muslim Brotherhood survived that unprecedented crisis, some of its leaders combining with members of the Islamic Action Front to request the trial of the instigators who were behind the loss of their candidates in the parliamentary elections events. The Vice Controller General of the Muslim Brotherhood in Jordan, Jamil Abu Bakr, hinted that such trials were subject to discussion. Then came the resignation of the Consultative Council of the Jordanian Muslim Brotherhood – containing its most senior leaders which reacted to the electoral loss suffered by the movement, pressure from a broad swathe of Brothers and the belief that the decision of the Consultative Council to participate in elections was incorrect in light of current problems within the party and fears of rigged results. This decision was unprecedented within the Muslim Brotherhood and its institutions, which had always attempted to present themselves as the expression of democracy and as the vanguard of the forces of change and reform in Jordan38. Differences in direction were not confined to the leadership of the Muslim Brotherhood, but also affected the leadership of the Islamic Action Front, where leaders, such as the Secretary-General of the Party, Zaki Bani Arshid, and his deputy, Irhayel Gharaibeh could not agree. Zaki Bani Arshid can be described as the strictest among a group of hawks, including among others Hammam Said, Muhammad Abu Faris, Ali Abu Sukkar39. Zaki Bani Arshid, who was close to the Hamas leadership in Gaza, and its political bureau official, Khalid Misha’al40, 36 37 38 39 40 Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Tariq al-Fayid, in Al-Quds al-Arabi, 25 October 2007. Jamil Abu Bakr, in the site of Jordan Muslim Brotherhood. www.ikhwan-jor.com. Interview with Mr. Marwan Shahada, Amman, December, 2007. Khalid Misha’al was expelled from Amman to Damascus by the Jordanian regime. 188 Staatlicher Umgang mit Opposition has been blamed by the Muslim Brotherhood Party for the losses incurred by the Muslim Brotherhood. These losses were not due to Government policies alone but also resulted from the attitudes of some individuals. The Islamic Action Front became isolated, which had serious implications for the popularity of the Islamic movement, as was revealed by the results of the parliamentary elections. Many leaders in the Islamic movement called upon the Islamic Action Front to review its strategies and programmes for dealing with the Government. They also demanded that the consultative Council and the Executive Office of the Islamic Action Front Party be opened to new candidates in order to contribute to the restoration of a popular movement. The current elections within the Muslim Brotherhood are the most important in the recent history of the Islamic movement, and some analysts go as far as to call the current elections fateful for the movement and for its political presence in Jordan. Many leaders who belong to the moderate and dovish camp lost in the current elections, most prominently Abd al-Latif Arabiyat. The General Secretary of the Islamic Action Front Party Zaki Bani Arshid and former Member of Parliament Muhammad Abu Faris managed to gain election, both men being considered radical hard-liners (hawks) within the Islamic movement in Jordan41. 3.2. Secret action as the last option The pressures faced by the Muslim Brotherhood could push some members to work underground42. The Brotherhood leadership insists that it will not resort to clandestine action43 and that it will continue to work in all clarity and transparency for everything that serves the real interests of Jordan. There are fears in the Islamic Movement that if some of its leadership decided to work secretly, this might be an excuse for the Jordanian government to declare the Muslim Brotherhood a prohibited 41 42 43 Faris al-Habashina, “Hawks said to be winning in Jordan Muslim Brotherhood Shura Council elections,” in Al-Dustur website, Amman, 27 February 2008. Zayad Ghwairi, in Fact International, (Al-Haqiqa al-Duwalia), 12 December 2007, issue 95. Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 189 organisation, as did the Egyptian regime with the Egyptian Muslim Brotherhood. Until now, the Jordanian authorities have controlled the situation through a policy of surveillance and by intercepting the leaders and adherents of the Muslim Brotherhood and the Islamic Action Front. State control, the arrest of members, restrictions to meetings etc. intensified after 2005 as the Jordanian authorities feared that other groups would copy the Salafi Jihad groups and resort to violence. The state’s fear of such a development has grown, especially since it has failed to prevent some of the attacks that have taken place during recent years, such as the assassination of an American diplomat in Amman in October 2002 and the extremely bloody operations in 2005 which consisted of a series of explosions that struck a group of luxury hotels in Amman simultaneously, and which are referred to as the “Amman explosions”. The Jordanian regime has benefited from the weakness and fragility of the opposition in its application of various policies, especially in recent years. Many political observers in Amman agree that the points of disagreement and difference between the Jordanian opposition parties far outweigh in importance what they have common; the divergent positions diminished the possibility of a rapprochement. Instead of finding a consensus concerning major issues, the opposition groups suffered from disintegration and division, and dominance by traditional leaders44. The political arena in Jordan today officially comprises around 35 parties, representing all political groups. The state rigidly differentiates between these groups, thus obstructing an already fragile Jordanian national unity45. Divisions even appear in the support expressed for different sports teams, which have different slogans such the Faisali team – a Jordanian team – and Al-Wehdat team representing Palestinians. Al-Wehdat is the name of the famous Palestinian refugee camp in the heart of East Amman. 44 45 See www.alarabiya.net. Bassam al-Badarin, in Al-Quds al-Arabi, 29 October 2007. 190 Staatlicher Umgang mit Opposition 4. The state and its strategy towards the Islamists since 2005 4.1. The state strategy for dealing with the armed opposition Previously, state procedures were confined to security concerns46 and there was no attempt to devise any other means of confrontation. However, subsequent actions such as the “Amman Message,” given in response to the suicide attacks of September 11, 2001 in New York and Washington, were developed to deal with the Salafi Jihad movement specifically and extremism in general, using, for example, information programs47, such as the “Median Forum” headed by Marwan Alfa’ori48. Such programmes included planning a series of alternative media to fight Salafi thought, supporting Salafi traditional activities such as seminars, lectures and conferences49, and finally, contacting Jordanian political detainees in prisons, including Abu Muhammad al-Maqdisi. These actions do not affect members who belong to militant Salafist thought, but are primarily aimed at ordinary people and supplement the preaching and guidance which is being handled by personalities loyal to the state. Actions outside of security procedures taken by the state against Salafi ideas and influence remain limited. The institutions of the state and civil society do not play a large and important role when it comes to develop a strategy to counter Salafi ideas and influence. Overall, the Salafi Jihad is a complex phenomenon and cannot be linked only to bad economic conditions, as the situation in the Gulf clearly indicates. However, the prevailing notion in Jordan is that it is a social movement and an ideology of protest. The enactment of the anti-terrorism law in Jordan was prompted by the explosions in Amman in 2005. Yet, the Jordanian State has not been trying to contain the Salafi Jihad, as governments in Yemen, Egypt, or Saudi Arabia have been doing. In Egypt, the government resorted to dialogue with the leaders of the Islamic group after the Luxor incident in 46 47 48 49 Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Muhammad Abu Rumman, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Marwan Shahada, Amman, December, 2007. Kapitel II : Jordanien 191 1997, and in Yemen the state allowed some lawyers and scientists to pursue a dialogue with the prisoners, which resulted in the commutation of the sentences and to the release of some prisoners. 4.2. The November 2007 elections and the “Parliament of Allegiance” There were expectations that the date for the elections in November 2007 would again be postponed, but the Jordanian monarch was not keen on accepting advice to postpone the elections until the situation in the region calmed down and the Iraqi crisis as well as the Palestinian and Lebanese internal problems had ended. He decided to hold the elections according to their constitutional schedule in November. Parliamentary elections are held once every four years in Jordan and every citizen over 18 years old is eligible to participate. The King believed that postponement would demonstrate that Jordan was not sure of itself and that having the elections on time would make Jordan look coherent and unified despite all the “earthquakes” and “volcanoes” that had just afflicted the region. King Abdallah II has taken care of the economy and of investors in the country since his arrival in power, engaging Jordan in economic reforms. An investment upswing can be noticed in many areas such as Amman, Aqaba and the Dead Sea by investors from inside and outside Jordan, mostly from the Gulf States, Lebanon and Iraq. This situation was reflected by the parliamentary nominations, whereby six hundred out of one thousand candidates nominated possessed large amounts of money50. So much so that it became difficult to control political funding, which increased substantially during the recent election campaign in Jordan51. The level of funding contrasted starkly with the situation of the majority of the population, which is suffering unprecedented economic hardship. Elections for the Fifteenth Council of Representatives – the second in Abdallah II’s era – were important and the ensuing results require a lot of analysis, not only because the Muslim Brotherhood’s popularity 50 51 Bassam al-Badarin, in Al-Quds al-Arabi, 5 November 2007. Khaled Hroub (see note 23). 192 Staatlicher Umgang mit Opposition noticeably declined, some leaders of the Muslim Brotherhood openly expressed their empathy for Zarqawi and the Jordanian Islamic movement supported Palestinian Hamas, but also because of the skilful way Jordanian policy dealt with strong opposition, especially during the last two decades. It is evident that the majority of the Muslim Brotherhood does not want to clash with the regime and that the Muslim Brotherhood has no intentions of trying to take control of parliament. It was satisfied with gaining only 22 seats out of 110 and signed a letter assuring the government that the experience of Hamas in the West Bank and Gaza would not be repeated in Jordan. The Islamic movement used this message in an attempt to gain support from Jordanians and the regime in particular, hoping to return to their golden age by linking the Muslim Brotherhood’s actions to political participation in parliament and the government. The economic and social situation was a priority item in the government statement issued requesting Parliament’s vote of confidence. The present Prime Minister Nadir al-Dahabi, in office since November 25, 2007 is the brother of the Jordanian intelligence director General Muhammad al-Dahabi, and it is considered exceptional in Jordanian policy that two brothers occupy such important positions. The al-Dahabi Government is the eighth since King Abdallah II assumed power and was given a mandate to promote economic and social reforms52 and fight against corruption in a country where the unemployment rate has reached 30 percent. The Government managed to win the confidence of Parliament and even recorded an unprecedented result by gaining the confidence of 97 out of 110 members. Eleven deputies expressed their lack of confidence in the government: six from the Islamic Action Front and five independent candidates, while one deputy abstained from the vote, and Falak Aljmani, the only woman to have won membership in the Council from outside the percentage allocated to women, was absent. This parliament will facilitate the new government’s implementation of its programme without effective accountability, as almost all members 52 Abdallah Muhammad Elqaq, in www.amin.org. Kapitel II : Jordanien 193 are entirely loyal to the government53 and therefore incapable of constitutional oversight and legislation. This new parliament will not lead to political reform or transformation. The events in the region have proven that the Muslim Brotherhood did not have the same level of experience as the Government in dealing with political changes. If the Jordanian Muslim Brotherhood movement does not succeed in making any changes and does not have any realistic programmes, it will become a marginal party and will succumb to the fate of other opposition parties in the Arab region. The political future of Jordan There is no other choice for Jordan than to construct a political future based on dialogue and respect through the adoption of a policy of political partnership in decision-making. Delaying this future means continuing to drain the energies of the community and state, and raising the possibility of political and economic instability and societal regression. The state is expected to continue working to create other forms of social expression such as new forms of volunteerism to minimize the negative effects of its attempts to remove the social network founded by the Muslim Brotherhood over the past years. The future relationship between the state and the Muslim Brotherhood is linked to a large extent to the evolution of the internal conflict within the Islamic movements and the Muslim Brotherhood between the moderate and extremist camp. Current extremists within the Muslim Brotherhood claim that if the government decides to attack the Muslim Brotherhood it would give the movement legitimacy in the eyes of the people. The most dangerous aspect is that the state in 2008 still defines its relationship with the Muslim Brotherhood the same way it did with militant leftist and Arab nationalist opposition in the 1970s, which was perceived as a direct threat to the regime. The policies adopted in the 1970s to curb this opposition concentrated on repressive control. 53 Khaled Hroub, ibid. 194 Staatlicher Umgang mit Opposition Should the state in 2008 continue to perceive the Muslim Brotherhood as such a direct threat to the political system and reinforce repressive policy measures this policy alone might create a climate favourable to the emergence of more extremist groups54 propagating violence against the state. The conflict between the Jordanian government and the Islamic movement is based on provocation and retaliation. The “hawks” of the Muslim Brotherhood are counting on the strength of the Islamic movement in Jordan and claim that “the Government is aware that the uprooting of the Islamic movement is an impossible goal”55. According to some Islamic leaders, Jordan is moving towards a bleak future because of the government’s policy, budget deficits, increasing poverty, unemployment and an alarming rise in prices, all of which pose a threat to society’s security and civil peace in Jordan. They anticipate the loss of the main advantage enjoyed by Jordan, which is the stability and security of the state56, and consider that the prevalence of corruption arises from the severity of poverty and the poor standard of living of the average Jordanian family. Thus, they believe that the government’s policies and strategies will lead the country towards collapse57 and to their own political rise. To conclude, it is possible to say that Jordan is one of the few Arab countries in the Near East that has been trying to move along the path of political liberalisation while having to deal with pressure exerted by Islamic groups. The violence of the Islamist movement’s extremists has helped the King since the “Amman explosions” in 2005 to rally broad popular support and lessen, at least in the short run, the potential of the Islamic groups to mobilise against the state. However, it will depend in no small measure on the economic and social policies of the King’s government and their positive effect on the majority of the Jordanian population whether the Islamic groups and particularly the extremists will lose their influence on society in future. 54 55 56 57 Interview with Mr. Jamil Abu Bakr, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Zaki Bani Arshid, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Zaki Bani Arshid, Amman, December, 2007. Interview with Mr. Zaki Bani Arshid, Amman, December, 2007. „No State to Start With“1 Die Rivalität der Gewalt im nach-syrischen Libanon Thomas Hildebrandt 1. Libanon als Sonderfall Die Frage nach dem Umgang des libanesischen Staates mit gewalttätiger Opposition führt auf ein Gebiet komplexer definitorischer Fragen, die im Land selbst für stete Kontroversen sorgen und deren Möglichkeiten der Beantwortung, parallel zur politischen Entwicklung, ständig im Fluß sind: Was ist der Staat? Wer stellt in ihm welche Art von Opposition? Und über welche Legitimität verfügen die unterschiedlichen im Land bestehenden Gewaltsysteme? Was also ist überhaupt legitime und illegitime, was staatliche und oppositionelle Gewalt? Nicht nur wegen des ihn auszeichnenden Pluralismus im politischkonfessionellen Bereich, sondern auch wegen seines Pluralismus von Gewalt und Sicherheit gilt die für die Nordafrika- und Nahostregion typische Dichotomie von Staat (bzw. Regime) und Opposition im Libanon nicht. Sein so kompliziertes wie brüchiges Checks-and-balances-System, seine Verfaßtheit als Konkordanzdemokratie und seine seit der Gründung durch die Mandatsmacht Frankreich Anfang der 1940er Jahre schwache, ja in vielen Bereichen kaum existente Staatlichkeit verleihen dem Land eine Ausnahmeposition. Anstelle eines klar umrissenen, souveränen und durchgängig handlungsfähigen Staates gibt es im Libanon nur je nach Bereich unterschiedliche Intensitäten von Staatlichkeit. Dem gegenüber steht ein hohes Maß an Eigenorganisation der konfessionellen 1 Der Titel dieses Aufsatzes geht zurück auf eine Aussage der ägyptischen Forscherin Omayma Abdel-Latif vom Carnegie Middle East Center in Beirut. Das Faktum der Abwesenheit eines Staates, auf das ich bei Gesprächen für diesen Aufsatz im Januar 2008 in Beirut immer wieder hingewiesen wurde, drückte sie aus mit den Worten: „They all complain about Hizbullah being a state within a state, but there is no state to start with!“ 196 Staatlicher Umgang mit Opposition und politischen Gruppen, auch und gerade in den Bereichen Gewalt und Sicherheit. Da all diese Gruppen miteinander um die Macht und ihren Anteil im Staatsgefüge konkurrieren, da sie so gut wie alle über Waffen verfügen und bereit sind, diese bei Bedarf auch einzusetzen, kann man sagen, daß die dominierenden Kräfte im Land alle auf die eine oder andere Weise in Opposition zueinander stehen und sie alle auf die eine oder andere Weise gewalttätig oder zumindest potentiell gewalttätig sind. Die Begriffe Opposition und Gewalt sind im Libanon also stets in Relation zu setzen. Und es ist stets zu bedenken, daß beide Phänomene längst nicht nur politische, sondern auch konfessionelle, ethnische, regionale und auf Clanstrukturen bezogene Angelegenheiten darstellen. Erhöht wird die Komplexität der Lage durch die Tatsache, daß sich der Libanon seit 2004 in einer Umbruchs- und Krisenzeit befindet. Diese hat nicht nur bedeutende interne Machtverschiebungen hervorgebracht, sondern die Krisen des Libanon haben auch – wie seit Bestehen des Landes – weitreichende internationale Dimensionen. Intern wie extern sind die Dinge hier ständig in Bewegung, und doch blockieren sich die rivalisierenden Kräfte gegenseitig auf eine Weise, die ein effektives Handeln des Staates verhindert. Anstelle von konkreten Formen der Politik kann daher oft nur von bestimmten Zielen die Rede sein, durch die sich die auf staatlicher Ebene handelnden Akteure auszeichnen. Und untersucht werden kann weniger der staatliche Umgang mit gewalttätiger Opposition als das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Formen staatlicher und privatisierter Gewalt, einschließlich der damit verbundenen Probleme und der Versuche zu ihrer Lösung. 2. Macht und Opposition seit Ende des Bürgerkrieges 2.1. Die Nachbürgerkriegsordnung Im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 (eigentlich eine Serie von Kriegen und Kleinkriegen in wechselnden Allianzen und unter massiver Beteiligung externer Akteure) erlebte der Libanon einen weitgehenden Zusammenbruch staatlicher Strukturen. Zu einer Wende kam es hier durch das im Oktober 1989 unter Vermittlung der Arabischen Liga aus- Kapitel II : Libanon 197 gehandelte Abkommen von Taif.2 Es beinhaltete mit Blick auf veränderte demographische Verhältnisse vor allem eine neue Formel für die Aufteilung der politischen Macht. Die traditionelle, wenn auch nicht offiziell festgeschriebene Verteilung der drei höchsten Ämter des Landes wurde beibehalten, aber die Stellung des sunnitischen Ministerpräsidenten, der von ihm geleiteten, gemischt-konfessionellen Regierung und des schiitischen Parlamentspräsidenten auf Kosten des maronitischen Staatspräsidenten gestärkt. Das Verhältnis zwischen christlichen und muslimischen Abgeordneten wurde (bis zum angestrebten Ende des politischen Konfessionalismus) von 6:5 auf 1:1 angepaßt. Das Abkommen ebnete den Weg für eine neue Verfassung, und es brachte eine von Syrien dominierte Sicherheitsordnung, in deren Rahmen eine von Amnestiegesetzen flankierte weitgehende Entwaffnung der Milizen sowie eine Rückgewinnung der staatlichen Autorität über den Großteil des eigenen Territoriums erreicht werden konnten. Eingeschränkt blieb diese Autorität jedoch in mehreren Bereichen. Da war die fortgesetzte Präsenz zweier ausländischer Armeen: der syrischen, die als Ordnungsmacht im Land stationiert war, und der israelischen, die unter Mitwirkung einer christlich-libanesischen Söldnertruppe mit dem sogenannten „Sicherheitsstreifen“ im Süden des Landes ein Besatzungsregime unterhielt. Da war der Sonderstatus der zwölf palästinensischen Flüchtlingslager, denen 1969 eine Autonomie in zivilen und sicherheitsrelevanten Fragen zugestanden worden war, weshalb sie von der staatlichen Armee nicht betreten wurden. Und da war der besondere Status des sogenannten „nationalen Widerstands“ gegen die israelische Besatzung, das heißt der Hizbullah und einiger Syrien-treuer Palästinensergruppen, die nicht als Milizen eingestuft wurden und ihre Waffen weiter gegen den Feind im Süden einsetzen durften. Diese Situation wurde von der Regierung, die samt der von ihr befehligten Armee zu schwach war, um gegen Israel vorzugehen, auf internationaler Ebene re- 2 Für die Ordnung des Libanon nach dem Abkommen von Taif vgl. Perthes, Volker: Der Libanon nach dem Bürgerkrieg: Von Ta’if zum gesellschaftlichen Konsens?, Baden-Baden 1994. Zum Abkommen selbst vgl. http://en.wikisource.org/wiki/ Taif_Agreement. 198 Staatlicher Umgang mit Opposition gelmäßig verteidigt, und innerhalb der Bevölkerung fand sie recht breite Zustimmung. Zur Schaffung neuer Legitimitäten kam es durch Wahlen, aus denen meist die mit der syrischen Ordnung kooperierenden Kräfte als Sieger hervorgingen. Die bestimmenden politischen Figuren waren hier der ab 1992 mit Unterbrechungen und in verschiedenen Bündnissen regierende Geschäftsmann und Ministerpräsident Rafiq al-Hariri, die parteilosen Staatspräsidenten Elias Hrawi (ab 1989) und Emile Lahoud (ab 1998) sowie der Chef der schiitischen Amal-Bewegung und Parlamentspräsident Nabih Berri (ab 1992). Die zentralen Geschicke des Landes wurden aber in Damaskus entschieden, vertreten durch den syrischen Militärgeheimdienst im Libanon, geleitet von Ghazi Kanaan (ab 1982) und Rustom Ghazaleh (ab 2002). Die Durchsetzung der Nachkriegsordnung vollzog sich nicht ohne Rückschläge, und es gab massive politische Rivalitäten, etwa zwischen Hariri, der ein nach Westen hin offenes kapitalistisch-liberales Wirtschaftsprojekt verfolgte, und Lahoud, der im Schulterschluß mit Syrien den Widerstand gegen die israelische Besatzung förderte. Aufgrund der syrischen Vorherrschaft konnten solche Differenzen aber niemals ausufern, und alle dem System immanente parlamentarische Opposition war von keinem großen Gewicht. Opposition bedeutete zu dieser Zeit deshalb Opposition gegen die Nachkriegsordnung, und sie kam in erster Linie von jenen maronitischen Kräften, die sich den Regelungen von Taif widersetzt hatten und daher von einer Teilhabe an der Macht ausgeschlossen worden waren. Allerdings war die maronitische Opposition gespalten. Zwei ihrer wichtigsten Köpfe, der Ex-Milizenchef Samir Geagea und der frühere Armeechef und umstrittene Übergangspremierminister Michel Aoun, waren aus Kriegszeiten tief verfeindet, und die Kataib-Partei war in einen Syrienkritischen und einen Syrien-nahen Flügel gespalten, unter denen sich letzterer durchsetzen konnte. Der Umgang des Staates mit der maronitischen Fundamentalopposition war repressiv. So wurde Geagea von den Amnestieregelungen ausgenommen und wegen ihm angelasteter politischer Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Forces Libanaises waren als Partei verboten und ihre Anhänger allenfalls geduldet. Und Aoun, der sich nach seinem gescheiterten „Befreiungskrieg“ gegen die Kapitel II : Libanon 199 Syrer am Kriegsende ins französische Exil gerettet hatte, sah sich für den Fall einer Rückkehr von Verhaftung bedroht. Festnahmen, Repressalien, Fälle der Mediengängelung und selbst ungeklärte Morde gab es im maronitisch-oppositionellen Milieu regelmäßig. Eingeengt wurden, auf palästinensischer Seite, außerdem die Fatah-nahen Fraktionen in der PLO, die sich seit dem Krieg und zusätzlich seit dem Oslo-Abkommen von 1993 schlecht mit dem syrischen Regime stellten. Symptomatisch war hier das 1999 wegen staatsfeindlicher Aktivitäten verhängte Todesurteil gegen den sich im Lager Rashidiye versteckt haltenden Fatah-Chef Sultan Abu al-Aynayn. Gefördert wurden dagegen die Syrien-nahen Fraktionen, vor allem die Popular Front for the Liberation of Palestine (General Command)/PFLP-GC, die Fatah-Abspaltung Fatah al-Intifada und der Baath-Ableger al-Saiqa, aber auch die islamistischen Gruppen Hamas und Islamischer Jihad. Die Befreiung des Südens, also der israelische Abzug im Mai 2000, brachte einen Wandel auf mehreren Ebenen. Zum einen übernahm die Hizbullah, die durch ihren erfolgreichen Guerillakampf einen enormen Prestigegewinn zu verzeichnen hatte, die Kontrolle im Großteil der mehrheitlich schiitischen geräumten Gebiete. Von hier aus setzte sie, weiter im Konsens mit der libanesischen Regierung, aber auch im Interesse Syriens, ihren Kampf für eine Reihe noch offener Ansprüche gegenüber Israel fort. Seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 handelte die Gruppe dabei oft auch in Unterstützung des palästinensischen Widerstands. Zum anderen ließ das Ende der israelischen Besatzung die syrische Militärpräsenz zunehmend als eine zweite Form der Besatzung erscheinen, und es mehrten sich die Stimmen, die das gemäß dem Abkommen von Taif längst überfällige Ende dieser Präsenz forderten.3 Ab dem Frühjahr 2001 formierte sich hier eine wachsende zivile Oppositionsbewegung gegen die sogenannten pro-syrischen Loyalisten. Angeführt wurde diese Bewegung vom Qornet Shehwan Gathering, einem losen Bündnis unterschiedlich orientierter, zumeist christlicher Politiker, Intellektueller und Geschäftsleute unter der geistigen Führung des 3 In Abschnitt 2.4 des Abkommens heißt es, daß nach Ablauf von nicht mehr als zwei Jahren einvernehmlich über die Stärke der syrischen Truppen und die Dauer ihrer Präsenz entschieden werden soll. 200 Staatlicher Umgang mit Opposition maronitischen Patriarchen Nasrallah Boutros Sfeir. Der Staat gewährte diesen Kräften, deren Forderungen sich mit denen der besagten Fundamentalopposition weitgehend deckten, nicht mehr Freiraum als zum eigenen Imageerhalt unbedingt nötig war, reagierte also auch hier oft mit Repression. Als Kopf dieser Maßnahmen galt Lahoud, dem die Opposition (wegen ihrer internen Uneinigkeit häufig als „Oppositionen“ bezeichnet) vorwarf, mit Hilfe der von ihm kontrollierten Sicherheitsdienste des Landes und auf syrische Weisung einen „Polizeistaat“ errichtet zu haben. Mit dem gewaltbereiten sunnitischen Islamismus gewann eine andere Form der Fundamentalopposition seit den 1990er Jahren an Bedeutung. Einen sunnitischen politischen Islam hatte es im Libanon schon vor dem Bürgerkrieg gegeben, der aber in vielen Fällen mit den etablierten Kräften kooperierte. Dazu kam jetzt, vor allem in sunnitischen Hochburgen außerhalb von Beirut wie Tripoli und Saida sowie in den Lagern der Palästinenser, ein Islamismus, der sich als Teil der in Konfliktgebieten wie Afghanistan und Tschetschenien erprobten islamistischen Internationalen verstand. In aller Schärfe trat dieses Phänomen ins Bewußtsein der Libanesen durch den Übergriff einer Islamistengruppe auf eine Armeepatrouille in der nordlibanesischen Region Dinniye Ende 1999, gefolgt von einer auf beiden Seiten äußerst verlustreichen Aktion der Armee gegen diese Gruppe. Das Problem verschärfte sich nach dem 11. September 2001, als im Land operierende und al-Qaida nahestehende Gruppen mit Anschlägen und Anschlagsplänen gegen westliche Individuen und Institutionen von sich Hören machten. Diese Form des Islamismus fand sich bald im Konflikt mit den Lahoud-nahen Sicherheitsdiensten und dem in den Händen der griechisch-orthodoxen Murr-Familie liegenden Innenministerium. Außerdem rieb er sich mit der pro-westlichen Fatah, mit der es in den Lagern wiederholt Konflikte gab, und mit der schiitischen Hizbullah, mit der Gewaltkonflikte aber ausblieben. 2.2. Die Situation seit dem syrischen Abzug Der Streit zwischen Loyalisten und Opposition verschärfte sich 2004 im Zuge der von Syrien erzwungenen dreijährigen Amtsverlängerung Lahouds im September des Jahres. Die von den USA und Frankreich im Kapitel II : Libanon 201 UN-Sicherheitsrat durchgesetzte Resolution 1559 vom 2. September 2004 versuchte, diesen Schritt zu verhindern und forderte zugleich die Entwaffnung der „libanesischen und nicht-libanesischen Milizen“, womit die Hizbullah und die Syrien-treuen bewaffneten Palästinensergruppen gemeint waren, die diese Forderung umgehend zurückwiesen. Am 1. Oktober 2004 begann mit einem gescheiterten Anschlag auf den aus Protest gegen die Verlängerung zurückgetretenen Wirtschaftsminister Marwan Hamadeh (aus der Partei des damals zunehmend Syrien-kritischen Drusenführers Walid Jumblatt) eine bis heute anhaltende und ungeklärte, aber vielfach Syrien und den mit ihm verbündeten libanesischen Kräften angelastete Anschlagsserie. Als der inzwischen ebenfalls zurückgetretene frühere Ministerpräsident Rafiq al-Hariri, der mit Blick auf nahende Parlamentswahlen gegen Syrien taktiert hatte, am 14. Februar 2005 einem Anschlag zum Opfer fiel, war das der Auslöser für eine weite Teile des Landes erfassende Unabhängigkeitsbewegung, die innerhalb weniger Wochen den Abzug der Syrer erreichte. Aus dieser Zeit stammt die bis heute zentrale Unterscheidung zwischen den pro-syrischen „Kräften des 8. März“ und den antisyrischen „Kräften des 14. März“, die beide für sich in Anspruch nehmen, am jeweiligen Tag die größte Kundgebung in der libanesischen Geschichte organisiert zu haben. Der syrische Truppenabzug ermöglichte die Rückkehr der maronitischen Fundamentalopposition ins offizielle politische Leben. Und er brachte die ersten frei von direkter syrischer Einflußnahme stattfindenden Wahlen der Nachkriegszeit, aus denen, wie es meist heißt, die antisyrischen Kräfte als Sieger hervorgingen. Aber die Wahlen brachten nur einen Teil der alt-neuen Opposition an die Macht, einen Teil schlossen sie von ihr aus, und in vielen Bereichen blieben die Verhältnisse unverändert. Die Kräfte des 14. März, allen voran das von Rafiq al-Hariris Sohn Saad übernommene Future Movement und die Sozialistische Fortschrittspartei von Walid Jumblatt, die sich jetzt offen zur Opposition bekannten, sowie die Forces Libanaises und die Kataib, errangen im Bündnis mit den Hauptkräften des 8. März, den Schiitenparteien Hizbullah und Amal, einen klaren Sieg. Auf der Strecke blieb Michel Aoun, dessen Anhänger am 14. März ebenfalls auf die Straße gegangen waren, dem es nach seiner prompten Rückkehr aus dem Exil aber nicht gelungen war, 202 Staatlicher Umgang mit Opposition sich an dem konfessionsübergreifenden Bündnis zu beteiligen. Ausgeschlossen blieb er auch bei der Bildung der neuen Regierung unter dem Future-Mann Fouad Siniora, an der aber erstmals die Hizbullah beteiligt war, die sich aus den Tiefen der Regierungsarbeit zuvor stets herausgehalten hatte. Michel Aoun, der über zwei Drittel der christlichen Stimmen auf sich hatte vereinen können, erklärte sich und den von ihm kontrollierten Abgeordnetenblock daraufhin zur neuen und einzig legitimen Opposition. Über Kreuz liegt er seitdem unter anderem mit den christlichen Parteien, die sich in die Regierung haben einbinden lassen, das heißt vor allem mit den Forces Libanaises, deren Chef Samir Geagea nach den Wahlen freigelassen wurde, und der Kataib-Partei, die im November 2005 unter dem selbst erst fünf Jahre zuvor aus dem Exil zurückgekehrten Syrien-Kritiker Amin Gemayel ihre Reihen (weitgehend) wieder schloß. Aber auch innerhalb der Regierung gab es schwere Spannungen, vor allem zwischen den in ihr vertretenen Kräften des 8. und des 14. März. Die Hizbullah (der sich die Amal-Bewegung inzwischen quasi unterstellt hatte) hatte für ihre Teilnahme am Bündnis der Syrien-Gegner die Zusage erhalten, daß der von ihr betriebene Widerstand weiter unter offiziellem Schutz stehen würde, sah sich auf diesem Gebiet aber wiederholt getäuscht. So betrieb sie aus der Regierung heraus Opposition gegen Fouad Siniora, wobei die Frage einer Entwaffnung und das Thema der von der UN forcierten Verfolgung des Hariri-Mordes nur die Spitze der Differenzen darstellten. Zugleich opponierten die unter veränderten Bedingungen wieder an die Regierung gelangten Führer des 14. März gegen die weiter über Machtmittel verfügenden Parteigänger Syriens, vor allem gegen den Parlamentspräsidenten Nabih Berri und den Staatspräsidenten Emile Lahoud. Vor dem Hintergrund dieser Streitigkeiten legten die schiitischen Minister im Dezember 2005 für drei Wochen ihr Amt nieder. Und im Februar 2006 kam es zu einer von vielen erwarteten Allianz zwischen der Hizbullah und Michel Aoun, dessen jetzt als Partei etabliertes Free Patriotic Movement sich damit noch weiter von seinen früheren Partnern des 14. März entfernte. Um eine Einigung in den wichtigsten Streitfragen zu erreichen, ließen sich die inzwischen hoffnungslos ineinander verkeilten libanesischen Kapitel II : Libanon 203 Kräfte im März auf einen von Berri initiierten „nationalen Dialog“ ein, der einige Teilerfolge brachte. Unterbrochen wurde dieses Unternehmen durch den von Israel nach der Entführung zweier seiner Soldaten durch die Hizbullah begonnenen Krieg im Sommer 2006, aus dem die Hizbullah zwar ungeschlagen hervorging, in dessen Folge sie aber einer Beschränkung ihrer Kontrolle über den Süden zustimmen mußte. Der Krieg hatte eine Verschärfung des innenpolitischen Konflikts auf verschiedenen Ebenen zur Folge, weshalb Hizbullah und Amal im November endgültig die Regierung verließen. Mit den Anhängern Michel Aouns und einer Reihe weiterer Parteien errichteten sie im Dezember 2006 ein bis heute (wenn auch nur noch in Rudimenten) aufrecht erhaltenes Protestlager in der Beiruter Innenstadt. Unter dem Banner der gemeinsamen Opposition gegen das pro-westliche Regierungslager der verbliebenen Kräfte des 14. März fordern sie seitdem eine über ein Drittel der Sitze hinausgehende Beteiligung an der Regierung, die sie in ihrer aktuellen Form, also frei von schiitischer Beteiligung, als unkonstitutionell betrachten. Seit Beginn der Proteste weigert sich Nabih Berri deshalb, das Parlament einzuberufen. Im Jahr 2007 blieb der Konflikt trotz unterschiedlicher Vermittlungsbemühungen ungelöst, und es wuchs die Sorge vor einer Rückkehr des Bürgerkrieges. Angeheizt wurde diese Sorge durch verschiedene Momente der gewaltsamen Konfrontation und durch die sich fortsetzende und immer undurchschaubarer werdende Serie politisch motivierter Anschläge. Dazu kam im Sommer 2007 der das Land über drei Monate in Atem haltende Kampf zwischen der libanesischen Armee und der Islamistengruppe Fatah al-Islam um das Palästinenserlager Nahr al-Bared. Dieser Kampf, dessen genaue Hintergründe bis heute ungeklärt sind, vereinte die etablierten Kräfte des Libanon in ihrer Ablehnung der sich der öffentlichen Ordnung widersetzenden islamistischen Fundamentalopposition. Er hatte aber auch neue wechselseitige Vorwürfe zur Folge. Eine parteiübergreifende Einigung auf einen Nachfolger für den Staatspräsidenten Emile Lahoud, dessen Mandat am 23. November endete, war unter diesen Bedingungen nicht zu erreichen. Der Versuch des früheren Armeechefs, bei seinem Ausscheiden seine Vollmachten an die Armee zu übertragen, blieb erfolglos, und es war am Ende die Regierung, die 204 Staatlicher Umgang mit Opposition diese Präsidialvollmachten für sich reklamierte. Seither konnten sich die verfeindeten Lager zwar auf den amtierenden Armeechef Michel Suleiman als Konsenskandidaten für das vakante Amt einigen, aber seine Wahl scheiterte trotz intensiver arabischer und europäischer Vermittlungsversuche mehrfach im Streit um die Form und Ausrichtung der von ihm einzusetzenden Regierung. Die legale politische Opposition besteht heute also aus einem von der Hizbullah und dem Free Patriotic Movement angeführten Bündnis. Es gibt von sich an, mit dem Gros der Schiiten und Christen sowie weiteren Kräften aus dem konfessionellen und politischen Spektrum die Mehrheit des Landes hinter sich zu haben. Und in der Tat gehören diesem Lager außer Hizbullah, Amal und Michel Aoun Kräfte an wie die Marada-Partei des Maroniten Suleiman Franjieh, die Demokratische Partei des Drusen Talal Arslan, die Islamistengruppen Harakat al-Tauhid al-Islami und Jamciyat al-Mashari al-Khairiya al-Islamiya (auch bekannt als Ahbash), der sunnitische Politiker Omar Karami, die armenische Tashnag-Partei sowie linke und säkulare Gruppen wie die Kommunisten, die Nasseristen, die Syrisch-Nationalsozialistische Partei, die Baath-Partei und das People’s Movement. Ihnen gegenüber steht das Regierungslager, das über eine einfache Mehrheit im Parlament verfügt, angeführt von Saad al-Hariri, Walid Jumblatt, Samir Geagea und Amin Gemayel, die wiederum verbündet sind mit maronitischen Politikern wie Nassib Lahoud und Nayla Mouawad, dem Nationalen Block von Carlos Eddé, der Bewegung der Demokratischen Linken von Elias Atallah, der armenischen Ramgavar-Partei und der islamistischen al-Jamaca al-Islamiya. Beide Koalitionen werden von einem diffizilen Netz unterschiedlicher Interessen zusammengehalten, die keineswegs immer nur politisch begründet sind. Offiziell unbeteiligt an diesen Konstellationen sind die palästinensischen Fraktionen, von denen die Fatah jedoch der Regierung und der Fatah-kritische Rest der Opposition zuneigt. Außerhalb dieser Bündnisse stehen die radikal-islamischen Gruppen. Ihre Aktivitäten haben seit dem syrischen Abzug weiter zugenommen, und sie werden von allen anderen Akteuren als ernste Bedrohung gesehen, was aber nicht heißt, daß nicht auch sie mit manchen der etablierten Kräfte in Verbin- Kapitel II : Libanon 205 dung stünden und versuchten, auf politische Entscheidungen Einfluß zu nehmen. An den Hebeln der Macht sitzen im Libanon der letzten Jahre also Vertreter unterschiedlicher Parteien, die sich gegenseitig blockieren und sich wechselseitig für die Blockade verantwortlich machen. Daher verfügt das Land heute nur noch über eine beschränkt handlungsfähige Restregierung, ein an seiner Arbeit gehindertes Parlament und einen leeren Präsidentenstuhl. Dazu kommen massive konfessionelle und politische Spaltungen, Waffen bzw. Kontrolle über bewaffnete Einheiten in der Hand unterschiedlicher Kräfte, eine nach Prinzipien von Proporz und Regionalismus geregelte öffentliche Sicherheitsordnung und ein ungelöster Streit in der Frage der Ausrichtung des Landes im Lichte der regionalen und internationalen Großkonflikte. Entsprechend komplex ist die Situation mit Blick auf die zentralen Problemfelder auf dem Gebiet der politischen und potentiell oppositionellen Gewalt. 3. Die zentralen Probleme auf dem Gebiet der politischen Gewalt 3.1. Die Waffen der Hizbullah Das auf nationaler wie internationaler Ebene derzeit strittigste Problem ist zweifellos das der Bewaffnung der Hizbullah, doch eine Lösung ist hier derzeit nicht in Sicht. Seit dem Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon im Mai 2000 hat die Partei mit einem großen Gefangenenaustausch im Januar 2004 und ihrem nach eigenem Bekunden siegreichen Abschneiden im Krieg von 2006 zwar durchaus auch Erfolge feiern können, aber sie hat im innenpolitischen Streit seit 2004 doch ihren Nimbus als vornehmlich für nationale Interessen einstehende Gruppierung verloren. Massiv an Ansehen gekostet hat ihre fast bedingungslose Parteinahme für die Syrer, ihre uneingestandene, aber nicht von der Hand zu weisende Obstruktionspolitik gegenüber allen Schritten zur Schaffung eines internationalen Tribunals zur Verfolgung des HaririMordes, ihr eigenmächtiges und hoch riskantes Spiel gegenüber Israel sowie ihre ohne die Gewißheit ihrer exzellenten Organisation und Bewaffnung nicht mögliche Blockade des politischen (und im überwiegend 206 Staatlicher Umgang mit Opposition sunnitischen Zentrum Beiruts auch wirtschaftlichen) Lebens. Der im Abkommen von Taif ausgedrückte Konsens über ihre Rolle als nationaler Widerstand ist im Zuge der politischen Krise und im Streit um die Rolle der Syrer zerbrochen, und die Partei hat heute vor allem im sunnitischen, christlichen und drusischen Spektrum mit Kräften zu tun, die dem Sonderstatus der Hizbullah ein Ende setzen wollen. Diese Kräfte sehen sich seit 2004 gestärkt durch die UN-Resolution 1559, und sie wissen ein Bündnis westlicher Staaten hinter sich, das der von einigen von ihnen als Terrororganisation eingestuften Partei lieber heute als morgen ihre Waffen nähme. Politisch und militärisch gäbe es allerdings niemanden, der solch einen Schritt durchsetzen könnte, da sich die Partei konsequent dagegen ausspricht. Wie sich im Krieg von 2006 gezeigt hat, ist die Hizbullah weit mehr als eine Miliz. Sie ist eine Art Armee, der es gelungen ist, mit den ihr eigenen Mitteln der stärksten Macht der Region Paroli zu bieten. Eine Lösung für das Problem der Bewaffnung der Hizbullah ist aus diesem Grund ohne deren Zustimmung absolut undenkbar. Und solch eine Lösung wird nicht auf dem Wege einer erzwungenen Entwaffnung zu suchen sein, sondern auf dem einer Suche nach einer neuen Formel für eine konsensfähige nationale Sicherheitsstrategie. Über solch eine Formel ist im Zuge des nationalen Dialogs von 2006 viel diskutiert worden, aber zu einer Einigung kam es dabei nicht. Im Gegenteil war das Thema der Waffen der Hizbullah hier eines der hartnäckigsten Probleme. Ein Ansatz, der von unterschiedlicher Seite ins Spiel gebracht wurde und gegenüber dem sich auch der damalige UN-Sondergesandte für die Umsetzung von Resolution 1559, Terje Roed-Larsen, nicht abgeneigt zeigte,4 lautet auf Eingliederung des militärischen Arms der Partei in die libanesische Armee. Doch ein solcher Schritt wäre nicht nur aus rechtlichen und taktischen Gründen hoch kompliziert, gescheitert ist der Vorschlag auch an den einander ausschließenden strategischen Vorstellungen der rivalisierenden Seiten im Konflikt mit Israel und am wechselseitigen Mißtrauen, das sich durch den Krieg von 2006 nur verstärkt hat. 4 Vgl. Third Semi-Annual Report of the Secretary-General to the Security Council on the Implementation of Security Council Resolution 1559 (2004), S/2006/248, 19.4.2006, Absatz 61-63. Kapitel II : Libanon 207 Dieser Krieg hatte die Position der Hizbullah zunächst geschwächt. So mußte sie der Stationierung der nationalen Armee im Süden des Landes und einer massiven Aufstockung der dort tätigen UNIFIL zustimmen, einen Teil ihrer Bunkeranlagen abbauen sowie ihre schweren und mittelschweren Waffen abziehen bzw. verstecken. Seit der den Krieg beendenden UN-Resolution 1701 vom 11. August 2006 steht sie zudem unter verschärfter Beobachtung, denn zu den Aufgaben der UN-Truppen gehört es, gemeinsam mit der libanesischen Armee eine Wiederbewaffnung der Hizbullah zu verhindern. Gesicherte Daten über den Erfolg der entsprechenden Maßnahmen sind kaum zu erhalten, aber wie schwer die Aufgabe auf innenpolitischer Ebene ist, zeigt schon ein tagelanger Streit um einen einzigen von der Armee konfiszierten Laster mit Waffen der Partei im Februar 2007. Und auch technisch gestaltet sich die Aufgabe schwierig, weil die Hizbullah in den Schiitenhochburgen Bekaa, Südbeirut und Südlibanon über ein gut funktionierendes Netz von Mitarbeitern und Unterstützern verfügt und sie auf Wohlwollen innerhalb bestimmter staatlicher Kreise, etwa in der von Schiiten kontrollierten Abteilung für Allgemeine Sicherheit, zählen kann. Dazu kommt der schwer kontrollierbare und von mafiösen Strukturen geprägte Schmuggel über die syrisch-libanesische Grenze. Die Angaben über eine Wiederbewaffnung der Partei variieren denn auch beträchtlich. Alarm geschlagen wird hier immer wieder vor allem von israelischer Seite, während sich UN-Generalsekretär Ban Ki Moon weit vorsichtiger äußert.5 Der Wille zur Wiederbewaffnung ist bei der Hizbullah aber vorhanden, woran auch die Äußerungen ihres Generalsekretärs Hasan Nasrallah keinen Zweifel lassen. Und so halten sie denn auch viele für in der Lage, einen nach dem ungeklärten Mord an ihrem militärischen Führer Imad 5 „Israel maintains that Hizbullah is significantly rebuilding its military presence and capacity, inside UNIFIL’s area of operations. At times, the IDF has provided UNIFIL with information about locations in UNIFIL’s area of operations in which it claims that these activities are taking place. UNIFIL, in collaboration with the LAF, immediately investigates all such claims if sufficiently specific information is received. To date, they have found no evidence of new military infrastructure in the area of operations.“ Report of the Secretary-General on the Implementation of Security Council Resolution 1701 (2006), S/2008/135, 28.2.2008, Absatz 26. 208 Staatlicher Umgang mit Opposition Mughniya im Februar 2008 in Damaskus zunehmend befürchteten weiteren Waffengang mit Israel einzugehen und zu überstehen. So agiert die Hizbullah trotz der Rückschläge durch den Krieg heute also aus einer Position der Stärke heraus, und der Regierungsseite sind auf dem Wege einer Entwaffnung die Hände gebunden. Hinnehmen muß die Regierung auch, daß viele Gebiete, vor allem die schiitischen Bezirke im Süden Beiruts, von der Partei kontrolliert werden und staatliche Stellen hier allenfalls über Verbindungsleute präsent sein können. Diese Stärke kann sogar als einer der Faktoren gelten, die den Ausbruch eines neuen Bürgerkrieges verhindern, denn zum einen will sich niemand im Land militärisch mit der Hizbullah messen müssen, und zum anderen ist sie selbst der festen Überzeugung, daß jeder innerlibanesische Gewaltkonflikt Israel in die Hände spielt, weshalb sie ein Ausufern des von ihr ansonsten mit aller Schärfe betriebenen innenpolitischen Streits immer wieder mit Erfolg unterbindet. So rief Hasan Nasrallah zu Beginn der Proteste gegen die Regierung im Dezember 2006: „Selbst wenn sie Tausende von uns töten, werden wir uns in keine fitna (interne Gewalt) hineinziehen lassen!“ Zugleich bedeutet der anhaltende Konflikt zwischen der Hizbullah und Israel für den Libanon aber auch die stete Gefahr eines neuen und sehr verlustreichen Krieges, wie er von beiden Seiten regelmäßig als zwingend vorausgesagt wird. Um diese Gefahr zu vermindern, sieht es die libanesische Regierung als ihre Aufgabe an, nicht nur den Nachschub an Waffen zu unterbinden, sondern auch mit Blick auf die Forderungen der Partei gegenüber Israel Fortschritte zu erwirken. Das sind vor allem ein Rückzug Israels von den zwar umstrittenen, aber eindeutig besetzten Shebaa-Farmen, eine Lösung in der Gefangenenfrage, eine Übergabe von Kartenmaterial über von Israel im Land zurückgelassene Minen und Streubomben sowie ein Ende der regelmäßigen israelischen Verletzungen des libanesischen Hoheitsgebiets. Ehemals nationale Forderungen wie diese werden im innenpolitischen und stets auch von äußeren Akteuren beeinflußten Streit heute aber oft zu von Partikularinteressen überlagerten Zankäpfeln, was eine effektive und koordinierte Verfolgung erschwert. Kapitel II : Libanon 209 3.2. Die Waffen der Palästinenser Eine im Vergleich hierzu größere Einigkeit besteht unter den Libanesen mit Blick auf die von Resolution 1559 ebenfalls betroffenen Waffen der Palästinenser. Hier geht es um zwei Dinge: zum einen um die leichten Waffen der palästinensischen Fraktionen in den zwölf Flüchtlingslagern des Landes, zum anderen um die leichten und mittelschweren Waffen der im Zuge der Taif-Regelung als Teil des nationalen Widerstands definierten militanten Palästinensergruppen, die an mehreren Orten eigene Stützpunkte unterhalten. Das sind vor allem die PFLP-GC und Fatah alIntifada, denn die früher noch aktiven Saiqa sind hier kaum noch relevant. Ihre Militärlager liegen meist in der Nähe der syrisch-libanesischen Grenze, im Fall der PFLP-GC aber auch in dem Küstenort Naame südlich von Beirut, und sie stellen seit dem syrischen Abzug immer wieder Anlaß für Konflikte mit der libanesischen Armee und Bevölkerung dar. Mit Blick auf die außerhalb der Lager befindlichen palästinensischen Waffen, die im Kampf gegen Israel wenig Gewicht haben und vor allem als Anker für syrische Interessen dienen, gelang es schon in einer der ersten Runden des Dialogs im März 2006 Einigkeit zu erzielen und eine Entwaffnung binnen sechs Monaten zu beschließen. Zu einer Umsetzung kam es wegen der Schwäche der Regierung und vor dem Hintergrund der anhaltenden politischen Krisen aber nicht. Mit Blick auf die Waffen in den Lagern haben sich die libanesischen Parteien in derselben Dialogrunde auf die vage Formel einer „Organisation“ dieser Waffen geeinigt, was die oft als „Chaos der Waffen“ bezeichnete Situation beenden soll, in der rivalisierende Fraktionen mit Waffengewalt um die Macht in den Lagern konkurrieren. Ein solcher Schritt ist wegen genau dieser Rivalitäten aber keineswegs leicht zu vollziehen, zumal die Frage der palästinensischen Waffen hoch sensibel ist. Während die Palästinenser und ihr vom Libanon aus betriebener Freiheitskampf für viele, meist christliche Libanesen bis heute als Hauptgrund des Bürgerkrieges gelten, haben die während des Krieges in den Lagern verübten Massaker auf Seiten der Palästinenser das Bedürfnis nach Selbstverteidigung verfestigt. Die den Lagern 1969 im Ab- 210 Staatlicher Umgang mit Opposition kommen von Kairo6 zugestandene Autonomie ist für ihre Bewohner daher von großer Bedeutung, was zur Folge hat, daß auch hier mögliche Statusänderungen nur auf dem Wege des Dialogs zu erreichen sein werden. Einigkeit besteht darüber, daß dieser Dialog nicht nur auf die Frage der palästinensischen Waffen abzielen kann, sondern daß hier die gesamte Situation der Palästinenser im Libanon neu zu verhandeln ist. Dieses Thema rührt jedoch ebenfalls an eine Reihe hoch sensibler Punkte. Dazu zählen auf palästinensischer Seite die Angst vor einer Aufweichung des Rückkehrrechts in die 1948 bzw. 1967 verlassenen Gebiete, die Frage, wer die Palästinenser des Landes auf politischer Ebene repräsentieren soll, sowie der gesamte Bereich der Marginalisierung und Benachteiligung der Flüchtlinge. Auf libanesischer Seite zählen dazu die Sorge vor einer rechtlichen und ökonomischen Besserstellung der Palästinenser samt einer daraus resultierenden Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sowie die Furcht vor einer Einbürgerung der Flüchtlinge, was die konfessionelle Verteilung im Lande zugunsten der Sunniten beeinflussen würde. Als zentrale Voraussetzung für den Abbau von Spannungen im palästinensischen Bereich gilt die Verbesserung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge. Dieses Thema ist von der Regierung bereits zu einer Zeit angegangen worden, als sie noch die großen schiitischen Parteien auf ihrer Seite hatte. Ein bedeutender Schritt war hier die im Juni 2005 von dem der Hizbullah nahestehenden Arbeitsminister Tarrad Hamadeh vorgenommene Lockerung der Restriktionen für Palästinenser auf dem Arbeitsmarkt. Die Auswirkungen dieses Schrittes sind allerdings bis heute umstritten, und Kritiker merken an, daß Palästinensern nicht nur weiterhin die Arbeit in einer Reihe angesehener Berufe verwehrt bleibt, sondern daß auch in den für sie inzwischen geöffneten Branchen weiterhin Barrieren bestehen, die mit der Möglichkeit zu tun haben, für die entsprechenden Tätigkeiten eine Genehmigung zu erhalten. Um die Palästinenser des Landes an den Bemühungen zur Lösung der bestehenden Probleme zu beteiligen, entschied sich Ministerpräsident 6 Zu Hintergründen und Folgen des Kairo-Abkommens siehe: Hanf, Theodor: Koexistenz im Krieg: Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon, Baden-Baden 1990, S. 218-225. Kapitel II : Libanon 211 Fouad Siniora für die Einrichtung eines gemeinsamen libanesisch-palästinensischen Dialogkomitees. Seine Schaffung wurde im Oktober 2005 nach einem Treffen Sinioras mit Vertretern der palästinensischen Fraktionen bekannt gegeben, und auf libanesischer Seite wurde hier eine Delegation aus Mitarbeitern verschiedener Ministerien geformt. Das Komitee, das heute unter Leitung des früheren Botschafters Khalil Makkawi unter diesem Namen existiert, wurde im Sinne seiner ursprünglichen Idee aber nie wirklich arbeitsfähig, da sich die palästinensische Seite bis heute auf keine gemeinsame Vertretung verständigen konnte. Nach einem längeren Stillstand beschloß die Regierung dann im Januar 2006, zur Zeit des ersten schiitischen Boykotts und ohne Zustimmung des Staatspräsidenten Emile Lahoud, die Wiedereröffnung der seit der israelischen Invasion von 1982 geschlossenen PLO-Vertretung in Beirut, eine Voraussetzung auch für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Der innerpalästinensische Konflikt um die Rolle der von der Fatah dominierten PLO hatte jedoch zur Folge, daß bei der Eröffnungszeremonie im Mai 2006 zwar alle wichtigen libanesischen Parteien einschließlich der einst vehement antipalästinensischen Forces Libanaises vertreten waren, aber ganze 16 Palästinenserfraktionen fehlten. In Bewegung gerieten die Dinge im Zuge des nationalen Dialogs ab März 2006. Nach der erwähnten Einigung in Bezug auf die palästinensischen Waffen kam es zu Besuchen libanesischer Ministerialdelegationen in mehreren Flüchtlingslagern, um die Lage vor Ort in Augenschein zu nehmen. Ende März wurde außerdem das Todesurteil gegen den FatahChef Sultan Abu al-Aynayn aufgehoben. Er besuchte im Juni erstmals wieder das Lager Bourj al-Barajneh in Südbeirut, was nur einer der Schritte war zur Reetablierung der Fatah in den im Bürgerkrieg von Syrien kontrollierten Gebieten nördlich der sogenannten roten Linie. Im selben Zeitraum entschied sich die Regierung auch, das Thema einer Verbesserung der Lebensverhältnisse auf unilaterale Weise anzugehen. Hier wurden einige richtungsweisende Entscheidungen getroffen, die auf die Erleichterung des Zugangs zu Bildung und auf die Verbesserung der Wohnbedingungen in den Lagern abzielten. Rückwirkend wurde zudem die Regelung aufgehoben, daß Flüchtlinge, die für längere Zeit im Aus- 212 Staatlicher Umgang mit Opposition land leben, ihre libanesische Aufenthaltsberechtigung verlieren. Im Sommer 2006 wurde die Arbeit an diesen Themen durch den Krieg unterbrochen, und im Jahr 2007 wurde sie durch die Krise um Nahr al-Bared (dazu in Abschnitt 3.3.) stark eingeschränkt. In jüngerer Zeit gibt es aber wieder Fortschritte, und das vor allem auf dem Gebiet der sogenannten Non-ID-Palestinians, die zum Teil seit Jahrzehnten ohne Registrierung und insofern in ständiger Rechtsunsicherheit sowie ohne Anspruch auf Hilfe im Libanon leben. In einem Bericht über die Lage der Palästinenser im Lande vom Oktober 2007 bescheinigt Amnesty International der Regierung, mehr als ihre Vorgänger für die Verbesserung der Situation getan zu haben, betont aber auch, daß noch viele weitere Schritte erforderlich sind, um die Diskriminierung der Flüchtlinge zu beenden.7 Entsprechend zwiegespalten ist die Stimmung unter den Betroffenen selbst, wobei aber zu bedenken ist, daß Widerspruch gegen die Maßnahmen der Regierung nicht selten aus innerpalästinensischen Zwistigkeiten resultiert. Ungelöst bleibt trotz aller Bemühungen der Regierung heute die Frage der Bewaffnung in den Lagern und damit die Frage nach der Souveränität über die betreffenden Gebiete. Das in den Lagern etablierte System sogenannter Volks- und Sicherheitskomitees, die mit Vertretern der palästinensischen Fraktionen besetzt sind, wird derzeit offiziell nicht in Frage gestellt. Und der einzige Moment, in dem das Thema offensiv angegangen wurde, war nach dem Ende der Kämpfe um Nahr al-Bared, als Ministerpräsident Fouad Siniora erklärte, in dem Lager nach seinem Wiederaufbau die staatliche Autorität durchsetzen und es zu einem „Modell“ für die übrigen Lager des Landes machen zu wollen – eine Ankündigung, die von den Regierungskritikern mit großer Skepsis aufgenommen wurde. Als Partner für dieses Projekt bietet sich seit einiger Zeit die PLO an, die hofft, ihren Einfluß in den Lagern ausweiten zu können, doch trägt das bereits den Keim für neue Konflikte in sich. Das sind Konflikte sowohl zwischen den jetzigen und den ehemaligen (das heißt pro-syrischen) PLO-Fraktionen als auch zwischen der Fatah und den außerhalb der PLO stehenden Gruppen Hamas und Islamischer Jihad. Dazu 7 Exiled and suffering. Palestinian refugees in Lebanon, AI-Index MDE 18/010/2007, 17.10.2007. Kapitel II : Libanon 213 kommt das Problem des sich seit Jahren in den Lagern ausbreitenden militanten sunnitischen Islamismus. 3.3. Der militante sunnitische Islamismus Das islamistische Spektrum vor dem Abzug der Syrer Der sunnitische Islamismus im Libanon ist keineswegs ein auf die Palästinenser beschränktes Phänomen. Ein entsprechendes Potential gibt es in den sunnitischen Hochburgen Saida, West-Beirut und Tripoli sowie in der ökonomisch stark benachteiligten nordlibanesischen Provinz Akkar. Besonders im Norden ist er seit Gründung des libanesischen Arms der Muslimbruderschaft, al-Jamaca al-Islamiya, 1964 ein politischer Faktor. Die Gruppe setzte sich, in Opposition zum politischen und von der Politik kontrollierten religiösen Establishment der Sunniten, für eine Islamisierung der Gesellschaft ein. Im Bürgerkrieg, in dem sich ein Teil der Gruppe gegen die Syrer stellte, entstand im selben Milieu die Harakat alTauhid al-Islami, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in den von ihr kontrollierten Gebieten mit Gewalt islamische Normen durchzusetzen suchte. Als Syrien ab 1985 seine Kontrolle über den Norden festigte, mußten sich diese Kräfte damit arrangieren und wurden im Falle von Widerspruch oder von Unterstützung für die syrischen Muslimbrüder unterdrückt. Konkurrenz bekamen sie bald durch die von Syrien geförderte Jamciyat al-Mashari al-Khairiya al-Islamiya, eine für politischen Quietismus und Gewaltlosigkeit stehende Gruppe, die auch schiitische und mystische Einflüsse aufgenommen hat und nach Ende des Krieges, mit Zentrum in Beirut, zu einer der größten religiösen sunnitischen Organisationen des Landes wurde. Alle drei Gruppen gehören heute zum anerkannten politischen Spektrum. Sie beteiligen sich (aufgrund der Dominanz des Future Movement allerdings nicht sehr erfolgreich) an Wahlen und haben auch Anteil an den aktuellen politischen Bündnissen. Seit Beginn der 1990er Jahre wächst im Land aber auch eine Form des sunnitischen Islamismus, die sich für das offizielle politische Spiel nicht interessiert, sondern ihr Hauptaugenmerk vielmehr auf die Missionierung innerhalb sunnitischer Bevölkerungsteile selbst und auf eine Beteiligung am globalen Jihad legt. In diesen Kreisen ist eine hohe Bereitschaft zur Gewalt vorhanden, die sich jedoch oft erst auf sekundäre 214 Staatlicher Umgang mit Opposition Weise gegen den Staat richtet. Ursprungsort und Zentrum dieser Kräfte, deren Führungsstrukturen verworren sind und die in einer Vielzahl wechselnder Organisationen agieren, ist das stark überfüllte und verarmte Flüchtlingslager Ain al-Helweh bei Saida. Hier entstand aus Vorläufern, die unter dem Namen Ansar Allah mit der Hizbullah und dem Iran kooperiert hatten, 1991 die Gruppe Usbat al-Ansar, die sich einer stärker sunnitischen Agenda verschrieb. Als Mitglieder dieser Gruppe im August 1995 den Ahbash-Führer Nizar al-Halabi ermordeten, griffen die Autoritäten, auf syrische Weisung, hart gegen allenfalls indirekt involvierte islamistische Organisationen und Prediger im Norden durch, vor allem gegen die Mitte der 1970er Jahre entstandene Strömung um den konservativ-salafitischen Scheich Salim al-Shahhal, der die Kooperation mit dem syrischen Regime ablehnte. Diese Maßnahmen, die 1997 in der öffentlichen Hinrichtung der Halabi-Mörder gipfelten, führten innerhalb der betroffenen Kreise zu einer Radikalisierung. Und ab 1998 baute der libanesische Afghanistan-Veteran Bassam al-Kanj in der nordöstlich von Tripoli gelegenen Bergregion Dinniye eine Guerillatruppe auf. Als diese am Silvestertag des Jahres 1999 eine zur Beobachtung ausgesandte Armeepatrouille angriff, provozierte das die größte Armeeaktion seit Ende des Bürgerkrieges, der in mehrtägigen Kämpfen 27 Islamisten (darunter al-Kanj), 12 Soldaten und mehrere Zivilisten zum Opfer fielen. Manche Kämpfer, die sich einer Verhaftung entziehen konnten, flohen darauf nach Ain al-Helweh, und die Dinniye-Formation war Geschichte. Weiter aktiv war aber Usbat al-Ansar, die das außerhalb der Reichweite der libanesischen Sicherheitsorgane gelegene Ain al-Helweh zu einem Rückzugsort ausbauten und dabei auch zunehmend in Konflikt mit der Fatah gerieten. Die Tatsache, daß das den Syrern zugute kam, dürfte dazu beigetragen haben, daß die damalige Regierung diese Entwicklung tolerierte, denn abgesehen von der Ermordung von vier Richtern im Juni 1999 in Saida in Rache für die Hinrichtung der Halabi-Mörder stellte sich Usbat al-Ansar nicht gegen den Staat. Solange dieser sie in der überschaubaren Insel von Ain al-Helweh agieren ließ und solange sie diese Grenzen nicht überschritt, war ein Zusammenleben möglich, und Syrien (das im März 1998 eine Reihe libanesischer Islamisten aus der Haft entlassen hatte) konnte von dem Ruf profitieren, den von arabi- Kapitel II : Libanon 215 schen Sunniten an vorderster Front mitgetragenen Kampf zur Befreiung islamischer Gebiete wie Tschetschenien (ein Hauptfokus von Usbat alAnsar) zumindest nicht zu behindern. Jenen aber, die wie in Dinniye zu weit gegangen waren, wurde die ganze Macht des Systems vor Augen geführt, das Islamisten, ohne daß sich in der Welt deswegen viel gerührt hätte, mit Folter und unfairen Verfahren in ihre Schranken weisen konnte.8 Diese Form des Islamismus, der die Flüchtlingslager als Rekrutierungsstätte und staatsferne Zone zugleich für sich entdeckt hatte, aber personell längst nicht nur von Palästinensern geführt wurde, wandelte sich durch die Ereignisse des 11. September 2001. Und im Land wuchs die Sorge, zu einem „soft target“ des islamistischen Terrors zu werden. War im Januar 2000 noch die russische Botschaft Ziel eines Raketenangriffs geworden, kam es jetzt verstärkt zu Aktionen gegen amerikanische Interessen. Neben Anschlägen auf mehrere Schnellrestaurants wurden Usbat al-Ansar die Ermordung einer amerikanischen Missionarin in Saida im November 2002 und die im Frühjahr 2003 aufgedeckte Planung eines Anschlags auf den damaligen US-Botschafter Vincent Battle nachgesagt. Zu einem Streit unter den Islamisten kam es jetzt über das notwendige Maß an Kooperation mit den Staatsorganen und dem sunnitischen Establishment. Dieser Streit eskalierte, als Mitglieder von Usbat al-Ansar im Juli 2002 den Autoritäten einen Islamisten auslieferten, der sich nach der Ermordung dreier ihn verfolgender Sicherheitsleute nach Ain al-Helweh geflüchtet hatte. Das Ereignis vertiefte die Kluft zwischen der im Prinzip kooperationswilligen Usbat al-Ansar und der von ihr inzwischen losgelösten Jamacat al-Nur, geführt von einem Mann Namens Abdallah Shraidi, der einst den Dinniye-Kämpfern Unterschlupf gewährt hatte. Und es führte zu schweren Kämpfen mit der Fatah, die ebenfalls zu der Auslieferung beigetragen hatte. Als Shraidi im Mai 2003 einem Anschlag erlag, gab es erneut Zusammenstöße zwischen FatahKämpfern und Islamisten, von denen die Anhänger Shraidis inzwischen unter dem Namen Usbat al-Nur agierten. 8 Vgl. Amnesty International: Lebanon. Torture and unfair trial of the Dhinniyyah detainees, AI-Index MDE 18/005/2003, 7.5.2003. 216 Staatlicher Umgang mit Opposition Die amerikanische Besatzung des Irak im Frühjahr 2003 führte die kampfbereiten sunnitischen Islamisten des Libanon enger zusammen. Da Syrien zu dieser Zeit meinte, vom einsetzenden Strom arabischer Kämpfer in den Irak zu profitieren, duldeten die libanesischen Autoritäten die jetzt verstärkt betriebene Rekrutierung und Ausbildung von Freiwilligen. Hunderte von Sunniten brachen in den Irak auf, unter denen manche in hohe Funktionen innerhalb des Widerstands aufstiegen, während andere verletzt zurückkehrten oder in ihren Heimatorten als Märtyrer gefeiert wurden. Der Libanon wurde so eine wichtige Durchgangsstation für Araber, häufig saudi-arabischer Herkunft, auf ihrem Weg in den Irak. Und die Kooperation mit dem dortigen Netzwerk von Abu Musab al-Zarqawi führte 2004, erneut in Ain al-Helweh, zur Entstehung der Formation Jund al-Sham, ein Name, den zuvor al-Zarqawi für seine Kämpfer gebraucht hatte. Diese Gruppe, die Christen und Schiiten zu Ungläubigen erklärte und sie im Irak mit äußerster Gewalt bekämpfte, suchte mit dem libanesischen Staat, solange dieser sie beim Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten im Irak nicht ernsthaft behinderte, zunächst keine Konfrontation. Das Verhältnis verschlechterte sich aber, als die Autoritäten, wohl auch zur Abwehr amerikanischer Vorwürfe, gegen das wachsende jihadistische Element nichts zu unternehmen, Aktionen gegen westliche Interessen im Libanon selbst streng verfolgten. So war es auch bei einer Festnahmewelle im September 2004, die von Innenminister Elias Murr mit der Aufdeckung von Anschlagsplänen auf die italienische und die ukrainische Botschaft begründet wurde, was viele Beobachter mit Blick auf die kurz zuvor verabschiedete und Syrien beengende Resolution 1559 aber bezweifelten. Als der Führer einer Gruppe von Inhaftierten aus Majdal Anjar in der Beqaa-Ebene nach Mißhandlungen in der Haft starb, hatte das wütende Proteste in seinem Heimatort und Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchung zur Folge. Das Hariri-Lager und der sunnitische Islamismus seit dem syrischen Abzug Der syrische Abzug im April 2005, das daraus resultierende Sicherheitsvakuum und der erneute Griff des Future Movement nach der Macht gaben den unterschiedlichen islamistischen Kräften die Möglichkeit, ihren Kapitel II : Libanon 217 Einfluß zu vergrößern. Um sich den Zuspruch möglichst breiter sunnitischer Kreise zu sichern, setzte Saad al-Hariri stark auf die konfessionelle Karte. Das begann während der Wahlen im Mai und Juni 2005, denn im Rennen mit Michel Aoun kam es, vor allem in gemischten sunnitischchristlichen Bezirken, darauf an, möglichst viele Angehörige der eigenen Gruppe zur Wahl zu bewegen. Nach dem Mord an seinem Vater, Rafiq al-Hariri, konnte Saad al-Hariri dabei auch von einem unter den Sunniten gestiegenen Gefühl der Solidarität und einem bei ihnen als wohl einziger Gruppe des Landes zuvor kaum existenten Gefühl des Verfolgtseins als Minderheit profitieren. Vor allem im von Rafiq al-Hariri (aufgrund syrischer Vorbehalte) politisch wie materiell lange vernachlässigten Norden, wo dieser Kampf in der entscheidenden letzten Wahlrunde besonders hart ausfiel, wurden islamistische Organisationen daher mit Geschenken und Zusagen bedacht. Und in Erfüllung eines ihrer Wahlversprechen erließ die neue Regierung dann auch umgehend eine (nach der Logik des konfessionellen Gleichgewichts an die Freilassung des Forces-Libanaises-Chefs Samir Geagea gekoppelte) Amnestie für einen Teil der Gefangenen von Dinniye und Majdal Anjar, von denen viele – wenig überraschend – bald in der Region Tripoli wieder aktiv wurden. In seinem Streben, den von seinem Vater erarbeiteten Status als zentrale Führungsfigur der Sunniten zu erhalten und auszubauen, greift Saad al-Hariri, in der Tradition seines Vaters, zur Mobilisierung religiöser Gefühle und zum riesigen Vermögen des Hariri-Clans. Obwohl das Future Movement offiziell säkular ist und ihm auch viele Nicht-Sunniten angehören, hört man von Hariri und aus seinem Umfeld selten Zurückweisungen konservativ-sunnitischer Ansichten. Auch die Tatsache, daß die meisten Sunniten die gegen die Future-Bewegung gerichtete Politik der Hizbullah in konfessionellen, um nicht zu sagen: religiösen Kategorien begreifen, wird von Hariri selten korrigiert. Unterstützung erfährt er dabei von den weiter von der Politik abhängigen offiziellen sunnitischen Institutionen des Landes, geleitet von der Dar al-Fatwa unter dem Mufti Muhammad Rashid Qabbani. Seine wiederholte Leitung von Gebeten im Regierungspalast nach Beginn der Oppositionsproteste hat hier klare Zeichen gesetzt. Und auch die im Jahr 2006 erfolgte Wiederzulassung der seit 1962 im Libanon (wie in fast allen arabischen und vielen westli- 218 Staatlicher Umgang mit Opposition chen Ländern) verbotenen Hizb al-Tahrir, die einen die Nationalstaaten der islamischen Welt obsolet machenden Kalifatsstaat anstrebt und mehrere Putschversuche in der Region unternommen hat, muß im Lichte dieser Politik gesehen werden. Viele sehen darin längst ein Spiel mit dem Feuer, und als Beleg nennen sie unter anderem die gewaltsamen Proteste gegen die aus Dänemark stammenden Muhammad-Karikaturen im Februar 2006 in Beirut. Hier hatte die Dar al-Fatwa selbst zur Teilnahme aufgerufen und sich sogar am Transport der Demonstranten beteiligt. Als die Veranstaltung außer Kontrolle geriet und die dänische Botschaft sowie Kirchen und Geschäfte im christlichen Stadtteil Ashrafiye verwüstet wurden, konnten die auf der Seite Hariris stehenden Polizeikräfte gemeinsam mit sunnitischen Geistlichen die Randalierer nur unter größter Mühe zur Raison bringen. So zeigen sich, besonders in den letzten zwei Jahren, auch die Gegensätze zwischen der vom Future Movement verfolgten Politik und den von ihm umworbenen islamistischen Kräften. Das begann im Krieg von 2006, als die Regierung sich auf eine auch für viele Sunniten schwer zu ertragende Weise vom antiisraelischen Kampf distanzierte und sie die US-Außenministerin Condoleezza Rice, die den Krieg gerade noch als die „Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens“ hatte sehen wollen, in Beirut empfing. Und es fand ihren Höhepunkt im monatelangen Kampf der Armee gegen die Jihadistengruppe Fatah al-Islam im Sommer 2007. Wegen der pro-westlichen Linie Hariris votieren heute denn auch die meisten anerkannten sunnitisch-islamistischen Parteien für die Opposition. Das gilt vor allem für die Harakat al-Tauhid und die Ahbash, aber auch für einen Teil von al-Jamaca al-Islamiya, der sich 2006 unter Fathi Yakan, einem Mitbegründer der Partei, als Jabhat al-Amal al-Islami unabhängig gemacht hat, während der Mainstream unter Faisal Mawlawi und Asaad Harmoush, wohl aus Pragmatismus und konfessionellen Erwägungen, an der Seite Hariris steht. Bedeckt hält sich auf diesem Gebiet die Hizb al-Tahrir, was im Lichte ihrer gerade erst erfolgten Zulassung wohl auf eine Hariri-kritische Position schließen läßt. Von den Widersprüchen der Hariri-Politik und den Spaltungen im sunnitischen Lager profitieren laut einer jüngst erschienenen Studie des Carnegie Middle East Center die radikaleren, salafitischen Kräfte im Kapitel II : Libanon 219 sunnitisch-islamistischen Milieu.9 Auf welche Weise das geschieht, ist eine höchst unklare und umstrittene Frage, aber im Land herrscht inzwischen die Überzeugung vor, daß das Future Movement unter anderem versucht, das Wohlwollen dieser Gruppen sowie die Kontrolle über sie zu kaufen. Man muß nicht so weit gehen wie der amerikanische Journalist Seymour Hersh, der die Behauptung aufgestellt hat, daß dadurch und mit Unterstützung aus den USA und Saudi-Arabien sunnitische Kampfverbände gegen die Hizbullah geschaffen werden sollen.10 Es reicht, die radikalen Kräfte aus Sicht des Hariri-Lagers als „useful tools in securing popular support“ zu charakterisieren und von einer „marriage of convenience“ zwischen den beiden Seiten zu sprechen.11 Zur Verteidigung Hariris wird häufig aber auch darauf hingewiesen, daß diese Kräfte im Rahmen von Stillhalteabkommen, also mit dem Ziel einer Entschärfung bestehender Konflikte, Gelder erhalten, wie es im Auftrag von Bahia alHariri, der Schwester des ermordeten Rafiq al-Hariri, offenbar im Frühjahr 2007 in Ain al-Helweh geschah. Die Bewohner der angrenzenden Stadt Saida, der Heimatstadt der Hariris, hielt das aber nicht davon ab, für die hier begünstigten Jund al-Sham („Soldaten der Levante“) den ironischen Namen Junud al-Sitt („Soldaten der Dame“) zu prägen. Von derartigen Bemühungen konnte in jüngerer Zeit auch Usbat alAnsar profitieren. Der Gruppe, die als einzige libanesische Organisation in der Antiterror-Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrats vom September 2001 genannt wird, wurden im Sommer 2007 Sicherheitsaufgaben in Ain al-Helweh übertragen, um als eine Art Puffer zwischen der Armee und der radikaleren Jund al-Sham zu fungieren, wodurch die Waffen von Usbat al-Ansar eine Form von Legitimität erhalten haben. Aktivitäten von al-Qaida und der Kampf mit Fatah al-Islam Die Schlacht um Nahr al-Bared zeigte dem Land auf erschreckende Weise die Tiefe des über die Jahre gewachsenen Problems. Und sie ließ die Libanesen mit divergierenden Erklärungen sowie einem Berg von Frage9 10 11 Abdel-Latif, Omayma: Lebanon’s Sunni islamists. A growing force, in: Carnegie Papers, Washington D.C., Nr. 6, Januar 2008. Hersh, Seymour: The redirection. Is the administration’s new policy benefitting our enemies in the war on terrorism?, in: The New Yorker, 5.3.2007. Abdel-Latif 2008, a.a.O. (Anm. 9), S. 3, 15-16. 220 Staatlicher Umgang mit Opposition zeichen über die Herkunft der hier bekämpften Gruppe Fatah al-Islam zurück. Als unzweifelhaft gilt spätestens seit entsprechenden Aussagen des Chefs des Militärgeheimdienstes George Khouri sowie des Armeechefs Michel Suleiman im September 2007, daß Fatah al-Islam ein Teil des weltweiten Netzes von al-Qaida bzw. al-Qaida nahestehender Gruppen ist. Dieses Netz ist spätestens seit der Entstehung von Jund al-Sham im Libanon präsent. Und es rivalisiert seitdem mit der Hizbullah, die nicht nur ihre Glaubensbrüder im Irak von al-Qaida angegriffen sieht, sondern die auch, so ein zunehmender Vorwurf sunnitischer Islamisten, den von dem Lande ausgehenden antiisraelischen Kampf samt dem damit verbundenen Ruhm für sich monopolisiert. Daß auch al-Qaida hier teilhaben will, zeigte sich Ende 2005, als ihr von Abu Musab al-Zarqawi geführter irakischer Arm die Verantwortung für einen vom Südlibanon aus ausgeführten Raketenangriff auf Israel übernahm. Wie tief die Feindschaft der Jihadisten gegenüber der Hizbullah geht, wurde klar, als im April 2006 ein aus diesem Milieu stammender Plan zur Ermordung ihres Generalsekretärs Hasan Nasrallah aufgedeckt wurde. Im Juni des Jahres kritisierte al-Zarqawi dann die Hizbullah dafür, Israel vor den libanesischen Mujahidin zu schützen, was Usama Bin Laden Ende 2007 mit Blick auf die Zustimmung der Partei zur Erweiterung der UNIFIL wiederholte. Die Hizbullah suchte meist, derartige Vorwürfe zu ignorieren. Als aber der zweite Mann von al-Qaida, Aiman al-Zawahiri, zu Kriegsbeginn in eine Botschaft schiitische Schlagworte einflocht, trat der damalige Hizbullah-Minister Muhammad Fneish diesem Annäherungsversuch mit der Bemerkung entgegen, al-Qaida glaube an das Töten Unschuldiger, man selbst hingegen an „den legitimen Widerstand gegen Besatzer“. Nach dem Krieg verbreitete Aufrufe von al-Qaida-Führern zu Aktionen gegen die UNIFIL wurden von den Adressaten im Land erhört, und so starben im Juni 2007 bei einem Anschlag sechs spanische UN-Soldaten. Aber auch syrische Entscheidungen scheinen bei der Entstehung von Fatah al-Islam einen gewissen Einfluß gehabt zu haben. Das gilt zum einen, weil Syrien seit rund zwei Jahren das Einsickern von Jihadisten in den Irak erschwert, so daß sich diese von ganz allein nach neuen Tätigkeitsfeldern umsehen. Und das gilt zum anderen, weil Syrien – so be- Kapitel II : Libanon 221 hauptet es jedenfalls die libanesische Regierung – durch den Einlaß von Jihadisten in den Libanon die dortige Instabilität fördern will, um die Regierung zu stürzen, das Hariri-Tribunal zu verhindern und die Rückkehr der eigenen Verbündeten an die Macht, ja die Rückkehr eigener Truppen zu ermöglichen.12 Untermauert wird diese These meist unter Verweis auf Shaker al-Absi, den Führer von Fatah al-Islam. Er ist ein Palästinenser, der erst für die Fatah, dann für Fatah al-Intifada gekämpft und sich später dem Islamismus zugewandt hat. Im Jahre 2002 wurde er in Syrien wegen staatsfeindlicher Aktivitäten inhaftiert und in Jordanien (gemeinsam mit Abu Musab al-Zarqawi) wegen der Ermordung des USBotschafters Laurence Foley zum Tode verurteilt. Als al-Absi nach drei Jahren freikam, wurde er nicht etwa an Jordanien ausgeliefert, sondern er tauchte im Libanon auf, wo er sich, Anfangs in der Beqaa-Ebene, für Fatah al-Intifada betätigte. Im Lauf des Jahres 2006 baute er, inzwischen möglicherweise im Konflikt mit Syrien, im Lager Nahr al-Bared bei Tripoli, wo Fatah al-Intifada über eine starke militärische Position verfügte, eine eigene Gruppe auf, der sich bald mehr Libanesen, Saudis und andere Araber anschlossen als Palästinenser. Sie erklärten sich im November als Fatah al-Islam von Fatah al-Intifada unabhängig und kritisierten jetzt auch das syrische Regime. Obwohl sich Fatah al-Intifada von alAbsis Gruppe umgehend distanzierte, konnte diese im Laufe der Zeit ohne größeren Widerstand deren Stellungen im Lager übernehmen. Die Regierung tat zunächst wenig, um dem Problem zu begegnen, sie wurde dann aber aufgeschreckt, als sich nach einem Anschlag auf zwei Kleinbusse in Ain Alaq in der christlichen Region Bikfaya Mitte Februar 2007 (einen Tag vor einer Gedenkveranstaltung für Rafiq al-Hariri) eine Spur in Richtung Fatah al-Islam ergab. Das Ereignis führte zu einer verschärften Armeepräsenz um Nahr al-Bared und zu entsprechenden Spannungen. Als nach einer Reihe von Banküberfällen in der Region Tripoli 12 Ban Ki Moon listet entsprechende Angaben der libanesischen Regierung und dazugehörige syrische Zurückweisungen auf: Sixth Semi-Annual Report of the SecretaryGeneral on the Implementation of Security Council Resolution 1559 (2004), S/2007/629, 24.10.2007, Absatz 13-21, 36-41. In Absatz 50 kommentiert er: „The United Nations does not have the means to independently corroborate the conflicting information received from the Government of Lebanon and from the Government of Syria.“ 222 Staatlicher Umgang mit Opposition die Hariri-nahe Polizei am 20. Mai 2007 ohne Absprache mit der Armee eine von Fatah al-Islam genutzte Wohnung in Tripoli aushob, rächte sich die Gruppe auf brutale Weise an der Armee, wobei 27 Soldaten den Tod fanden. Das war der Auftakt zur Schlacht um Nahr al-Bared, in der die Armee, durch prompte Waffenlieferungen aus den USA gestärkt, das von ihr umstellte Lager, in dem sich die überraschend gut bewaffnete Gruppe verschanzt hatte, fast völlig zerstörte. Die Folge war eine humanitäre Krise um die über 30.000 Bewohner des Lagers, von denen die meisten im benachbarten Lager Beddawi und in öffentlichen Einrichtungen in Tripoli unterkamen. Zeitgleich fanden im Land mehrere Anschläge statt, die mit dem Konflikt in Verbindung stehen dürften. Nachdem 168 Soldaten, über 220 Islamisten (darunter ein Bruder des wegen der gescheiterten Kofferbombenanschläge in Deutschland angeklagten Youssuf Muhammad al-Hajj Deeb) und mehr als 50 Zivilisten ihr Leben gelassen hatten, endete die Schlacht erst am 2. September 2007 mit einem Ausbruchsversuch der verbliebenen Kämpfer. Während die Armee über 200 von ihnen ergreifen konnte, gelang einem unbekannten Rest (darunter Shaker al-Absi) die Flucht. Obwohl sich alle etablierten Kräfte des Landes in ihrer Ablehnung von Fatah al-Islam (von der sich selbst Usbat al-Ansar distanzierte) und in ihrer Unterstützung der Armee einig waren, wurde deren Vorgehen in Nahr al-Bared stark kritisiert. Das gilt nicht nur für den massiven Einsatz von Gewalt, sondern auch und vor allem für eine Serie von Plünderungen und Brandschatzungen nach Ende der Kämpfe. Die Schlacht um das Lager hatte das libanesisch-palästinensische und das innersunnitische Verhältnis schwer belastet. Um keinen konfessionellen Konflikt (zwischen Sunniten und Schiiten oder Christen) zu provozieren, hatte die Armee überwiegend sunnitische Brigaden aus der Region Tripoli kämpfen lassen, deren libanesische Bewohner mit den Palästinensern schon lange aus ökonomischen Gründen rivalisieren. Die hohen Verluste in den eigenen Reihen verärgerten die Soldaten und ihre Familien, und so rächten sich Armeeteile – offenbar außerhalb der Kontrolle der Regierung – mit Diebstählen und antipalästinensischen Schmierereien an den Lagerbewohnern. Unwillig zeigen sich die Libanesen aus der Umgebung des Lagers heute auch mit Blick auf dessen geplanten Wiederaufbau. Kapitel II : Libanon 223 Trotz des Sieges in Nahr al-Bared ist das Problem mit Fatah al-Islam für den Libanon noch lange nicht ausgestanden. Denn die Regierung ist durch die Kämpfe zu einem erklärten Feind al-Qaida-naher Islamisten geworden. Eine Tonbandbotschaft mit Drohungen Shaker al-Absis vom Januar 2008 sowie Berichte über Folter an den Gefangenen von Nahr alBared lassen nichts Gutes erwarten. Und bei manchen Anschlägen, die sich seit Ende der Kämpfe ereigneten (vor allem der Ermordung des stellvertretenden Armeechefs François al-Hajj im Dezember 2007 und des Antiterror-Ermittlers Wissam Eid im Januar 2008), ist ein Zusammenhang mit dem Konflikt zumindest nicht unwahrscheinlich. Dennoch bleiben auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Regierung und Fatah al-Islam einige Fragen offen. Denn während die Regierung weiterhin Syrien beschuldigt, hinter der Entstehung der Gruppe zu stehen, beschuldigt die Opposition die Regierung, nach Ende der Kämpfe führenden Gruppenmitgliedern aus Rücksicht auf bestehende sunnitische Allianzen die Flucht ermöglicht zu haben. Die Ereignisse um Nahr al-Bared erscheinen aus diesem Blickwinkel als ein im Kern inner-sunnitischer Konflikt bzw. als hoch symbolischer Akt gegen die Fußsoldaten derjenigen, die die roten Linien des innersunnitischen Verhältnisses übertreten haben. 3.4. Die Wiederbewaffnung der Milizen Ein weiteres zentrales Problem im Bereich der politischen Gewalt ist die seit einigen Jahren beklagte Rückkehr der Milizen. Im Zuge der politischen und sicherheitstechnischen Krise seit 2005 findet im Libanon eine umfassende Wiederbewaffnung statt, was sowohl für Privatpersonen als auch für die früheren Milizen gilt, deren Entwaffnung ohnehin nie vollständig war. Genaue Zahlen sind hier nicht zu erhalten, da das Thema von Behauptungen und wechselseitigen Vorwürfen geprägt ist. Und so kann man im wesentlichen nur die Parteien nennen, um die es hier geht. Das sind auf der heutigen Regierungsseite vor allem die mit der maronitischen Kataib-Partei ideologisch und historisch eng verbundenen Forces Libanaises von Samir Geagea sowie die Sozialistische Fortschrittspartei von Walid Jumblatt. Beide verfügen nicht nur über eine lange Geschichte als Miliz, sondern sie kontrollieren auch Gebiete, die es für die 224 Staatlicher Umgang mit Opposition eigene christliche bzw. drusische Konfession zu verteidigen gilt. Anders ist die Situation auf Seiten der Sunniten, deren urbane Hochburgen Tripoli, Beirut und Saida militärisch weniger kontrolliert oder verteidigt als zerstört werden können und deren Siedlungsgebiet im Norden von keiner anderen Konfession ernsthaft bedroht ist. So verfügten die Sunniten schon im Bürgerkrieg über keine einheitliche Miliz, sondern ihre Interessen wurden von unterschiedlichen linken, islamistischen und palästinensischen Milizen verteidigt. Dieses Bündnis der Sunniten mit den Islamisten und den Palästinensern setzt sich heute, wie beschrieben, auf gewisse Weise fort. Zusätzlich dazu wird aber auch auf bestimmte bewaffnete Kräfte aus dem Umfeld Hariris als Pendant zu den Milizen der anderen Konfessionen verwiesen. Das sind zum einen für das Future Movement tätige private Sicherheitskräfte, zum anderen die von Hariri kontrollierten Kräfte der Inneren Sicherheit (die Polizei des Landes) sowie bestimmte Armeeteile. Auf Seiten der Opposition verfügen heute neben der Hizbullah Parteien wie die Amal-Bewegung, das Free Patriotic Movement Michel Suleimans und die Marada von Suleiman Franjieh über Waffen. Kämpfer der Amal haben sich in der Vergangenheit in verschiedenen Konflikten mit Israel der Hizbullah angeschlossen. Und vom Free Patriotic Movement geht das Gerücht um, von der Hizbullah militärische Ausbildung zu erhalten. Eine klare Politik der Regierung zur Verhinderung der zunehmenden Bewaffnung ist nicht zu erkennen, was zweifellos auch damit zu tun hat, daß die Regierung selbst Partei in dieser Angelegenheit ist. Wenn man die Waffen der Hizbullah (die nicht müde wird zu betonen, daß sie diese nicht im Inneren einzusetzen gedenkt) mitrechnet, ist die Regierungsseite im Gleichgewicht der Bedrohung heute die unterlegene Kraft, so daß vor allem sie von der Aufrüstung profitiert. Sporadische Aufdeckungen von Waffenlagern folgen denn auch meist einer Logik, die weniger auf Sicherheit als auf eine militärische und politische Schwächung des Gegners abzuzielen scheint. Ein Fortschritt war im September 2007 die von der Regierung getätigte Anerkennung der Tatsache, daß militärische Trainingscamps auf beiden Seiten existieren, wobei Namen allerdings nicht genannt wurden. Und was unmittelbar folgte, war dann auch nur eine umstrittene singuläre Aktion gegen Mitglieder des Free Patriotic Kapitel II : Libanon 225 Movement, die in einem offenbar beschränkten Rahmen mit Waffen trainiert hatten. 3.5. Ineffektivität und Rivalität der Sicherheitskräfte Die Uneinigkeiten und Rivalitäten des Libanon zeigen sich auch mit Blick auf die staatlichen Sicherheitsdienste. Diese sind traditionell nach dem Prinzip der konfessionellen Vergabe von Macht und Einfluß organisiert, was eine wenig zielgerichtete Aufteilung in miteinander (aus verschiedenen Gründen) konkurrierende Dienste zur Folge hat. Nach Ende des Bürgerkrieges waren diese zumindest dahingehend vereint, daß sie unter der (häufig ungesetzlichen) Leitung des Staatspräsidenten gemeinsam dem Erhalt der syrisch dominierten Ordnung dienten. Daher standen sie dauerhaft in der Kritik der damaligen antisyrischen Opposition, und daher fiel auf sie rasch der Verdacht einer Verstrickung in die Ermordung Rafiq al-Hariris. Als sich dieser Verdacht in den von der UN eingeleiteten Untersuchungen zum Thema zu erhärten schien, wurden die Chefs der wichtigsten Dienste unter dem Übergangspremierminister Najib Miqati im April und Mai 2005 entlassen und im August desselben Jahres unter Siniora inhaftiert. Das dadurch entstandene und von der neuen Opposition viel kritisierte Vakuum konnte nach längeren Streitigkeiten erst Anfang Oktober 2005 durch Neubesetzung der Ämter gefüllt werden. Allseits beklagt wurden aber auch darüber hinaus die strukturellen Mängel im Sicherheitsbereich, denen nur durch eine umfassende Reform beizukommen wäre. Diesem Projekt widmete sich die Regierung bislang allenfalls im Ansatz, und so setzen sich diese Mängel unter den heute verschärften politischen Konkurrenzbedingungen fort. Wegen genau dieser Bedingungen ist die Regierung aber oftmals auch zur Untätigkeit verdammt. Das zeigt sich etwa mit Blick auf einen im Zuge der Neubesetzungen gefaßten Plan zur Auflösung der Abteilung für Staatssicherheit und der Eingliederung ihrer Mitarbeiter in die Allgemeinen Sicherheitsdienste und das Innenministerium. Auch hier standen konfessionelle Erwägungen im Hintergrund. Denn die Staatssicherheit war nach dem Bürgerkrieg eingerichtet worden, um den Schiiten einen größeren Anteil im Sicherheitsbereich zu gewährleisten. Dieser Anteil war gewachsen, als der Schiit Jamil Sayyed Ende 1998 die Leitung 226 Staatlicher Umgang mit Opposition der bis dahin stets maronitisch kontrollierten Allgemeinen Sicherheitsdienste übernahm. Als er nach dem Hariri-Mord abgesetzt wurde und sein Amt auf Drängen von Hizbullah und Amal an den Schiiten Wafiq Jezzini ging, fiel der Apparat endgültig in schiitische Hand, was der Abteilung für Staatssicherheit ihren Daseinszweck nahm. Wegen der politischen Krisen des Landes steht die Umsetzung des Plans zu ihrer Auflösung aber still. Die Regierung entschied sich insofern oft für unilaterales Handeln. Das gilt vor allem für die Schaffung der hoch umstrittenen Nachrichtenabteilung der Inneren Sicherheitsdienste. In der Kritik steht der Apparat unter anderem, weil er am Parlament vorbei auf Anweisung des Innenministers Hassan Sabaa geschaffen wurde. Der zentrale und wohl keineswegs unberechtigte Vorwurf lautet jedoch, daß der Apparat einseitig für die Interessen des Regierungslagers, und hier vor allem für die Sunniten arbeitet. Die Bedeutung der Abteilung zeigt sich auch in der Tatsache, daß sie offiziell zwar als Teil der Inneren Sicherheitskräfte geführt wird, jedoch über ein eigenes Gebäude samt eigenem Gefängnis verfügt. Den Stillstand im Sicherheitsbereich verdeutlichen noch zwei andere prominente Streitfragen. Da ist zum einen ein Versuch der Regierung, eine zentrale Datenbank mit sicherheitsrelevanten Informationen einzurichten. Das Projekt ist daran gescheitert, daß die Datenbank bei der Inneren Sicherheit hätte angesiedelt werden sollen, was der Chef der Allgemeinen Sicherheitsdienste, Wafiq Jezzini, mit Mißtrauen sah. Seine Weigerung, sich den Vorgaben der Regierung zu beugen, führte im September 2006 zu einem Streit mit dem damaligen stellvertretenden Innenminister Ahmad Fatfat und zur vorübergehenden Entlassung Jezzinis. Er wurde auf Intervention des Parlamentspräsidenten Nabih Berri aber wieder ins Amt gelassen, und so war das Projekt gestorben. Und da ist zum anderen die von der Regierung vorgeschlagene breitflächige Installation von Überwachungskameras, um – nicht zuletzt mit Blick auf die Anschlagsserie – die Sicherheit im Land zu erhöhen. Abgesehen von den fehlenden finanziellen Mitteln scheiterte dieses Projekt vor allem am Widerstand der Hizbullah, die fürchtet, daß für die Partei sensible Daten über undichte Stellen an Israel gelangen könnten. Kapitel II : Libanon 227 Ganz neue Wege geht dagegen ein Projekt zur verbesserten Überwachung der libanesisch-syrischen Grenze. Es wurde nach dem Krieg von 2006 aus der Taufe gehoben, um dem illegalen Grenzverkehr entgegenzuwirken und hier vor allem die Hizbullah von ihrem Nachschub abzuschneiden. Es ist insofern von Bedeutung, als daß es (mit Unterstützung deutscher Beamten) zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Kooperation von Zoll, Armee, Innerer und Allgemeiner Sicherheitsdienste herzustellen versucht. Ob das Projekt im Lichte des Dauerzwists in Beirut und des alteingesessenen Schmuggelwesens im Grenzgebiet die chronische Durchlässigkeit der Grenze für Konsumgüter, Waffen und Kämpfer aber dauerhaft zu verringern hilft, wird von vielen Beobachtern im Lande bezweifelt. Insgesamt wird dem Libanon in Sicherheitsfragen denn auch regelmäßig ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt. Eine aktuelle Studie zum Thema kommt zu der Einschätzung, daß das Land heute noch nicht einmal über das Mindestmaß der notwendigen Fähigkeiten verfügt, um den bestehenden inneren und äußeren Bedrohungen zu begegnen. Obwohl sich die Regierung des Problems bewußt sei, fehle es ihr an einer klaren Vision davon, wie die nationale Sicherheit effektiv zu organisieren sei. Wenn sie die Priorität darauf lege, mit Hilfe aus dem westlichen Ausland die bestehenden Dienste in Mitarbeiterzahl, Ausrüstung und Trainingsstand zu verstärken, reiche das bei weitem nicht aus, um die tiefer liegenden strukturellen Probleme zu lösen. So verhielten sich die Sicherheitsdienste bis heute wie „voneinander getrennte Inseln“, die ihre Prioritäten auf unterschiedliche Weise definierten und die Bedrohungen für das Land an jeweils anderer Stelle verorteten.13 Wegen dieser technischen und strukturellen Mängel im Sicherheitsbereich hat sich auf Seiten der Verantwortlichen mit Blick auf die seit 2004 anhaltende Serie politischer Morde inzwischen eine allseits kritisierte Outsourcing-Mentalität breit gemacht. Hier wird nach jedem Anschlag die Untersuchungskommission der UN zum Hariri-Mord um Hilfe gebeten, die das Land auch 13 Abd al-Qadir, Nizar: Islah qitac al-amn al-watani fi Lubnan (Die Reform des Nationalen Sicherheitssektors im Libanon), Paper für den Workshop on the Role of the Parliament in the Development of a National Security Policy in the Arab Region, organisiert vom Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces und dem UNDP-Lebanese Parliament Support Project, Montreux, 18.-20.4.2007, S. 12 und 29. 228 Staatlicher Umgang mit Opposition routinemäßig bewilligt bekommt. In dem Glauben daran, daß die UN eher in der Lage ist, derartige Fälle aufzuklären als die Dienste des Landes, nehmen sich diese dann aus der Verfolgung des Themas häufig zurück. 4. Perspektiven der Gewaltproblematik Schiitische Widerständler, palästinensische Fraktionen, al-Qaida-nahe Jihadistengruppen, politisch-konfessionelle Milizen, rivalisierende Sicherheitskräfte und eine tief gespaltene Klasse von Politikern, die ihre Kontrolle über einzelne Institutionen des Staates dazu verwenden, ihre jeweiligen Gegner an der Durchsetzung ihrer Interessen zu hindern: Die Vielfalt der Macht-, Konflikt- und Gewaltstrukturen des Libanon erlaubt es nicht, von einer bestimmten Form des staatlichen Umgangs mit gewalttätiger Opposition zu sprechen, denn einen Staat, so hört man im Land immer wieder, gibt es dort im Grunde nicht. Hinter der Oberfläche der Institutionen, von denen man ein bestimmtes, aufeinander abgestimmtes Handeln erwarten könnte, liegt das nicht endende Gerangel konfessioneller, religiöser, politischer, familiärer und wirtschaftlicher Interessengruppen, die sich von Situation zu Situation und meist innerhalb stark angespannter Verhältnisse für bestimmte Handlungsweisen zu entscheiden haben. Politik ist im Libanon so immer Krisenmanagement sowie der Versuch, Kompromisse auszuhandeln, die im Zuge der sich immer schon anbahnenden nächsten Krisen umgehend wieder auf die Probe gestellt werden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Zeit nach dem syrischen Abzug. Wurde sie während der antisyrischen Unabhängigkeitsbewegung von 2005 von vielen als eine Zeit der gestärkten Staatlichkeit imaginiert, präsentiert sie sich doch längst als Zeit von Chaos, Schwäche, Stillstand und zunehmender Gefahr. So viel Abgrund wie heute war lange nicht, und doch scheint die politische Klasse mit der Aufgabe überfordert, eine für alle Seiten akzeptable Lösung für die zentralen Probleme des Landes zu finden. Die Gewaltproblematik im Lande inmitten des heutigen Klimas wechselseitiger Bedrohung entschärfen zu wollen, ist eine Aufgabe, die Kapitel II : Libanon 229 kaum gelingen kann. Keiner der oben behandelten Gewaltakteure wird Machtbeschneidungen zustimmen, solange nicht alle Kräfte mitmachen. Und da es zu viele Kräfte mit zu vielen unterschiedlichen Interessen gibt, wird es ein einvernehmliches Handeln und nennenswerte Fortschritte etwa hinsichtlich einer Umsetzung der in UN-Resolution 1559 geforderten Entwaffnung der Hizbullah und der palästinensischen Milizen in absehbarer Zeit nicht geben. Während die Situation mit Blick auf die Hizbullah heute restlos verfahren ist, sind die Dinge auf Seiten der Palästinenser immerhin insofern in Bewegung, als daß die Regierung versucht, auf dem Wege einer Verbesserung der Lebensverhältnisse die Voraussetzungen für eine Entschärfung bestehender Konflikte und damit für einen Abbau von Gewalt zu schaffen. Der hier eingeschlagene Weg eines libanesisch-palästinensischen Dialogs hat seine Tücken, und das inoffizielle Bündnis der pro-westlichen Regierung mit der pro-westlichen Fatah ist Garant für eine ständige Unzufriedenheit der Fatah-kritischen Fraktionen. Aber im Vergleich zur Situation während der syrischen Präsenz gibt es hier doch erstmals eine libanesische Politik, die darüber hinausgeht, das Schicksal der Flüchtlinge auf oft zynische Weise für eigene strategische Interessen zu nutzen. Sehr undurchsichtig ist die Lage mit Blick auf die gewaltbereiten islamistischen Gruppen. Sie sind insofern Opposition, als daß sie am offiziellen politischen Leben nicht teilhaben, aber sie sind doch keine Opposition, die eine Chance darauf hätte, in dem konfessionell zersplitterten Land eines Tages die Macht zu übernehmen, weshalb sie das auch gar nicht anstrebt. Das ist ein Grund dafür, daß das Problem von Regierungsseite lange nicht ernst genug genommen wurde und meist erst dann etwas unternommen wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Ein Beispiel dafür ist die Krise um Nahr al-Bared, die die Regierung (besonders das Future Movement), die Armee und die Inneren Sicherheitskräfte in scharfen Konflikt mit den al-Qaida-nahen Gruppen des Landes geführt hat. Es ist aber auch ein Grund dafür, daß die sunnitischen Extremisten von verschiedener Seite als Werkzeug für eigene Interessen benutzt werden können, sei es zur Sicherung von Unterstützung für die etablierten sunnitischen Kräfte des Landes, sei es zur Förderung von Unsicherheit und Instabilität durch das Ausland. So muß sich die Regierung, obwohl 230 Staatlicher Umgang mit Opposition sie in den letzten Jahren immer wieder gegen Islamisten durchgegriffen hat und das auch seit den Kämpfen um Nahr al-Bared verstärkt tut, fragen lassen, was sie zur Entstehung des Problems beigetragen hat. Neben der aus wahltaktischen Gründen beschlossenen Amnestie von 2005 zählen dazu auch die Frage der Finanzierung islamistischer Gruppen und das Thema der Verletzung der Menschenrechte gefangener Islamisten. Weitgehend hilflos erscheint die Regierung mit Blick auf das Wiedererstarken der Milizen, wobei die regierenden Kräfte hier selbst Teil des Problems sind. Denn sie setzen, so wie ihre Gegner, auf Aufrüstung, um im Machtpoker und im Angesicht eines drohenden Krieges ihre Position zu verbessern. Aufgerüstet wird auf Initiative der Regierung auch im Sicherheitsbereich, was aber mehr im konfessionellen als im nationalen Interesse geschieht und die dortigen strukturellen Probleme nicht wird beenden können. So sieht sich das Land heute vor einer Vielzahl von Gewaltproblemen und vor einer Vielzahl oftmals unbekannter Bedrohungen, ohne in der Lage zu sein, diesen Herausforderungen Herr zu werden. Kaum Spielraum für Opposition in Marokko: Ein Ergebnis königlicher Politik Sigrid Faath La monarchie est aujourd’hui bien assise et elle est désormais le garant de la stabilité politique du pays. Mohammed VI règne et gouverne et loin est le temps ou le monarque pouvait craindre une opposition susceptible de « mettre la monarchie en équation ». Mohammed El Ayadi, Politologe, Casablanca (La Vie Economique, 29. Juli 2004) 1. Rahmenbedingungen für Opposition Alle marokkanischen Verfassungen seit der Unabhängigkeit 1956 verbieten explizit ein Einparteisystem, so auch Artikel 3 der geltenden Verfassung1 von 1996. Statt dessen sollen politische Parteien, Gewerkschaften, Berufsorganisationen und die lokalen Räte in Konkurrenz miteinander treten, um die Bevölkerung zu organisieren und zu repräsentieren. Artikel 9 der Verfassung von 1996 garantiert schließlich die notwendigen „Rahmenbedingungen“, um diese plurale Repräsentanz der Interessen möglich zu machen: Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. In Marokko sind politische Parteien, Wahlen und folglich auch parlamentarische Opposition verfassungsmäßig institutionalisiert; dennoch ist die marokkanische Monarchie keine 1 Vgl. Verfassungstext unter: www.parlement.ma. Die erste Verfassung des 1956 unabhängig gewordenen Landes wurde 1962 von König Hassan II. persönlich ausgearbeitet. 232 Staatlicher Umgang mit Opposition konstitutionelle Monarchie vergleichbar der britischen oder spanischen. Die Funktion von Interessenorganisationen und die Rolle von legaler Opposition im oder außerhalb des Parlaments wird in der Praxis durch den Anspruch des Königs „zu herrschen und zu regieren“, unparteiisch die Institutionen des Landes zu orientieren und Politik zu gestalten, auf ein Minimum beschränkt. Das Kräfteverhältnis zwischen König und Parteien, zwischen König und legaler, loyaler Opposition und selbst zwischen König und illegaler, illoyaler Opposition hat sich seit der Unabhängigkeit sukzessive zugunsten des Königs verlagert.2 Seit dem Tode von König Hassan II. 1999 und der Inthronisierung von König Mohammed VI. gewann der König und die Monarchie an Ansehen noch hinzu. Die islamistischen Selbstmordanschläge vom 16. Mai 2003 stärkten die Position des Königs in einem Maße, daß er selbst solche Gesetze durchsetzen kann, die nicht nur bei den im Parlament vertretenen Parteien, sondern auch in großen Teilen der Bevölkerung kontrovers diskutiert werden.3 Gleichzeitig nahm die Fähigkeit der Opposition ab, gegen den König oder gegen dessen Politik zu mobilisieren. Wenn auch die Verfassung Parteienpluralismus verankert und legale Opposition dementsprechend Bestandteil des politischen Systems ist, so beeinflußt vor allem die Person des Königs und dessen Handhabung der innenpolitischen Entwicklungen, Problemlagen und Konflikte die Art von Opposition, die sich manifestiert, die Aktionsmodi, die sie wählten, und die Mobilisierungskraft, die sie entwickeln kann. Charakteristisch für Marokkos Opposition und den staatlichen Umgang mit ihr sind zwei Aspekte: 2 3 - Zum einen gab es in Marokko seit der Unabhängigkeit 1956 stets auch Opposition, die sich gegen die bestehende Ordnung richtete, militant war und gewaltsam auftrat. - Zum anderen reagierte der König nie ausschließlich mit repressiven Mitteln, wenngleich die Repression unter König Hassan in den 1960er, Vgl. hierzu Cubertafond, Bernard: Die politische Opposition in Marokko, in: Wuqûf, Hamburg, Band 12, 1999, S. 173-188. Wie z.B. im Falle der Modifikationen des Familienstatuts, das im Januar 2004 im Parlament angenommen wurde und am 4.2.2004 in Kraft trat, nachdem der König am 10.10.2003 in seiner Rede vor dem Parlament unmißverständlich kundtat, daß die Verabschiedung des Gesetzes „sein Wille“ sei. Kapitel II : Marokko 233 1970er und 1980er Jahren extreme Formen annahm. Parallel zu repressiven Mitteln wurde selbst der militanten und gewaltbereiten Opposition auch wiederum die Hand zur Kooperation ausgestreckt und ihr die Integration in das bestehende System angeboten, sofern sie bereit war, ihren Kurs zu ändern. Als „Gegenleistung“ des Staates für ein „moderateres“ Verhalten der Opposition konnte die Duldung oder unter Umständen die Anerkennung der Organisation und ihre Integration in die politischen Institutionen erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit der extremlinken und sozialistischen Opposition zu Beginn der 1990er Jahre und der Umgang mit Islamisten ab Mitte der 1990er Jahre (Zulassung von Islamisten zu den Legislativwahlen 1996). Allerdings ist eine politische Integration an die Anerkennung des „harten Verfassungskerns [gebunden], der nicht in Frage gestellt werden darf (…), symbolisch ausgedrückt in der Devise ‚Gott, das Vaterland, der König‛.4 Diese Devise gibt die Orientierung, die Grundlagen, die Prinzipien und die Aktionsmuster vor“5 und definiert den Handlungsspielraum aller politischen und gesellschaftlichen Akteure. Mit anderen Worten: Nicht in Frage gestellt werden kann - die Religion, der Islam, und damit auch die religiöse Legitimität des Königs als „Führer der Gläubigen“. das Vaterland und dessen territoriale Integrität, womit gleichzeitig das „Dogma“ über die Marokkanität der Westsahara festgeschrieben wird. der König und seine doppelte, weltliche und religiöse Legitimität, die seine Sonderstellung als Hauptakteur, der Politik orientiert und leitet, als überparteilicher Schlichter und Garant aller getroffenen Vereinbarungen begründet. 1.1. Das oppositionsprägende politische System Der nach dem Tode König Hassan II. (23. Juli 1999) am 30. Juli 1999 im Alter von 36 Jahren inthronisierte König Mohammed VI. vertritt zwar eine neue Generation und damit einen neuen Kommunikationsstil; er erbte jedoch ein festgefügtes politisches System, in dem er dieselben Aufgaben und Machtbefugnisse wahrnehmen muß wie zuvor sein Vater. 4 5 Vgl. Artikel 7 der Verfassung von 1996. Cubertafond, a.a.O. (Anm. 2), S. 176. 234 Staatlicher Umgang mit Opposition Auch der neue König ist in Marokko der wichtigste politische Akteur. Er „teilt“ Einfluß und Machtbefugnisse zu; er wirkt in allen Konflikten schlichtend. Die doppelte Legitimität und doppelte Funktion des Königs als weltliche und religiöse Autorität, die herrscht und regiert, bedeutet in der Praxis, daß Marokko zwar eine Monarchie mit Verfassung ist, aber diese Verfassung die königlichen Befugnisse nicht begrenzt und die eigentliche gesetzgeberische Gestaltungsmacht nicht bei einem gewählten Parlament liegt. Alle verfassungsmäßig verankerten, formal modernen Institutionen haben deswegen eine beschränkte Funktion. Der über der Verfassung stehende König und „Führer der Gläubigen“ definiert kraft seiner Befugnisse diese formal modernen Institutionen. Diese besondere Position des Königs wird unter anderem in Artikel 2 der Verfassung deutlich, wo die Person des Königs als „unantastbar und heilig“ bezeichnet wird. Der König steht kraft religiöser Legitimität außerhalb des verfassungsrechtlichen Systems, denn der „Stellvertreter Gottes auf Erden“, der „Führer der Gläubigen“ und „Nachfahre des Propheten Mohammed“, kann nicht durch weltliche Institutionen kontrolliert werden. Die Legitimität, die das marokkanische politische System bei der Mehrheit der Bevölkerung genießt, ist an diese weltliche und religiöse Stellung des Königs gebunden. Die intakte Bindung an die Monarchie kommt bei offiziellen Festtagen wie z.B. bei der Geburt des Thronfolgers Moulay Hassan am 8. Mai 2003 und bei den anschließenden landesweiten Feierlichkeiten am 15. Mai 2003 emotional sehr anschaulich zum Ausdruck. Die Verfassung verankert ein politisches System, das dem Parlament, den legalen Parteien, die Gewerkschaften, Berufs-, Frauen-, Jugendorganisationen und sonstigen Vereinigungen im zugestandenen Freiraum die Aufgabe der Interessenartikulation zuweist. Die Marge für Kritik und Reformvorschläge sowie den politischen und wirtschaftlichen Kurs gibt jedoch der König in seinen „Orientierungsreden“ vor. Im vorgezeichneten Aktionsrahmen sind dennoch die Parteien, die Gewerkschaften und die diversen Vereinigungen für Menschenrechte, Frauenrechte oder für die Förderung der berberischen Sprachen und Kultur wichtige Akteure, weil sie nicht nur spezifische Interessen vertreten, sondern auch die Stimmungslage in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in das Zentrum der Entscheidungsfindung hinein vermitteln. Kapitel II : Marokko 235 Vereinfacht ausgedrückt, den (legalen) Oppositionsparteien und Interessengruppen kommt die Aufgabe zu, „Volkes Stimme“ zu artikulieren. Die Regierungsparteien nehmen diese Aufgabe nur begrenzt wahr; sie arbeiten primär dem König direkt zu und „unterstützen“ ihn bei seiner Pflichterfüllung.6 Im königlichen Beraterstab, bei den Walis der Provinzen, den Generaldirektoren von Banken und wichtigen staatlichen Unternehmen, auf den Posten in der Regierung, die traditionell durch den König direkt besetzt werden, aber auch auf den Direktionsebenen der Ministerien werden deswegen in der Regel gezielt Technokraten und keine Parteipolitiker eingesetzt. König Hassan hat diese Strategie, Technokraten/Spezialisten mit einer Ausbildung an international renommierten Institutionen zu berufen, ab 1996 umgesetzt und unter König Mohammed wurde sie ausgebaut. 1.2. Institutionalisierung von Opposition: Ein Mittel zur Stärkung der Kontrolle und Legitimität der Monarchie Politische Antagonismen, so der in Casablanca lehrende Politologe Mohammed El Ayadi in einem Gespräch im Frühjahr 2008, gäbe es in Marokko unter den legalen Parteien kaum noch; die Charakterisierung von Parteien auf der Basis der alten Zuordnungen „links“, „rechts“, „Mitte“ sei nicht mehr signifikant. Alle legalen Parteien wollten eigentlich nur eines, regieren; sie übernehmen sozusagen „gezwungenermaßen“ die Rolle der Opposition, wenn sie nicht an der Regierung beteiligt werden. Ihr Programm unterscheidet sich in der Regel kaum von dem der Regierung. Eine Ausnahme sind allerdings die Islamisten. Aber auch der islamistische PJD hat sich durch die Entscheidung Mitte der 1990er Jahre, legale Parteiarbeit zu leisten, an Wahlen teilzunehmen und „den Weg durch die Institutionen“ anzutreten, zur „Mäßigung“ im Verhalten und zur Anerkennung der marokkanischen Monarchie bereit erklärt. Der „Oppositionscharakter“ der Partei hat sich dadurch programmatisch wie z.B. bei Stellungnahmen zu politischen Maßnahmen der „Regierung des Königs“ und bei der Wahl der Mittel zum Ausdruck von „Nichtübereinstimmung“ gewandelt. Um seinen legalen Status nicht zu gefährden, 6 Vgl. die Ausführungen bei Santucci, Jean-Claude: Les partis politiques marocains à l’épreuve du pouvoir, in: REMALD, Rabat, Nr. 24, 2001, S. 83-100 (dort Kapitel V). 236 Staatlicher Umgang mit Opposition drückt auch der PJD nur von Zeit zu Zeit „Widerstand“ aus. Der „militantere“ Diskurs des PJD ist in die ihm nahestehende Vereinigung MUR „ausgelagert“ (s.u.). Trotz der engen Vorgaben für das politische Handeln von legalen Organisationen hat sowohl König Hassan als auch König Mohammed durch die Parteien- und Wahlgesetzgebung Einfluß auf die Parteienlandschaft, die Wahlen und damit die Zusammensetzung des Parlaments (und der kommunalen Versammlungen) genommen.7 König Hassan wollte in den 1990er Jahren die Legitimität der Monarchie stärken, indem er versuchte, die damaligen Oppositionsparteien Parti de l’Istiqlal (PI; arabisch-nationalistisch) und Union Socialiste des Forces Populaires (USFP; sozialistisch) zum Eintreten in die Regierung zu bewegen. Von einem „Seitenwechsel“ dieser beiden Oppositionsparteien erwartete der König Ideen und Konzepte für eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, mit denen die sozialen Härten der Strukturanpassung, die auf der marokkanischen Bevölkerung lasteten, erträglich und akzeptabel gestaltet und die Reformpolitik und ihre Notwendigkeit glaubwürdig vermittelt werden könnten. Die gewünschte „Alternance“8 (Regierungsübernahme) der bisherigen wichtigsten Oppositionsparteien im Parlament erfolgte schließlich 1997, nachdem der König einigen Forderungen des PI und der USFP entgegengekommen war: Dazu gehörte 1996 eine Verfassungsänderung, mit der die Direktwahl des Repräsentantenhauses und eine zweite, indirekt gewählte Kammer des Parlaments (Chambre des Conseillers) eingeführt wurde. In den 1990er Jahren hat sich dementsprechend auch die Funktion von Wahlen und die Art und Weise der Durchführung modifiziert. Hierzu prägnant Dirk Axtmann: „Dienten Wahlen in Marokko bis in die 1980er Jahre hinein in erster Linie zur Erzeugung künstlicher Mehrheiten für die „Palastparteien“ MP, UC, RNI und 7 8 Vgl. zum Folgenden ausführlich die Abschnitte zu Marokko in: Axtmann, Dirk: Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika. Verfassungs- und Wahlrechtsreformen in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988-2004, Wiesbaden 2007. Vgl. hierzu die Analyse des Sozialwissenschaftlers Abdelkébir Khatibi: L’Alternance et les partis politiques, Rabat 1999, 114 S. Kapitel II : Marokko 237 PND,9 so dienten die Wahlen von 1993 und noch mehr die von 1997 zur Bildung einer Regierung der alternance unter Beteiligung der bisherigen Opposition. […] ihr „caractère fondateur“ (bestand) doch unabweisbar in der konsensuellen Form der Wahlorganisation, im geringeren Ausmaß in Wahlbetrug und in der stärkeren Rückbindung der Regierungskoalition an die Mehrheitsverhältnisse in der Repräsentantenkammer. Dieser Funktionswandel der marokkanischen Wahlen hat sich […] im Wahlrecht in einer Reihe von Zugeständnissen der Regierung an die Oppositionsparteien niedergeschlagen.“10 Weitere Wahlrechtsmodifikationen erfolgten unter König Mohammed 2002 und 2006: Eine wesentliche Neuerung 2002 war die Einführung von „Nationalen Listen“ zur Vergabe von 30 Sitzen im Repräsentantenhaus, die vorzugsweise an Frauen gehen sollten. Die Regierung hatte den Auftrag, die Aufstellung von Frauen als Kandidatinnen für das Repräsentantenhaus auf dem ersten Listenplatz zu empfehlen. Die wichtigste Änderung des Wahlgesetzes 2006 betraf die Sperrklausel für den Einzug ins Parlament, für die Listenkandidatur und die individuelle Kandidatur, nachdem die 2002 eingeführte 3%-Hürde nicht dazu beitrug, die Anzahl der Parteien zu reduzieren. Die vom Innenministerium vorgeschlagene 7%-Hürde konnte allerdings nicht durchgesetzt werden; nach langwierigen Diskussionen wurde für die Wahl ins Parlament die Sperrklausel bei 6 % und für die Aufstellung von Kandidaten auf Listen oder auf individueller Basis bei 3 % festgelegt. Mit dieser Regelung werden größere Parteien (oder Parteizusammenschlüsse) begünstigt. Die Modifikation des Parteiengesetzes von 200611 zwang ferner alle Parteien, sich innerhalb von 18 Monaten den neuen Bestimmungen anzupassen; das bedeutete u.a., die Parteiinstanzen auf einem Parteitag durch Wahlen zu bestimmen und regelmäßig Parteitage abzuhalten sowie den Frauenanteil in allen Instanzen zu erhöhen. 1.3. Opposition begünstigende Konflikte und Problemlagen Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Zeit seit 1999, d.h. seit der Inthronisierung König Mohammed VI. Die vier wichtigsten 9 10 11 MP/Mouvement Populaire; UC/Union Constitutionelle; RNI/Rassemblement National des Indépendants; PND/Parti National Démocrate. Axtmann, a.a.O. (Anm. 7), S. 207. Dahir 1-06-18, Staatsanzeiger Nr. 5400, 2.3.2006. 238 Staatlicher Umgang mit Opposition Konfliktlinien, die seit 1999 Opposition hervorriefen oder fortgesetzt begünstigen, haben sozioökonomische, politisch-ideologische (säkulare und religiöse) und identitäre Ursachen, die sich zum Teil überlappen. - Sozioökonomische Konflikte: Die wirtschaftliche Lage Marokkos ist gekennzeichnet von einem Defizit an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor sowie im Dienstleistungsbereich, einer ungleichen regionalen Entwicklung mit besonderen Problemzonen im Norden, im Westen („Oriental“) und im Süden (Südosten) des Landes, einer hohen Importabhängigkeit von Energie (mit gravierenden Konsequenzen für das Preisstabilisierungssystem), einem nach wie vor zu hohen Staatsanteil im produktiven Sektor, überfälligen weiteren Liberalisierungsschritten sowie einem hohen Bedarf an genereller Restrukturierung und Optimierung von Arbeitsabläufen (ob Verwaltung, Banken, Industrie, Landwirtschaft, Tourismus usw.) und daraus resultierend einer zu geringen Attraktivität für ausländische Investoren. Die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit bzw. ihrer Teilgruppen (wie Jugendliche, Frauen, Arbeitslose) ist von Armut, absoluten Bildungsdefiziten, ungleichen geschlechts- und schichtspezifischen Chancen beim Zugang zu Arbeit, Bildung und bei der Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte geprägt. Diese sozioökonomischen Probleme haben bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen „Widerstand“ hervorgerufen. Sie manifestieren ihre Nichtübereinstimmung mit der Politik der Regierung und ihrer sozialen Situation über ihre jeweilige Interessenvertretung (Berufsorganisationen und Gewerkschaften), speziell gegründete Vereinigungen (z.B. die Vereinigung arbeitsloser Diplomierter) oder durch spontane, punktuelle Protestaktionen. Die sozioökonomischen Probleme werden von politisch engagierten Organisationen (vor allem islamistischer Orientierung) als Aufhänger genutzt, um gegen die Regierung zu mobilisieren. König Mohammed mißt der erfolgreichen Förderung der sozioökonomischen und menschlichen Entwicklung eine hohe Bedeutung für die „innere Befriedung“ und Anbindung der Bevölkerung bei: Die Rede des Königs zur Parlamentseröffnung am 12. Oktober 2007 verdeutlichte, daß sozioökonomisches Engagement höchste Priorität genießt. Erwartet wird von diesem Engagement ein positiver Effekt auf die Jugend, um die Attraktivität islamistischer Ideologie unter Jugendlichen zu mindern. Erhofft wird von staatlicher Seite, daß damit (langfristig) islamistischer Extremismus und Terrorismus eingedämmt werden kann. Das entwicklungspolitische und soziale Engagement soll die Konflikte mit sozial marginalisierten Gruppen (Arbeitslosen) beilegen helfen. Die Entwicklungsförderung in der Westsahara wiederum soll gezielt die Anbindung der westsaharischen Bevölkerung an Marokko Kapitel II : Marokko 239 gewährleisten. Der König will dadurch breite Unterstützung für seinen 2005 vorgelegten Plan zur Lösung des Westsaharakonflikts sichern. Dieser Plan sieht eine weitreichende Autonomie für die Westsahara vor. - Identitärer Konflikt: In diesem Konflikt, der seit 1999 sukzessive einer Lösung entgegen geführt wird (s.u., 3.), steht die Amazigh-Bewegung im Mittelpunkt, die sich seit den 1980er Jahren für eine gleichberechtigte Anerkennung und Förderung der berberischen Kultur und Sprachen in Marokko einsetzte. Diese Forderung der Amazigh-Bewegung, die plurale Identität Marokkos verfassungsmäßig anzuerkennen, rief auf islamistischer und arabisch-nationalistischer Seite Ablehnung und Gegnerschaft hervor. Die vom König 2001 öffentlich ausgesprochene Anerkennung der Amazigh-Komponente der marokkanischen Identität hatte auch Positionsänderungen bei den „politisch integrierten“ Islamisten und den arabisch-nationalistisch orientierten Parteien (wie dem PI) zur Folge. Die Amazigh-Bewegung versteht sich dezidiert antiislamistisch und antimonopolistisch, wodurch automatisch ein Konflikt mit der islamistischen Bewegung programmiert ist. Die identitären Forderungen dienen einigen Amazigh-Vereinigungen und Aktivisten (die allerdings innerhalb der Bewegung eine Minderheit sind) als Ausgangspunkt, um entwicklungspolitische und ökonomische Forderungen zu stellen. Die Gewalt, die durch Manipulation identitärer und ethnischer, in der Regel emotionsgeladener Argumente leicht frei gesetzt werden kann, veranlaßte Vertreter der Amazigh-Bewegung auf die Priorität hinzuweisen, die einer Lösung des identitären Problems für den inneren Frieden zukommt. - Politisch-ideologische Konflikte: Sie resultieren, aus unterschiedlichen Vorstellungen über die Staats- und Gesellschaftsorganisation und die Religionsinterpretation. Den Islamisten stehen vereinfacht ausgedrückt all jene gegenüber, die das Staats- und Gesellschaftsmodell sowie das Religionsverständnis des Königs teilen oder säkular orientiert sind. Der Konflikt hat eine zusätzliche machtpolitische Komponente, wenn islamistische Organisationen (wie der islamistische PJD) in langfristiger Perspektive politische Ambitionen verfolgen und lediglich aus taktischen Überlegungen heraus eine Integration in das politische System akzeptieren und sich den Spielregeln (s.o.) der rhetorischen Mäßigung, der formalen Anerkennung des bestehenden Systems und der Unterstützung der Politik des Königs unterwerfen. Die Auseinandersetzungen zwischen Vertretern islamistischer Konzepte und Ideen und ihren Gegnern findet an den Universitäten und anläßlich von Demonstrationen zum Teil gewaltsam statt. Involviert sind meist Anhänger der „geduldeten“, aber nicht legalisierten islamistischen Jamacat al-adl wal-ihsan (Vereinigung 240 Staatlicher Umgang mit Opposition Gerechtigkeit und Wohlfahrt). Gewaltaufrufe und Gewaltanwendung geht auch von Anhängern diverser salafitischer Gruppen und Imame aus, die einem Islam wahhabitischer Prägung verpflichtet sind; schließlich wird Gewalt von islamistischen Gruppen salafitischer Orientierung ausgeübt, die sich in die „Tradition“ al-Qaidas stellten, den „Jihad gegen alle Ungläubigen“ propagieren und seit 2003 mehrere Selbstmordanschläge in Marokko verübten. - Problem- und Konfliktbereich Westsahara: Das auch 2008 noch ungelöste Westsaharaproblem birgt Konfliktstoff, dessen Entwicklungspotential und Facetten noch nicht abschätzbar sind. Wenngleich die Westsaharaprovinzen seit 1975 durch Begünstigungen (Investitionen, wirtschaftlicher und infrastruktureller Ausbau) an Marokko gebunden werden sollen und die Bevölkerung in der unter marokkanischer Verwaltung stehenden Westsahara im Vergleich zur Bevölkerung in den marokkanischen „Mutterland“-Provinzen die niedrigste Armutsrate aufweist, kam es im Mai 2005 zu sozioökonomisch bedingten Konfrontationen zwischen Teilen der Bevölkerung und den Sicherheitsorganen. Die Gefahr der politischen Instrumentalisierung sozioökonomischer Themen ist vorhanden; zumal Versuche der Gegner einer marokkanischen Autonomielösung für die Westsahara versuchen, auch in den westsaharischen Provinzen Agitation zu betreiben. König Mohammed hat in seiner Rede zum 30. Jahrestag des Grünen Marsches in die Westsahara am 6. November 2005 seinen Vorschlag der „erweiterten Autonomie“ zur Lösung des Westsaharakonflikts angekündigt. Seit November 2005 wird der Vorschlag des Königs (1) auf diplomatischem Parkett, (2) innenpolitisch gegenüber den marokkanischen Parteien und (3) gegenüber der sahrauischen Bevölkerung in der Westsahara propagiert. Breite Unterstützung wird nicht nur aus dem Ausland, sondern auch innermarokkanisch und auf sahrauischer Seite gesucht. Um diese Zustimmung zu erreichen, fördert der König quasi das „joint ownership“ an dem Lösungsvorschlag durch die Einbeziehung der Parteien und angesehener der Vertreter der westsaharischen Gesellschaft; sie sollen im Vorfeld der Detailausarbeitung des Vorschlags konstruktiv ihre Vorstellungen einbringen. Im Februar 2006 wurde zudem der Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Förderprogrammes für die Westsahara bekannt gegeben. 2006-2010 sollen 67 Mio. DH zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Exklusion bereitgestellt werden. 200 Mio. DH wurden ferner zur Förderung von Arbeitsplätzen für junge Erwachsene bereitgestellt (Hilfe für den Schritt in die Selbständigkeit); ein Regionalfonds wurde für die Finanzierung von sozialen Projekten gegründet; diverse neue Infrastrukturmaßnahmen wurden eingeleitet. Am 22. April 2006 amnestierte der König 48 Sahrauis, darunter Kapitel II : Marokko 241 der Polisario-Unterstützer Ali Salem Tammek, der im Mai 2005 zur bewaffneten Erhebung gegen Marokko in den westsaharischen Provinzen aufgerufen hatte. Auf seiner fünftägigen Rundreise (20.-25. März 2006) hatte der König sein Autonomieprojekt in großen Zügen vorgestellt und am 25. März 2006 den Königlichen Konsultativrat für Saharische Angelegenheiten, CORCAS (Conseil Royal Consultatif des Affaires Sahariennes), eingesetzt. Der Rat soll als Vermittlerinstanz zwischen westsaharischer Bevölkerung und König/Staatsführung dienen. Er soll die Wünsche und Belange der Bevölkerung artikulieren, um einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Die Zusammensetzung des Rates weist darauf hin, daß der König alle Komponenten der sahrauischen Gesellschaft einbeziehen und für den Plan gewinnen will: Neben Notabeln/Stammesführern und den Repräsentanten der gewählten (lokalen/regionalen) Instanzen (50 % der Mitglieder) sind die jüngere Generation, die „neuen Eliten“, Unternehmer, engagierte Vertreter der Zivilgesellschaft und vor allem auch Frauen vertreten. Aufgenommen in den Rat wurde auch Khalil Rkibi, der Vater des Polisario-Führers Mohammed Abdelaziz. Da die Proteste in der Westsahara vom Mai 2005 in erster Linie sozioökonomisch bedingt waren, kann davon ausgegangen werden, daß die verstärkten Fördermaßnahmen und Investitionstätigkeiten zum Abbau von Armut und Arbeitslosigkeit unter jungen Erwachsenen eine positive, unterstützende Stimmung schaffen können. Eine Lösung des Konflikts um den zukünftigen (internationalen) Status der Westsahara ist allerdings noch nicht in Sicht. 2. Opposition in Marokko und das Problem der Positionierung gegen den König 2.1. Legale Opposition Parlamentarische Opposition An den Legislativwahlen vom 7. September 2007 beteiligten sich lediglich 37 % der Wahlberechtigten.12 Darin spiegelt sich nicht nur der relativ begrenzte Einfluß und das geringe Ansehen von Parteien und ihrer parlamentarischen Tätigkeit bei den Wahlberechtigten wider. Die ge12 Interessanterweise lag die Wahlbeteiligung in den marokkanisch verwalteten Westsaharaprovinzen zwischen 49 und 62 %. Vgl. Die Karte in: Jeune Afrique, Paris, 30.9.2007, S. 49 (Taux de participation région par région). 242 Staatlicher Umgang mit Opposition ringe Wahlbeteiligung kann auch als Weigerung verstanden werden, an einem formalen Vorgang teilzunehmen, der ohne reale Auswirkungen für die Interessen der Wählenden ist, weil weder die Politik von den Parteien geprägt wird, noch die Entscheidungen von ihnen abhängen. Von König Mohammed VI., der alle zentralen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen „besetzt“ und konkret bestimmt, erwarten einzelne Bevölkerungs- und Interessengruppen, daß er direkt eingreift, ihr Problem löst und ihre Lage verbessert. Sie richten dementsprechend ihre Beschwerden, Forderungen und Proteste an „seine Regierung“, demonstrieren vor „seinem Parlament“. Parteien spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Legislativwahl vom 2007 hat selbst den Islamisten des PJD, die eine sehr offensive Wahlkampagne führten und sich das Ziel gesetzt hatten, mindestens 80 Sitze (von 325) im Repräsentantenhaus zu erringen, nicht zu dem erhofften Durchbruch verholfen. Mit 46 Sitzen sind sie allerdings zweitstärkste Partei im Repräsentantenhaus nach dem PI (52 Sitze) und vor dem Mouvement Populaire (MP; 41 Sitze). Die aus den Wahlen 2002 als stärkste Partei hervorgegangene USFP kam 2007 nur auf 38 Deputierte und ist damit nur noch die fünftstärkste Partei im Parlament. Zum Premierminister ernannte König Mohammed diesmal keine unabhängige Persönlichkeit, sondern den PI-Präsidenten Abbas El Fassi. In der neuen Regierung vom 15. Oktober 2007 sind elf parteiunabhängige Persönlichkeiten vertreten, die vom König ernannt wurden; die 23 anderen Regierungsposten teilen sich vier Parteien: der PI, die „linke“ Partei USFP, der gleichfalls aus dem linken Spektrum hervorgegangene, modernistisch und säkular eingestellte Parti du Progrès et du Socialisme (PPS; 17 Sitze) und der Rassemblement National des Indépendants (RNI; 39 Sitze), eine dem Königshaus eng verbundene, 1978 auf Initiative von König Hassan II. gegründete Partei. Der MP als drittstärkste Kraft im Parlament hat wegen parteiinternen Querelen die Regierungsbeteiligung abgelehnt. Eine Regierungsbeteiligung des islamistischen PJD – obwohl zweitstärkste Partei im Parlament – war nicht erwogen worden. Kapitel II : Marokko 243 Zur parlamentarischen Opposition zählen insgesamt 18 Parteien. Das Spektrum der Opposition umfaßt zwei islamistische Parteien: den Parti pour la Justice et le Développement (PJD; 46 Sitze) und den unbedeutenden Parti de la Renaissance et de la Vertu, eine 2005 gegründete Abspaltung des PJD (PRV; 1 Sitz). Mit Ausnahme des MP und der Union Constitutionnelle (UC; 27 Sitze), die wie der RNI einige Jahre zuvor 1983 auf Initiative König Hassans gegründet wurde, sind alle anderen Parteien des überwiegend linken und arabisch-nationalistischen Spektrums mit nur wenigen Sitzen repräsentiert; sie erhielten zwischen einem und neun Sitzen, d.h. zwischen 0,31 % bis maximal 2,77 % der abgegebenen Stimmen. Das Eingreifen des Königs in alle wichtigen Politikbereiche und Aufgabenfelder hat direkte Auswirkungen für die Regierungsmitglieder und die Parlamentarier, die alle – ob in der Regierung oder in der Opposition – die Funktion von Unterstützern und von „Ausführenden der Politik des Königs“ übernehmen. Die Gegenleistung sind Privilegien vor allem materieller Art. Der politische Spagat des PJD Der PJD versucht – trotz seiner gezielt angestrebten Integration in das politische System – seine Rolle als „Opposition“, die real (s.o.) sehr eingeschränkt ist,13 von Zeit zu Zeit gegenüber seinen Anhängern und Mitgliedern herauszustellen. Mit kleinen Provokationen will der PJD seinen Handlungsspielraum „testen“ und gegenüber der militanteren Basis „Biß“ zeigen.14 Der derzeit amtierende Generalsekretär des PJD, Saadeddine Othmani, ist seit 1982 in der Jamaca al-islamiya um Abdelilah Benkirane aktiv gewesen, die sich zu diesem Zeitpunkt von der Jamacat alshabiba al-islamiya (Bewegung der marokkanisschen islamischen Ju13 14 Wie die Zustimmung der PJD-Parlamentarier zum modifizierten Familienstatut im Januar 2004, obwohl die Partei (und ihre Klientel) Vorbehalte hatte. Vgl. z.B. die „Werte- und Moralkampagne“ vom Februar 2008, als in Ksar El-Kébir (Nähe Tanger) Aktivisten des PJD den „allgemeinen Werteverfall“ beklagten und ein Vorgehen gegen Homosexuelle guthießen; www.telquel-online.com, Nr. 312, Februar 2008 (PJD. Ça dérape!). Vgl. auch Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 7.3.2008 (Neue Sittenwächter im Kampf gegen ein altes „Laster“); Libération, Casablanca, 28.2.2008 (La parti islamique marocain bat une campagne très morale). 244 Staatlicher Umgang mit Opposition gend), geleitet von Abd al-Karim Muti, distanzierte, weil Muti für einen Gewaltkurs eintrat. 1992 benannte sich die Jamaca al-islamiya um in Harakat al-islah wal-tajdid (Bewegung für Reform und Erneuerung); 1996 fusionierte die Vereinigung mit der 1994 gegründeten Vereinigung Rabitat al-mustaqbal al-islami (Liga der islamischen Zukunft) und nahm den Namen Harakat al-tawhid wal-islah (Bewegung für Einheit und Reform bzw. Mouvement pour l’Unité et la Réforme/MUR) an, unter dem sie bis heute als Vereinigung fortbesteht. Die Verbindung zwischen PJD und MUR erfolgt nicht nur auf individueller Basis (durch Doppelmitgliedschaften einzelner PJD-Mitglieder). Der MUR ist vielmehr ein zentraler Baustein, auf dem der PJD seine Parteiarbeit auf- und ausbaute.15 Die Integration des PJD in das politische System zwang die Partei zur Anpassung an die geltenden Regeln, um den legalen Status nicht zu verlieren. Ein „doppelter Diskurs“ ist deswegen gängige Praxis unter den einzelnen Mitgliedern der PJD-Führung. Der PJD um seinen Generalsekretär Othmani tritt nach außen „moderat“ auf; nach innen wird die Politik der Regierung durch andere Kader kritisiert. Gegenüber den Mitgliedern werden zudem „radikal-moralisierende“ Positionen vertreten. Die Umsetzung der Scharia als politisches Ziel hat in diesem internen Diskurs nach wie vor ihren Stellenwert. Die Zeitschrift des MUR, Al-Tajdid (Erneuerung), veröffentlicht in diesem Tenor entsprechende Artikel.16 Weil der PJD als Partei eine breite, über die Reichweite der Vereinigung MUR hinausgehende Basis und Wählerschaft anstrebt, um das politische 15 16 PJD-Deputierte sollen monatlich ca. 7.000 Dirham (620 €) an die Vereinigung MUR abführen. Vgl. z.B. www.telquel-online.com, Nr. 301, Dezember 2007 (Interview. Mustapha Kalfi: „Attajdid critiquera le PJD s’il le faut“). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, daß die PJD-Führung sich nach den islamistischen Selbstmordanschlägen vom 16.5.2003 und den darauf folgenden Verhaftungen von Gewalt predigenden Imamen der „Salafiya Jihadiya“, die für einen rigorosen Islam wahhabitischer Prägung eintreten und den „heiligen Krieg“ gegen alle Ungläubigen propagieren, nicht dezidiert und vehement von diesen Positionen oder Personen absetzte. Erst als Stimmen laut wurden, die nach einem Verbot islamistischer Parteien (d.h. des PJD) riefen, modifizierte die PJD-Führung ihre Positionen. Seither ist das öffentliche Verhalten ausgewogener: Die PJD-Führung distanzierte sich denn auch 2005 deutlich von der offensiven Strategie des Führers der Jamacat al-adl wal-ihsan, Abdessalam Yassine, und dessen Aufruf zum „zivilen Ungehorsam“. PJD-Generalsekretär Othmani meinte in diesem Zusammenhang: Die Jamacat al-adl wal-ihsan müsse sich an die Gesetze halten. Kapitel II : Marokko 245 Gewicht der Organisation zu stärken, ist dieser doppelte Diskurs notwendig. Jede „Fraktion“ distanziert sich von Zeit zu Zeit von den Äußerungen der anderen, um die eigene Glaubwürdigkeit zu betonen, wohl wissend, daß beide dasselbe Ziel verfolgen und es sich lediglich um eine „Arbeitsteilung“ handelt: Die PJD-Führung um Othmani sichert das „moderate“ Image im In- und Ausland und den legalen Handlungsspielraum. Die Vertreter des radikaleren Diskurses wie Benkirane und Ramid halten die Verbindung zur Basis der Organisation und zeigen dieser, daß der PJD den islamistischen Idealen verpflichtet ist und die eigentlichen islamistischen Ziele nicht aufgegeben hat. Die anderen Parteien der parlamentarischen Opposition sind „unauffällig“ und erfüllen ihre vorgegebene Funktion (s.o.). Offener Widerstand der im Parlament vertretenen Parteien gegen einen Vorschlag des Königs ist nicht Bestandteil der politischen Kultur Marokkos und würde diese Parteien auch wiederum bei großen Teilen der Bevölkerung in ein schlechtes Licht rücken. Die Gewerkschaftsverbände, die über starke Parteibindungen verfügen, sind in der zweiten Kammer des Parlaments repräsentiert und funktionieren vergleichbar kooperativ wie die Parteien; der Verhandlungsweg wird die letzten Jahre der Konfrontation vorgezogen.17 Legale Opposition mit Profil außerhalb des Parlaments Zur legalen parteipolitischen Opposition, die nicht im Parlament vertreten ist, zählen Kleinstparteien, die im großen und ganzen politisch-ideologisch dasselbe Spektrum wie die im Parlament vertretenen Parteien abdecken. Im Gegensatz zu diesen unbedeutenden Gruppen sind einige regierungs- und systemkritische Aktivisten, die in Vereinigungen wirken, durchaus profiliert und verfügen insofern über Einfluß, als der König ihre Anliegen aufgriff und – in seinem Rhythmus und auf seine Weise – ihr Hauptanliegen oder zumindest Teile ihres Anliegens übernahm und wie z.B. die Anliegen von Frauenorganisationen, Menschenrechtsorganisationen und Amazigh-Vereinigungen in politische Maßnahmen umsetzte. 17 Vgl. auch Catusse, Myriam: A propos de «l’entrée en politique» des «entrepreneurs» marocains, in: Naqd, Algier, Nr. 19-20, 2004, S. 127-153, besonders S. 139-140. 246 Staatlicher Umgang mit Opposition Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die älteste für AmazighBelange eintretende Vereinigung, die Association Marocaine de Recherche et d’Echange Culturel (AMREC). Sie wurde 1967 gegründet und wählte damals bewußt einen Namen, in dem das eigentliche Ziel, die Förderung der Amazigh-Kultur und Berbersprachen (Tamazight), nicht direkt zum Ausdruck kam, um die überwiegend proarabisch ausgerichteten politischen Akteure nicht zu provozieren. Mitte der 1970er Jahre gründeten sich weitere Amazigh-Vereinigungen. Die Amazigh-Bewegung ist landesweit aktiv. Erst 1990, als sich eine politische Liberalisierung in Marokko abzeichnete, wurde der Begriff „Amazigh“ als Begriff lanciert und am 5. August 1991 von sechs Vereinigungen die Charta von Agadir verabschiedet. In dieser Charta sind die Hauptforderungen der AmazighBewegung aufgelistet: - verfassungsmäßige Anerkennung des Berberischen als nationale und offizielle Sprache; Einführung des entsprechenden Sprachunterrichts; Einführung des Berberischen im audiovisuellen Bereich; Gründung einer nationalen Einrichtung zur Förderung der Sprache und Kultur; Anerkennung des Berberischen im Alltagsleben als Verkehrssprache (bei Gericht, in der Verwaltung usw.). Zu einem Durchbruch bei der Erfüllung von Teilforderungen der Charta von Agadir kam es allerdings erst nach dem Tode König Hassans 1999 (s.u., Abschnitt 3). Unter den Amazigh-Vereinigungen gibt es einige wenige, die die identitäre Frage instrumentalisieren, um sozioökonomische Forderungen zu formulieren. So z.B. Gruppen, die eine Autonomie ihrer Region (Rif, Sousse) fordern. Eine breite Anhängerschaft haben diese Gruppen nicht. Ausgangspunkt für die Autonomieforderungen sind jedoch reale strukturelle Entwicklungsprobleme in den betreffenden Regionen (massive Landflucht) und die dortige hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die überwiegende Mehrzahl der Vereinigungen in Marokko ist als loyal und kooperativ zu bezeichnen; sie fügen sich in den legalen Rahmen ein. Sie sind jedoch insofern „Opposition“, als einige von ihnen in- Kapitel II : Marokko 247 nerhalb des zur Verfügung stehenden Handlungsrahmens die politische und gesellschaftliche Entwicklung sehr kritisch kommentieren, ein spezifisches gesellschaftliches und politisches Anliegen verfechten und Maßnahmen fordern, die sich von der bisher umgesetzten Politik der Regierung unterscheiden. König Mohammed nimmt seit seinem Amtsantritt sukzessive der Opposition aus diesen Reihen die Spitze, weil er ihre zentralen Forderungen aufgriff und entsprechende politische Maßnahmen einleitete oder ankündigte. Die Frauenförderung und Frauengleichstellung, die identitäre Frage bzw. Amazigh-Förderung oder die Verbesserung der Menschenrechtssituation und die Verankerung von Rechtsstaatlichkeit, aber auch Forderungen zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung in einigen peripheren Regionen (wie z.B. Nordmarokko/Rif) sind hierfür offenkundige Beispiele. Mit den jeweils in diesen Bereichen engagierten Vereinigungen verbesserte sich nicht nur die Kommunikation, es wurde vielmehr auch eine Diskussions- und Kooperationsbasis geschaffen, in die sich die legalen Vereinigungen zur Förderung ihres Anliegens einbinden können. Sie unterliegen allerdings denselben Tabus und Vorgaben wie die Parteien. 2.2. Militant auftretende Opposition Die arbeitslosen Diplomierten Militante Opposition ist vor allem unter arbeitslosen (diplomierten) Studienabgängern und arbeitslosen Behinderten anzutreffen, die ihrer „Nichtübereinstimmung“ mit der Arbeitsmarktsituation und ihrer spezifischen sozialen Lage zum Teil in permanenten Protestaktionen (z.B. vor dem Parlamentssitz in Rabat) Ausdruck verleihen. Sie griffen in den letzten Jahren auch immer wieder zum Mittel des Hungerstreiks, um auf Seiten der Regierung Handlungsdruck zu erzeugen. Die arbeitslosen Diplomierten sind straff organisiert; zur größten Vereinigung (rund 7.000 Mitglieder) zählt die Association Nationale des Diplômés au Chômage (ANDC). Während die Streikverhinderungsstrategie der Regierung gegenüber den Gewerkschaften (sozialer Dialog, Verhandlungen) relativ erfolgreich ist (deutlicher Streikrückgang seit 2001), greifen die arbeitslosen Diplomierten zum Teil zu drastischen und erpresserischen Maß- 248 Staatlicher Umgang mit Opposition nahmen, um sich „Recht zu verschaffen“ (d.h. einen Arbeitsplatz in der Verwaltung zu sichern). Im März 2006 wollten Mitglieder einer kleinen radikalen Vereinigung durch Selbstmorddrohungen (und Selbstanzündung) die Staatsführung zur Einstellung von Personal in staatlichen Einrichtungen zwingen. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen arbeitsloser Diplomierter kam es wiederholt zu Solidarisierungsaktionen legaler islamistischer Gruppen wie dem islamistischen PJD, der die Arbeitsmarktmisere zur Mitgliederwerbung nutzte. Die Gefahr der Eskalation einzelner Kundgebungen ist nicht auszuschließen. Die arbeitslosen Diplomierten sind zwar ein Störfaktor, sie lösten aber bislang keine breite Solidaritätsbewegung in der Bevölkerung aus. Die Vergabe von Arbeitsplätzen beendet das jeweilige individuelle Engagement und die Militanz. Diese Proteste und die Bereitschaft des Einzelnen, den Staat durch angedrohte „Gewalt gegen sich selbst“ zur lebenserhaltenden „Fürsorge“ durch einen Arbeitsplatz zu zwingen, münden für den Staat, egal wie er reagiert, in ein Dilemma: Gibt er nach und „verteilt“ Arbeitsplätze, wird diese Form der Druckausübung zunehmen. Bleibt er unnachgiebig, dann besteht die Gefahr einer weiteren Radikalisierung dieser Personengruppe; spätestens dann, wenn erste Tote durch Hungerstreik zu beklagen wären, wäre sowohl innenpolitisch als auch auf internationaler Ebene das Image der Staatsführung beschädigt. Die sozialen Protestbewegungen Im Zusammenhang mit den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Energie kam es ab Herbst 2007 vereinzelt zu spontanen Protesten der Bevölkerung (u.a. in Sefrou, Casablanca). Diese Proteste können Gewalt freisetzen, verlieren aber schnell an Militanz und Dynamik, wenn die Staatsführung die Forderungen aufgreift und im Sinne der Protestierenden mit der Ankündigung der Aufrechterhaltung der Subventionen für Grundnahrungsmittel und einer Lohnsteigerung für Angestellte des öffentlichen Dienstes positiv reagiert. Es handelt sich bei sozialen Protesten – wie der Verlauf der sozialen Unruhen von 1981 und 1984 in Marokko zeigte – zudem um Bewegungen, die Opposition jeglicher Form bündeln können, wenn sie sich über mehrere Tage erstrecken. Da- Kapitel II : Marokko 249 bei besteht die Gefahr, daß sie von einer politisch-ambitionierten Opposition instrumentalisiert werden. Um eine solche Instrumentalisierung zu vermeiden, reagierte die marokkanische Staatsführung sehr schnell auf die sozialen Konsequenzen der Preissteigerungen und mediatisierte ausgiebig die geplanten Maßnahmen. Die geduldete islamistische Jamacat al-adl wal-ihsan Die Jamacat al-adl wal-ihsan (JAI) ist wohl die auch im Ausland Dank intensiver internationaler Mediatisierung ihrer Aktivitäten18 bekannteste nicht legalisierte, aber geduldete islamistische Vereinigung Marokkos. Sie wird von vielen marokkanischen und ausländischen Analysten als islamistische Organisation mit dem größten gesellschaftlichen Einfluß angesehen, weil sie sich bislang nicht wie der PJD in die politischen Institutionen integrierte und dadurch ihren eigentlichen Charakter als Fundamentalopposition aufrechterhalten konnte. Wenngleich konkrete Zahlen hinsichtlich der Mitgliedschaft und Anhängerschaft nicht genannt werden können,19 so ist auffallend, daß die Versammlungsorte (Privathäuser und private Moscheen), in denen Prediger der Vereinigung auftreten, immer noch überfüllt sind. Mit ein Grund ist allerdings, daß der Besuch privater Moscheen und Versammlungsorte sich auch deswegen verstärkte, weil die staatliche Kontrolle über die staatlichen Moscheen und die dort predigenden Imame verschärft wurde, um die Verbreitung extremistischer Religionsinterpretationen und Ideen zu verhindern.20 Stark engagiert sind Mitglieder der JAI an den Universitäten, 18 19 20 Der Tochter Abdessalam Yassines, Nadia Yassine, kommt eine wichtige Rolle bei der internationalen Kommunikation der Anliegen der Vereinigung und der Verbreitung von Kritik am marokkanischen System zu. Vgl. auch die Webseite der Vereinigung www.aljamaa.com. Die Mitgliederzahl der Organisation ist nicht bekannt. Vermeintliche Schätzungen, die von ca. 100.000 Mitgliedern sprechen, sind nicht als seriös einzustufen, weil sie keinerlei gesicherte Basis haben. Zudem kann von der Anzahl derjenigen, die sich nach Aufrufen zu einer Demonstration zusammenfinden, nicht auf die Mitgliederzahl und den generellen gesellschaftlichen Einfluß der JAI geschlossen werden. Demonstrationsaufrufe der Islamisten (ob PJD oder JAI) finden immer zu einem spezifischen Anlaß statt, der weit über typisch islamistische Anliegen hinausgeht, so daß sich unabhängig von der Organisation, die zur Demonstration aufruft, aufgrund der Thematik, die breitere Bevölkerungskreise anspricht, viele mobilisieren lassen. Vgl. ausführlich Faath, Sigrid: Marokkos reformorientierte Religionspolitik. Eingriffe in Tradition und Religion, in: dieselbe (Hrsg.): Staatliche Religionspolitik in 250 Staatlicher Umgang mit Opposition wo sie effiziente Unterstützungsnetzwerke aufbauten. Drei Bevölkerungsgruppen stehen im Mittelpunkt der „Werbeaktionen“ der Vereinigung: Neben (1) den Studenten sind dies (2) konservative Teile der Mittelschicht, die um ihre Privilegien fürchten (Globalisierungsängste), und (3) die vom Land in die Bidonvilles der städtischen bzw. halbstädtischen Zentren umgesiedelten Bauern und ihre Familien. Unter dieser dritten Bevölkerungsgruppe sind auch „linke“ Organisationen besonders aktiv und konkurrieren mit der JAI. Die Hauptschlagworte, die JAI wie „Linke“ in den Mittelpunkt ihres „revolutionären“ Angebots an potentielle Mitglieder und Unterstützer stellen, sind identisch: Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit. Details zu den Aktivitäten Abdessalam Yassines Der Gründer der JAI, der 1927 oder 1928 geborene Abdessalam Yassine, setzt sich seit 1974, als er seinen ersten 114 Seiten langen „offenen Brief“ an König Hassan richtete, offensiv für die Stärkung des Islam in Marokko ein. Dieser Brief brachte Yassine drei Jahre Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik und eine Gefängnisstrafe ein. 1978 bis zu ihrem Verbot 1983 publizierte er die Zeitschrift al-Jamaca, in der er „laizistische Tendenzen“ in Marokko anprangerte. Um ihn und seine Zeitschrift hatte sich ein Zirkel Gleichgesinnter versammelt. 1983 stellte Yassine einen Antrag auf Legalisierung seiner Jamacat al-jamaca al-khairiya (Die auserwählte Gemeinschaft) genannten Vereinigung als politische Partei. Das Anliegen wurde abgelehnt. Seit 1987 tritt die Vereinigung Yassines als Jamacat al-adl wal-ihsan (JAI) auf. 1989 wurde Yassine als Führer der illegalen Vereinigung unter Hausarrest gestellt, der erst unter König Mohammed VI. im Mai 2000 aufgehoben wurde. Die JAI stellt sich als „Fundamentalopposition“ zur marokkanischen Monarchie dar; sie lehnt Gewalt zur Durchsetzung eines islamischen Staates einerseits ab,21 andererseits nahm die militante Rhetorik mit dem neu aufflammenden Aktivismus Yassines seit 2000 zu: Nach der Thronbesteigung Mohammed VI. veröffentlichte Yassine am 28. Januar 2000 ein „Memorandum an den König“, in dem er ihn zu einem „Neubeginn“ und zur Verwendung des Vermögens seines Vaters zugunsten der marokkanischen Bevölkerung aufforderte. Nach der überraschenden Aufhebung des Hausarrests gegen Yassine im Mai 2000 reiste Yassine predigend durch Marokko. Die JAI versuchte trotz offiziellen Verbots, Ferien- und Strandlager 21 Nordafrika/Nahost, Hamburg 2007, S. 135-174, Text unter: www.giga-hamburg.de/ projects/menastabilisierung (Teilprojekt 3). Yassine 1997: „Unsere Zeit wird kommen. Das Volk rechnet mit uns.“ (Middle East International, London, 16.5.1997, S. 20). Mit anderen Worten, zunächst sollten alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen und Anhänger gesammelt werden. Kapitel II : Marokko 251 zu organisieren und durch Veranstaltungen in Privathäusern von Mitgliedern „die Massen“ zu erreichen; das heißt, es kann im Vergleich zu den Vorjahren seit 2000 von einer Politisierung der Vereinigung gesprochen werden. Die öffentliche Bekanntgabe der Existenz eines sogenannten „Politischen Kreises“22 ist ein weiteres Indiz dafür. Schließlich verstärkte sich die „Missionstätigkeit“ der JAI; zudem rief Yassine zum „zivilen Ungehorsam“ gegen das Regime auf, um die von Yassine 2005 für das Jahr 2006 vorhergesagte „Revolution“ (qawma) in Gang zu setzen. Diese ihm angeblich in einer Vision angekündigte „Revolution“ sollte „große Veränderungen“ für Marokko (Einrichtung des Kalifats) bringen. Daß es zu keiner „Revolution“ kam und sich somit die „große Veränderung“ nicht ereignete, hat (zumindest vorübergehend) die öffentlichen Aufrufe zum „zivilen Ungehorsam“ verstummen lassen. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich die JAI, die über landesweite Organisationsstrukturen verfügt, in der Post-Yassine-Ära stark verändern wird: Diese Veränderungen werden vor allem die Zielsetzung, das Selbstverständnis im bestehenden politischen System und die Klärung der Frage betreffen, ob eine legale Parteigründung und die Einbindung in das politische System angestrebt werden soll (d.h. Teilnahme an Wahlen oder Beibehalten der jetzigen Abgrenzung zum Regime und fortgesetzte Ablehnung einer Wahlteilnahme durch die Führung) oder nicht. Eine Spaltung der JAI über diese Frage ist nicht auszuschließen. In einem gewissen Widerspruch zur offiziellen Verlautbarung Yassines, die JAI strebe keine politischen Aktivitäten an, steht bereits jetzt die Tatsache, daß seit 1998 der „politische Arm“ der Organisation gezielt ausgebaut wird: Der nationale „Politische Kreis“ und die „Politischen Kreise“ auf Provinzebene haben nämlich zum Ziel, das politische Bewußtsein zu schärfen, indem die Mitglieder der Kreise sich mit den aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Fragen befassen, Studien erstellen und zu diesen Fragekomplexen gezielte Kaderschulung betreiben. Die JAI hat mit dem Beschluß zur Gründung dieser Kreise eine Art 22 Auf der außerordentlichen Sitzung des Majlis al-irshad (Rat der Orientierung), des obersten sechsköpfigen Führungsgremiums der JAI, das von Yassine als oberster Führer präsidiert wird, wurde 1998 die Gründung des Politischen Kreises (Da’ira siyasiya), auch „Komitee“ genannt, als „Teilstruktur“ der Organisation beschlossen. Das Politische Komitee sollte fortan für alle „politischen Fragen“ zuständig sein, während der Majlis al-irshad als ein der ganzen Organisation übergeordnetes kollektives Gremium die allgemeine und besonders die religiöse Orientierung vorgibt und sich nicht speziell mit politischen Anliegen beschäftigt. 252 Staatlicher Umgang mit Opposition Vorbereitungsphase für den Schritt zur Überführung der Organisation (oder eines Teils der Organisation) zu einem nicht näher definierten Zeitpunkt in eine politische Partei eingeleitet. Dieser Zeitpunkt ist eher für die Post-Yassine-Ära zu erwarten, um das Vakuum, das durch das Fehlen des charismatischen, mystisch-religiösen Führers Yassines aufbrechen wird, mit einer neuen Aufgabenstellung und „Vision“ zu füllen. Das muß zumindest in einer frühen Phase nach Yassines Tod nicht bedeuten, daß die Vereinigung offiziell einen Antrag auf Legalisierung als politische Partei stellt und eine Partizipation innerhalb der bestehenden Strukturen anstrebt, weil dies voraussetzen würde, daß die JAI u.a. die religiöse Führerschaft des Königs als „Führer der Gläubigen“ anerkennen würde, was der bisherigen Position Yassines widerspräche. Ob in der Post-Yassine-Ära der Weg der Integration in das politische System erfolgen wird, dürfte maßgeblich von der Stimmung unter der JAI-Gefolgschaft abhängig sein. Ein notwendiger und unvermeidbarer Schritt, um als Partei legalisiert zu werden, wäre in jedem Fall die offizielle Anerkennung des Königs und seiner Prärogativen sowohl im weltlichen wie religiösen Bereich. Damit würde sich die JAI auf eine Stufe mit dem PJD stellen, und ihren fundamentalen Oppositionscharakter aufgeben. Eine Betätigung als politische Partei würde auch bedeuten, daß die JAI die „Einheit von Reden und Handeln“, ihr „wertkonsequentes“ Verhalten aufgibt. Es ist jedoch genau diese Eigenschaft, die derzeit wesentlichen Anteil am positiven Image der Vereinigung in der Bevölkerung hat. 2.3. Gewaltsame Opposition Die von JAI-Führer Yassine 2005 angekündigte „Revolution“ (Erhebung gegen die Staatsführung), die in einen islamischen Staat (Kalifat) münden sollte, und die daran gekoppelten Aufrufe zum „zivilen Ungehorsam“ waren im Prinzip Aufrufe zur konkreten militanten Aktion gegen den Staat (König). Abgesehen von diesem Aufruf betont die JAI stets ihre Gewaltlosigkeit; diese Haltung schließt indes gewaltsame Konfrontationen mit Andersdenkenden (vor allem zwischen JAI-Studenten und linken Studenten) an den Universitäten nicht aus. Wobei es hier hervorzuheben gilt, daß Gewalt an Universitäten nicht nur zwischen JAIMitgliedern und Anhängern linker Organisationen stattfindet, sondern Kapitel II : Marokko 253 auch zwischen PJD-Studenten und linken Studenten, sowie zwischen Verfechtern der arabischen Identität und der Amazigh-Identität. Das sind jedoch punktuelle Aktionen geblieben. Aufrufe zur Gewalt als Mittel zur Interaktion mit dem Staat und der Gesellschaft gehen seit 2000/2001 insbesondere von der sogenannten Salafiya Jihadiya in Marokko aus.23 Daß in Marokko eine Radikalisierung von Teilen der islamistischen Bewegung stattgefunden hat, wurde im Laufe des Jahres 2002 deutlich, als Berichte über Morde und körperliche Züchtigungen, begangen von Mitgliedern illegaler islamistischer Gruppen, die sich um einzelne Prediger24 scharten, an die Öffentlichkeit drangen. Diese radikalen Prediger bezogen sich teilweise auf Usama Ibn Ladin und sein al-Qaida-Netzwerk und hatten Kontakte zu den algerischen bewaffneten Islamisten des GSPC. Seither gehen die Sicherheitsorgane massiv und systematisch gegen diese Gruppen und die zu Gewalt aufrufenden Prediger vor. Die Ablehnung radikaler Gruppen und Prediger nahm seit 2003 in der Bevölkerung zu. Dafür sorgten nicht nur die Attentate vom Mai 2003, sondern auch Meldungen, daß die Prediger der Salafiya Jihadiya zum Mord an jüdischen Marokkanern aufstachelten, für die Morde an zwei jüdischen Mitbürgern im September 2003 verantwortlich waren, und daß darüber hinaus Kinder (u.a. drei 13-14jährige Mädchen) für Gewaltaktionen rekrutiert wurden. Die Verbindungen der im Juni 2005 legalisierten islamistischen Partei al-Badil al-hadari (Die zivilisatorische Alternative) zur gewaltbereiten islamistischen Szene, die ihrerseits Verbindungen zu al-Qaida unterhält („Belliraj-Nezwerk“), führten im Februar 2008 zur Verhaftung von Führungsmitgliedern der Partei und zum Verbot der Organisation.25 Eine 23 24 25 Vgl. hierzu auch den Beitrag zu „al-Qaida im islamischen Maghreb“ (Kapitel I). Zu diesen Predigern zählen u.a. Mohamed Fizazi (alias Abou Mariam) aus Tanger, der 2001 eine nichtzugelassene Vereinigung „Leute der Sunna und des Jihad“ gründete; er gilt als maßgeblicher Theoretiker der marokkanischen Salafiya Jihadiya. Mohammed Abd al-Wahhab Rafiq (alias Abou Hafs) aus Fes, der Sohn von Ahmed Rafiq, einem „Afghanistanveteranen“, der gegen die Sowjetunion gekämpft hatte; ferner Hassan Kettani und Abdelbari Zemzemi. MAP news agency, Rabat, 20.2.2008 (Moroccan authorities ban Islamist party); La VIE éco, Casablanca, 3.-9.3.2008 (Comment une banale enquête a débouché sur un réseau terroriste); Jeune Afrique, Paris, 24.2.-1.3.2008 (Maroc. Qui sont les nouveaux terroristes). 254 Staatlicher Umgang mit Opposition weitere islamistische Kleinstpartei, die Parti de l’Oumma (Umma-Partei), geriet in das Visier der Sicherheitsbehörden; ein Gründungsmitglied der Partei, Mohammed El Merouani, wurde wegen Verbindungen zum Belliraj-Netzwerk angeklagt.26 Der Antrag der Partei auf Zulassung wurde folglich abgelehnt. 3. König und Opposition 3.1. Interaktionsarten König Mohammed VI. setzt im Umgang mit gewaltbereiter Opposition das zur Verfügung stehende Spektrum an Repression ein. Seit den Anschlägen vom 16. Mai 2003 wurden Kontrollen und Überwachungen im islamistischen Milieu verstärkt; der Sicherheitsapparat wurde ausgebaut.27 Amnesty International beklagte im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen gewaltbereite islamistische Gruppen die neuerliche Zunahme von Menschenrechtsverletzungen. Parallel zu den repressiven sicherheitspolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung des islamistischen Extremismus wurden jedoch vor allem seit 2005 ambitionierte soziale und entwicklungspolitische Maßnahmen ergriffen. Der König vereinnahmte schließlich gezielt alle Themenbereiche, die große Teile der Bevölkerung „bewegen“ und zur organisierten Mobilisierung von Unmut und Kritik an der bisherigen staatlichen Politik durch politische Organisationen oder Vereinigungen genutzt werden könnten. So nahm er sich seit 2003 in einem bislang nicht gekannten Ausmaß auch der Förderung der Amazigh-Sprache und Kultur an, weil die plurale Identität Marokkos und die Stärkung eines Geschichts- und Kulturverständnisses, das Pluralismus (und damit indirekt Toleranz) als konstitutiven gesellschaftlichen Wert fördern soll, auch als Gegenmodell zu dem 26 27 Vgl. www.magharebia.com, 18.4.2008 (Un tribunal marocain interdit deux partis politiques). U.a. wird seit 2007 die Modernisierung der Polizei vorangetrieben. Die Ausgaben für den Sicherheitsbereich machen im Haushalt 2008 nach Angaben von Maghreb Confidential (Paris, 15.11.2007) rund 30 % aus (4 Mrd. Euro). Kapitel II : Marokko 255 Einheitskonzept der Islamisten gesehen wird. Er ging bislang zwar noch nicht soweit, das Berberische als nationale und offizielle Sprache in der Verfassung anzuerkennen, doch schaffen die eingeleiteten Maßnahmen (s.u.) „Tatsachen“, die einen solchen Schritt und die Akzeptanz eines solchen Schritts durch eine Bevölkerungsmehrheit vorbereiten. Drei weitere Interaktionsmuster sind für den staatlichen Umgang mit Opposition typisch: - - 28 29 Erstens wird im Rahmen der sicherheitspolitischen Maßnahmen versucht, jene Facetten einer Oppositionsgruppe aufzugreifen und bloßzulegen, die sie diskreditieren könnte. In Bezug auf die islamistische Opposition der Jamacat al-adl wal-ihsan beinhaltet dies z.B. die medienwirksame Darstellung von „Fehlverhalten“, das in Widerspruch zu den von der Vereinigung gepredigten Moralvorstellungen und zu ihrer Selbstdarstellung steht.28 Zweitens wird eine Kooperation mit der Opposition, auch der militanten Opposition unter bestimmten Bedingungen nie ausgeschlossen. Die beiden wichtigsten Bedingungen für ein kooperatives Verhältnis sind (1) die klare Absage an Gewalt und (2) ein Bekenntnis zur bestehenden Ordnung (dem König) und den geltenden Verhaltensregeln. Um bei dem Beispiel der Jamacat al-adl wal-ihsan zu bleiben: Die „Tür“ zur Umorientierung und Integration in das System wurde von Seiten des Königs nicht geschlossen. Die Aktivitäten der nicht legalisierten Organisation werden geduldet, solange sie nicht in den Bereich „Unruhestiftung“ fallen (und offen wie 2005/2006 zum zivilen Ungehorsam aufgerufen wird). Gleichzeitig wird die Organisation überwacht, um ihren Mitgliedern durch sofortiges Eingreifen (z.B. Verhaftungen;29 Auflösung von Versammlungen) die „Grenzen“ ihres Freiraumes aufzuzeigen. In ähnlicher Dazu dienten z.B. 2007 Meldungen der Medien über angebliche Verwicklungen von Mitgliedern der Vereinigung al-adl- wal-ihsan ins Drogengeschäft (Rif-Region) und die Finanzierung der Vereinigung über illegale Drogengeschäfte; dazu zählt auch die Meldung vom März 2007 (u.a. in: Aujourd’hui le Maroc, 27.3.2007) über den von Mitgliedern der JAI verehrten Sänger Rachid Ghoulam, der des Ehebruchs angeklagt wurde (d.h. „amoralisches Verhalten“ an den Tag legte), oder die Meldung über die JAI-Mitgliedschaft des Selbstmordattentäters Hicham Doukali (Anschlag vom 13.8.2007 in Meknes). So wurden z.B. Anfang März 2008 19 Mitglieder der Vereinigung verhaftet, als sie eine nicht genehmigte Demonstration in Nador durchführen wollten (Anlaß des Demonstrationsaufrufs: Solidarität mit Palästina); Mitte März 2008 wurden fünf Mitglieder der Vereinigung wegen unerlaubter öffentlicher Versammlung und Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung angeklagt (vgl. BBC Monitoring, London, 9.3.2008 und 20.3.2008). 256 - 30 31 32 Staatlicher Umgang mit Opposition Weise geht die Staatsführung gegen legale Parteien oder Vereinigungen vor, wenn sie Aktionen planen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgehen könnte. Regelrechte Verbote von Organisationen werden seit den 1990er Jahren vermieden. Im Frühjahr 2008 kam es jedoch in drei Fällen zu Parteiverboten: Der spektakulärste Fall ist das Verbot der 2005 legalisierten islamistischen Partei al-Badil al-hadari, weil die Verbindung der Parteiführung zu einem gewaltbereiten islamistischen Netzwerk nachgewiesen wurde. Im April 2008 wurden ferner zwei Anträge auf Zulassung als Partei abgelehnt. Es handelte sich um den Antrag der islamistischen Parti de l’Oumma, der Verbindungen zu einem radikalen islamistischen Netzwerk nachgesagt werden, und um den Antrag der von Amazigh-Aktivisten gegründeten Parti Démocratique Amazigh Marocain (PDAM).30 Die Strategie des Königs ist es, die identitäre Thematik selbst zu bestimmen und aus der Parteipolitik herauszuhalten, da sie alle Marokkaner angeht. Einer strengen Überwachung, ist auch nach wie vor der Medienbereich31 ausgesetzt, um die Einhaltung der ungeschriebenen Verhaltensregeln und Tabus32 (s.o.) zu gewährleisten. Drittens wird vor allem im Hinblick auf einen Einflußzuwachs von islamistischen (legalen) Organisationen bevorzugt ein Mittel eingesetzt, das bereits König Hassan nutzte: der Aufbau und die Stärkung von „Gegenbewegungen“. König Hassan hatte hierzu in den 1970er und 1980er Jahren zwei (königsloyale) Parteigründungen gegen die damals starke linke Bewegung unterstützt. Heute sind es nicht mehr die (schwachen) Linken, sondern die Islamisten, gegen deren Einfluß mobilisiert werden soll. Für König Mohammed dürfte diese Rolle der „Gegenbewegung“ zum Rückdrängen des islamistischen Einflusses vor allem im Hinblick auf die Kommunalwahlen 2009 der nach den Legislativwahlen vom September 2007 gegründete Mouvement pour tous les Démocrates (MTD) übernehmen. Der MTD, die „Bewegung für alle Demokraten“ (Haraka li-kull al-dimuqratiyin) wurde von dem 2007 neu ins Parlament Vgl. www.magharebia.com, 3.12.2007 (Pour le gouvernement, le Parti Démocratique Amazigh marocain n’est pas légitime) und ebenda, 18.4.2008 (Un tribunal marocain interdit deux partis politiques). Vgl. Hidass, Ahmed (2004): Le paysage médiatique au Maroc. Pluralisme organisé, in: Annuaire de l’Afrique du Nord 2002, Paris 2004, S. 239-249. Dazu gehört auch, daß das Königshaus und seine Mitglieder nicht nur von öffentlicher Kritik, sondern auch von jeder Art von „Späßen“ auszunehmen sind. Der junge marokkanische Ingenieur Fouad Mourtada, der sich auf einer Internetseite „aus Spaß“ als Bruder des Königs ausgab, wurde am 22.2.2008 zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt; Medienproteste führten schließlich im März 2008 zur Begnadigung durch den König (www.magharebia.com, 20.3.2008). Kapitel II : Marokko 257 gewählten Deputierten Fu’ad Ali al-Himma ins Leben gerufen. Himma, Vertrauter des Königs, war stellvertretender Innenminister und vom König eigens von diesem Amt entbunden worden, um bei den Legislativwahlen kandidieren zu können. Der MTD ist formal eine Vereinigung, keine Partei, wie der Initiator Himma auf der ersten Pressekonferenz des MTD am 27. Februar 2008 betonte. Das Ziel der Bewegung ist bislang nur sehr vage ausformuliert; sie will „antidemokratischen Tendenzen“ eine „Bewegung der Demokraten“ entgegensetzen und Lösungsvorschläge für die Probleme Marokkos erarbeiten. Das Engagement des MTD soll bis zu den Kommunalwahlen 2009 ausgebaut werden.33 Ob aus dem MTD bis dahin eine Partei wird, ist noch nicht absehbar. 3.2. Maßnahmen des Königs zur Eindämmung von Opposition Seit der Amtsübernahme von König Mohammed VI. 1999 finden in allen wichtigen Sektoren Reformen statt, wenngleich ein unterschiedliches Tempo und eine unterschiedliche Intensität bei der Reformumsetzung festzustellen ist.34 Insbesondere drei Maßnahmen sollen die soziale Kohäsion und die Anbindung an den König und das von ihm verkörperte politische System stärken: - 33 34 Die Maßnahmen zur Förderung der Amazigh-Kultur; die Maßnahmen im Menschenrechtsbereich zur Wiedergutmachung von Vergehen in der Vergangenheit und die Maßnahmen zur Armutsbekämpfung im Rahmen eines umfassenden nationalen Programmes, das Randgruppen integrieren soll. Vgl. www.telquel-online.com, Nr. 313, März 2008 (Objectif 2009. A table avec El Himma). Vgl. auch die MTD-Erklärung vom 26.2.2008, abgedruckt in: La Gazette du Maroc, Casablanca, 29.2.2008 (Document: Demain le Maroc). So machte der wirtschaftliche Reformkurs zwar Fortschritte, ihm sind jedoch u.a. durch den hohen Devisenbedarf für verteuerte Energieimporte (finanzielle) Grenzen gesetzt.. Die Bildungsreform (v.a. das Ziel: Reduzierung der Analphabetenrate) wurde vorangetrieben, die Aufgabe ist jedoch quantitativ und qualitativ enorm. Im Justizbereich gehen die Reformen langsam voran, da institutionelle, administrative und inhaltliche Aspekte für langwierige Diskussionen (um Konsensentscheidungen herbeizuführen) sorgen. Bei der Reform des Familienrechts wurden mit der Neuregelung des Gesetzes von 2004 modernisierende Eingriffe zugunsten der Frauen und unehelichen Kinder verankert, die praktische Umsetzung ist jedoch nach wie vor problematisch (wozu u.a. traditionsverhaftete Richter; über ihre Rechte nicht aufgeklärte Frauen beitragen). Staatlicher Umgang mit Opposition 258 Diese drei zentralen Reformbereiche werden im Folgenden kurz vorgestellt, weil sie den Ansatz König Mohammed VI. - zum Umgang mit der Bevölkerung und ihren Bedürfnissen und zur (präventiven) „Neutralisierung“ von Opposition gegen ihn und seine Politik gut verdeutlichen. Die Förderung der Amazigh-Identität Wie politische Opposition und Gegnerschaft (aus Unzufriedenheit mit staatlicher Politik) in eine kooperative Beziehung überführt werden kann, zeigt exemplarisch der Umgang König Mohammeds mit der Amazigh-Bewegung und ihren Forderungen. Die Amazigh-Bewegung legte bereits am 1. Mai 1994 dem damaligen Premierminister Lamrani ihre Forderungen vor, ohne daß König Hassan darauf eingegangen wäre und Maßnahmen eingeleitet hätte. Anläßlich einer Demonstration, zu der die Berberaktivisten am 2. Mai 1994 aufgerufen hatten, um die Forderungen der Öffentlichkeit vorzustellen, wurden zahlreiche Mitglieder der Bewegung und Demonstrationsteilnehmer verhaftet (Anklage wegen Verstoßes gegen die Staatssicherheit und Verurteilung zu Haftstrafen). In der Bevölkerung kam es darauf hin zu Protesten gegen das unverhältnismäßige staatliche Vorgehen. Die Solidarisierung breiter Bevölkerungskreise mit den Berbervereinigungen führte schließlich nicht nur zur Freilassung der Verhafteten, sondern auch zur Ankündigung des Königs, den Unterricht der „Berberdialekte“ an den Grundschulen einzuführen und auch die Fernsehnachrichten in den drei Berberdialekten ausstrahlen zu lassen. Der König sprach von „Dialekten“, nicht von „Sprachen“; den Begriff „Amazigh“ benutzte er ebenfalls nicht. Eine systematische Förderpolitik und die notwendigen vorbereitenden Maßnahmen, um die Berbersprachen als Schriftsprachen zu etablieren, wie die drängend anstehende Entscheidung über die zu verwendende Schrift (Tifinagh, die Schriftzeichen der Tuareg; arabische oder lateinische Buchstaben) wurden in den 1990er Jahren nicht eingeleitet. Einen erneuten Vorstoß wagten die Amazigh-Vereinigungen nach dem Tode König Hassan II. Kapitel II : Marokko 259 Die Hoffnungen auf weitergehende Liberalisierungen, die sich mit der Thronbesteigung König Mohammeds 1999 verbanden, eröffneten auch der Amazigh-Bewegung neue Perspektiven. Ab Herbst 2000 bereitete die älteste Amazigh-Vereinigung AMREC eine Großdemonstration vor, die im Oktober 2001 stattfinden sollte. Die Vorbereitungen liefen intensiv und landesweit; die Medien berichteten ausführlich über das Vorhaben, so daß König Mohammed in seiner Thronrede am 30. Juli 2001 zu den Amazigh-Forderungen Stellung nahm: Er verwendete erstmals den Begriff „Amazigh“ und erkannte die Forderung, die AmazighKultur und Sprachen zu fördern, als legitim an. Damit war ein Tabubruch vollzogen, der den Weg öffnete - für die Vereinnahmung dieses sensiblen Themas durch den König, womit gleichzeitig die Identitätsdebatte aus der (Partei-)Politik verbannt wurde, und - für die Einsetzung einer nationalen Institution unter Aufsicht des Königs, die sich mit der praktischen Umsetzung der Forderungen befassen und sie effizient vorantreiben sollte. Am 17. Oktober 2001 erfolgte per Dekret die Gründung des Institut Royal de la Culture Amazighe (IRCAM). Aufgabe dieses „Königlichen Instituts“ ist es, u.a. an der Integration der drei lokalen Berbersprachen in das marokkanische Schulsystem mitzuwirken (Erstellen von Lehrbüchern, Curricula; Planung der Lehrerausbildung usw.). Als erstes stand zu klären an, in welcher Schrift fortan das Tamazight geschrieben werden soll; die Entscheidung zugunsten des Tifinagh-Alphabets, als „neutralste“ Lösung, fiel am 31. Januar 2003 nach langen Beratungen. Am 31. März 2004 konnte das IRCAM die Lehrbücher für das Schuljahr 2004/2005 vorstellen.35 Die internen Forschungsabteilungen des IRCAM entsprechen der Aufgabenstellung: Abteilung für Sprachen, Lehre/Unterricht, Forschung in den Bereichen Soziologie und Geschichte, neue Technologien und ihre Einsatzmöglichkeiten, Übersetzungen, Literatur. Der Leiter des Instituts wird vom König ernannt und ist ihm unterstellt. Nach Angaben des derzeitigen Rektors des IRCAM, Dr. Ahmed Boukouss, einem ehemaligen Gründungsmitglied der AMREC, unterbreitet 35 Details zum IRCAM, seinen Abteilungen und Aufgaben finden sich auf der Webseite des Instituts unter: www.ircam.ma. 260 Staatlicher Umgang mit Opposition der Verwaltungsrat des IRCAM dem König seine Vorschläge für die jährlichen Aktivitäten, die bislang auch vom König stets genehmigt worden seien. Das IRCAM erhielt ein imposantes neu errichtetes Gebäude in Rabat, das nach außen die Bedeutung dokumentiert, die der König dieser Einrichtung zuweist: Mit dem Schritt, die Forderungen der Amazigh-Bewegung zur Anerkennung und Förderung der Amazigh-Identität als integrale Komponente der marokkanischen Identität aufzugreifen, hat der König alle sensiblen und zentralen Bereiche, die von Oppositionsgruppen instrumentalisiert werden könnten: - - Religion „Nationale Versöhnung“ (Anerkennung von vergangenem Menschenrechtsverletzungen als Unrecht; Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen/Wiedergutmachung) Identität Frauenförderung und Frauengleichstellung Armutsbekämpfung bzw. menschliche Entwicklung als Themen für sich reklamiert und als prioritäre Anliegen auf seine Agenda gesetzt. Das bedeutet, daß der König den Reformrhythmus und die Reichweite der einzelnen Etappen vorgibt; das Vorgehen ist in der Regel „graduell“: Konkret heißt das für die Umsetzung der AmazighForderungen, daß die Sprach- und Kulturförderung intensiv vorangetrieben wird, daß jedoch die Anerkennung des Tamazight als zweite nationale und offizielle Sprache in der Verfassung (noch) zurückgestellt wird. Die Amazigh-Bewegung hofft aber, daß bei einer künftigen Verfassungsmodifikation diese Forderung mit berücksichtigt wird. Seit der offiziellen Anerkennung ihrer Forderungen als legitim durch König Mohammed im Juni 2001 und den folgenden konkreten Fördermaßnahmen hat sich das Verhältnis der Amazigh-Bewegung zum Staat und seinem höchsten Repräsentanten deutlich entspannt; mit der Mehrheit der Amazigh-Vereinigungen entwickelten sich dank der Politik des Königs konstruktive und kooperative Beziehungen. Der Präsident der AMREC, Ibrahim Achiat, drückte dies in einem Gespräch im Februar 2008 so aus: „Wenn einmal Forderungen als legitim anerkannt sind, Kapitel II : Marokko 261 dann öffnen sich die Türen.“ Das schrittweise, langsame Vorgehen wird jedoch zentrales Charakteristikum der Förderstrategie bleiben. Die „nationale Versöhnung“ Die im Januar 2004 im Rahmen der von König Mohammed vorangetriebenen Menschenrechtspolitik beim Nationalen Menschenrechtsrat gegründete Instance Equité et Réconciliation (IER; Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung) erhielt den Auftrag, sich um die Entschädigung von Personen und deren Nachfahren zu kümmern, die unter den von König Hassan II. zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre gelitten hatten. Die IER schloß mit einem Bericht36 und einer Liste von Personen, die entschädigungsberechtigt sind (ca. 10.000 Personen), Ende 2005 ihre Arbeit ab. König Mohammed ging in seiner Rede vom 6. Januar 2006 auf diesen Bericht ein und erkannte die Schuld der Sicherheitsorgane in den ermittelten Fällen von Verschwundenen und Menschenrechtsverletzungen an. Die Verfolgung von Verantwortlichen war im Vorfeld der Untersuchungen allerdings ausgeklammert worden, was einige marokkanische und internationale Menschenrechtsorganisationen kritisiert hatten. Der König hielt an dieser Position fest, um die Gesellschaft nicht erneut zu spalten und sich Gegner zu schaffen. Insgesamt wurde die IER-Initiative, die beispielhaft für die gesamten nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten ist, in Marokko positiv aufgenommen; die Bereitschaft des Königs, diesen Aspekt der Vergangenheit, für die sein Vater verantwortlich war, zu beleuchten, wurde geschätzt und stärkte das Ansehen des Königs. Es ist dennoch nicht zu erwarten, daß die IER-Empfehlungen, die weitreichende strukturelle Eingriffe in das politische System vorsehen, mittelfristig umgesetzt werden; 36 Der IER-Bericht wurde am 30.11.2005 vorgelegt; vgl. unter: www.ier.ma. Vgl. Synthèse du rapport final (résumé) Instance Equité et Réconciliation. Commission nationale pour la vérité, l’équité et la réconciliation, Rabat 2005, 12 S., www.ier.ma/article.php3?id_article=1496; vgl. auch die Analyse von Bennis, Mohammed: The Equity and Reconciliation Committee and the transition process in Morocco, Paris 2006, 8 S., www.arab-reform.net/IMG/pdf/ARB_12_Morocoo_ M.A._Bennis_ENG.pdf. 262 Staatlicher Umgang mit Opposition es sind allerdings Maßnahmen im Bereich Menschenrechtserziehung für Mitglieder der Sicherheitsorgane zu erwarten. Die Initiative Nationale de Développement Humain (INDH) König Mohammed gab am 18. Mai 2005 sein zentrales Instrument zur Armutsbekämpfung bzw. „zur menschlichen Entwicklung“ bekannt: die INDH. Es geht dem König darum, „eine neue Ära“ herbeizuführen, um „Armut, Ausgrenzung und Marginalisierung zu beseitigen“. Zielgruppe der INDH ist vor allem die arme ländliche und städtische Bevölkerung (23 % der Gesamtbevölkerung) und die rund 700.000 Familien (ca. 4 Mio. Personen), die in Bidonvilles und extrem schlechten Wohnungen untergebracht sind. Die Initiative war zweifellos eine direkte Reaktion auf die islamistischen Terroranschläge vom Mai 2003 und die sichtbar gewordene Anfälligkeit von sozial marginalisierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen für radikale islamistische Lehren.37 Am 20. August 2005 stellte der damalige Premierminister, Driss Jettou, den Aktionsplan zur Umsetzung der INDH und ihrer vier Teilprogramme vor: 1. ein Programm zur Ausmerzung von Armut auf dem Land; 2. ein Programm zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung in städtischen Agglomerationen; 3. ein Programm zum Kampf gegen Marginalisierung und 4. ein allgemeines Programm zur Förderung der menschlichen Entwicklung. Erste konkrete Maßnahme war die im Beisein des Königs am 8. September 2005 eingeleitete Sanierung des BidonvilleViertels „al-Qalâa“ in M’diq (Casablanca), aus dem einige der islamistischen Attentäter vom Mai 2003 stammten. Die INDH ist ein zeitlich unbefristetes Projekt, das für den Zeitraum 2006-2010 aus dem regulären Staatshaushalt (6 Mrd. DH), von den lokalen Körperschaften (2 Mrd. DH) und Geldern der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (2 Mrd. DH) finanziert wird. Der für sozioökonomische Zwecke aufgewendete Teil der Staatsausgaben (ca. 50 %) wird durch die INDH gestärkt. Zum Erfolg der INDH ist allerdings die 37 In diesen Kontext reiht sich auch der Plan de Développement Urbain (PDU) für den Großraum Casablanca (Grand Casablanca) ein; vgl. das Interview mit dem Wali von Grand Casablanca, Mohamed Kabbaj in: Jeune Afrique, Paris, 30.3.-12.4.2008, S. 96-97 (Interview. Mohamed Kabbaj). Kapitel II : Marokko 263 makroökonomische Stabilität eine wichtige Voraussetzung. Bis 2020 soll – ebenfalls als Teil der INDH – das Projekt „Städte ohne Bidonvilles“ realisiert werden: Vorgesehen sind finanzielle Anreize für die Kommunen; bei mangelhaftem Engagement droht ein Entzug der Förderung. Ein seit April 2004 vorliegender Gesetzentwurf zur Regelung der Urbanisierung (u.a. Einführung von Strafen für die illegale Vergabe von Baugenehmigungen) wurde allerdings bislang vom Parlament noch nicht verabschiedet (Blockadeverhalten). Der marokkanische Bericht zur menschlichen Entwicklung in den letzten 50 Jahren mit Perspektive 2025 und entsprechenden Vorschlägen zum Handeln38 ist eine durchaus realistische kritische Bilanz des bislang Erreichten und der fortbestehenden Defizite, die in Schlußfolgerungen für die notwendigen Maßnahmen zur Förderung der menschlichen Entwicklung mündeten. Die INDH ist ein integraler Bestandteil des darin formulierten Zukunftsprogrammes. Problematisch ist jedoch die Umsetzung der erarbeiteten Programme und Projekte sowie der Gesetze, die zur Verbesserung der Rahmenbedingungen beitragen sollen; dieses Problem der Durchsetzung von grundlegenderen Veränderungen hat sich u.a. auch im Zusammenhang mit der Justizreform, der Modernisierung des Familienrechts und der Förderung der Frauen gezeigt. Es sind jedesmal Traditionalisten und die um ihre Privilegien fürchtenden Mitglieder der Administration auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, die Reformen bremsen oder neue Regelungen nicht anwenden. Der König versucht deshalb, politische Parteien, Gewerkschaften, Vereinigungen und die breite Masse der Bevölkerung von seiner Politik zu überzeugen (u.a. gezielte „Werbekampagne“ des Königs durch Rundreisen, Informationsbesuche bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Betonung der sozialen Komponente der Reformen). Die Tendenz im Menschenrechtsbereich39 und im sozialen Bereich 38 39 Vgl. Rapport du Développement Humain/RDH50, vorgelegt vom Haut Commissariat au Plan im Januar 2006 unter www.hcp.ma/publications. So wird Schritt für Schritt versucht, das Problembewußtsein zu schärfen und durch entsprechende Gesetze den juristischen Rahmen zu schaffen, um langfristig eine Verhaltensänderung durchsetzen zu können. Ein Beispiel hierfür ist der Bereich „häusliche Gewalt gegen Frauen“. Ein Gesetz, das häusliche Gewalt unter Strafe 264 Staatlicher Umgang mit Opposition geht in Richtung einer größeren Transparenz und einer Stärkung der Rechte von Frauen, Kindern und von sozialen Randgruppen (wie z.B. Straßenkinder, unverheiratete Mütter) sowie von peripheren, unterentwickelten Regionen. Mitglieder der königlichen Familie engagieren sich ostentativ für gesellschaftliche Randgruppen und brechen damit Tabus. Wenn wie im Falle der Kinderarbeit, wo besonders im Handwerksbereich (u.a. Teppichknüpferei; Dienstleistungsbereich vor allem Haushaltshilfen) 7-12Jährige beschäftigt werden, ein ökonomischer Aspekt hinzukommt, leidet die Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen erst recht. Der INDH bzw. den Projekten zur Förderung der menschlichen Entwicklung kommt deswegen eine große innergesellschaftliche Bedeutung zu: Sie sollen die Voraussetzungen schaffen, die weitere Reformeingriffe und Modernisierungsmaßnahmen erleichtern. 3.3. Außenpolitische Faktoren und militante Opposition Ähnlich wie in den anderen Maghrebstaaten bestimmen in erster Linie innenpolitische Entwicklungen und die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Situation militantes oppositionelles Verhalten. Dies trifft offensichtlich auf die arbeitslosen Diplomierten zu. Weltwirtschaftliche Entwicklungen oder Reformen, die zur Anpassung an die globale Wirtschaft (Steigerung der Kompetitivität) erfolgen, haben lediglich dann Auswirkungen auf Protestverhalten oder oppositionelles Verhalten, wenn sie für einzelne Bevölkerungsgruppen spürbare negative Folgen haben wie z.B. Preiserhöhungen (soziale Proteste 2008), Betriebsschließungen, Unternehmensumstrukturierungen mit Arbeitsplatzstreichungen oder wie die anstehende personelle Verschlankung der Administration. Ein Teil der al-Qaida nahestehenden gewaltbereiten Gruppen wurde durch die außenpolitischen Ereignisse seit dem 11. September 2001 stimuliert; ursächlich für ihr Entstehen waren sie indessen nicht. stellt, ist seit April 2008 in Vorbereitung. Vgl. www.magharebia.com, 1.4.2008 (Le Maroc veut pénaliser les violences à l’égard des femmes). Kapitel II : Marokko 265 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen im Umgang mit Opposition Aktuelle Umfragen unter jungen Wahlberechtigten (über 70 % der marokkanischen Bevölkerung sind zwischen 18-35 Jahre alt), die im Hinblick auf die Legislativwahlen vom September 2007 z.B. von der eigens im Vorfeld der Wahlen gegründeten Vereinigung 2007 Daba40 durchgeführt wurden, ergaben, daß das Interesse der jungen Erwachsenen an Politik, Parteien, und Wahlen sehr gering ist; mindestens 60 % haben demnach auch kein Vertrauen in die Politik. Insofern haben es Parteien und Politiker jedweder Orientierung schwer, in dieser Bevölkerungsgruppe Unterstützung zu mobilisieren. Marokkanische Universitätsprofessoren (Politologen, Soziologen), die sich in der Vereinigung 2007 Daba engagierten, waren von der Hypothese ausgegangen, daß bei einer Aufklärung über die Bedeutung der Stimmabgabe bei Wahlen auch das Interesse an der Wahlteilnahme vor allem bei jungen Wahlberechtigten geweckt werden kann. Ziel der Initiative war es also, die Wahlbeteiligung zu erhöhen: Das Wahlergebnis widerlegte diese Annahme der Vereinigung 2007 Daba, die zugeben mußte, daß trotz einer umfassenden Informationskampagne, die von ausländischen Einrichtungen finanziell unterstützt worden war, das Anliegen gescheitert war. Das Gros der marokkanischen Wahlberechtigten ist nicht überzeugt, so ein marokkanischer Analyst des Wahlverhaltens im Gespräch, daß die Stimmabgabe oder die Parteien zählen; das Gros der Bevölkerung sei aber davon überzeugt, daß der König die entscheidende Instanz ist; warum also wählen? Vor die Alternative gestellt, zwischen der Monarchie/dem König und einer islamistischen Organisation zu wählen, würde sich – so die Einschätzung marokkanischer Wissenschaftler – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung deutlich zugunsten der Monarchie/des Königs entscheiden. Der vorherrschende politische Konservatismus der sich im Wahlverhalten 2007 ausdrückte, entspräche der generell konservativen Mentalität der marokkanischen Gesellschaft. 40 Vgl. www.magharebia.com, 26.9.2007 (2007 Daba vise à renforcer la participation électorale des jeunes et des femmes au Maroc). 266 Staatlicher Umgang mit Opposition Was bedeutet das für politische Parteien, unabhängig davon, ob sie an der Regierung beteiligt sind oder sich in der Opposition befinden? Für die politischen Parteien ist durch die konservative Grundeinstellung der Bevölkerungsmehrheit und das in der Öffentlichkeit verbreitete Bild der Parteien als faktisch machtlose Organisationen hinsichtlich der Entscheidungsfindung und der Politikformulierung die fortgesetzte Bedeutungslosigkeit vorprogrammiert; der begrenzte Aktionsraum und die Pflicht zur Unterordnung unter die Direktiven des Königs schreiben diese politische Bedeutungslosigkeit von Parteien fest. Die Fixierung der Bevölkerungsmehrheit auf den König bedeutet jedoch auch, daß der König im Gegensatz zur Opposition eine bessere Ausgangsbasis hat, um breite Unterstützung zu mobilisieren. König Mohammed verfeinerte den Umgang mit politischen und gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen seit 1999, wenngleich das Prinzip der Interaktion dem seines Vaters, König Hassan, gleicht: „Dem marokkanischen König geht es darum, so viele politischen und sozialen Kräfte wie möglich zu integrieren, um auf diese Weise die soziale Basis der Monarchie maximal auszuweiten, wenn möglich ohne die grundlegenden Komponenten des Systems, den «harten Kern» oder die «Dogmen» in Frage zu stellen.“41 Den „harten Kern“ des Systems griff König Mohammed bislang nicht an, aber er ist bereit, mit wie z.B. im Falle der „nationalen Versöhnung“ und der Amazigh-Identität Tabus schrittweise zu brechen; je aktiver breite Bevölkerungsteile ihre Zustimmung signalisieren, desto zügiger gehen die Prozesse der konsensualen Entscheidungsfindung und Realisierung von Projekten voran. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Marokkos und die Doppelstruktur des politischen Systems42 zwingen den König, sich selbst mit den Anliegen und Ängsten der Bevölkerung zu befassen sowie alle wichtigen Problem- und Reformbereiche mit möglicherweise negativen 41 42 Cubertafond (1999), a.a.O. (Anm. 2), S. 186 zum Vorgehen König Hassans. Formal modernen, verfassungsmäßig verankerten Institutionen steht die nach traditionellen hierarchischen Entscheidungsmustern funktionierende, dem formal modernen Bereich übergeordnete und seiner Kontrolle entzogene Institution des Königs gegenüber, die wiederum ihr zugeordnete und unterstehende Räte, Institute, Kommissionen, Berater hat. Kapitel II : Marokko 267 Auswirkungen auf die soziale Kohäsion und den inneren Frieden zu seinem Kompetenzbereich zu erklären. Der König ist jedoch stets auf Konsenslösungen angewiesen, weil er die klientelistischen Strukturen und die Interessen der bisher von der Politik begünstigten Bevölkerungsgruppen berücksichtigen muß.43 Die Zustimmung zur politischen Ordnung und die Ablehnung von militanter und gewaltbereiter Opposition durch die Bevölkerungsmehrheit ist für die einen mit konkreten materiellen Aspekten verknüpft, für die anderen wurzelt sie in der Hoffnung, daß sich durch das Engagement des „fürsorgenden“ Königs ihre Lebenssituation verbessern wird. David E. Apter schrieb 1962 zur Rolle von Opposition: „(...) by serving as a rallying ground and focal point for grievance, a responsible opposition can transform potential disenchantment with government into positive channels“, um auf diese Weise zu verhindern, daß die Bevölkerung (politisch) apathisch wird und ein „zynisches Verhältnis“ zum politischen System entwickelt.44 Mit Blick auf Marokko ist festzustellen, daß König Mohammed (und nicht die parteipolitische Opposition) diese Sammlungsfunktion wahrnimmt. Der König ist der Adressat für die Sorgen und Wünsche der Bevölkerung. Er kann dank seiner Befugnisse und seines Ansehens bestehende Unzufriedenheit mit der bisherigen Politik in „positive Kanäle“ leiten. Allerdings verhindert der König dadurch nicht die 43 44 Neben der Großbourgeoisie (Großgrundbesitzer, Unternehmer, hohe Funktionäre mit Bindungen zum Königshaus) sind dies die Angestellten der öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Unternehmen sowie die Mitglieder der Sicherheitsorgane. Sie gehen keine Interessenallianzen mit anderen Gruppen ein, weil sie bislang ihre Interessen durch den König ausreichend gewahrt sehen. Der Verwaltungsapparat umfaßt immer noch eine halbe Million Verwaltungsangestellte, die soziale Privilegien (Versicherungs-, Alters-, Rentenschutz) genießen. Da die Nutznießerschaft von dieser Strategie der sozialen Befriedung relativ groß ist (ein öffentlicher Angestellter versorgt mindestens 5 bis 10 Personen), ist die Unterstützungsbereitschaft gegenüber dem König bzw. zugunsten des Status quo gleichfalls hoch. Das intakte System der Solidaritätsbeziehungen und des Klientelismus sowie der Bestechung bedeutet materielle Absicherung (und „Einkommen“) des Einzelnen oder Duldung bestimmter Aktivitäten (informeller Sektor) seitens staatlicher Stellen oder ihrer Repräsentanten, sofern Gegenleistungen erfolgen. Apter, David E.: Some reflections on the role of a political opposition in new nations, in: Comparative Studies in Society and History, London, Band 4, 1962, S. 154-168, hier S. 168. 268 Staatlicher Umgang mit Opposition politische Apathie im Sinne von Gleichgültigkeit gegenüber den Parteien und Wahlen; ganz im Gegenteil, seine zentrale Stellung und die Machtlosigkeit der Parteien fördert geradezu diese Art der politischen Apathie. Durch die Annahme und den Ausbau seiner Funktion als „rallying ground and focal point for grievance“ stärkte der König das Ansehen der Monarchie und seiner Person. Solange der König kraft seiner Stellung und der umgesetzten politischen Maßnahmen Funktions- und Leistungslegitimität bei der Bevölkerungsmehrheit erzeugen und festigen kann, ist jede Art von Opposition in einer schwachen Position. Gewaltbereite Opposition wird dadurch gesamtgesellschaftlich gesehen erst recht marginalisiert. Wenngleich Anschläge gewaltbereiter Oppositionsgruppen wie im Mai 2003 auch künftig nicht auszuschließen sind, so ist dennoch der Umgang König Mohammeds mit den Problembereichen und Konflikten Marokkos als Gewalt reduzierend zu bezeichnen. Opposition und Regime in Syrien „Der irdene und der eiserne Topf“1 Hassan Abbas Aus dem Französischen von Ursel Clausen Am 10. Juni 2000 starb Präsident Hafiz al-Asad nach dreißigjähriger Herrschaft. Ist die Bilanz dieser Jahrzehnte, was die Außenpolitik und Syriens neues Gewicht im regionalen Kräftespiel betrifft, positiv zu werten, so gilt das genaue Gegenteil für die Innenpolitik, vor allem die Bereiche Freiheits- und Menschenrechte und Demokratie. Ein Hauptmerkmal dieser Politik ist die hoffnungslose Schwächung sämtlicher politischen Aktivitäten, ganz besonders aber jener der Opposition. Daß Bashshar al-Asad das Präsidentenamt erben würde, stand schon vor dem Tod des Vaters fest. Die sorgfältige Art, wie der junge Präsident aufgebaut wurde, seine ersten öffentlichen Auftritte und vor allem seine Rede zum Amtsantritt am 17. Juli 2000, all dies hatte hoffen lassen, daß er den Übeln des Landes mit Reformen zu Leibe rücken würde. Die Opposition bzw. das, was von ihr übrig war, glaubte an bessere Zeiten und begann Hoffnung zu schöpfen. Doch war der „Damaszener Frühling“ nur von sehr kurzer Dauer, und die Opposition mußte bald ihre Erwartungen dämpfen. Sie verlor indes ihre Illusionen nicht ganz. Statt ihre Aktivitäten zu lähmen, führte die schnelle Enttäuschung vielmehr zu neuen Organisations- und Kampfformen. Nach Bashshar al-Asads Machtantritt ist daher zwischen zwei Hauptrichtungen in der politischen Opposition Syriens zu unterscheiden: der „traditionellen“ und der „neuen“ Opposition. 1 „Der irdene und der eiserne Topf“ bezieht sich auf eine Fabel von La Fontaine. 270 Staatlicher Umgang mit Opposition 1. Die traditionelle Opposition Darunter sind diejenigen politischen Organisationen zu verstehen, die bereits vor oder während Hafiz al-Asads Herrschaft entstanden und trotz der schwierigen Zeiten zwischen 1970 und 2000 wieder aktiv wurden, sobald ihr Erzfeind gestorben und sein Sohn Bashshar an die Spitze des Staates getreten war. Diese Opposition besteht aus zwei Hauptströmungen: einer islamischen einerseits und einer grob als säkular zu qualifizierenden andererseits, die panarabische, kommunistische und sozial bis sozialistisch orientierte Parteien umfaßt. Will man die Maßnahmen verstehen, die das Regime ergriff, um die sozialen Konflikte zu lösen und sein Überleben zu sichern, muß diese Opposition näher beschrieben werden. 1.1. Die islamistische Opposition Ihre wichtigste Organisation ist die Muslimbruderschaft. 1.1.1. Die Muslimbruderschaft Der syrische Zweig der Bewegung der Muslimbrüder entstand Ende der 1930er Jahre, nachdem der dritte Kongreß2 der Bewegung die Schaffung regionaler Zweige beschlossen hatte. Unter ihrem Führer Scheich Mustafa al-Sibaci3 spielten die syrischen „Brüder“ eine zentrale Rolle im damals noch pluralistischen und demokratischen politischen Leben des Landes. Aber interne Streitigkeiten im Zusammenhang mit einem Generationenkonflikt führten zur Herausbildung zweier antagonistischer Strömungen. Die eine vertrat die liberalen Optionen des Führers des syrischen Zweiges der Muslimbruderschaft,4 während die andere, von Führern aus dem zweiten Glied kontrollierte Strömung auf Gewalt als einzig probates Mittel zur Islamisierung von Staat und Gesellschaft setzte. Die2 3 4 Der dritte Kongreß trat im März 1935 in Kairo zusammen. Scheich Mustafa al-Sibaci (1915-1964) war der erste Führer des syrischen Zweiges der Muslimbruderschaft. Er war bekannt dafür, daß er für demokratische Methoden in der Politik eintrat. Seine Vorstellungen erläuterte er in seinem 1959 in Damaskus erschienenen Buch „Der Sozialismus des Islam“, das bis Mitte der 1960er Jahre als „Bibel“ der syrischen Muslimbrüder galt. Der in Kairo ansässige „internationale“ Oberste Führer der Muslimbruderschaft ist immer ein Ägypter und trägt den Titel „Murshid camm“. Kapitel II : Syrien 271 ser Grunddissens, bis heute ein Hauptcharakteristikum des politischen Islam in Syrien, offenbarte sich erstmals 1964 in der Stadt Hama, deren Bewohner für ihr Festhalten an islamischen Traditionen bekannt sind. Ausgangspunkt war ein Streik, mit dem Oberschüler gegen die radikalen Parolen der linken Baath-Führer bei und nach dem ersten Regionalkongreß der Baath-Partei protestieren wollten. Der Streik wurde von Marwan Hadid5 geleitet, der die „Muhammad-Brigaden“ gegründet hatte, und weitete sich zu einem 29 Tage andauernden Aufstand aus. Der Aufstand wurde von der Regionalführung der „Brüder“ verurteilt und von der Regierung niedergeschlagen. Es war die erste bewaffnete Konfrontation zwischen islamischen Kräften und der nunmehr von baathistischen Militärs kontrollierten Regierung. Aus Protest gegen Verfassungsänderungen, die die Volksversammlung vorgeschlagen hatte, kam es 1973 wiederum in Hama erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dank Hafiz al-Asads politischem Geschick konnte zwar eine Explosion, nicht jedoch die Gründung der „Kämpfenden Avantgarde“ verhindert werden, einer der gewalttätigsten islamistischen Organisationen im heutigen Syrien. Unter der unnachgiebigen Führung von Marwan Hadid lehnte sie jeglichen Kompromiß zwischen der Muslimbruderschaft und Hafiz al-Asad ab und optierte für die Gewalt. Am 30. Juni 1975 wurde Hadid von Sicherheitskräften verhaftet. Wenige Monate später starb er im Gefängnis unter der Folter. Sein Tod löste eine Kette terroristischer Akte6 aus und markiert den Beginn einer schwarzen Periode: Das Land lebte abwechselnd mit der blinden Gewalt der Terroristen und der – nicht minder blinden – organisierten Gegengewalt des Staates. Wegen der Lage in der Region und um nicht alle ihre Aktivisten an die „Kämpfende Avantgarde“ zu verlieren, entschied sich die Bewegung 5 6 Marwan Hadid (1934-1976) war in den 1950er Jahren Leiter der Studentenorganisation der Muslimbruderschaft und galt als charismatische Führungspersönlichkeit. Er gründete die extremistische Bewegung „Muhammad-Jugend“, die Vorläuferorganisation der „Kämpfenden Avantgarde“, und war Anhänger der beiden ägyptischen Ideologen des politischen Islam, Hasan al-Banna und Saiyid Qutb. Das erste Attentat wurde am 8.2.1976 begangen. Es kostete Hauptmann Muhammad Ghurra das Leben, den Leiter der Sektion Hama des militärischen Sicherheitsdienstes. Am spektakulärsten war indes der Anschlag auf die Artillerieschule von Aleppo, bei dem rund 60 Offiziersanwärter (allesamt Alawiten) exekutiert wurden. 272 Staatlicher Umgang mit Opposition der Muslimbruderschaft daher ebenfalls für den bewaffneten Kampf. Als Antwort verkündete die Regierung im Jahr 1980 das Gesetz Nr. 49,7 das die Mitgliedschaft in der islamistischen Bewegung mit dem Tode bestraft. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen häuften sich mehr und mehr und erreichten am 8. Februar 1982 ihren Höhepunkt. An diesem Tag lancierte die Muslimbruderschaft einen „Mobilisierungsappell“ zur Unterstützung der „islamischen Revolution“, die ihrer Meinung nach in Hama ausgebrochen war. Über hundert Staatsbediensteten wurden die Kehlen durchschnitten, Polizeistationen und staatliche Einrichtungen standen in Flammen. Sofort kreisten Elitetruppen der Armee die Stadt ein, besetzten sie und erklärten sie zur offenen Stadt.8 Ein paar Monate später geriet der Anführer des extremistischen Flügels, Adnan Ouqla, zusammen mit siebzig Genossen in eine von den Sicherheitskräften geschickt gestellte Falle. Nach dieser Operation wurde der bewaffnete Arm der islamischen Opposition im Landesinneren vernichtet. Kämpfer, die der Repression entkommen konnten, begaben sich auf andere Kriegsschauplätze, insbesondere in Afghanistan und Algerien. Was den „gemäßigten“ Flügel der Bewegung anbetrifft, so kamen die einfachen Aktivisten in der Haft um, während die Führer ins europäische Exil, vor allem nach Deutschland und Großbritannien, flohen. Zehn bis fünfzehn Jahre später kam es gegen Ende von Hafiz alAsads Regierungszeit zu Gesprächen zwischen dem Regime und den Führern der Muslimbruderschaft. Das Regime verlangte, daß sich die Muslimbruderschaft beim syrischen Volk für ihre Verantwortung an „den Ereignissen“, die das Land destabilisiert hatten, entschuldigte. Das war die sine-qua-non-Bedingung für die „individuelle“ Rückkehr von Mitgliedern der Muslimbruderschaft aus dem Exil (was bedeutet, daß die Muslimbruderschaft nicht als politische Organisation anerkannt werden sollte). Die Muslimbruderschaft lehnte allerdings die Alleinschuld an „den Ereignissen“ ab. Sie forderte vielmehr die Wiederherstellung der 7 8 Das Gesetz ist bis heute in Kraft. Die Belagerung von Hama dauerte rund zehn Tage. Danach setzte die Armee, genauer: die „Verteidigungsbrigaden“ von Rifcat al-Asad, dem Bruder des Präsidenten, zum Sturm an und „demütigten“ die Stadt und ihre Bürger. Über die Zahl der ermordeten Bürger sind sich die Berichte nicht einig. Je nach Quelle variieren die Zahlen zwischen 5.000 und 40.000. Kapitel II : Syrien 273 Freiheitsrechte, das Ende des Ausnahmezustands und vor allem die Abschaffung von Gesetz Nr. 49/1980. Ganz offensichtlich machte Unnachgiebigkeit auf beiden Seiten jede politische Lösung unmöglich. Im „Damaszener Frühling“ spielten deshalb auch islamische Intellektuelle kaum eine Rolle. Allenfalls nahm der eine oder andere an einer Forumsdebatte teil. Das lag zweifellos daran, daß jeder, der im Verdacht stand, Beziehungen zum politisch aktiven islamischen Milieu zu haben, von den Sicherheitsdiensten streng observiert wurde. Das erste Dokument, das darüber informiert, wie die Muslimbruderschaft die neue Situation im Land nach dem Tode Hafiz al-Asads beurteilt, zeugt indes von einem politischen Orientierungswechsel. In diesem im Mai 2001 veröffentlichten Dokument bekennt sich die Muslimbruderschaft zu demokratischen Prinzipien und erklärt diese zur Grundlage jeglicher Reform: „Achtung des Menschen und Schutz der Menschen-, Bürger- und politischen Rechte sind die Grundvoraussetzungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen.“9 Am 23. Dezember 2001 rief die Muslimbruderschaft zur Gründung einer Front der Nationalcharta auf. Zu diesem Zweck organisierten sie Ende August 2002 in London ein Treffen, das sie „Ersten Kongreß für nationalen syrischen Dialog“ nannten. Ende Dezember 2004 erschien schließlich in London das „Islamische Projekt für die syrische Zivilisation von morgen“, das als politisches Programm der syrischen Muslimbruderschaft gelten kann. Verglichen mit dem früher üblichen Diskurs der Bewegung erscheint dieses Dokument revolutionär. Die Verfasser des Projekts schlagen ein ganz neues islamisches Konzept vor, um Individuum, Gesellschaft und Staat zu formen sowie die Gesetze und Institutionen in Syrien zu erneuern und um das Land zu Freiheit und Demokratie zurückzuführen.10 Parallel dazu bekennt sich das Dokument jedoch zu islamischen Prinzipien, die in mehrfacher Hinsicht zu dem so vermittelten Geist von Offenheit und Modernität in Widerspruch stehen. So soll sich der moderne Staat auf „Wahlfreiheit, 9 10 Vgl. den „Entwurf einer nationalen Ehrencharta für politisches Handeln“, London, 3.5.2001. Näheres vgl. bei Abbas, Hassan: Syrien, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost, Hamburg 2004, S. 127136. 274 Staatlicher Umgang mit Opposition Staatsbürgertum, Repräsentanz, Machtübertragung, Institutionen und Herrschaft des Gesetzes“11 gründen; so wie die Verfasser sich ihn wünschen, gilt aber nur ein Maßstab: das islamische Gesetz, die Scharia. Ebenso verhält es sich mit den Thesen zur Situation der Frau, die zwar „Gleichheit, Differenz und Komplementarität im Verhältnis zwischen Mann und Frau“ betonen, doch mit Hilfe geistiger Akrobatik die Geschlechtertrennung zu rechtfertigen suchen.12 1.1.2. Die Islamische Befreiungspartei Diese Partei wurde 1909 im palästinensichen Haifa von Taqi al-Din Nabhani gegründet und breitete sich 1956 auch in Syrien aus. Ihre Ideologie ist außergewöhnlich extremistisch. Im Zentrum steht die Gründung eines islamischen Staates nach einem Drei-Phasen-Programm: - - Die „Ausgangsphase“: Eine „Kernzelle“ aus Personen, die sich der Sache des Islam verschrieben haben, soll eine Befehlsstruktur aufbauen, die für die Ausbildung der Parteimitglieder zuständig ist. In der „Verbreitungsphase“ soll in der Gesellschaft eine der Partei günstig gesonnene öffentliche Meinung hergestellt werden. In der „Aktionsphase“ ergreift die Partei die Macht. Wie stark diese Partei derzeit in Syrien ist, ist schwer abzuschätzen, doch sprechen Wissenschaftler von insgesamt tausend Aktivisten im Land. Als Präsident Bashshar an die Macht kam, war die politische Präsenz der „Brüder“ und der in ihrem Umkreis agierenden Fraktionen im Land nicht spürbar. Dennoch waren sie für das Regime stets die gefährlichste Kraft. Dies hat verschiedene Ursachen: - 11 12 Die islamische Ideologie: Kein Potential in der Gesellschaft ist so stark wie ihres. Das hängt mit der von vielen Wissenschaftlern beschriebenen „sahwa al-islamiya“ zusammen, dem „islamischen Erwachen“, das sich besonders in ostentativen symbolischen Handlungen manifestiert: Schleiertragen, massenhafte Beteiligung an identitätsstiftenden Ritualen, Rückkehr zu religiösen Praktiken bei feierlichen gesellschaftlichen Anlässen (Hochzeit, Geburt, Tod) usw. Vgl. Entwurf einer nationalen Ehrencharta, a.a.O. (Anm. 9), dort Kapitel III: „Die Grundlagen des modernen Staates“, S. 26-37. Ebenda, Kapitel V, S. 50-53. Kapitel II : Syrien - - 275 Die Existenz islamischer Organisationen oder Vereinigungen: Sie verfügen wegen ihrer Ideologie und dank ihrer organisatorischen Beziehungen zu anderen weltweit verbreiteten islamistischen Bewegungen über mediale, finanzielle und logistische Möglichkeiten. Die stark durchorganisierten religiösen Netzwerke in der syrischen Gesellschaft: Sie definieren sich als unpolitisch, könnten aber notfalls sofort als logistische Infrastruktur zur Verfügung stehen. Das trifft auf die Sufi-Bruderschaften, die „Rabitat al-ulama’“ (Liga der Religionsgelehrten), auf Wohltätigkeitsorganisationen, aber auch und vor allem auf die Vereinigung der städtischen Musliminnen, die sogenannten „Qubaissiyat“, zu.13 1.2. Die „säkulare“ Opposition Mehrere Parteien definieren sich als säkular, aber die einzige Partei, die ausschließlich säkular orientierte Mitglieder aufnimmt, ist die Syrische Soziale Nationalistische Partei. Dennoch seien hier als säkular all jene Parteien zusammengefaßt, die nicht die Gründung eines islamischen Staates oder die Islamisierung der Gesellschaft zum Ziel haben. 1.2.1. Die Nationaldemokratische Sammlung (NDS) Zu ihr schlossen sich 1979 fünf panarabisch und sozialistisch orientierte Parteien zusammen. Vier davon waren Abspaltungen von Parteien, die im März 1972 die Patriotische Fortschrittliche Front (PFF)14 gebildet hatten. Anfangs hatten die meisten politischen Parteien in Syrien die Bildung dieser Front begrüßt. Als aber deutlich wurde, daß der Baath die Macht monopolisieren und die Gesellschaft entpolitisieren wollte, kam es innerhalb der Parteien zu Protestbewegungen. Einige zogen sich aus der PFF zurück, andere spalteten sich von ihren Parteien ab und gingen als kleine Gruppierungen in die Opposition. So entstand die NDS, sozusagen als Antipode zur PFF, aus dem Zusammenschluß von fünf dieser Gruppen. Diese sind: 13 14 Vgl. unten Abschnitt 3 (Präventivmaßnahmen). Die Bildung dieser von der Baath-Partei dominierten Front wurde am 7.3.1972 bekanntgegeben. Ursprünglich umfaßte sie fünf Parteien, aber weil sich drei dieser Parteien spalteten und ihr im Jahr 2005 ein Flügel der Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei beitrat, sind es heute neun Parteien. 276 Staatlicher Umgang mit Opposition Die Sozialistische Arabische Demokratische Union (SADU). Diese Partei war im Juli 1964 aus dem Zusammenschluß mehrerer nasseristisch orientierter kleiner Gruppen entstanden.15 1967 spaltete sie sich in einen Minderheitsflügel unter der Leitung von General Muhammad al-Jarrah und den Flügel, der von dem Psychiater Jamal al-Atassi geleitet wurde. Zunächst schloß sich der Atassi-Flügel der Patriotischen Fortschrittlichen Front von Hafiz al-Asad an, verließ diese jedoch kaum ein Jahr später aus Protest gegen Artikel 8 der neuen Verfassung, der die totale Kontrolle von Gesellschaft und Staat durch den Baath festschrieb. Eine kleine Minderheit lehnte al-Atassis Entscheidung ab und blieb unter Beibehaltung des Parteinamens in der Front, während die Mehrheit in die Opposition im Untergrund ging und Verhandlungen zur Gründung des NDS aufnahm. Nach dessen Gründung 1979 wurde die SADU vom Regime verfolgt, und viele ihrer Mitglieder kamen ins Gefängnis. Im Jahr 2000 beschloß die Partei, den Untergrund zu verlassen und sich an den Aktivitäten während der ersten Monate von Bashshar al-Asads Präsidentschaft zu beteiligen. Sie organisierte das nach ihrem 1998 gestorbenen Generalsekretär benannte Jamal-al-Atassi-Forum. Dank präsidialer Protektion fiel dieses Forum nicht dem Forumsverbot von 2001 zum Opfer und überlebte bis 2004. Die Ideologie der Partei gleicht in vielen Punkten der des Baath. Beide Parteien berufen sich auf den Panarabismus und kämpfen für die Schaffung eines geeinten arabischen Vaterlandes als Heimat aller Araber „vom Atlantischen Ozean bis zum Arabischen Golf“. Im übrigen sind die Wahlsprüche beider Parteien fast identisch, nur die Reihenfolge der Elemente ist anders: „Einheit, Freiheit, Sozialismus“ heißt es beim Baath, „Freiheit, Einheit, Sozialismus“ bei der SADU. Die Demokratische Volkspartei: Dies ist der Ableger eines ehemaligen Flügels der Syrischen Kommunistischen Partei, der unter dem Namen „SKP-Politbüro“ (al-Maktab al-siyasi) bekannt war. Die erste kommunistische Partei in Syrien war 1924 gegründet worden. Nach der Niederlage von 1967 führte eine innerparteiliche ideologische und organisatorische Krise zur großen Spaltung:16 Die prosowjetischen Mitglieder scharten sich um den historischen Führer Khalid Bakdache. Auf der anderen Seite wurden die „Separatisten“ von einem streitbaren Anwalt namens Riad al-Turk angeführt. Dessen Partei schloß sich der Front an, verließ sie aber 1976 wieder und wurde zum Hauptpol der politischen Opposition in Syrien. Ihre Führer mußten im Untergrund leben, um 15 16 Es handelte sich um die Syrische Sozialistische Union, die Vereinigte Arabische Front, die Bewegung der Arabischen Nationalisten und die Bewegung der Sozialistischen Unionisten. Die beiden letzteren zogen sich 1966 aus der Partei zurück. Die Spaltung erfolgte 1972. Riad al-Turks Flügel wählte die Bezeichnung „Politbüro“, um auszudrücken, daß er die zahlenmäßige Legitimität innehatte, bevor die Kommunistische Partei der UdSSR intervenierte und Bakdache recht gab, worauf viele Kader in dessen Lager überwechselten. Kapitel II : Syrien 277 nicht Opfer langjähriger Haftstrafen zu werden.17 Ende April 2005 nahm die Partei bei ihrem sechsten Kongreß, dem ersten nach ihrer Namensänderung, ein politisches Programm an, dessen Ziele sie thesenartig so zusammenfaßte: „Das Land aus der heute obwaltenden Unterdrückung und Unterwicklung befreien und zu Demokratie und Fortschritt führen.“ Die Partei des Sozialistischen Demokratischen Arabischen Baath: Nach der Niederlage der Syrer bzw. der Araber im Sechstage-Krieg gegen Israel 1967 entstanden in der 1947 gegründeten „alten“ syrischen Baath-Partei zwei konkurrierende Richtungen. Eine links orientierte unter Salah Jadid und Nur alDin Atassi sprach sich für eine unnachgiebige Politik gegenüber den „reaktionären“ arabischen Ländern aus und forderte die Schaffung von Mechanismen zur sozialistischen Transformation. Eine gemäßigte Richtung unter Hafiz al-Asad befürwortete die Versöhnung unter den arabischen Ländern und die Stärkung der inneren Front. Am 16. November 1973 ergriff Asad die Macht in der Partei und ließ die Führer der Gegenrichtung verhaften bzw. zwang sie ins Exil. Einen Monat später entstand die oppositionelle Partei des Sozialistischen Demokratischen Arabischen Baath. Seither wird sie vom ehemaligen Außenminister Ibrahim Makhus geleitet, dem es gelungen war, das Land zu verlassen und sich in Algerien niederzulassen. Abgesehen vom Demokratieanspruch, der im Namen der Partei zum Ausdruck kommt, unterscheidet sich ihre Ideologie kaum von der der ursprünglichen Partei. Die Bewegung der Arabischen Sozialisten: Die Geschichte dieser Bewegung ist eng mit der ihres historischen Führers Akram al-Hourani verbunden. Der Sohn einer Landbesitzerfamilie aus der Stadt Hama schloß sich 1938 der Partei der jungen sozialistischen Araber an und wandelte sie zur Bewegung der arabischen Sozialisten um. 1952 fusionierte die Bewegung mit dem Baath und wurde zur Arabischen Sozialistischen Baath-Partei. Wie fast alle politischen Parteien Syriens löste sich auch diese 1958 auf, als die Union mit Ägypten ratifiziert wurde, und al-Hourani wurde Präsident Nassers Stellvertreter. Nach dem Putsch des Baath 1963 verließ al-Hourani das Land und ging ins Exil, zunächst in den Irak, dann nach Jordanien, wo er 2002 starb. Seine Bewegung zerfiel im Laufe der Zeit in zahlreiche Splittergruppen, die sich der PPF bzw. der NDS anschlossen. Die Revolutionäre Arabische Arbeiterpartei: Diese kleine marxistisch orientierte Gruppe ist stolz darauf, daß ihr einige Intellektuelle angehören, die die 17 Riad al-Turk z.B. saß achtzehn Jahre in Einzelhaft, was ihm den Beinamen „syrischer Mandela“ eintrug. Am 1. September 2001, knapp drei Jahre nach seiner Entlassung, wurde er erneut inhaftiert, weil er in einem Interview im qatarischen Satellitensender al-Jazira Hafiz al-Asad als Diktator bezeichnet hatte. Dank internationalen Interventionen, vor allem von Seiten der Europäischen Union, konnte er am 16.11.2002 nach vierzehnmonatiger Haft das Gefängnis wieder verlassen. 278 Staatlicher Umgang mit Opposition Geschichte der politischen Lehre in Syrien geprägt haben, allen voran der 1978 verstorbene baathistische Denker Yasin al-Hafiz und der 1991 verstorbene Marxist Ilias Murqus. Trotz des Ansehens, das diese Partei in syrischen Intellektuellenkreisen genießt, ist ihr Einfluß heutzutage allerdings gering. Die NDS veröffentlichte ihr erstes politisches Dokument im März 1980,18 mitten in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen dem Baath-Regime und der radikalen bewaffneten islamistischen Opposition unter Führung der Muslimbruderschaft. Die dort definierte Strategie zeigt klar, daß sich der politische Diskurs in Syrien fortentwickelt hat. Denn „Demokratie“, das erklärte Hauptziel der Sammlung, klingt hier erstmals eher liberal, weniger populistisch als in der sozialistischen politischen Literatur, die bislang in Syrien vorherrschte.19 Trotzdem zielte diese Veröffentlichung weder auf eine Versöhnung mit dem Regime noch auf politische Reformen. Hafiz al-Asads Regime sei eine typische Diktatur, unverbesserlich und darum unbedingt zu beenden. Der eindeutige Sieg des Regimes über die Muslimbruderschaft, Veränderungen auf internationaler Ebene (Zusammenbruch der UdSSR und Auflösung des sozialistischen Lagers) sowie im regionalen Umfeld (Druck auf Syrien, erster Golfkrieg 1990/91 usw.), außerdem die Weigerung der syrischen Parteien, zur Lösung innenpolitischer Probleme Hilfe von außen anzunehmen, all dies führte dazu, daß die Positionen der NDS-Parteien gemäßigter wurden. Dies zeigte sich erstmals in einem Ende 1989 heimlich in Umlauf gebrachten internen Dokument. Offiziell wurde der Positionswechsel dann durch das politische Programm der NDS, das am 20. Dezember 2001 in Damaskus veröffentlicht wurde.20 In der Präambel heißt es:21 „Das Land geht heute durch eine Übergangsphase, die den verschiedenen sozialen Kräften sowie den verschiedenen geistigen und politischen Strömungen Gelegenheit zum Dialog und zur 18 19 20 21 Vgl. Muhammad Jamal Barut: Min al-radikaliya ila al-islah (Vom Radikalismus zur Reform), in: Awraq thaqafiya (Kulturdokumente), Buch 1, Veröffentlichung des Informationsbüros der NDS in Syrien, Januar 2003, S. 65-72. Das führte innerhalb der Parteien zu heftigen Debatten und veranlaßte viele, ihre Mitgliedschaft zu überdenken. Anläßlich einer Pressekonferenz, die im Anwaltsbüro ihres Sprechers Hassin Abd alAzim abgehalten wurde. Vgl. Politisches Programm – Statuten, Veröffentlichung der NDS in Syrien, Broschüre o.D. Kapitel II : Syrien 279 Annäherung bietet. Sie schafft auch die Voraussetzungen für eine nationale Aussöhnung, ohne die die Spuren der Vergangenheit nicht beseitigt und die Probleme der Gegenwart nicht gelöst werden können. Denn dies erfordert die Beteiligung sämtlicher gesellschaftlicher Kräfte.“22 Dieser konziliante Ton bestimmt den Text, obwohl beständig auf die „totale Krise“ hingewiesen wurde, die das Regime durch seine schlechte Gesellschaftspolitik verursacht habe. Zur Beendigung dieser Krise verschreibt das Programm „eine politische Lösung“, die das politische Leben wieder auf die Grundlage von Staatsbürgertum und Gesetzesherrschaft stellen würde. Es empfiehlt „eine stufenweise Reform“, die nach und nach zu realisieren wäre und alle Kräfte von Staat und Gesellschaft einbinden müßte. Das Programm formuliert zwei Hauptziele und stellt zahlreiche Forderungen allgemeiner Art auf. Erstes Ziel: Aufbau eines modernen Staates, der nur dann gelingen kann, wenn folgende Forderungen erfüllt werden: - Beendigung des Ausnahmezustands mit allen seinen Konsequenzen - Achtung der Freiheits- und der Menschenrechte - Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit - Achtung der Gewaltenteilung - Verfassungsreform und Verkündung einer neuen, demokratischen Verfassung, die das Prinzip Herrschaft des Volkes und des Gesetzes anerkennt - Wiederbeachtung des Prinzips freier und direkter Wahlen - Wiederherstellung der öffentlichen Freiheiten - Dezentralisierung der Verwaltung - Verkündung eines modernen Presse- und Massenmediengesetzes - Novellierung der Militärdienstgesetzgebung - Abschaffung des Polizei- und Überwachungsstaates und Kontrolle der Sicherheitsapparate durch das Gesetz Zweites Ziel: Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbau durch: - Schaffung einer Nationalökonomie und Neudefinition ihrer Prioritäten - Respektierung des Gleichgewichts zwischen der Wiedereinführung wirtschaftsliberaler Prinzipien und der Beibehaltung staatlicher Entwicklungspolitik - Reform des öffentlichen Sektors - Umverteilung des Volksvermögens und Neudefinition der Besteuerung 22 Ebenda, S. 4. 280 - Staatlicher Umgang mit Opposition Mehr Aufmerksamkeit für die Landwirtschaft und die Landwirte Mehr Aufmerksamkeit für die Jugend und die Bildung Förderung der wissenschaftlichen Forschung Gleichstellung der Geschlechter Trennung von Religion und Staat Sämtliche in der NDS koalierten Parteien schlagen also einen konzilianten Ton an; Aufrufe zur Gewalt fehlen. 1.2.2. Die Partei der Kommunistischen Aktion (PKA) Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden an verschiedenen Orten des Landes sporadisch marxistische Zirkel. Diese embryonalen Gruppen, hauptsächlich gebildet von Studenten, einte so etwas wie revolutionärer Puritanismus. Sie gaben sich extrem „links“, was allerdings weniger in politischen Aktionen als in Symbolen (im Sozialverhalten, der Kleidung, in Form von Revolutionsgesängen usw.) in Erscheinung trat. Nach Kontakten zwischen diesen Gruppen kam es 1974, 1975 und 1976 zu drei Treffen auf Landesebene, bei denen zahlreiche Vertreter die Möglichkeit diskutierten, eine neue revolutionäre kommunistische Organisation zu gründen. So entstand am 6. August 1976 die Liga der Kommunistischen Aktion, aus der fünf Jahre später die PKA23 wurde. Das Zentralorgan der Liga, „Das rote Banner“, rief zum Kampf gegen „die Macht der nichtpatriotischen diktatorischen bürokratischen Bourgeoisie“ und für „die Wiederherstellung der politischen Freiheiten und die Errichtung der Demokratie auf dem Wege zum Sieg der sozialistischen Revolution“ auf. Es forderte im übrigen die Schaffung „eines vereinigten internationalen Zentrums“, das „die Kämpfe gegen die Kräfte des Weltkapitalismus“ anzuführen habe.24 Von bewaffnetem Kampf als Aktionsform zur Durchsetzung der „revolutionären“ Ziele der Partei war jedoch nicht die Rede. Die Gründung der Liga wurde mit fünf aufeinander folgenden Verhaftungswellen zwischen März 1977 und April 1979 bestraft. Wei23 24 Die Gründung der neuen Partei wurde am 6.8.1981 bekannt gegeben, mitten in der Repressionskampagne gegen die Aktivisten der Liga. Vgl. Syrien. Das schwarze Register. Memorandum über die patriotischen politischen Gefangenen in den Kerkern der Diktatur, illegal publiziert von der Partei der Kommunistischen Aktion in Syrien, Mai 1989, S. 22. Kapitel II : Syrien 281 tere Verhaftungen folgten sowohl während der bewaffneten Zusammenstöße zwischen dem Regime und den islamischen Kräften als auch danach, obwohl die Partei eine neutrale Position zu diesen Zusammenstößen einnahm, bei denen es sich ihres Erachtens um einen Machtkampf zwischen der vom Regime vertretenen bürokratischen Bourgeoisie und der von der Muslimbruderschaft vertretenen traditionellen Bourgeoisie handelte. Von den Verhaftungen waren sämtliche Parteiaktivisten betroffen. Alle wurden vom Staatssicherheitsgericht zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt, was die Partei erheblich schwächte. Ende der 1990er Jahre, nach Verbüßung ihrer Haft, kamen die Gefangenen nach und nach wieder frei.25 Ein paar Aktivisten schlossen sich der im Entstehen begriffenen demokratischen Opposition an und beteiligten sich an den Diskussionsforen des „Damaszener Frühlings“, während andere zu ihren früheren Aktivitäten zurückkehrten, um die inzwischen daniederliegende schwache Partei wiederaufzubauen. Die meisten gaben die Politik aber auf und zogen sich ins Privatleben zurück. 1.2.3. Die unabhängigen demokratischen Intellektuellen Dies sind Persönlichkeiten, die als aktive Bürger am öffentlichen Wohl interessiert sind und die herrschenden Zustände verändern wollen, ohne jedoch den Direktiven einer politischen Organisation zu folgen. Seit jeher gab es in Syrien unabhängige Persönlichkeiten, denen die Verteidigung von Freiheit und Demokratie am Herzen lag. Meist hatten diese Intellektuellen negative Erfahrungen mit der (Partei-)Politik gemacht, bevor sie sich im Kampf für die Demokratie engagierten. Man könnte sogar sagen, daß all diese individuellen Erfahrungen ähnlich verliefen. Alle nahmen ihren Ausgang in den politischen Bewegungen, die nach der nationalen Befreiung von den beiden totalitären, nichtreligiösen Ideologien des Nahen Ostens bestimmt waren, nämlich Panarabismus und Kommunismus. Ihre Fehlschläge waren es, die die Erfahrungen negativ prägten: das Projekt der arabischen Einheit und alle Versuche, die Palästinafrage zu lösen, scheiterten; die sozioökonomischen Entwick25 Viele Parteiführer mußten mehrere Monate zusätzlich im Gefängnis verbringen, weil sie sich weigerten, sich schriftlich zu verpflichten, nach ihrer Haftentlassung nicht mehr politisch aktiv zu sein. 282 Staatlicher Umgang mit Opposition lungsprogramme schlugen fehl und die Experimente der sozialistischen Länder scheiterten genauso wie die Bemühungen, politische Parteien aufzubauen und echtes politisches Leben herzustellen. So relativierten sich die ideologischen und politischen Überzeugungen zugunsten einer neuen Position: Alle Komponenten der Gesellschaft sollten sich zusammenfinden, um den Totalitarismus zu beenden und einen modernen Staat zu schaffen, der seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft zu finden hätte. Im historischen Kontext werden die Präsenz und Rolle dieser Intellektuellen in den Initiativen sichtbar, die den sogenannten „Damaszener Frühling“ ab 2000 ausmachten. Selbst wenn diese pazifistischen Initiativen nicht sehr mutig waren, trugen sie zur Renaissance der syrischen Oppositionsbewegung bei, die demokratische Reformen fordert. Die wichtigsten Aktivitäten waren: Der Appell der 99 Dies ist ein Manifest vom Umfang einer Seite, das die Beendigung der jahrzehntelang geübten Repressionspolitik verlangt. Es erhielt seinen Namen von den 99 Signataren, überwiegend Intellektuelle und Kulturschaffende (Filmemacher, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Wissenschaftler).26 Sie forderten von den syrischen Behörden - die Aufhebung des 1963 in Syrien verhängten (und seither gültigen) Ausnahmezustands und des Kriegsrechts. eine Generalamnestie für alle politischen Häftlinge und Gesinnungshäftlinge; das Rückkehrrecht für alle politischen Flüchtlinge. die Wiederherstellung des Rechtsstaats und der öffentlichen Freiheiten; Achtung von politischem und Meinungspluralismus sowie Achtung der Versammlungs-, Meinungs- und Publikationsfreiheit; Verbannung jeglicher Form von Zensur aus dem öffentlichen Leben. Die Bildung von Diskussionsforen Sie entstanden zunächst in Damaskus, danach auch in anderen Städten, darunter: „Das Freitags-Kulturforum“, das Forum „Wirtschaft am Dienstag“, „Das zivilisierte Forum“, „Das Forum für kulturellen Dialog“, „Das Forum für patriotischen Dialog“, „Das Forum der Neuen Linken“, „Das Forum Jamal alAtassi“ usw. Diese Foren vermehrten sich schnell, so daß es Ende 2000 bereits 26 Es wurde am 27. September 2000 durch libanesische Medien in Beirut publik, denn die in Syrien ansässigen Presseagenturen hielten es nicht für angebracht, es vor Ort zu publizieren. Kapitel II : Syrien 283 über 150, sogar in den entlegensten Orten des Landes, gab. Gegründet wurden sie anfangs von Intellektuellen und Kulturschaffenden; behandelt wurden vornehmlich kulturelle Themen. Ziel war das Wiederaufleben einer unabhängigen Bürgergesellschaft. Politische Aktivisten, die in diesen behördlich geduldeten Zusammenkünften einen Ersatz für die Tribünen fanden, die ihnen seit Jahrzehnten verwehrt waren, lenkten die Diskussionen und Debatten sehr bald jedoch in Richtung politische Agitation. Dies nahmen die Sicherheitsorgane, die von Natur aus allen kollektiven Aktivitäten, gleich ob kultureller oder anderer Art, feindlich gesonnen waren, zum willkommenen Anlaß, die Foren zu kritisieren und verbieten zu lassen. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die heute aktiven Vertreter der traditionellen syrischen Opposition zur Umsetzung ihrer Forderungen nie mit Gewalt oder bewaffneter Konfrontation drohten. Der Diskurs dieser Opposition ist vielmehr konziliant und geht kaum weiter als der Wunsch nach politischen Reformen, wie sie der „Appell der 99“ in seinen drei Punkten resümiert. Andererseits offenbart der Diskurs aller dieser Gruppen aber auch Schwachpunkte: - Ihr Hauptinteresse sind politische Reformen, weniger kulturelle und soziale Reformen. Klare, zusammenhängende Programme fehlen. Die verschiedenen Gruppen fordern zwar demokratische Reformen, schweigen sich jedoch über die undemokratischen Prinzipien ihrer eigen Strukturen, ihrer Arbeitsmethoden und ihrer Ideologien aus. Trotz dieser Schwachpunkte ist anzuerkennen, daß es dank der Aktivitäten der traditionellen Opposition wieder politisches Leben gibt. Nur insofern ist das Bild vom Frühling vielleicht gerechtfertigt. 2. Die neue Opposition Zu dieser Kategorie zählen Gruppierungen, die nach dem Damaszener Frühling entstanden sind und für Ziele streiten, die bislang noch nie öffentlich angestrebt wurden, sowie neue Koalitionen aus Gruppierungen, die es schon früher in der politischen Szene Syriens gab. 284 Staatlicher Umgang mit Opposition 2.1. Menschenrechtsvereinigungen Die katastrophale Menschenrechtslage in Syrien hatte viele Aktivisten zur Gründung von Initiativen angeregt, die ihre Mitbürger auf diese Zustände aufmerksam machen und die internationale Gemeinschaft für das Schicksal Tausender politischer Gefangener oder ehemaliger Gefangener im Land sensibilisieren sollten. Immerhin schätzten zu Beginn des Jahres 2000 internationale Menschenrechtsverbände die Zahl der Gesinnungshäftlinge in syrischen Kerkern auf mehrere Tausend. Gegenwärtig sind zwar verschiedene Menschenrechtsvereinigungen im Land tätig, aber keine einzige arbeitet legal. Das Regime hält an seiner Politik der „Duldung ohne offizielle Anerkennung“ fest, die den Bürgerinitiativen eine rechtliche Existenz vorenthält und dadurch ihre Arbeit und Ausstrahlung auf geschlossene, elitäre Kreise beschränkt, während ihre Mitglieder in ständiger Angst leben und sich in Selbstzensur üben. Die Komitees für die Verteidigung der Menschenrechte in Syrien: Sie sind die älteste Menschenrechtsorganisation im Land. Die Komitees entstanden im Januar 1989, aber bereits einige Monate später wurden die meisten aktiven Mitglieder (u.a. Nizar Nayyuf, Thabet Murad und Akhtam Nuayssa) verhaftet und zu Strafen verurteilt. Im September 2001 wurde die Organisation neu gegründet. Sie gab eine Zeitschrift heraus, „Amarji“,27 die nach einigen Ausgaben verboten wurde. Ständiger Druck der Sicherheitsorgane auf die Mitglieder und ideologische Differenzen führten zum Zerfall der Organisation in Splittergruppen. Die Syrische Menschenrechtsvereinigung: Sie wurde am 29. Juli 2001 von rund vierzig Intellektuellen gegründet. Ihr Organ, „Tayyarat“ (Strömungen), wurde schon nach Erscheinen der ersten Nummer verboten. Für die Lage der Menschenrechte in Syrien sind die von dieser Organisation herausgegebenen Jahresberichte als Referenz allerdings unumgänglich. Die Arabische Menschenrechtsorganisation: Der Hauptsitz dieser panarabischen Organisation, die in den meisten arabischen Ländern Regionalsektionen unterhält, befindet sich in Kairo (www.aohr.org). Die syrische Sektion entstand 2004. 27 Sie ist die Nachfolgezeitschrift der Stimme der Demokratie, von der elf Ausgaben veröffentlicht und heimlich verbreitet worden waren. Der Name Amarij kommt aus dem Sumerischen und soll geschichtlich die erste Bezeichnung für „Freiheit“ sein. Kapitel II : Syrien 285 Die Syrische Menschenrechtsorganisation „Sawassiya“: Sie wurde 2004 gegründet. Das Damaskus-Zentrum für Menschenrechtsstudien: Wie sein Name andeutet, handelt es sich um ein wissenschaftliches Forschungszentrum. Es wurde Anfang 2006 gegründet und veröffentlicht ein nichtperiodisches Bulletin, „al-Bussala“ (Der Kompaß), zu jeweils einem Thema. Das Syrische Menschenrechtskomitee: Es handelt sich hierbei um eine sehr aktive Organisation, die von der Bewegung der Muslimbruderschaft abhängt. Ihr Sitz ist in London. Die Nationale Menschenrechtsorganisation in Syrien: Sie entstand Ende März 2006 aus einer Abspaltung von „Sawassiya“ und wird von Ammar Qurabi geleitet. Bei der Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien ist sie gegenwärtig am aktivsten. Die Ziele und Forderungen dieser Vereinigungen lassen sich in fünf Hauptpunkten zusammenfassen: - Menschenrechtsverletzungen im Land aufspüren und anprangern. Die Verbreitung einer Kultur der Menschenrechte. Juristische und humanitäre Hilfe für Gefangene und entlassene Gefangene. Die Forderung, die sich gegen oppositionelle Intellektuelle richtenden Überwachungsmaßnahmen zu beenden. Die Forderung, den Ausnahmezustand und die damit zusammenhängenden Sondergerichte abzuschaffen. Zu Beginn ihrer Arbeit ernteten die Vereinigungen viel Sympathie. Doch blieb ihr Einfluß aus verschiedenen Gründen, darunter die Manipulation durch die Geheimdienste, mangelnde Erfahrung, Egozentrik und Nabelschau der Gründungsmitglieder, nur gering. Hinzu kommt, daß es wegen der Lage in der Region, besonders im Irak und in Palästina, zu massiver Ablehnung der als westlich geltenden Werte wie Demokratie und Menschenrechte kam. 2.2. Frauenvereinigungen Neben diesen Menschenrechtsorganisationen entstand eine nicht näher bestimmbare Zahl spezifisch an Frauenrechten interessierter Gruppierungen. Deren Wirken stößt auf den erbitterten Widerstand der syrischen 286 Staatlicher Umgang mit Opposition Islamisten. Muhammad Said al-Buti aus dem reaktionär islamischen Spektrum kritisierte z.B. mehrfach diese Organisationen wie auch Organisationen, die eine Reform des syrischen bürgerlichen Gesetzbuchs fordern, und bezichtigte sie des Verrats im zionistischen Sold.28 Trotz dieser Widerstände starten immer mehr Frauenverbände Initiativen mit konkreten Forderungen, z.B. nach Abschaffung des Gesetzes über „Ehrenmorde“, nach Aufgabe der syrischen Vorbehalte zur UNO-Konvention zur Beseitigung jedweder Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 oder nach Bekämpfung der Gewalt in der Ehe. Die wichtigsten Gruppen sind: Die Liga der Syrischen Frauen: Die Liga ist eine traditionsreiche Organisation. Sie wurde bereits 1948 von Aktivistinnen der Syrischen Kommunistischen Partei gegründet und erlangte gegen Ende der 1980er Jahre eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Partei. Trotz der Gründung einer konkurrierenden baathistischen Massenorganisation, der Allgemeinen Frauen-Union, blieb sie aktiv und einflußreich. Um ihr Wirken zu behindern, untersagte der Minister für Soziales am 13. Dezember 2006 den staatlichen Behörden per ministeriellem Runderlaß, mit der Liga oder ihren Mitgliedern Beziehungen zu unterhalten. Die Vereinigung der Gesellschafts-Initiative: Sie wurde 2001 gegründet und war eine der seltenen nichtreligiösen Vereinigungen, die unter Bashshar al-Asad offiziell zugelassen wurden. Gemeinsam mit dem Verlagshaus „al-Shumus“ organisierte sie jedes Jahr zum internationalen Frauentag am 8. März eine Woche mit Treffen und Diskussionen zu Frauenfragen. Am 24. Januar 2007 dekretierte der Minister für Soziales willkürlich ihre Auflösung. Die Nationale Vereinigung zur Entwicklung der Rolle der Frau: In dieser 2002 gegründeten Vereinigung sind vor allem regimenahe Frauen zusammengeschlossen. Erkennbare militante Aktionen erschöpfen sich in Unterschriften unter Appelle zur Unterstützung von Frauenfragen. Der Islamische Syrerinnen-Zirkel: Seine Präsidentin ist die Enkelin des im September 2004 verstorbenen Großmuftis der Republik, Ahmad Kiftaro. Der Zirkel steht in Verbindung mit dem Zentrum für Islamstudien, das vom Abgeordneten Habache geleitet wird, einem der (kommenden) Männer des liberalen, gemäßigten Islam. 28 Vgl. „Die Hariri Affaire und ihre Verbindung zum Komplott gegen den Islam“ unter: www.bouti.com (in Arabisch). Kapitel II : Syrien 287 Die Feststellung ist wohl kaum übertrieben, daß in Ländern, in denen die Gesetzgebung auf dem islamischen Recht, der Scharia, beruht, Frauenvereinigungen per se zur Opposition gehören. Denn ihr Kampf ist unvereinbar mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Optionen des Regimes. Im syrischen Kontext bekämpfen die Frauen folglich all jene Gesetze, die die Ungleichheit zwischen Mann und Frau festschreiben, und zwar: - - - das Zivilrecht, das die in der Scharia enthaltenen Ungleichheiten wie einseitige Verstoßung, Polygamie, Vormundschaft, Erbe, Sorgerecht für die Kinder, Verheiratung minderjähriger Mädchen usw. festschreibt. das Staatsangehörigkeitsgesetz, insbesondere Paragraph 3, das Männer, nicht jedoch Frauen berechtigt, ihre Staatsangehörigkeit auf die Kinder zu übertragen. die Gesetzesverordnung vom 25. September 2002, mit der Syrien das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jedweder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) 23 Jahre nach Annahme der Konvention durch die UNO-Vollversammlung ratifizierte, jedoch zu fünf Paragraphen, die insbesondere die Bürgerrechte behandeln (§ 2, 9, 15, 16, 29), weiterhin Vorbehalte geltend macht. Alle genannten Organisationen, die Menschenrechtsorganisationen, die Frauenverbände und andere Nichtregierungsorganisationen der Zivilgesellschaft sowie streitbare unabhängige Intellektuelle fordern in ihren Publikationen und Diskussionszirkeln ein neues Gesetz zur Regelung und Legalisierung politischer Parteien und anderer Vereinigungen. 2.3. Die kurdische Opposition Die Kurden kommen als landesansässige ethnische Komponente im kulturellen Mosaik Syriens nach den Arabern an zweiter Stelle. Ihre Zahl wird auf gut anderthalb Millionen geschätzt; dies sind etwa 10 % der Bevölkerung des Landes. Ihre genaue Zahl kann nicht ermittelt werden, denn viele kurdische Familien, besonders städtische, haben sich vollständig in die arabischen Gesellschaftsstrukturen integriert und dabei sogar die Merkmale ihrer Identität verloren. Diese „integrierten“ Kurden nahmen und nehmen ohne jede Diskriminierung am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben teil. Minister, Kabinettschefs, Mitglieder des Regionalkommandos der (panarabischen) Baath-Partei, 288 Staatlicher Umgang mit Opposition Präsidenten der Volksräte, selbst ein früherer Präsident der Republik waren kurdischer Abstammung. Abseits der beiden Metropolen Aleppo und Damaskus, in denen diese Familien lebten, bildeten Kurden die Bevölkerungsmehrheit in den Grenzenklaven in natürlicher Fortsetzung der kurdischen Gebiete des Irak und der Türkei. Auf diese Weise konnten sie enge Beziehungen zu den verwandten Clans jenseits der Staatsgrenzen aufrechterhalten. Auf der anderen Seite waren die verschiedenen Regierungen nach der Unabhängigkeit mit Komplotts und Machenschaften der Zentralmacht so beschäftigt, daß sie diese ländlichen Regionen vollständig sich selbst überließen und keinerlei Förder- oder Entwicklungspläne entwickelten, die die Integration der Bewohner erleichtert hätten. Der Zugang zu autochthonen Kulturräumen einerseits und der versperrte Zugang zu den nationalen Entwicklungsplänen andererseits schufen ideale Bedingungen für die Beibehaltung und Perpetuierung der Merkmale ihrer Identität. Die Kurden der Grenzregionen blieben folglich marginalisiert und waren in die nach der Unabhängigkeit geschaffene nationale Gemeinschaft nur schlecht integriert. Dies erzeugte Frustration und schuf Solidaritätsbande, die ihre Brüder in den großen Städten nicht oder kaum kannten. Als Mitte der 1950er Jahre der Panarabismus an Einfluß gewann, sollte der identitäre Zusammenhalt der Kurden durch spezielle Maßnahmen weiter geschwächt werden. Seit dem Machtantritt der (ultranationalistischen) Baath-Partei im Irak und in Syrien intensivierten sich diese Maßnahmen; hierzu gehörten: Politische Maßnahmen - Verbot jeglicher politischer Vertretung der Kurden: Diese Maßnahme richtet(e) sich nicht speziell gegen die kurdische Minderheit, denn die syrische Verfassung verbietet die Gründung politischer Parteien auf ethnischer und religiöser Grundlage.29 Im politischen Umfeld der syrischen Kurden gibt es rund fünfzehn Formationen, die mehrheitlich links stehen.30 Sie werden im Prinzip geduldet, sind aber von der Staatssicherheit überwacht und streben nach Anerkennung der Grundrechte des kur29 30 Man sollte allerdings nicht vergessen, daß die Baath-Partei selbst gegen diese Verfassungsvorschrift verstößt, da sie auf dem Arabertum beruht. Diese Parteien sind eher Gruppen, die sich um einen Stammesführer scharen, als politische Organisationen, die sich aufgrund bestimmter Ziele und ideologischer Bezugssysteme gebildet haben. Kapitel II : Syrien - - - 289 dischen Volkes im Rahmen der Republik. Das Hauptziel einiger eher illegaler, rechtsgerichteter Formationen ist die Unabhängigkeit „Westkurdistans“, das heißt der kurdischen Enklaven in Syrien. Seit dem Damaszener Frühling gibt es im politischen Umfeld der Kurden neue Akteure, nämlich zwei kurdische Menschenrechtsorganisationen. Ihnen ergeht es allerdings nicht besser als den anderen Menschenrechtsorganisationen in Syrien. Kooptierung bekannter, regimetreuer Persönlichkeiten und ihre Ernennung in Ämter mit symbolischer Bedeutung.31 Diese Maßnahme ermöglicht eine angemessene Vertretung der Gemeinschaft und erstickt alle Vorwürfe, die Kurden würden diskriminiert. Instrumentalisierung der politischen Situation in den Nachbarländern, um die Unzufriedenheit der syrischen Kurden zu kanalisieren. Auch in diesem Zusammenhang ist die Unterstützung32 des syrischen Regimes für den Kampf der Kurden in den rivalisierenden Nachbarländern, z.B. im Irak und in der Türkei, zu verstehen. Gnadenlose Repression von Protesten und Forderungen. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands erleben die Kurden wie andere Syrer auch, daß ihre Grundrechte massiv eingeschränkt werden. Demonstrationen, Streiks, Flugblattaktionen, öffentliche Versammlungen und sonstige Formen von Meinungsäußerung, all dies ist den Kurden untersagt. Weil sie einer Nation angehören, die sich über die staatlichen Grenzen hinaus erstreckt, laufen sie zudem Gefahr, daß die geringste Protestregung als „separatistischer Versuch mit dem Ziel, einen Teil des syrischen Territoriums einem ausländischen Staat abzutreten“, interpretiert wird, was bedeutet, daß sie Hochverrat begehen und vor das Oberste Staatssicherheitsgericht gestellt werden. Kulturelle Maßnahmen - Einschränkungen im Gebrauch der kurdischen Sprache: Kurdisch ist nicht als Amtssprache anerkannt und wird folglich nicht an Schulen gelehrt. Offenbar betrifft diese Einschränkung vor allem die kurdische Sprache, denn Schulen anderer ethnischer Minderheiten (z.B. der 31 32 Die hervorragendste Persönlichkeit war zweifellos Scheich Ahmed Kiftaro. Genannt seien auch führende Politiker wie Fu’ad Ikko von der Kurdischen Volkspartei, Kamal Ahmad von der Kurdischen Demokratischen Partei und Hadj Darwiche von der Kurdischen Demokratischen Fortschrittlichen Partei, die 1999 als Mitglieder des Volksrates ausgewählt wurden. Zu beachten ist ferner, daß die Führung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten stets einer kurdischen religiösen Persönlichkeit vorbehalten ist. Hauptziel dieser Unterstützung ist die Schaffung von Spannungsherden innerhalb dieser Länder. 290 - - Staatlicher Umgang mit Opposition Armenier) oder religiöser Minderheiten (z.B. bestimmter christlicher Gemeinschaften) sind genehmigt. Seit die Baath-Partei an die Macht kam, wurde in Syrien eine Politik der toponymischen „Neutralisierung“ betrieben. Alle Ortsnamen mit kommunalistischer (konfessioneller oder ethnischer) Konnotation wurden durch neutrale Namen ersetzt. So wurden aus den „Alawitischen Bergen“ die „Westlichen Berge“ oder aus dem „Tal der Nasara“ das „Tal der Nadara“.33 Feiern zum kurdischen Neujahrstag Nawruz werden in den kurdischen Gebieten geduldet (wenn auch genau observiert), in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Vierteln der großen Städte jedoch strikt untersagt. Ebenfalls verboten sind öffentliche Kulturveranstaltungen (Konzerte, literarische Diskussionsrunden, Theateraufführungen, Dichterlesungen usw.) in kurdischer Sprache. Sozioökonomische Maßnahmen - 1962 führte die Zentralregierung im Verwaltungsbezirk Hassaké, der eine hohe kurdische Bevölkerungsdichte aufwies, eine Volkszählung durch. Als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, waren 120.000 Kurden34 aus den Listen „gestrichen“ – als hätten sie nie existiert. Durch diese „Ausbürgerung“ wurden die Betroffenen zu „Staatenlosen“ ohne alle Bürgerrechte.35 Das dermaßen geschaffene Unrecht wird zudem immer größer, denn die Kinder dieser „Staatenlosen“, die sich keine Meldebestätigung beschaffen können, geraten in dieselbe Lage wie ihre Eltern, so daß inzwischen mehr als 200.000 Menschen betroffen sind. - Parallel dazu begann die Zentralregierung mit der sogenannten „Politik des arabischen Gürtels“. Hauptziel war es, die Wohngebiete der syrischen und der türkischen Kurden zu trennen. Zu diesem Zweck wurden die Bewohner von über dreihundert kurdischen Dörfern evakuiert und in ihren Dörfern nichtkurdische Bürger angesiedelt. 1975 wurden in die Dörfer zusätzlich ein paar Tausend Familien aus Gebieten transferiert, die vom Euphrat-Stausee überflutet werden sollten. Paradoxerweise führte die systematische Aufweichung des kurdischen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht zur Herausbildung einer aktiven Opposition. Objektiv erklärt sich dies zunächst mit dem Geschick des sy33 34 35 Der Terminus „nasara“ bedeutet „Christen“, während das Substantiv „nadara“ „Jugendlichkeit“ heißt. Das waren etwa 20 % der damaligen syrischen Bevölkerung. Sie können keine Pässe oder andere Reisedokumente beantragen, sie dürfen nicht wählen, sie können kein Eigentum erwerben und keinen Beruf ausüben, der in den entsprechenden Kammern registriert werden muß. Kapitel II : Syrien 291 rischen Regimes, beim Umgang mit der kurdischen Frage die konjunkturellen Gegebenheiten in der Region auszunutzen. Ein weiterer Grund ist die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands mit seinen Sondergesetzen, die die Zivilgesellschaft einengen und jeden Wunsch nach politischen oder kulturellen Initiativen ersticken. Diese antikurdische Strategie wurde erstmals 1998 offen in Frage gestellt, als Syrien sich wirtschaftlichem und militärischem Druck von türkischer Seite beugte und Abdallah Öcalan, den historischen Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), aus Syrien auswies.36 Im Damaszener Frühling fachte der Wind des Wandels das kurdische Nationalgefühl neu an; es sollte im Laufe der Jahre immer stärker werden. In Bashshar al-Asads ersten beiden Regierungsjahren gingen spezifisch ethnische Forderungen noch im allgemeinen demokratischen Aufbruch in Form eines Kulturforums in Qamichli, der größten Stadt der Kurdenregion, unter. Doch während der Vorbereitungen zur Irakinvasion zeugte der amerikanische Diskurs, der das irakische Regime anprangerte, zugleich von großer Sympathie für die Sache der Kurden. Das ermutigte die syrischen Kurden,37 sich offen in die Opposition zu begeben. Erster Beweis dieser neuen Haltung war am 10. Dezember 2002 eine Kundgebung38 vor dem Gebäude der Volksversammlung in Damaskus aus Anlaß des internationalen Tages der Menschenrechte. Die Demonstranten forderten in Sprechchören die Abschaffung der Restriktionen im kulturellen Leben sowie die Anerkennung des kurdischen Volkes als Bestandteil der Republik. 2002 und 2003 fanden weitere Kundgebungen und Versammlungen statt, bei denen arabische und kurdische Oppositionelle gemeinsam ge36 37 38 Syrien hatte der PKK vieles gestattet: die Einrichtung von Stützpunkten und Ausbildungslagern in der Bekaa-Ebene im Libanon, Bewegungsfreiheit für die Kämpfer der Partei in den Grenzregionen, günstige Bedingungen für die politische Betätigung usw. Der „Preis“ dafür war, daß Syrien die PKK-Karte spielen konnte: bei Spannungen zwischen Syrien und der Türkei in Bezug auf das Schicksal des syrischen Sandschak von Alexandrette, den Frankreich 1939 der Türkei „gratis“ überlassen hatte, und vor allem im Konflikt um das Euphrat-Wasser. Diese Entwicklung betraf speziell die Gebiete der nichtintegrierten Kurden. Die Damaszener Viertel mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil wie Rouqneldine und Akrades blieben dagegen selbst in Zeiten größter Spannung ruhig. Zu dieser Kundgebung, an der rund hundert Personen teilnahmen, hatte die Partei der Einheit (Yekiti) aufgerufen. 292 Staatlicher Umgang mit Opposition gen die Beibehaltung des Ausnahmezustands und die Verletzung der bürgerlichen Grundrechte protestierten. Am 25. Juni 2003 versammelten sich knapp 200 Personen, die Hälfte davon Kinder, vor dem UNICEFGebäude, um die Achtung der Rechte der kurdischen Kinder in Syrien zu fordern, in erster Linie ihres Rechts auf die syrische Staatsangehörigkeit und auf Benutzung ihrer Nationalsprache. Die Demonstrationen waren zwar den Sicherheitskräften ein Dorn im Auge,39 bedrohten aber nicht ernstlich die öffentliche Ordnung. Doch am 12. März 2004 kam es in Qamichli nach einem Fußballspiel zwischen der örtlichen Mannschaft und der Mannschaft der Nachbarstadt Deir EzZor zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Arabern. Die Sicherheitskräfte griffen ein und schossen auf die Fans. Rund hundert Personen, darunter etwa zehn Kurden und vier Polizisten, wurden tödlich getroffen. Als am nächsten Tag die Opfer zu Grabe getragen wurden, geriet der Trauerzug zu einer riesigen Kundgebung mit zigtausend Menschen. Zum erstenmal seit Jahrzehnten tauchten kurdische Fahnen, und zwar in großer Zahl, in der Öffentlichkeit auf. Erregte Polizisten schossen in die Menge; es gab weitere Opfer. Schnell verbreitete sich in ganz Syrien das Gerücht von einem Massaker. Sofort brachen überall dort, wo es Kurden gab, Unruhen aus. Öffentliche Einrichtungen und Gebäude sowie Polizeistationen wurden angezündet und geplündert. Mehr als 2.000 Kurden kamen in Haft. Erst nach 48 Stunden gelang es den Ordnungskräften, die Aufstände niederzuschlagen, aber der Funke der kurdischen Opposition war entzündet und wartete nur auf passende Gelegenheiten, um erneut aufzuflammen. Ein Jahr später ergab sich die erste Gelegenheit, als der charismatische Kurdenscheich Muhammad Mashuk Ghaznawi auf mysteriöse Weise am hellichten Tag in Damaskus „entführt“ wurde. Knapp einen Monat danach wurde seine Leiche an einem Straßenrand aufgefunden; sie zeigte Spuren von Folter. Gerüchteweise wurden die Sicherheitskräfte für diesen Tod verantwortlich gemacht, worauf es erneut zu Unruhen kam. Diese waren jedoch nicht so eindrucksvoll, weil die Polizei an allen potentiellen Brennpunkten umfangreiche Gegenvorkehrungen ge39 Die Sicherheitskräfte lösten die Kundgebungen rücksichtslos auf. Jedesmal wurden Personen verletzt und/oder festgenommen. Kapitel II : Syrien 293 troffen hatte.40 Die Neuorientierung der meisten politisierten Kurden und ihre allmähliche Annäherung an Positionen der Opposition verhalfen dieser unverhofft zu frischem Wind. Sie vermeinte nun endlich gefunden zu haben, was ihrem Projekt „Regimewechsel“ so entscheidend fehlte: die zum Sturm auf den „Winterpalast“ bereiten Volksmassen. Denn während alle Gruppen der traditionellen politischen Opposition zusammengenommen nur mühsam tausend Menschen auf die Straße bringen konnten, läßt ein einziger Appell, der an das kurdische Nationalgefühl rührt, Hunderttausende im ganzen Land reagieren. Es gibt viele kurdische Parteien in Syrien. Der Einfachheit halber werden sie in drei Kategorien eingeteilt: - Die Kurdische Demokratische Koalition. Sie umfaßt fünf wichtige Linksgruppen, die alle in Syrien verboten sind. Die Kurdische Demokratische Front, die vier eher regimenahe, jedoch ebenfalls verbotene Formationen umfaßt. Die unabhängigen Parteien. Am aktivsten sind hier: Azadi, Yekiti, die Kurdische Demokratische Partei und die Bewegung der Kurdischen Zukunft. Es stimmt zwar, daß die politischen Parteien der Kurden, verglichen mit den in die Jahre gekommenen Formationen der säkularen Opposition, über erhebliche Mobilisierungsmöglichkeiten verfügen, doch decken sich die Ziele der beiden Gruppen nicht immer. Besteht Einigkeit bei der Forderung nach Beendigung des Ausnahmezustands, der Aufhebung der Restriktionen beim Gebrauch von Identitätssymbolen, der Beendigung der Menschenrechtsverletzungen usw., so fürchten viele panarabisch orientierte Oppositionelle die Exzesse des kurdischen Nationalismus, der seit der Bildung eines selbstverwalteten Kurdistans im Irak gegenwärtig durch die regionale Konjunktur Nahrung erhält. Im übrigen begrüßen viele Syrer, sogar in der Opposition, die derzeitige syrisch-türkische Annäherung als Schutzwall gegen die separatistischen Gelüste eines Teil der kurdischen Opposition in Syrien. 40 Zu allen Informationen über die Verletzung der Grundrechte der syrischen Kurden vgl. Amnesty International: Die Kurden der Arabischen Republik Syrien ein Jahr nach den Ereignissen vom März 2004, London, 10.3.2005 (24/002/2005), http://asiapacific.amnesty.org/library/fra-syr/index8start=121. 294 Staatlicher Umgang mit Opposition 2.4. Die neue islamistische Opposition Syrien ist gewissermaßen gegen den Islamismus immun, weil es einerseits drakonische Sicherheitsvorkehrungen gegenüber den verschiedenen islamistischen Gruppierungen41 aufrechterhält und andererseits organische Verbindungen zu Gruppierungen pflegt, die wie die Hizbullah im Libanon und die Hamas in Palästina gegen Israel und die Vereinigten Staaten kämpfen. Doch ist diese Immunität fragil, weil sich die islamistischen Strömungen in der Welt voneinander unterscheiden und folglich gegenüber dem syrischen Regime unterschiedliche Strategien verfolgen. Angeblich gibt es in Syrien mehrere Gruppierungen, die mit weltweit bekannten Netzwerken zusammenhängen. In Wirklichkeit werden Informationen über diese Gruppen jedoch hauptsächlich über offizielle Kanäle verbreitet – als Beweis für die Wachsamkeit der Sicherheitsbehörden. So ist von der Verhaftung von Anhängern des Wahhabismus42 oder der Entdeckung von Schläferzellen der Islamischen Befreiungspartei zu hören. Am spektakulärsten ist aber wohl der Fall der sogenannten „Jundu al-Sham“ (Sham-Krieger), die zu al-Qaida gehören sollen.43 Angeblich waren sie für mehrere mißglückte Attentate verantwortlich. Die Ordnungskräfte hätten diese jedoch immer rechtzeitig aufgedeckt und die Angreifer vernichtet. Weil diese Erfolge zu perfekt waren, hinterfragten die ausländischen Medien zunehmend den Wahrheitsgehalt, zumal sich die Erfolge stets dann einstellten, wenn es zwischen Syrien und den USA Spannungen gab – als ob die Behörden mit diesen „Inszenierungen“ einen Vorgeschmack vom Chaos geben wollten, in dem Syrien versänke, wenn das jetzige Regime eines Tages nicht mehr bestünde. 41 42 43 Die mit dem Kampf gegen den Terrorismus befaßten US-amerikanischen Stellen drückten mehrmals ihre „Befriedigung“ über die wertvolle Kooperation der syrischen Dienste aus. Der Wahhabismus ist eine puritanische Doktrin, die von Muhammad Ibn Abd alWahhab (1703-1792) in Arabien begründet wurde und als Wurzel aller Formen des islamischen Fundamentalismus gilt. Die Bezeichnung „Jundu al-Sham“ wurde erstmals von Abu Muscab al-Zarqawi (der später der Jihadisten-Führer im Irak werden sollte) benutzt, und zwar für die Islamisten, die aus den vier Sham-Ländern (Syrien, Libanon, Palästina und Jordanien) zusammenkamen, um mit Usama Ibn Laden in den Krieg zu ziehen, den dieser in Afghanistan an der Seite der Amerikaner gegen die sowjetischen Besatzer führte. Kapitel II : Syrien 295 Eine weitere Gruppe namens „Ghuraba al-Sham“ (Die Einwanderer aus Sham) machte 2006/2007 in Aleppo im Norden des Landes von sich reden. Tausende junge Anhänger ihres Führers Mahmud Aghassy (der vor allem unter dem Beinamen Abu al-Qacaqa bekannt ist44) drängten sich jeden Freitag in die Moscheen, um ihn predigen zu hören und seinen Anweisungen zu folgen.45 Er äußerte sich aggressiv gegen die US-amerikanische Politik in der Region und forderte die jungen Leute auf, sich den jihadistischen Bewegungen im Irak anzuschließen und sich für die Errichtung eines islamischen Staates in Syrien zu opfern. Im Gegensatz zu der traditionell vom politischen Islam geübten Strategie weist er aber den staatlichen Sicherheitsdiensten bei dieser heiligen Aufgabe eine tragende Rolle zu. In einer 2006 veröffentlichten zehnseitigen Broschüre46 erklärt er seine auf dem Zusammenspiel zwischen „al-amn“ (der Sicherheit) und „al-iman“ (dem Glauben) basierende Lehre und versichert das Regime seiner Loyalität: „Wir schwören bei Gott, daß wir nicht versuchen wollen, denen die Macht zu entreißen, die sie besitzen.“47 Aghassys immer zahlreicher werdende Anhänger gerieten indes immer mehr außer Kontrolle. Es kam zu zwei Zusammenstößen zwischen Ordnungskräften und Terroristen, die kurz vor einem Attentat standen. Bei den Terroristen fand man Dokumente, die auf Verbindungen zu den „Ghuraba“ schließen ließen. Zudem bestätigten Informationen, daß Aghassy Jihadisten weiterhin den Weg in den Irak erleichterte – trotz der Warnungen der syrischen Behörden, die ihre Beziehungen zu den USA zu normalisieren suchten. Am 29. September 2007 wurde Aghassy beim Verlassen der Moschee, die sein Hauptquartier geworden war, durch einen Pistolenschuß getötet. Wenn dieser Mord die US-Regierung eines Feindes entledigte, so beendete er 44 45 46 47 Aghassy (1973-2007) ist in einem kurdischen Dorf in Nordsyrien geboren. Er erlebte einen rasanten Aufstieg in islamistischen Kreisen Aleppos und wurde oft als Schleuser für Islamisten genannt, die auf den neuen Kriegsschauplätzen im Irak kämpfen wollten. Aghassy stand allerdings bei vielen im Verdacht, geheime Beziehungen zu den Sicherheitsorganen zu unterhalten. Zuerst in der Ibn-al-Hadrami-Moschee im armen Stadtviertel al-Sakhur, dessen Bewohner als extremistisch gelten, dann in der al-Iman-Moschee in einem der schicksten Viertel der Stadt. Mahmud Gul Aghassy: „Huquq al-hakim“ (Die Rechte des Herrschers), Aleppo o.D., anonymer Verleger. Ebenda, S. 2. Staatlicher Umgang mit Opposition 296 gleichzeitig die ständige Neubildung jihadistischer Zellen, die die syrische Politik destabilisiert hätten. Weder die Zahl noch die Strategien der islamistischen Gruppen, die es heute in Syrien gibt, sind genau zu benennen. Sie sind jedoch zweifellos ein nicht zu leugnender Faktor; zugleich ist es absolut legitim sich zu fragen, wie lange sie wohl noch im Verborgenen bleiben werden. 2.5. Die Liberalen Viele Syrer, besonders aus der jüngeren Generation, wissen nicht, daß es vor dem Machtantritt der Baath-Partei in ihrem Land liberale Parteien gab. Die Politik der „sozialistischen Transformation“, die das Regime betrieb, und die Beschränkung auf „progressive“ politische Gruppierungen brachten liberale Strömungen zum Versiegen. In der Aufbruchstimmung des Damaszener Frühlings erwachte die Hoffnung, es ließe sich wieder an die 1958 gescheiterte Mehrparteiendemokratie anknüpfen. Ungeduldig auf ihren alten Elan setzend, begannen die Anhänger des Liberalismus, neue liberale Formationen zu gründen. Drei Faktoren trugen zu diesem neuen Enthusiasmus bei, der nachgerade zur Mode wurde: - - - Der Ansehensverlust der militanten Ideologien nach dem Zerfall des sozialistischen Blocks sowie der demütigende Sturz des baathistischen Regimes im Irak. Das plötzliche Interesse, das ausländische (vor allem europäische) Nichtregierungsorganisationen der syrischen Zivilgesellschaft entgegenbrachten, sowie die materielle oder moralische Unterstützung dieser Organisationen für die liberalen Projekte. Der ausländische Wohnsitz vieler Initiatoren dieser neuen Formationen (hauptsächlich in den USA und Europa), also Schutz vor Repression durch die Sicherheitsorgane. Zu ihrem Leidwesen fanden die liberalen Formationen nicht die erhoffte Unterstützung im Volk. Auch verhinderten Megalomanie und Rivalitäten bei ziemlich vielen ihrer führenden Köpfe, daß starke und geeinte Zusammenschlüsse zustande kamen, so daß die Gruppen ein nebulöses, konsistenzloses Bild vermittelten. Die wichtigsten und repräsentativsten nach 2000 entstandenen liberalen Formationen sind: Kapitel II : Syrien 297 Die Liberale Sammlungsbewegung in Syrien: Sie wurde 2004 von Nabil Fayyad48 und Jihad Nasra gegründet. Wegen des dreiwöchigen Haftaufenthaltes eines der beiden Gründer kam es zu internen Streitigkeiten, die den ursprünglichen Schwung erheblich bremsten. Das Bild der Sammlungsbewegung wird stark vom akademischen Charakter der Fayyadschen Arbeiten geprägt. Trotzdem kommt in der politischen Literatur Syriens heute der liberale Gedanke nirgendwo so klar zum Ausdruck wie in Fayyads Schriften. Die Nationaldemokratische Partei der Wiedergeburt: Hauptthese dieser von Abd al-Aziz Dahham al-Maslat49 gegründeten Partei ist der Aufruf zur strukturellen Veränderung des politischen Lebens, das von Parteien dominiert sei, die an ihrem überholten panarabistischen Diskurs kranken. Dieser These zufolge ist die zukünftige Einheit aller arabischer Völker unumgänglich. Zu ihrer Realisierung sei allerdings ein neues Projekt einer Wiedergeburt notwendig, deren theoretische Grundlagen sowohl in westlichen demokratischen Prinzipien als auch in der „glorreichen Geschichte des ewigen Syriens“50 zu suchen seien. Die Syrische Reformpartei: Sie wurde im Oktober 2001 in den USA von Farid al-Gadiri51 gegründet, den viele Journalisten mit al-Chalabi im Irak verglichen, der sich als Freund US-amerikanischer Kongreßmitglieder und Neokonservativer präsentierte. Aggressivität und Konfessionalismus kennzeichnen den Diskurs dieser Partei. Es gelang ihr, eine Reihe bekannter Persönlichkeiten an sich zu binden. Aber ihre ohnehin geringe Popularität nahm weiter ab, nachdem alGadiri im Juni 2007 nach Israel gereist und vom israelischen Parlament empfangen worden war.52 Hauptthese der Partei ist, daß Syrien auf liberalen 48 49 50 51 52 Nabil Fayyad ist ein bekannter Religionshistoriker. Seine rational und säkular geprägten Arbeiten wurden von religiöser Seite sehr stark kritisiert. Mehrmals wurde er mit dem Tode bedroht. Da er sich von zwei Seiten, der Staatssicherheit und den Religiösen, bedrängt fühlte, beschloß er vor kurzem, ins Ausland ins Exil zu gehen. Maslat ist 1974 in Hassaké geboren; sein Vater ist ein Führer im Stamm der „Jbour“, der zusammen mit seinem Erzfeind, dem Stamm der „Chammar“, in den Territorien beiderseits der syrisch-irakischen Grenze die soziale Kontrolle ausübt. 2006 kam es zu einem „kleinen Stammeskrieg“, als ein junger Jbour-Angehöriger von jungen Leuten des rivalisierenden Stammes ermordet wurde. Vgl. die elektronische Enzyklopädie Wikipedia in Arabisch. Er stammt aus Aleppo und ist der Sohn von Nihad al-Gadiri, einem renommierten syrischen Journalisten. Farid al-Gadiri arbeitete, so wird angenommen, für sämtliche Geheimdienste in Syrien seit deren Gründung durch Nasser zur Zeit der Vereinigten Arabischen Republik (1958-1961). Er gab in Beirut eine Monatsschrift (al-Mouharrer News) heraus, deren Hauptziel es war, den Damaszener Frühling und die darin aktiven Demokraten zu diskreditieren. Nach diesem Besuch entzog der Präsident der Republik al-Gadiri am 30. August 2007 die syrische Staatsangehörigkeit. 298 Staatlicher Umgang mit Opposition Grundlagen wiederaufzubauen ist, die den überholten Ideen des Sozialismus keinerlei Platz mehr einräumen. Die Demokratische Partei des Arabischen Volkes: Sie wurde in Paris von Summar al-Asad, Vetter des derzeitigen Präsidenten und Sohn des 1984 ins französische Exil gegangenen Generals Rifcat al-Asad, gegründet.53 Die Ideologie dieser Partei ist eine bunte Mischung aus Panarabismus, Pansyrertum, Liberalismus, Islamismus usw. Zusammen mit der wenig ruhmreichen Vorgeschichte seines Vaters wirkt das alles eher abschreckend. Entsprechend unpopulär ist die Partei. Sie besitzt als einzige einen Satellitensender, Arab News Network (ANN), der von Europa aus sendet, dessen Einschaltquote in Syrien aber unbedeutend ist. 2005 übernahm Rifcat al-Asad die Führung der Partei seines Sohnes und wandelte sie in die Vereinigte Panarabische Sammlung um. Die ständigen Besuche des Generals bei arabischen Staatschefs brachten die Sammlung bis zum Überdruß in die Medien, verschaffen ihr indes trotzdem nicht mehr Popularität. Die Partei der Sammlung für Syrien: Ihre Gründung wurde am 31. März 2005 in Washington von Muhammad al-Jubaili bekanntgegeben. Dieser definiert die Partei als nationale politische Sammlung von Personen aus allen sozialen Schichten mit unterschiedlicher kultureller, ideologischer und sogar religiöser Ausrichtung, die sich verpflichtet fühlen, demokratische Reformen zum Aufbau eines modernen Staates einzufordern. Die Freie Demokratische Sammlung: In einer „behördlich genehmigten“ Pressekonferenz erklärte die Damaszener Rechtsanwältin Rabah al-Bitar, die Partei sei am 25. Juli 2005 gegründet worden; ihre Devise laute „Syrien zuerst“ (Suria awwalan). Sie erläuterte, für die Syrer heiße das, eine Kultur der Toleranz und des gegenseitigen Respekts zu erlernen. Zu diesem Zweck müsse dem derzeitigen Regime geholfen werden, Reformprojekte durchzuführen. Diese Projekte hätten mit der Aufhebung des Ausnahmezustands und der Zulassung politischer Parteien zu beginnen. Die Koalition der Freien Nationalisten in Syrien: Sie wurde am 11. Mai 2005 von Kaufleuten und Industriellen aus Aleppo gegründet. Einem an die Regionalpresse verteilten Dokument zufolge bietet die Organisation „einen politischen Rahmen, dessen Hauptstützen die städtische Mittelklasse sowie Angehörige der nationalen Handels- und Industriebourgeoisie bilden“. Das Dokument beschuldigt das Baath-Regime, es habe diese Kräfte daran gehindert, ihre politische Rolle zu spielen, und ihre Wirtschaftskapazität geschwächt. Es fordert „die 53 Unter dem Befehl von Rifact al-Asad wurden 1982 und 1984 im Krieg gegen die Islamisten die zwei größten Massaker verübt. Opfer des ersten waren die im Gefängnis von Palmyra einsitzenden Islamisten, Opfer des zweiten die Bewohner der Stadt Hama (s.o.). Kapitel II : Syrien 299 Reprivatisierung des gesamten während der Baath-Herrschaft verstaatlichten Privatsektors und eine Revision der Agrarreformpolitik durch Entschädigung der von dieser Politik betroffenen Eigentümer“. Mit der Koalition lebe die liberale syrische Tradition von vor 1963 wieder auf. Die liberale Bewegung im heutigen Syrien weist mehrere Besonderheiten auf, die erklären, warum alle liberalen Formationen so schwach sind. - - - - Mehrdeutige Ziele: Wenn auch alle liberalen Formationen übereinstimmend Freiheit und Demokratie fordern, so hat keine von ihnen detaillierte Vorstellungen von ihren wirtschaftlichen und politischen Projekten. Keine Verankerung im Volk: Obwohl es Liberalismus im politischen Leben Syriens schon sehr früh gab, ist er in seiner neuen Form unpopulär. Er bleibt ein äußerst elitäres Phänomen, mit dem sich nur ein sehr kleiner Prozentsatz derer beschäftigt, die an Politik interessiert sind. Mehrdeutige Verbindungen zum westlichen Neoliberalismus und Mehrdeutigkeit auch in Bezug auf das Problem der westlichen Einmischung in Fragen des Wandels. Schwache theoretische Grundlagen: Über wirklich drängende Probleme wird kaum reflektiert. Es gibt keine Literatur, die grundlegende Fragen behandelte, z.B.: Eignet sich das liberale Modell für ein Land wie Syrien? Wie sähe eine Strategie liberaler Transformation für Syrien aus? Wie passen Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken zu einer patriarchalischen Sozialstruktur? 2.6. Die neuen Koalitionen In der syrischen Politik leiden alle modern orientierten Kräfte der Oppositionsgruppen, also all jene, die auf die Entscheidungsfreiheit der Menschen setzen und sich zur politischen Mobilisierung nicht populistischer Rhetorik bedienen, unter dem Mangel an Mitgliedern und Sympathisanten. Um diese Defizite wettzumachen, die ihre Arbeit nachhaltig beeinträchtigen, greifen sie auf die Strategie der Koalitionsbildung mit den beiden stärksten Akteuren auf dem Terrain, den Kurden und den Islamisten, zurück. In den letzten Jahren sind zahlreiche solcher Koalitionen entstanden. Die drei wichtigsten sind die Komitees zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft, die Erklärung von Damaskus und die Heilsfront. 300 Staatlicher Umgang mit Opposition Die Komitees zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft Dieser Zusammenschluß von Intellektuellen, überwiegend aus Parteien der traditionellen säkularen Opposition, kam zunächst nur sehr zögernd zustande. Die „Geburtsurkunde“ der Komitees war ein Kommuniqué, das etwa fünfzehn Intellektuelle54 kollektiv erarbeitet hatten. Die Verfasser hatten auf 1.000 Unterschriften gehofft, es waren aber sehr viel weniger, als es am 8. Januar 200655 publik wurde. Das Dokument wiederholt die Forderungen des „Appells der 99“, allerdings mit gründlicher politischer Analyse, und fällt vor allem durch die recht scharfe Kritik an der Amtsperiode von Hafiz al-Asad auf. Die Komitees erhielten erheblichen Zulauf. Ableger entstanden auch in anderen Städten als Damaskus. Etliche Mitglieder saßen oder sitzen im Gefängnis (wie der Wirtschaftsprofessor Arif Dalila oder der Schriftsteller Michel Kilo). Die „Erklärung von Damaskus“ Sie wurde nach fünfmonatigen, äußerst heftig geführten Diskussionen zwischen Vertretern mehrerer politischer Gruppen am 18. Oktober 2005 veröffentlicht56 und von fünf Formationen unterzeichnet: Der NDS, den Komitees zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft, der Kurdischen Demokratischen Front und einer bis dahin unbekannten Splitterpartei, der Partei der nationalen und demokratischen Zukunft57. Auch einige bekannte Persönlichkeiten unterzeichneten die Erklärung, wie der liberale Industrielle Riyad Saif, der im Damaszener Frühling zunächst eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Er wurde verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er vor dem Volksrat mit Hilfe von Beweisstücken Korruption bei der Vergabe von Mobilfunklizenzen nachgewiesen und angeprangert hatte. Mitunterzeichner waren auch Scheich Jawdat Saïd, der heute in Syrien als einer der aufgeklärtesten Männer der Religion und wichtigster Vertreter der Lehre von der Gewaltlosigkeit gilt, sowie die Augenärztin Fida’a al-Hourani, die Tochter von Akram al-Hourani, einem Mann, der wie kein anderer Syriens Zeitgeschichte geprägt hat. Unmittelbar nach der Veröffentlichung äußerte die Muslimbruderschaft ihre Zustimmung und erklärten ih54 55 56 57 Darunter Arif Dalila, Abd al-Razzaq Id, Michel Kilo, Sadiq Jalal al-Azm, Jad al-Karim al-Jibaci, Yasin Shukr, Adil Mahmud, Muhammad Najatti Tayyara, Muhammad Kamal al-Khatib, Walid al-Bunni, Rifcat Suyufi, Hassan Abbas u.a. Das Dokument trug dennoch den Titel „Appell der 1000“. Alle Informationen stimmen darin überein, daß das erste Treffen zur Bildung dieser Formation in Marokko stattfand, und zwar zwischen dem Aktivisten Michel Kilo und Sadr al-Din Ali al-Bayanuni, dem im Londoner Exil lebenden Führer der syrischen Muslimbruderschaft. Von dieser Partei kennt man nur den Namen ihres Führers, Nawwaf Raghib al-Bashir, Scheich eines der arabischen Stämme im Osten des Landes. Seine Unterschrift findet sich gelegentlich neben Unterschriften anderer Parteien unter unregelmäßig erscheinenden Kommuniqués. Kapitel II : Syrien 301 ren Wunsch nach Mitarbeit.58 Ihnen folgten das Forum Jamal al-Atassi für nationalen Dialog,59 die Partei der Kommunistischen Aktion, die Koalition der Freien Nationalisten und viele weitere Menschenrechtsvereinigungen, liberale Gruppen und unabhängige Intellektuelle. Sicher hatten sich erstmals in Syrien derart heterogene Formationen hinter ein politisches Dokument gestellt. Aber obwohl diese Vielfalt eindrucksvoll einen nationalen Konsens in Fragen des politischen Wandels widerspiegelte, barg sie doch zugleich den Keim zukünftiger Meinungsverschiedenheiten. In Wahrheit einte die Erklärung die politischen Akteure der Opposition nur in einer Auffassung: Alle hatten die Hoffnung aufgegeben, das Regime werde echte Reformen durchführen; alle forderten daher einen radikalen Wandel im Land. Die Erklärung nannte eine ganze Reihe von Zielen, enthielt jedoch keine Aussagen zu gemeinsamen Aktionsprogrammen. Dies führte im übrigen bald zu internen Differenzen. Die erste zeigte sich, als einige Mitglieder der Koalition beschlossen, an der Parlamentswahl 2007 teilzunehmen, obwohl eigentlich die Devise „Wahlboykott“ ausgegeben worden war. Die Koalition wurde zu einem ideologischen Sammelbecken, in dem sich die unterschiedlichsten, manchmal sogar widersprüchliche Forderungen finden ließen. Alle Unterzeichner der Erklärung waren sich offenbar einig, was die Errichtung eines demokratischen Systems im Land und die hierfür erforderlichen genau umrissenen Maßnahmen betraf: Aufhebung des Ausnahmezustands, Entlassung der Gewissenshäftlinge, Beendigung des Totalitarismus, Suche nach demokratischen Lösungen für das syrische Kurdenproblem, Korruptionsbekämpfung, garantiertes Recht auf Aktionsfreiheit für die politischen Parteien, Stärkung der Armee, aber Ausschluß der Armee aus der politischen Debatte, Abschaffung von Gesetz Nr. 49/1980, Ermöglichung einer zivilgesellschaftlichen Renaissance usw. Schnell wurden zwei Punkte der Erklärung Gegenstand heftiger Polemik: - 58 59 60 Der erste Punkt besagte: „Der Islam ist die Religion der Mehrheit (...); er ist die vorherrschende kulturelle Komponente im Leben der Nation und des Volkes.“60 Mit dieser Aussage, das war allen klar, sollten die Islamisten gelockt werden. Aber die säkular Orientierten nahmen daran Anstoß, daß die Erklärung nicht auf die Trennung von Staat und Islam in Syrien Bezug nahm – auch wenn der Islam die Mehrheitsreligion ist. Anhänger minoritärer Religionsgemeinschaften wiederum befürchteten, Das bestätigt die These vom vorherigen Einverständnis. Da jeder Kontakt mit der Organisation der Muslimbrüder hart bestraft wird, fanden die Signatare in der nachdatierten Zustimmung eine solide Ausrede, um keiner Kontakte beschuldigt werden zu können. Das einzige Diskussionsforum, das damals nicht von der Verbotswelle betroffen war. Vgl. „Erklärung von Damaskus für demokratischen Wandel“: www.damdec.org. 302 - Staatlicher Umgang mit Opposition der Hinweis auf die Dominanz des Islam könnte der programmierte Auftakt zur Islamisierung des Staates sein, was zu für das Land desaströsen konfessionellen Unruhen führen könnte. Der zweite Punkt betraf die Forderung nach einer gerechten und demokratischen Lösung der syrischen Kurdenfrage. Unter den Signataren der Erklärung waren die beiden großen Koalitionen aus neun kurdischen Parteien. Trotzdem erhob sich Kritik an der Unterschrift, denn der Text erkannte „kurdisch“, „Kurde sein“ nicht ausdrücklich als vollwertige Nationalität an. Nach Meinung panarabistischer Intellektueller wiederum war die Forderung unbesonnen, da sie kurdische Aktivisten entgegenkomme und dazu verleiten könnte, Autonomieforderungen zu stellen. Intellektuelle aus anderen ethnischen Minderheiten, die ebenso landesansässig sind wie die Kurden, z.B. Assyrer, protestierten ihrerseits gegen die Vorzugsbehandlung der Kurden und verlangten, daß auch ihre nationalen Rechte berücksichtigt werden. Wie auch immer: Die Erklärung von Damaskus ist ein Schritt vorwärts auf dem „Kreuzweg“ der syrischen Opposition. Sie unterstreicht, daß sich die Unterzeichner in der Wahl der Demokratie als einzig möglicher Option für das Land einig sind, was, zumindest theoretisch, die Befürchtung ausschließt, Autokraten wollten die herrschende Autokratie durch eine neue ersetzen. Andererseits zeugt die Erklärung von der gründlichen Ernüchterung all derer, die seit dem Jahr 2000 an die Reformbereitschaft des Regimes geglaubt hatten, und ersetzt das Ziel „Reformierung des Regimes“ durch das Ziel „Regimewechsel auf demokratischem Weg“. Als die Gründung der Koalition der Erklärung von Damaskus für Demokratischen Wandel bekanntgegeben wurde, brachte dies in die bis dahin inaktive syrische Opposition neues Leben. Der Zeitpunkt der Bekanntgabe war nicht ohne Bedacht gewählt worden: ein paar Tage, bevor Richter Detlev Mehlis der UNO seinen Bericht über die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri vorlegte (mit der Aussicht auf Enthüllungen, die das Regime belasten würden), und ein paar Tage nach dem spektakulären Freitod des syrischen Innenministers, General Ghazi Kanaan. Es herrschte also eine Art „Endzeitstimmung“ in Syrien, und die Koalition glaubte, das Zusammentreffen dieser Umstände sei Wind in ihren Segeln. Aber schon Anfang 2006 begann die Flaute, und dann drehte sich der Wind ganz. Zwei Faktorenbündel waren dafür verantwortlich: Äußere Faktoren: Seit 2006 hatten sich im Nahen Osten Entwicklungen vollzogen, die die Begeisterung für demokratische Ideale und Menschenrechte merklich dämpften, Ideale, die ohnehin immer als westlicher Import verdächtigt wurden. In Iran schürten konservative, populistische Kreise, die der eben gewählte Kapitel II : Syrien 303 Präsident Ahmadinejad vertrat, die antiamerikanischen Gefühle. Während vielfacher Druck ausgeübt wurde, um die Iraner davon abzuhalten, Atomenergie zu gewinnen, wurde auf das Kernwaffenarsenal Israels nur mit „väterlicher“ Permissivität reagiert. In Palästina weckten der demokratische Sieg von Hamas und die antidemokratischen Reaktionen der meisten westlichen Länder bei vielen Menschen Zweifel an den wahren Absichten der demokratischen Projekte. Im Irak wandelte der von den USA versprochene „demokratische Wandel“ nur die Angst vor dem Diktator in bloße Existenzangst um, so daß das Baath-Regime, verglichen mit der Hölle, durch die die Iraker täglich gingen, geradezu paradiesisch wirkte. Schließlich der Libanon-Krieg vom Sommer 2006: Der Sieg der mit Syrien strategisch verbündeten Hizbullah über die israelische Armee war Wasser auf die Mühlen des syrischen Regimes, das diesen Sieg nutzte, um sich in den von ihm kontrollierten Medien als einziger Hüter der Rechte des arabischen Volkes darzustellen. Interne Faktoren: Drei interne Faktoren schwächten die Koalition erheblich. Der erste betrifft ihre Zusammensetzung: Die erwähnte Heterogenität ihrer Bestandteile, zum Gründungszeitpunkt scheinbar eine ihrer Stärken, erwies sich bald als Ursache ihrer Zerrissenheit. Die Heterogenität äußerte sich als Polarisierung einerseits zwischen Liberalen und Demokraten, die eine Konzentration auf die inneren Probleme Syriens forderten, sowie andererseits zwischen Panarabisten und Islamisten, die die Regionalprobleme angehen wollten. Der zweite Faktor hängt mit der Spaltung der Muslimbruderschaft zusammen; einige Mitglieder traten der Heilsfront bei, die Abd al-Halim Khaddam, der dissidente langjährige Vizepräsident der Republik, in Paris gegründet hatte. Dritter Faktor war die rigorose Rückkehr der Sicherheitsorgane zu den bekannten Polizeimethoden, was bei den Syrern schmerzliche Erinnerungen wachrief und sie davon abhielt, sich auf Regimewechsel-Projekte einzulassen. Nach zweijähriger, eher lethargischer Existenz61 beschloß die Erklärung, ihre Instanzen umzubauen. Am 1. Dezember 2007 berief sie einen Nationalrat in die Nähe von Damaskus ein. 163 Mitglieder (von 240 geladenen) folgten dem Aufruf trotz der Gefahr, der sie ausgesetzt waren, und wählten einen neuen Führungsrat. Dieser wird von Fida’a al-Hourani präsidiert und besteht aus fünf Personen, die das Mosaik der syrischen Gesellschaft abbilden. Die Versammlung wählte auch ein neues vierzehnköpfiges Generalsekretariat. Zur allgemeinen 61 Die einzig bedeutsame Tat in der zweijährigen Existenz der Erklärung von Damaskus war die gemeinsam mit libanesischen Intellektuellen initiierte Erklärung von Damaskus-Beirut, die am 11.5.2006 veröffentlicht wurde. Sie trug die Unterschrift von 134 Syrern und 166 Libanesen und forderte Syrien auf, die Unabhängigkeit des Libanon definitiv dadurch anzuerkennen, daß es international anerkannte Grenzverläufe offiziell macht und der Einrichtung diplomatischer Vertretungen in beiden Ländern zustimmt. 304 Staatlicher Umgang mit Opposition Überraschung wurde kein Kandidat der nasseristischen Panarabisten aus der Sozialistischen Arabischen Demokratischen Union (SADU) gewählt, die theoretisch die stärkste Komponente der Koalition ist. Dies führte zu einer Woge von Protesten: Angeblich konspirierte der liberale Flügel der Koalition, um die Leitungsinstanzen zu dominieren. Die unterlegene SADU beschloß umgehend, ihre Mitgliedschaft in der Koalition einzufrieren. Die Partei der Kommunistischen Aktion wiederum hatte durch ihren Generalsekretär Fatah Jamus erklären lassen, sie werde erst gar nicht an der Tagung teilnehmen. Sie unterstellte den Liberalen, die Führungsgremien undemokratisch dominieren zu wollen, um freie Hand zu gewinnen und die Koalition von ihren ursprünglichen Zielen abzubringen. Ein paar Tage lang drohte die Koalition der Erklärung auseinanderzufallen. Gleichzeitig beschlossen die Sicherheitsdienste, die die Tagung nicht verhindert hatten, diese Schwäche auszunutzen. In weniger als einer Woche nahmen sie rund vierzig Delegierte fest, vernahmen sie und ließen sie dann wieder frei. Später folgten sporadische Festnahmen. Im Frühjahr 2008 befinden sich immer noch elf Mitglieder in Haft,62 darunter die Präsidentin des Führungsrats, Fida’a al-Hourani, und der Generalsekretär der Koalition, der liberale Industrielle Riyad Saif. Die Heilsfront Am 30. Dezember 2005 schlug eine Medienbombe ein, als Vizepräsident Abd al-Halim Khaddam im saudi-arabischen Satellitensender al-Arabiya den Rücktritt von seinem Amt bekanntgab. Khaddam war über dreißig Jahre Vizepräsident und der rechte Arm von Hafiz al-Asad bzw. später von dessen Sohn Bashshar gewesen, er hatte dafür gesorgt, daß das Präsidentenamt reibungslos vom Vater auf den Sohn überging, er war für das Libanon-Dossier zuständig gewesen, und er war einer der korruptesten Politiker in Syriens Gegenwartsgeschichte. Khaddam richtete heftige Angriffe gegen das Regime, zu dessen Stützen er gehört hatte, und rief das syrische Volk auf, die Diktatur (sic) zu stürzen. In dem Interview versicherte er, das Ende des Regimes stehe unmittelbar bevor; sein Sturz sei „nur noch eine Frage von Monaten“. Einerseits freute Khaddams Bruch mit dem Regime die Opposition, denn er schlug eine Bresche in das herrschende System; andererseits brachte er sie in Verlegenheit, weil es für die Glaubwürdigkeit ihres demokratischen Projektes nicht gut war, wenn jemand wie Khaddam zu ihr überlief. Die Pioniere des Damaszener Frühlings konnten nicht vergessen, daß Khaddam für die Repression verantwortlich war, unter der sie seit Sommerende 2000 litten.63 62 63 Am 27.12.2007 beschloß der Richter, die elf Aktivisten vor Gericht zu stellen. Die von ihm vorgebrachten Anklagepunkte sind frei erfunden. Bei einem Treffen mit baathistischen Professoren der Universität Damaskus im Februar 2001 antwortete Khaddam auf die Frage, wie Gespräche mit den Intellektuellen Kapitel II : Syrien 305 Aus seinem goldenen Exil in Paris appellierte Khaddam an alle Kräfte der Opposition, sich in einer einzigen Koalition zusammenzuschließen. Während sich fast die gesamte Opposition diesem Aufruf verschloß, kam von den Muslimbrüdern, den großen Opfern der Regierungspolitik, eine positive Antwort. So entstand am 16. März 2006 eine neue Koalition unter der Bezeichnung Nationale Heilsfront. Außer Khaddam hatten Ali Sadr al-Din al-Bayuni, der Führer der syrischen Muslimbrudershaft, und der syrische Kurdenführer Salah Badr alDin das Gründungsdokument unterzeichnet. Weitere Personen mit unterschiedlichem ideologischen Hintergrund traten der Koalition bei, die „den Regimewechsel in Syrien zu ihrem obersten Ziel“ erklärte. Dem Dokument zufolge soll dieser Wandel allerdings ohne Gewaltanwendung erreicht werden. Ferner bekennen sich die Unterzeichner zu liberalen Werten; sie wollen insbesondere religiösen, kulturellen, politischen und ethnischen Pluralismus respektieren, lehnen jegliche rassische Diskriminierung der syrischen Kurden ab und erklären sich dem Prinzip friedlicher Machtübergabe verpflichtet. Unnötig zu sagen, daß die Vorstellung, man könne einen Regimewechsel in Syrien per „Fernbedienung“ erreichen, illusorisch ist. Aber diese von Grund auf pragmatische Koalition beunruhigt das Regime doch zutiefst. Schließlich kommt der Gedanke an einen Wechsel erstmals aus der Baath-Partei selbst, auch wenn der, der ihn denkt, beim Regime nicht mehr gut angeschrieben ist. 2.7. Zusammenfassung Nach diesem Überblick über die politische Opposition und die Forderungen ihrer einzelnen Teile lassen sich folgende Punkte festhalten: - - Demokratisierung des politischen Lebens ist das Endziel der Opposition. In ihren Schriften wird dieser Begriff jedoch zu einem Zauberwort mit übernatürlichen Kräften; man muß es nur aussprechen, um die Massen zu mobilisieren und Lösungen für alle Probleme des Landes zu finden. Was hingegen fehlt, ist eine umfassende Diskussion der Mechanismen, die geeignet sind, den Demokratisierungsprozeß auszulösen und erfolgreich zu beenden. Der Begriff Demokratisierung bleibt auf seine Dimension „politische Forderung“ reduziert. Als Projekt für einen neuen Staat wird er kaum vertieft. Den Ausnahmezustand aufheben, das Pressegesetz revidieren, Gesetze für politische Parteien und Vereinigungen erlassen, das Schicksal der des „Appells der 99“ zu führen seien, wörtlich: „Gehen Sie Gesprächen mit ihnen aus dem Weg, und erlauben Sie ihnen nie, ein Wort zu sagen. Diese Leute verdienen nur, daß man sie mit den Füßen zertritt.“ 306 - - - - Staatlicher Umgang mit Opposition verschwundenen Häftlinge aufklären, der Korruption ein Ende bereiten sind legitime Forderungen, die alle Komponenten der Opposition teilen. Die kurdischen Oppositionsparteien unterschreiben alle Forderungen nach Demokratie und Achtung der Menschenrechte. Priorität haben für sie jedoch Fragen der politischen Diskriminierung, deren Opfer sie sind. Die Kurden als „Neulinge“ auf der politischen Bühne Syriens könnten tatsächlich dafür sorgen, daß politische Auseinandersetzungen eine andere Qualität erhalten. Denn erstmals seit der Zerschlagung der Muslimbruderschaft (1976-1984) sieht sich das Regime, wie die Ereignisse von Qamichli im Jahr 2004 zeigen, mit der Möglichkeit einer kommunalistischen Erhebung konfrontiert, die in gewalttätige Zusammenstöße ausarten könnte. Die Parteien der islamistischen Opposition stellen keine direkte Bedrohung des Regimes mehr dar. Der überwältigende Sieg über die Muslimbruderschaft und ihre Verbündeten einerseits und der Erlaß von Gesetzen (darunter ist Gesetz Nr. 49/1980 das wirkungsvollste), die eine drakonische Überwachung aller verdächtigen islamistischen Umtriebe gestatten, andererseits ersticken jeglichen politischen Plan der islamistischen Opposition im Keim. Allerdings ist in der Gesellschaft wie in vielen anderen Ländern auch ein Trend zur „Islamisierung“ zu beobachten, der sich verfestigt und vertieft. In Syrien geht diese „Islamisierung“ nicht mit offenen politischen Umtrieben einher. Sie ließe sich als pazifistische Strategie beschreiben, die das Projekt des Wandels von der Basis her entwickelt. Man könnte sich aber auch vorstellen, daß hier eine Reservearmee im Aufbau ist, die zum geeigneten Zeitpunkt bereit steht. Alle politischen Kräfte der Opposition, seien sie nun traditionell oder neu, säkular oder religiös, panarabistisch oder „kurdistisch“, geben übereinstimmend die Parole „friedlicher Wandel“ aus. Im übrigen wären auf dem Terrain ohnehin nur die kurdische und die islamistische Bewegung imstande, nennenswerte Kräfte zu mobilisieren und zu versuchen, den Wandel gewaltsam oder militärisch herbeizuführen. Die syrische Opposition könnte nie ihre internen Projekte von den regionalen Gegebenheiten trennen – eine Stärke, möglicherweise aber auch eine Schwäche. So haben die US-amerikanische Irak-Invasion und die daraus resultierende Menschenrechtssituation die diesbezüglichen Forderungen der Opposition ernstlich geschwächt. Das Regime nutzt solche Situationen im übrigen weidlich aus, um seine Sicherheitspolitik Kapitel II : Syrien - 307 zu rechtfertigen.64 Dagegen war die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri so viel Wasser auf die Mühlen der Opposition, daß manche Führer geglaubt hatten, der Sturz des Regimes stehe unmittelbar bevor. Da das Regime alle erdenkliche Mühe investiert, um im regionalen politischen Spiel seinen Einfluß nicht zu schmälern, kann ihm eine solche Situation nicht gleichgültig sein, und es läßt keine Gelegenheit aus, sie gründlich zu instrumentalisieren. Ganz sicher gleicht das Kräfteverhältnis zwischen Regime und Opposition dem zwischen „dem eisernen und dem irdenen Topf“ der Fabel von La Fontaine. Aber das Hauptübel, an dem die Opposition krankt, kommt nicht so sehr von der antidemokratischen Politik des Regimes als von ihren eigenen Schwächen. Von fehlenden sozialen Projekten und fehlender rationaler Politik war weiter oben schon die Rede. Hinzuzufügen wäre, daß die gleichen Parteien, die Demokratie fordern, innerparteiliche Demokratie nicht kennen, daß manche Parteiführer leidenschaftlich nach Macht streben, daß die Opposition von den Sicherheitsorganen unterwandert ist und Mißtrauen zwischen den einzelnen Gruppen herrscht. Diese und andere Unzulänglichkeiten behindern die Opposition und beeinträchtigen ernsthaft ihr Wirken. 3. Der Umgang des Regimes mit der Opposition Ganz allgemein sind im Umgang des syrischen Regimes mit der Opposition dreierlei Maßnahmen zu unterscheiden: (1) Sicherheitsmaßnahmen, (2) Präventivmaßnahmen und (3) Palliativmaßnahmen. Diese drei Varianten des Umgangs mit Opposition sollen anhand von Beispielen erklärt werden. Bei der Anwendung der Maßnahmen läßt sich allerdings keine Regelmäßigkeit in dem Sinn erkennen, daß auf eine bestimmte Opposition mit einer bestimmten Maßnahme reagiert würde. Eine Ausnahme bildet das Gesetz Nr. 49/1980, das speziell auf die Muslimbruderschaft zugeschnitten ist. 64 Als Reaktion auf den Aufruf der Europäischen Union zur Freilassung der Gefangenen der Erklärung von Damaskus erklärte der Sprecher des Außenministeriums: „Wer anderen Ländern gestattet, auf seinem Territorium Gefängnisse einzurichten, damit ausländische Gefangene darin gefoltert werden, hat nicht das Recht, Lektionen in Sachen Achtung der Menschenrechte zu erteilen.“ 308 Staatlicher Umgang mit Opposition Sicherheitsmaßnahmen Obwohl die Verfassung die Achtung der Menschenrechte vorsieht, ist die Politik des Regimes in diesem Bereich keinesfalls exemplarisch. Internationale Organisationen wie „Amnesty International“, „Reporter ohne Grenzen“, „Human Rights Watch“ usw. liefern zu den Verstößen stets detaillierte Informationen. Seit Bashshar al-Asads Machtantritt im Jahr 2000 waren die Reaktionen des Regimes auf Oppositionelle allerdings schwankend. Die erste Periode mit dem Frühling von Damaskus weckte die Hoffnung, die wie Blei auf Gesellschaft und Opposition lastende Sicherheitspolitik könnte ein Ende haben. Es folgten aber im Februar 2001 die ersten Verhaftungen, dann die Verurteilung65 von zehn Aktivisten, die Diffamierungskampagne gegen Intellektuelle, die Schließung der Diskussionsforen usw., alles Vorzeichen einer Rückkehr zu den alten Praktiken. In den darauffolgenden zwei oder drei Jahren konzentrierte sich das „neue“ Regime ganz auf die Stabilisierung der Macht. Dies ging mit reformähnlichen Maßnahmen einher. Im politischen Bereich wurden über zwei Drittel der militärischen, administrativen und zivilen Führungskader ausgewechselt,66 rund 2.000 präsidiale Dekrete und Beschlüsse wurden verkündet, mehrere Hundert politische Gefangene kamen frei, Liberalisierung und Wiedergutmachung von Schäden wurden versprochen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden waren. Auch unbedeutendere Anzeichen gab es: Lobeshymnen auf den Präsidenten wurden seltener und seine Konterfeis durften nicht mehr auf Autoscheiben geklebt und an Häuserfassaden angebracht werden. Im sozialen Bereich kam es zu verschiedenen Liberalisierungsmaßnahmen. Am wichtigsten waren die Genehmigung zur Gründung von Privatuniversitäten, die Abschaffung der Militäruniformen an den Schulen, Publikationsgenehmigungen für die Periodika der Parteien der Patriotischen Fortschrittlichen Front usw. Parallel zu diesen Reformmaßnahmen machte sich jedoch der Arm der 65 66 Haftstrafen zwischen zweieinhalb und fünf Jahren für neun Angeklagte und zehn Jahre für Professor Arif Dalila, der immer noch einsitzt. Die Bedingungen seiner Haft sind schwierig, weil sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hat. Vgl. Volker Perthes: Syria under Bashar Al-Asad: Modernisation and the limits of change, London 2004. Kapitel II : Syrien 309 Staatssicherheit im Leben der Oppositionellen immer mehr bemerkbar, vor allem bei denen, die sich an kollektiven Aktionen beteiligten. Lokale und regionale Faktoren trugen zur reellen Bedrohung des Regimes bei. Der Fall Bagdads im Mai 2003, womit die US-amerikanische Armee an Syriens Grenzen rückte, die syrienfeindlichen Äußerungen des amerikanischen Präsidenten, die Ermordung Hariris und die aufbrandende antisyrische Stimmung im Libanon auf der einen Seite, die kurdischen Unruhen und Khaddams Abfall auf der anderen Seite drängten das Regime in eine Notwehrhaltung. Es zog sich auf sich selbst zurück und verschloß sich erneut allen Reforminitiativen. Um das Bild eines Systems abzugeben, das den Stürmen von außen unerschütterlich trotzt, bedurfte es der Inszenierung einhelliger nationaler Solidarität: Anlaß hierfür waren die Präsidentenwahlen von 1. Juni 2007 und die gigantischen Volksfeste in ihrem Gefolge. Der Präsident wurde in allgemeiner Wahl mit 97 % der Stimmen im Amt bestätigt. Was die Legislativwahlen angeht, die im März 2007 stattfanden, so änderte sich nichts am Wahlverfahren und nichts an der Zusammensetzung der Volksversammlung – ganz so wie in den vergangenen drei Jahrzehnten. Gleichzeitig mußte bewiesen werden, daß die an der regionalen Front verlorengegangen Punkte die Dominanz des Regimes im Land selbst nicht beeinträchtigt hatten. Dieser Beweis wurde auf dem Rücken der Opposition ausgetragen, und zwar aller Richtungen. Die Bilanz der Freiheits- und Menschenrechtsverletzungen des Jahres 2007 ist deshalb katastrophal. Seit Mitte der 1980er Jahre waren die Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr so zahlreich und so zynisch. Rund 100 Personen – die meisten waren angeklagt, islamistischen Organisationen anzugehören – kamen vor das Oberste Staatssicherheitsgericht.67 Alle wurden zu hohen Strafen verurteilt, 24 Angeklagte sogar zum Tode.68 Zu den Verurteilten gehörten junge Studenten,69 gemäßigte Intellektuelle70 und Menschenrechtsaktivisten.71 67 68 69 Hierbei handelt es sich um ein Sondergericht, das 1968 im Rahmen des Ausnahmezustands eingesetzt wurde, um politische Affären und solche im Zusammenhang mit behaupteter Gefährdung der Staatssicherheit zu verhandeln. Sein Präsident, Fayiz al-Nuri, ist einer der meistgehaßten Menschen in Syrien. Später in zwölf Jahre Haft mit Zwangsarbeit umgewandelt. Im Juni 2007 wurden sieben Studenten verurteilt, weil sie versucht hatten, im Internet ein Diskussionsforum einzurichten. 310 Staatlicher Umgang mit Opposition Hunderte Oppositionelle durften nicht mehr ohne Sondergenehmigung ins Ausland reisen.72 Neu an diesen Prozessen waren die abwegigen, völlig unsinnigen Anklagepunkte, auf die sich die Urteile stützten, u.a.: „Zugehörigkeit zu Vereinigungen, die die Nation zu schwächen trachten“, „Machenschaften mit dem Ziel, Konfessions- und Rassenkonflikte in der Gesellschaft zu entfachen“, „Machenschaften mit dem Ziel, einen Bürgerkrieg auszulösen“ oder „separatistischer Versuch mit dem Ziel, syrisches Territorium an einen ausländischen Staat abzutreten“. Zwar werden die Oppositionellen in der Haft nicht gefoltert; man erniedrigt sie jedoch auf vielfältige andere Weise, um ihren Durchhaltewillen zu brechen. Sie müssen mit Kriminellen zusammenleben, oder man verwehrt ihnen die medizinische Versorgung, die sie benötigen. Wegen dieser spektakulären Abkehr des Regimes von der in seinen ersten Jahren versprochenen Liberalisierungspolitik meinen manche syrischen Wissenschaftler, der Regionalfaktor spiele nur eine untergeordnete Rolle; vielmehr sei die Natur des Regimes „durch und durch antireformistisch und antidemokratisch“.73 Tatsächlich teilen immer mehr Menschen in Syrien diese Ansicht, aber immer weniger wagen es, sie laut auszusprechen. Präventivmaßnahmen Sie sind Teil einer Politik der „Flucht nach vorne“, die das Regime betreibt, um die Entwicklung der Oppositionsparteien zu kontrollieren oder ihre Aussagen zu diskreditieren. Besonders die islamistische Opposition ist davon betroffen. In Wirklichkeit breitet sich diese Opposition sehr diskret und heimlich aus, auf Wegen, die das Regime nicht kontrollieren kann. Auf diese Weise vermeidet sie die Konfrontation mit dem Regime, 70 71 72 73 Wie Michel Kilo und Mahmud Issa, die beide zu drei Jahren Haft verurteilt wurden, Dr. Kamal al-Labuwani, der Gründer der „Liberalen Damaskus-Koalition“, der zu zwölf Jahren Haft ohne Bewährung und Zwangsarbeit verurteilt wurde, oder die Kurdenführer Sulaiman al-Shummar und Khalil Hussain, die beide zehn Jahre Haft erhielten. Am bekanntesten ist der Rechtsanwalt Anwar al-Bunni, der zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Der Verfasser selbst wurde zwischen Oktober 2006 und September 2007 dreimal an der Ausreise gehindert und vom Flughafen gewiesen. Vgl. hierzu die wöchentlich in der Londoner Zeitung al-Quds al-Arabi erscheinenden Artikel des in Paris lebenden syrischen Wissenschaftlers Subhi Hadidi. Kapitel II : Syrien 311 das (wie schon so oft) nicht zögern würde, Gewalt anzuwenden, und konsolidiert ihre soziale Basis, die ihr im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung zu Überzeugungskraft sowie Schutz- und Hilfsstrukturen verhelfen würde. Das Regime seinerseits, das (trotz seiner säkularen Ausrichtung) mit islamistischen Kräften74 verbündet ist, die an der Spitze des Widerstands gegen die israelisch-amerikanische Politik stehen, befindet sich in einer mißlichen Lage. Da es seine Legitimität aus der panarabistischen und nationalistischen Ideologie schöpft, die diesen Widerstand inspiriert, kann es sich nicht auf eine repressive Politik gegenüber friedlichen islamistischen Milieus einlassen. Das Regime versucht also, diesen Milieus das Wasser abzugraben, indem es sich ihren Diskurs und ihre Projekte aneignet. Prävention heißt die Logik hinter diesem Räsonnement; ihr zufolge läßt sich so die Entwicklung der islamistischen Opposition in „sichere“ und stets kontrollierbare Bahnen lenken. Diese Politik ist derartig offensichtlich geworden, daß in vielen Analysen von der „offizieller Islamisierung“ Syriens die Rede ist. Der Autor ist der Meinung, daß sich das Regime durch eine solche Politik zum Zauberlehrling macht, der eines Tages die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Schon Hafiz al-Asad betrieb eine solche Politik der Flucht nach vorne. Sichtbarste Zeichen dafür waren die günstigen staatlichen Bedingungen für den Ausbau der religiösen Infrastruktur in Form von Moscheen, Schulen und anderen islamischen Bildungseinrichtungen. Groben Berechnungen zufolge gab es im Jahre 2001 rund 9.000 Moscheen im Land. Das bedeutet, daß innerhalb von 30 Jahren genauso viele Moscheen gebaut wurden wie seit dem Beginn des 8. Jahrhunderts, als der Islam Syrien eroberte. Nach den „Ereignissen“, d.h. dem Krieg gegen die Muslimbruderschaft, hatten die Behörden angeordnet, daß die Moscheen außerhalb der Gebetszeiten geschlossen bleiben, um nicht zu Begegnungsstätten von und Rekrutierungsorten für Sympathisanten und Aktivisten zu werden. Gleichzeitig entstand ein Verbund neuer Koranschulen, die den Namen Hafiz al-Asads75 trugen und überall im Land eröffnet wurden: 6.000 Zentren, in denen beinah eine Million Kinder lernten, den Koran zu lesen und auswendig zu rezitieren. 74 75 Wie Hizbullah im Libanon und Hamas in Palästina. Hafiz-al-Asad-Institute zum Erlernen des Koran. 312 Staatlicher Umgang mit Opposition Außerdem wurden Genehmigungen zur Einrichtung von Kinderkrippen fast ausschließlich an Frauen aus religiösen Kreisen erteilt.76 In den letzten sieben Jahren intensivierte sich diese Politik derart, daß Laizismusverfechter begannen, sich Sorgen zu machen.77 Im Jahr 2001, während die kulturellen und politischen Debattenforen eins nach dem anderen schließen mußten, erhielt Muhammad Habbache die behördliche Genehmigung zur Eröffnung eines islamischen Forums mit dem Ziel, „gemäßigtes islamisches Gedankengut zu verbreiten“. Muhammed Habbache, der außerdem ein privates Forschungszentrum leitet, das „Zentrum für Islamstudien“, wurde sogar für zwei Legislativperioden zum Abgeordneten im Volksrat „gewählt“. In arabischen Satellitensendern ist er häufig zu Gast, um aktuelle Ereignisse zu kommentieren. Sein Diskurs macht ihn zum „politischen“ Sprachrohr des offiziellen Islam, dessen Ausbau das Regime aktiv betreibt. Andere Persönlichkeiten werden von den öffentlichen Medien rekrutiert, um das „fromme Bild vom säkularen Regime“ zu bestätigen, so z.B. der Doktor der Theologie Muhammad Ratib al-Nabulsi, der in den staatlich kontrollierten Rundfunksendern allgegenwärtig ist.78 Seine volkstümliche, einfache, anekdotenreiche Sprache macht ihn immer populärer. Zu nennen ist aber auch und vor allem Scheich Muhammad Saïd Ramadan al-Buti, dessen Anhänger in die Hunderttausende gehen, obwohl er (oder vielleicht gerade weil er) in seinen Reden dem Regime derart schmeichelt. Außer in den Medien erhalten die islamischen Milieus auch für ihre Institutionen günstige Bedingungen. Die Moscheen dürfen jetzt den ganzen Tag lang öffnen, nicht nur für die Gläubigen, die den Lehren der Imame folgen, sondern auch für Konferenzen und Debatten im Auftrag des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten. Ein besonders gutes 76 77 78 Eine aktive Kommunistin erzählte dem Verfasser, daß ihr Antrag auf Gründung eines Kindergartens zwölf Jahre unbeantwortet blieb, während Kopftuchträgerinnen die Genehmigung innerhalb weniger Tage erhielten. Derart beunruhigte Intellektuelle versuchten 2006, eine „Liga laizistischer Syrer“ zu gründen, aber das Ministerium für Soziales weigerte sich, den Antrag in Empfang zu nehmen, und riet dazu, das Adjektiv laizistisch zu streichen, um nicht „Gläubige vor den Kopf zu stoßen“. Seine tägliche religiöse Unterweisung wird von den Sendern des Informationsministeriums Radio Damaskus und Die Stimme der Jugend, sowie vom Sender Die Stimme Jerusalems, der in Damaskus sitzt, aber der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)-Generalkommando gehört, ausgestrahlt. Kapitel II : Syrien 313 Beispiel für die außergewöhnlich günstigen staatlichen Bedingungen ist der Abu-al-Nur-Komplex in Damaskus. 1938 wurde um eine kleine Moschee aus dem 13. Jahrhundert herum eine Schule gebaut. Sie wurde zum Sitz der Sufi-Bruderschaft der Naqshbandiya, deren Leitung der Familie Kiftaro oblag und stets vom Vater auf den Sohn überging. Mit dieser pazifistischen Bruderschaft und ihrem damaligen geistlichen Führer Ahmad Kiftaro79 verband Hafiz al-Asad eine enge Freundschaft. Unter Asads Herrschaft wurde die Schule zweimal vergrößert, 1989 und 1996. Derzeit ist sie ein achtstöckiger Komplex, in den jedes Jahr Tausende Studenten aus aller Welt strömen, um in einer der dreizehn Abteilungen unterrichtet zu werden. Eine dieser Abteilungen ist eine Scharia-Fakultät, die zur Universität al-Azhar in Kairo gehört. Der Abual-Nur-Komplex genießt die Protektion des Regimes. Sein derzeitiger Leiter, Dr. Salah al-Din Kiftaro, ist Gast bei sämtlichen von öffentlichen Institutionen organisierten Veranstaltungen, bei denen es auch nur entfernt um Fragen der Religion geht. Seine Ausstrahlung ist so stark geworden, daß er sich Ende 2007 erlaubte, in einer vom staatlichen Rundfunk übertragenen Freitagspredigt den Informationsminister scharf zu kritisieren, weil dieser es ablehnt, das große Freitagsgebet vom syrischen Fernsehen ausstrahlen zu lassen. In Kiftaros Predigt hieß es an die Adresse des Ministers: „Wir schreiten voran, also drängen Sie uns nicht zurück, denn dies ist das Land des Glaubens und Bashshar alAsads Land.“ Am spektakulärsten in diesem Zusammenhang ist jedoch unseres Erachtens die offizielle Zulassung der Gruppe der „Qubaissiyat“. Diese Gruppe hatte sich in den 1970er Jahren um die „Scheicha“80 Munira alQubaïssi81 gebildet, die beruflich und familiär gut situierte Frauen reli79 80 81 Ahmad Kiftaro (1915-2004) wurde als zeitgeschichtliche Figur in Syrien zur Legende. Vierzig Jahre lang (1964-2004) war er Großmufti der Republik, auch während der langjährigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und den Islamisten. Er war der geistliche Führer der gesamten Naqshbandiya-Bruderschaft, die zwischen China und dem Senegal mehrere Millionen Anhänger hat. Die Bruderschaft predigt Treue und Loyalität gegenüber den Regierungen der jeweiligen Länder, und auch Kiftaro tat dies sein Leben lang. Titel für Frauen, die sich mit der religiösen Unterweisung junger Mädchen oder Frauen befassen. Sie wurde 1933 in eine reiche Damaszener Familie geboren und sah ihre Lebensaufgabe darin, in geschlossenen Frauenzirkeln die Einhaltung der religiösen Vorschrif- 314 Staatlicher Umgang mit Opposition giös unterwies. Die Gruppe tut sehr geheimnisvoll; manche glauben, sie sei der gesellschaftliche „Schatten“ der Muslimbruderschaft, andere sehen in ihr eine Art fragile Sufi-Kongregation. In Muhammad Habbaches Augen ist sie „eine Sammlung äußerst gemäßigter Musliminnen ohne politische Hintergedanken. Ihre Mitglieder sind zwar konservativ, aber sehr offen für Anhänger anderer Glaubensrichtungen. Sie sind sehr gut organisiert, ohne indes eine Organisation zu sein. Sie respektieren sich gegenseitig, und die Verehrung für ihre große Präzeptorin, Fräulein Munira, ist legendär.“82 Scheich al-Buti wiederum beschreibt die Loyalität der Gruppe gegenüber dem Regime so: „Ständig bitten sie Gott, Bashshar al-Asad zu schützen, ohne sich in die Politik einzumischen. Ihre Treue zum Präsidenten ist ohne Fehl.“83 Wie dem auch sei: Die Gruppe hat Wichtiges bei der „Islamisierung“ der syrischen Gesellschaft erreicht, zunächst durch den unglaublichen Erfolg ihrer Pro-KopftuchKampagne bei Oberschülerinnen und Studentinnen, dann dadurch, daß sie in Gestalt von Politikergattinnen höchste Kreise infiltrierte, und schließlich durch ihren Einfluß auf die Kindererziehung. Seit 2001 wurden in Damaskus 80 Genehmigungen zur Gründung von Privatschulen erteilt. 40 Schulen sind nach Frauen aus dieser Gruppe benannt.84 Um ihre Ziele zu erreichen, sind ihnen alle Winkelzüge recht. Sie besitzen mehrere Gebäude, die als Wohnheim für Studentinnen dienen. Studentinnen aus weit entfernten Städten, die es sich leisten können, nicht in den heruntergekommenen staatlichen Wohnunterkünften zu leben, die aber normale Wohnungen ablehnen, finden in diesen Wohnheimen die gewünschte Sicherheit, Sauberkeit und religiöse Disziplin. Frauen aus der Gruppe betätigen sich auch als Heiratsvermittlerinnen und suchen 82 83 84 ten und die Rückkehr zu den reinen islamischen Traditionen zu predigen. Um ihre Person herum bildete sich eine hierarchisch aufgebaute Gruppe. Ihre Jüngerinnen bringen ihr absoluten Gehorsam entgegen. Sie ist quasi unsichtbar; nur wenige Männer haben sie je gesehen, aber trotz ihres fortgeschrittenen Alters führt sie die Geschäfte der Gruppe. Dabei stehen ihr fünf oder sechs „Fräulein“ zur Seite; am bekanntesten sind Amira Jibril, die Schwester von PFLP-(Generalkommando-)Chef Ahmed Jibril, und Nahida Taraqji. Vgl. Muhammad Habbache, zitiert von der Journalistin Rama al-Jarmaqani in ihrem bemerkenswerten, im Internet veröffentlichten Dossier über die Qubaissiyat (www.syrialife.com). Ebenda. Ebenda. Kapitel II : Syrien 315 passende Ehemänner für junge Frauen, die einen Hausstand gründen wollen, jedoch keine gemischtgeschlechtlichen Kreise frequentieren dürfen. Sie arbeiten genau wie die Mafia, die geeigneten Beitrittskandidatinnen über Beziehungen zu Arbeit, sozialer Hilfe und Krediten verhilft. Während die Behörden diese obskure, aber umtriebige und potentiell gefährliche Gruppe offiziell zulassen, bekämpfen sie (säkulare) Frauenrechtsaktivistinnen, wie die Maßnahmen vom 13. Dezember 2006 und vom 24. Januar 2007 des Ministeriums für Soziales gegen zwei in diesem Bereich sehr aktive Vereinigungen zeigen (s.o. 2.1.2.). Am erstaunlichsten in diesem „Krieg“ ist jedoch, daß Imame in den Moscheen während der Freitagspredigten Frauenvereinigungen und Frauen, die in ihnen arbeiten, ungestraft öffentlich angreifen dürfen. Frauen wurden z.B. als „safihat“ (schwachköpfig) und „mariqat“ (vom Glauben abgefallen) qualifiziert – dies sind Bezeichnungen aus dem misogynen Wörterbuch des Mittelalters. Das Beste aus diesem Wortschatz brachte Scheich alButi in seiner Freitagspredigt vom 4. November 2005. Darin bezeichnete er Frauen und Männer, die für Frauenrechte kämpfen, als „Verräter“, „Kleingeister“ und „Sklaven derer, die die muslimische Zivilisation zu zerstören trachten“.85 Ihren Höhepunkt erreichte die der „Islamisierung“ Syriens Vorschub leistende Politik bei den Festivitäten, die 2007 zur Wiederwahl des Präsidenten der Republik organisiert wurden. Dort beherrschte eine neue Parole die Szene. Sie stammte aus einer Rede, die der Präsident einige Monate zuvor gehalten hatte und in der erstmals seit dem Machtantritt der Baath-Partei der Name Gottes politisch instrumentalisiert wurde. Die neue Parole lautet „Suriyya allah hamiha“ (Gott schütze Syrien). Syriens „Schutzmacht“ waren bislang andere: Zu Beginn der 1960er Jahre war es die „Baath-Partei“; dann, mit dem Sieg der populistischen Ideologie im parteiinternen Konflikt im Jahre 1966, war es das „Volk“; mit Präsident Asads Machtübernahme 1970 waren es dann „seine bewaffneten Streitkräfte“; und zu Beginn des 21. Jahrhunderts schließlich ist es die metaphysische, übernatürliche Kraft Gottes. 85 Zitiert von Razan Zeitouna in: La Syrie et son Islam officiel au temps de l’éveil islamique, Informationsbulletin al-Awan vom 14. Juli 2007. 316 Staatlicher Umgang mit Opposition Palliativmaßnahmen Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, die die Behörden in kritischen Augenblicken ergreifen, um (von außen auf das Regime ausgeübten) zentripetalen und (von inneren Kräften auf das Regime ausgeübten) zentrifugalen Druck abzufedern. Für Palliativmaßnahmen gibt es viele Beispiele; hier sollen zwei besonders typische genannt werden. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Forderung nach Pressefreiheit, die alle politischen Kräfte des Landes erheben. Unter Hafiz al-Asad befanden sich sämtliche Medien in staatlicher Hand oder waren zumindest staatlich kontrolliert. Nach dem Damaszener Frühling wurde den Parteien der Patriotischen Fortschrittlichen Front erlaubt, ihre Schriften zu verlegen und öffentlich zu vertreiben. Manche Wissenschaftler sahen in diesen Genehmigungen bereits den ersten Schritt in Richtung Meinungsfreiheit. Andererseits war allgemein bekannt, daß die Presse der Parteien der Patriotischen Fortschrittlichen Front eine Kopie der Baath-Presse ist, vielleicht mit Ausnahme der Wochenzeitung al-Nur,86 deren Positionen sich gelegentlich sehr stark den Positionen der demokratischen Opposition näherten. Dann kam im September 2001 das Präsidialdekret, wonach private Presseerzeugnisse toleriert wurden, wenn sie vorher vom Ministerpräsidenten persönlich genehmigt worden waren. Von mehreren hundert Anträgen, die seither gestellt wurden, wurden aber nur 200 genehmigt.87 Von diesen betrifft allerdings nur eine einzige ein politisches Periodikum.88 90 % der Genehmigungen gingen an Personen aus dem familiären Umkreis hoher Amtsinhaber oder an Personen, die als dem Regime „nahestehend“ gelten. Presseerzeugnisse, die verdächtig wären, Meinungen der Opposition wiederzugeben, existieren nicht. Im übrigen drohen allen genehmigten Periodika schwere Strafen und Lizenzentzug, wenn sie Artikel veröffentlichen, die oppositionelle Standpunkte wiedergeben. Dies trifft noch mehr auf das Internet zu. Der Zugriff auf die Internet-Portale der politischen Opposition gleich welcher Tendenz, auch auf die der Menschen86 87 88 Organ des gemäßigten Flügels der Syrischen Kommunistischen Partei. Nur rund vierzig Blätter erscheinen tatsächlich. Es handelt sich um die Zeitschrift „Aswad-Abiad“ (Schwarz-Weiß), deren Besitzer der Sohn des derzeitigen Verteidigungsministers ist. Kapitel II : Syrien 317 rechtsvereinigungen, ist verboten. Die Behörden brüsten sich zwar mit Liberalisierungsmaßnahmen, in Wirklichkeit gibt es aber keine Pressefreiheit. Das zweite Beispiel betrifft die Forderung aller Menschenrechtsvereinigungen und Oppositionsparteien, die Situation der „staatenlosen“ kurdischen Bürger zu regularisieren, die beim Bevölkerungszensus 1962 aus den Standesamtsregistern gestrichen worden waren und folglich die syrische Staatsangehörigkeit verloren hatten. Diese Frage wurde beim 10. Parteitag der syrischen Baath-Partei diskutiert, der vom 6.-9. Juni 2005 in Damaskus stattfand; daß auf so hoher Ebene über das Thema gesprochen wurde, werteten die offiziellen Medien als Beweis für die Öffnung des Regimes. Einige Monate später, am 27. Oktober 2005,89 hielt das Zentralkomitee der Partei eine Vollversammlung ab, um die Parteitagsbeschlüsse zu evaluieren. Im Anschluß daran erklärte der stellvertretende Generalsekretär Muhammad Saïd Bkhetan: „Im Rahmen der Konsolidierung der nationalen Einheit und der Stärkung der Front im Inneren sowie in Ausführung der Direktiven des Herrn Präsidenten der Republik werden wir sehr bald Maßnahmen ergreifen, die geeignet sind, die durch den Bevölkerungszensus von 1962 entstandenen Probleme zu lösen.“90 In der Antrittsrede zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode 2007 sprach auch der Präsident der Republik das Problem an und erklärte feierlich, es gebe „keine klare Unterscheidung zwischen zwei Themen, dem Thema Bevölkerungszensus von 1962, der manchen Familienmitgliedern die syrische Staatsangehörigkeit zuerkannte, anderen dagegen nicht, obwohl sie ein Anrecht darauf hatten, und dem Thema Illegale (...).“91 Er fuhr fort. „Der technische Teil des Gesetzes ist fertig; wir verkünden es, sobald wir uns über die endgültige nationale Lösung einig sind.“92 Solche in den Medien großartig wiederholten Erklärungen beruhigen die Betroffenen und bringen auch die Oppositionsparteien zum Schweigen, die die 89 90 91 92 Zu dieser Zeit stand das Regime unter starkem internationalen Druck, weil laut Resolution 1595 des UN-Sicherheitsrates eine internationale Kommission die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri untersuchen sollte. Vgl. das Informationsbulletin vom 27.10.2005 der syrischen Presseagentur SANA. Antrittsrede vom 17.7.2007 vor dem Volksrat. Ebenda. 318 Staatlicher Umgang mit Opposition Verteidigung der Opfer auf ihre Fahnen geschrieben haben. Kaum ist jedoch der Anlaß vorbei, zeigt sich das Problem wieder in alter Schärfe. Wie jedes Regime, das demokratische Spielregeln mißachtet, kennt auch das syrische Regime nur ein Ziel: an der Macht bleiben. Um dies zu erreichen, muß es sich den Fragen gewachsen zeigen, die die verschiedenen Oppositionsgruppen aufwerfen, Fragen, die seine Stabilität bedrohen könnten. Durch Anwendung der beschriebenen dreierlei Maßnahmen hat das syrische Regime diese Herausforderung bisher gemeistert. Könnte es eines Tages allerdings so geschwächt sein, daß es nicht mehr imstande wäre, seine Dominanz aufrecht zu erhalten? Die Antwort hierauf hängt stark vom Kräfteverhältnis im Nahen Osten, aber auch in sehr hohem Maß vom internen Kräfteverhältnis zwischen „dem eisernen und dem irdenen Topf“ ab. Staat und Opposition in Tunesien Breiter Konsens über die Orientierung des Staates, zersplitterter Dissens über die Art und Weise des Regierens Sigrid Faath Quand on veut gouverner les hommes, il ne faut pas les chasser devant soi; il faut les faire suivre. Baron de Montesquieu (1689-1755), Mes Pensées Le choix du pluralisme est un choix irréversible, et les partis politiques, qu’ils soient au pouvoir ou dans l’opposition, sont les composantes de l’équation démocratique et de la compétition loyale. Präsident Ben Ali, Rede zum 7. November 2007 Tunesien ist wohl der homogenste Staat in Nordafrika und Nahost. Dies gilt für die ethnische, sprachliche und religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung, die keinen politikrelevanten Konfliktstoff birgt und sich auch nicht auf den Ressourcenzugang auswirkt. Eine Politisierung der Bevölkerung entlang tribalen, ethnischen, sprachlichen oder religiösen Identitäten ist deswegen Tunesien fremd. Einen wesentlichen Beitrag zur sozioökonomischen Homogenisierung des Landes und zur Loyalität gegenüber der Staatsführung leistete zudem deren systematische Förderung einer Mittelschicht. Die wirtschaftlichen, sozialen und entwicklungspolitischen Errungenschaften ebenso wie die konstant ausgebaute soziale Fürsorge des Staates für ärmere Bevölkerungsgruppen stärkten den Rückhalt der Staatsführung und der staatstragenden Partei, des Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), die konkurrenzlos geblie- 320 Staatlicher Umgang mit Opposition ben ist. Der RCD kann „Gefolgschaft“ sichern, weil das System des „Geben und Nehmens“, der Klientelbindung funktioniert und große Bevölkerungsteile davon profitieren. Für den Aufbau einer mehr als nur symbolischen parteipolitischen (legalen) Opposition ist diese Homogenität und „Gefolgschaft“ wenig förderlich. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Außenbild des Staates und die internationale Bewertung der Regierungstätigkeit. So wird der tunesischen Staatsführung insbesondere das Fehlen eines funktionierenden Mehrparteiensystems negativ angelastet. Die Schuld an dieser Schwäche der legalen Opposition, die nur deswegen im Parlament vertreten ist, weil für sie speziell Sitze reserviert wurden, wird von ausländischen Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftlern häufig einseitig bei der Staatsführung und ihrem Kontroll- und Machtstreben gesucht: Tunesien sei eben ein „Polizeistaat“, ein „repressiver Staat“, die Bekenntnisse zu Pluralismus und Demokratie seien nur Fassade.1 In dieselbe Richtung zielen auch etliche Publikationen, die von einzelnen tunesischen Regimekritikern verfaßt und über das Ausland bzw. das Internet verbreitet werden.2 Die französische Politikwissenschaftlerin Béatrice Hibou3 verwendete in ihrer Studie zu Tunesien ebenfalls das Konzept des Polizeistaates, differenzierte aber immerhin: Sie unterschied idealtypisch zwischen einem Staat, in dem die Sicherheitsorgane die Macht der Staatsführung durch Repression sichern und den sie mit dem Begriff „état policier“ (Polizeistaat) erfaßt. Von diesem Polizeistaat hebt sie jenen Staat ab, in dem polizeiliche Techniken und Regulierungsmethoden angewendet werden 1 2 3 In diesem Tenor sind zahlreiche Einschätzungen ausländischer Kritiker gehalten; vgl. beispielhaft Garon, Lise: Le silence tunisien, Paris 1998; Beau, Nicolas/Tuquoi, Jean-Pierre: Notre ami Ben Ali. L’envers du «miracle tunisien», Paris 1999; Lamloum, Olfa/Ravenel, Bernard: La Tunisie de Ben Ali. La société contre le régime, Paris 2002. Vgl. z.B. die Webseite www.tunisnews.net, wo zahlreiche Artikel und Erklärungen von Oppositionellen abgedruckt werden; exemplarisch für den regimekritischen Tenor Ben Brik, Taoufik: Une si douce dictature, Paris 2000; Bensedrine, Sihem/Mestiri, Omar: L’Europe et ses despotes. Quand le soutien au «modèle tunisien» dans le monde arabe fait le jeu du terrorisme islamique, Paris 2004. Hibous Sudie zum politischen und wirtschaftlichen System Tunesiens legt den Schwerpunkt auf die Zeit seit dem Machtwechsel vom 7. November 1987; vgl. Hibou, Béatrice: La force de l’obéissance. Economie politique de la répression en Tunisie, Paris 2006, S. 342 ff. Kapitel II : Tunesien 321 (état de police), um Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten und die Beziehungen zu den Staatsbürgern zu regeln, der jedoch darüber hinaus sein politisches Handeln durchaus an den Bedürfnissen und der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung ausrichtet und sich um Details der Gestaltung von Wirtschaft und Politik kümmert, um rationell, effektiv und der Realität angepaßt zu regieren. Diesen zweiten Typus sieht Hibou – allerdings nicht in „Reinform“ – in Tunesien umgesetzt, weil zu den polizeilich effektiven, rationalisierenden Mechanismen eine „gewisse Dosis“ Liberalismus hinzukomme, so daß die staatliche Steuerung durchaus Freiräume lasse und schaffe, duldsam sei und sogar manche Aktivitäten erleichtere.4 Zudem sei die politische Führung verhandlungsgeneigt und nehme die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst; zwischen der tunesischen Staatsführung und der Bevölkerung bestünde ein intakter Schutzbzw. Sicherheitspakt. Die empirische Analyse des staatlichen Umgangs mit Opposition im allgemeinen und mit militanter und gewaltsamer Opposition im besonderen weist die klischeehaften Argumentationen, die monokausal der tunesischen Staatsführung die Hauptschuld am Fehlen einflußreicher (legaler) Oppositionsparteien zuweisen, zurück. 1. Rahmenbedingungen für Opposition 1.1. Regelungen zur Institutionalisierung legaler Opposition Die erste, zwischenzeitlich allerdings mehrfach modifizierte Verfassung Tunesiens von 1959 schrieb ein republikanisches System fest, dessen Präsident weitreichende Befugnisse zugestanden werden. Das in regelmäßigen Wahlen zu besetzende Parlament ist in seinen Kontrollfunktionen der Exekutive beschränkt. Wenngleich die Verfassung von 1959 kein Einparteisystem verankerte, so funktionierte das politische System Tunesiens de facto seit dem Verbot der Kommunistischen Partei 1963 bis zu ihrer Wiederzulassung 1981 und der Legalisierung neu gegründeter Oppositionsparteien 1983, 1988, 2002 und 2006 wie ein Einpartei4 Vgl. Hibou 2006, ebenda, S. 344-345. 322 Staatlicher Umgang mit Opposition staat. Oppositionsaktivitäten bzw. die Artikulation von Kritik am Kurs oder einzelnen politischen Maßnahmen der Staatsführung konnten formal somit erst seit 1981 bzw. 1983 innerhalb eines legalen institutionalisierten Rahmens erfolgen. Die Zulassung von institutionalisierter Opposition in Form von politischen Parteien wurde allerdings erst mit Organgesetz 88-32 vom 3. Mai 1988 – also nach dem Machtwechsel von Präsident Bourguiba zu Präsident Ben Ali am 7. November 1987 – gesetzlich geregelt. Das Gesetz verpflichtet die Parteien auf die Verfassung, zur republikanischen Staatsform und zur Demokratie, zur Achtung der Volkssouveränität (im Unterschied zur Souveränität Gottes der Islamisten), der (universalen) Menschenrechte, der arabisch-islamischen Identität und den „Errungenschaften der Nation“;5 es verbietet explizit Fanatismus, Aktivitäten, die die nationale Sicherheit und Ordnung und die Rechte und Freiheiten bedrohen und untersagt Parteien, die sich in ihren Kerninhalten auf Religion, Sprache, Rasse, Geschlecht oder eine Region beziehen. Um Chancen auf eine Legalisierung zu haben, muß sich eine Partei ferner von bereits legalisierten Parteien signifikant unterscheiden. Die gesetzliche Regelung schloß die Legalisierung einer islamistisch orientierten Organisation als Partei aus, selbst dann, wenn sie sich formal zur Verfassung bekennen würde. Staatliche Unterstützung durch entsprechende Eingriffe in den institutionellen Rahmen, um die legale parteipolitische Opposition im formalen Mehrparteienstaat sichtbar zu machen, wurde 1993 beschlossen und 1994 erstmals staatliche Zuwendungen zu Wahlen und den Parteipublikationen vereinbart; eine verbesserte Regelung der Parteienfinanzierung folgte 1997.6 Nachdem es unwahrscheinlich war, daß die legalen 5 6 Gemeint ist insbesondere das Personalstatut von 1956, mit dem die Frauenpolitik bzw. Gleichstellungspolitik des tunesischen Staates eingeleitet wurde. 1989 wurde den Parteien erstmals eine Wahlkampfbeihilfe und eine finanzielle Unterstützung zur Publikation einer Parteizeitung gewährt. 1997 wurde schließlich die Parteienfinanzierung geregelt: Einmalig erhielten die im Parlament vertretenen Parteien je Abgeordneter 5.000 TD, eine jährliche Prämie von 60.000 TD wurde allen Parteien mit mindestens einem Abgeordneten zugestanden; jeder Abgeordnete erhielt ein Monatsgehalt von 1.500 TD zugesprochen; Abgeordnete „erwirtschaften“ diverse Versorgungsansprüche und erhalten zinsgünstige Kredite. Die Beträge erhöhten sich zwischenzeitlich; zuletzt kündigte Präsident Ben Ali am 7. November 2007 eine Verdoppelung der Subventionen für die im Parlament vertretenen Parteien und eine Erhöhung der Subventionen für die Parteizeitungen an (vgl. zur Rede die Kapitel II : Tunesien 323 Oppositionsparteien bei Wahlen ausreichend Stimmen erhalten würden, um ins Parlament einziehen zu können, wurden für die Oppositionsparteien Sitze reserviert. Eine proportionale nationale Zusatzliste ermöglichte bei den Legislativwahlen 1994 erstmals den Einzug von vier Oppositionsparteien (insgesamt 19 Sitze) ins nun auch formal plurale Parlament. Trotz der offenkundigen Schwäche der zur Wahl antretenden Oppositionsparteien sicherte sich die regierende Partei per Wahlgesetzregelungen nochmals ab, indem ein Wahlsystem beibehalten wurde, das die RCD-Hegemonie festschreibt.7 Dennoch gibt es Anpassungen, um die Partizipation der Bevölkerung zu verbessern und um die Oppositionsparteien zu begünstigen: Präsident Ben Ali kündigte am 7. November 2007 Änderungen des Wahlrechts an: Das Wahlalter soll von 20 auf 18 Jahre herabgesetzt und die Zahl der Sitze, die eine Wahlliste bei Kommunal- und Legislativwahlen erringen kann, soll auf maximal 75 % der zu vergebenden Sitze begrenzt werden. Ferner sollen künftig alle im Parlament vertretenen Parteien in den nationalen Konsultativräten repräsentiert sein. Die Repräsentanz der Oppositionsparteien im Parlament spiegelt letztendlich die reale gesellschaftliche Verankerung der Parteien nicht wider, da sie durch Kunstgriffe erreicht wird, denn ein Direktmandat hat z.B. bislang keine der bestehenden Oppositionsparteien errungen. Die selektive Einbeziehung und Duldung einer formalpolitischen Partizipation einiger Oppositionsparteien im Parlament ist an deren loyales, unterstützendes Verhalten geknüpft; direkten Einfluß auf die politische Entscheidungsfindung haben sie nicht. Wahlen haben deswegen in Tunesien über die periodische Erneuerung der Loyalitätsbekundung hinaus keine Bedeutung. 7 Webseite der Präsidentschaft www.carthage.tn); vgl. Réalités, Tunis, 28.2.-5.3.2008 (Partis d’opposition: Quoi de neuf après le doublement de la subvention?). In Tunesien besteht relative Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen. Vgl. zum Wahlsystem und seinen Auswirkungen ausführlich Axtmann, Dirk: Reform autoritärer Herrschaft in Nordafrika. Verfassungs- und Wahlrechtsreform in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988 und 2004, Wiesbaden 2007, hier: S. 261 ff.; 1994 nahmen Oppositionsparteien 19 von 163 Sitzen im Parlament ein, 1999 erhielten sie 34 von 182 Sitzen und seit den Wahlen 2004 stellen sie 37 Abgeordnete von 189. 324 Staatlicher Umgang mit Opposition Raum für autonome (zivilgesellschaftliche) Organisationen ist in diesem System nicht vorhanden. Das Vereinigungsgesetz8 wurde im April 1992 neu gefaßt und grenzte die Selbstbestimmung von Vereinigungen ein, die „im allgemeinen Interesse“ agieren, indem sie gezwungen wurden, alle Personen aufzunehmen, die Mitglied werden wollen. Diese Bestimmung war zum damaligen Zeitpunkt vor allem gegen die regimekritische Menschenrechtsorganisation LTDH gerichtet, die auf diese Weise mit genehmen, regimeloyalen Personen durchsetzt werden konnte. Wenn eine Vereinigung nicht ständig Behinderungen seitens der Administration ausgesetzt und systematisch finanziell kaltgestellt werden will, darf sie sich nicht als Korrektiv zur Staatsführung verstehen, sie darf also keine zivilgesellschaftliche Autonomie anstreben; sie muß vielmehr nicht nur die Grundpositionen der Staatsführung teilen, sondern auch aktiv die Politik der Staatsführung unterstützen oder sich zumindest neutral verhalten; auf keinen Fall darf sie mit solchen (nicht zugelassenen) Gruppen oder Einzelpersonen zusammenarbeiten, die eine „gegnerische“ Haltung einnehmen und einzelne Maßnahmen oder die Ziele staatlicher Politik in einer Art und Weise kritisieren bzw. ablehnen, die „tabuisiert“ ist. Dasselbe gilt für die Medien und die Journalisten; die Betreiber der seit 2003 bzw. 2005 zugelassenen zwei privaten Radiosender, Radio Mosaïque und Radio Jawhara, und des ersten privaten Fernsehsenders Hannibal TV unterliegen ebenfalls diesen Restriktionen. An dieser Situation der Vorspiegelung von Wahlmöglichkeiten9 und eines lediglich formalen Pluralismus (Vereinigungs-, Parteienpluralismus; zunehmend, wenngleich noch weitaus enger begrenzt auch im Medienbereich) hat sich strukturell seit 1987 nichts verändert. 8 9 Vereinigungen müssen ihre Gründung offiziell beim Innenministerium bekanntgeben und können sich, wenn binnen drei Monaten kein gegenteiliger Bescheid kommt, als legalisiert betrachten. 1998 wurde wahlrechtlich die Grundlage für eine plurale Präsidentschaftswahl geschaffen; 1999 traten erstmals drei Kandidaten zur Wahl an, die aufgrund der Systemstrukturen und der dominanten politischen Kultur von vorneherein keine Chancen gegen den kandidierenden Amtsinhaber und RCD-Repräsentanten Ben Ali hatten. Ähnlich war dies 2004, als sich insgesamt vier Kandidaten aufstellen ließen und erwartungsgemäß Ben Ali mit ca. 94 % der Stimmen gewählt wurde. Die Wahl 2009 wird diesbezüglich ebenfalls keine Überraschung bereit halten. Kapitel II : Tunesien 325 1.2. Politisches System und politische Kultur: Oppositionsprägend Die enge Verflechtung von Staatsapparat und Regierungspartei RCD wird nicht nur durch die Tatsache unterstrichen, daß der Staatspräsident in Personalunion seit der Unabhängigkeit Tunesiens stets auch das Amt des Parteipräsidenten wahrnimmt, sondern auch durch die Rolle, die der Regierungspartei zur Loyalitätssicherung und klientelistischen Anbindung in Staat und Gesellschaft zukommt. Die einflußreichsten Akteure sind in Tunesien somit gleichzeitig systemstützende und vom bestehenden System profitierende Akteure.10 Die Reichweite dieser Rolle veranschaulichen einige Zahlen, die wegen der materiellen Vorteile bei einer Unterstützung der Partei und – über die Partei – der Staatsführung realistisch sein dürften: Der RCD, der nach Eigenangaben um zwei Millionen Mitglieder (Gesamtbevölkerung 2007: 10,276 Mio.) hat, darunter 500.000 Frauen, ist nicht nur die wichtigste Organisation zum Sammeln von Unterstützung, sondern gleichzeitig ein wichtiger Arbeitgeber, der nach Schätzungen zwischen 150.000-200.000 Stellen offeriert. Eine Mitgliedschaft sichert das eigene Fortkommen und administratives Wohlwollen; die Einbindung in die Partei und ein Engagement zugunsten der Partei bezeugt Loyalität. Der RCD konnte dementsprechend seine Stellung als einzig relevante politische Partei in Tunesien ausbauen. Seit der Zerschlagung der relativ mobilisierungskräftigen islamistischen Organisation Ennahda Anfang der 1990er Jahre sind Forderungen nach einem Systemwechsel oder zugunsten einer grundlegenden Modifikation des politischen Systems nur die Agenda kleiner Gruppen oder einzelner Personen, die ohne Rückhalt in der Bevölkerung sind. Die symbiotische Beziehung zwischen Staatsführung und den zentralen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren trägt dazu bei, daß sowohl über die Regierungspartei, die staatlichen Institu10 Es sind dies neben dem Präsidenten und seiner erweiterten Familie (inklusive durch Heiraten angebundene Familien), die hauptsächlich in wirtschaftlichen Bereich etabliert sind, die Regierungsmitglieder und ihre Familien sowie die hohen Funktionäre der Administration auf zentralstaatlicher und Provinzebene. Sie sind alle in der Regel Mitglieder des RCD und haben zusätzlich entweder direkt oder indirekt über Familienmitglieder Einfluß in den wichtigen nationalen Organisationen und Interessenverbänden; zudem haben sie nahe Verwandte in leitenden Funktionen von Staatsunternehmen und privatwirtschaftlichen Unternehmen sitzen. 326 Staatlicher Umgang mit Opposition tionen (Parlament), hohen Räte, Kommissionen mit Repräsentanten der jeweiligen Akteursgruppen und über informelle Kontakte die Interessen gewahrt werden. Die weitgehende Interessenkongruenz und das Fehlen einer mobilisierungskräftigen politischen Vetokraft erhöhen den Gestaltungsspielraum der Staatsführung, denn aus dem Parlament hat sie keinerlei Widerstand zu befürchten und die außerparlamentarische Opposition ist rudimentär und ohne Sammelkraft. Die gesellschaftlich auf allen Ebenen und in allen Bereichen dominante kooperative und politisch moderate, radikale Lösungen und Positionen ablehnende Haltung ist einer spezifischen (positiven) Bewertung der eigenen Situation und den materiellen Kompensationen des Staates zu verdanken: Als Preis für Ruhe und Ordnung, Sicherheit (Schutz vor islamistischem Einfluß und negativen Folgen für die Wirtschaft/Tourismus), soziale Leistungen und einen relativ guten Lebensstandard sind große Teile der Bevölkerung bereit, sich den Kontrollmechanismen und administrativen Eingriffen und Bestimmungen des Staates zu unterwerfen und entweder politisch neutral und passiv oder aktiv loyal und unterstützend zu wirken. Zwei Aspekte spielen in diesem Zusammenhang eine prägende Rolle: - - Das Bestreben des Einzelnen, Unannehmlichkeiten, Sanktionen, Repression, Privilegienverlust usw. zu vermeiden und sich statt dessen den Bedingungen anzupassen, die wegen der verbreiteten (und von der Staatsführung gezielt propagierten) Ansicht, nur durch eine ausgeprägte Kontrolle und Repression könne die potentielle Bedrohung durch Islamisten eingedämmt werden, von weiten Bevölkerungskreisen akzeptiert werden. Die Sozialisierung in hierarchisch-autoritären, klientelistischen Beziehungsstrukturen, die im Bildungswesen fortgesetzt wird, unterstützt diese Anpassungsbereitschaft. Das Parlament als Gesetzgebungsinstanz und Repräsentant des Volkes ist deswegen ein Instrument im Dienste der Politik des Präsidenten; es ist kein Ort der Debatte unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und Politikvorstellungen. Eine ähnliche Rolle wie den legalen Oppositionsparteien wird den nationalen Organisationen, den Vereinigungen, den Medien und Konsultationsgremien wie z.B. dem Comité Supérieur des Droits de l’Homme et des Libertés Fondamentales zu gewiesen. Kapitel II : Tunesien 327 Hinzu kommt, daß die Positionen der wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Akteure in Tunesien hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Orientierung weitestgehend homogen sind. Politische Liberalisierung im Sinne eines staatlichen Kontrollabbaus, einer Stärkung der Autonomie der Institutionen, politischen Parteien und gesellschaftlichen11 Vereinigungen ist ein Tabu; eine komplexe Interessen- und Beziehungskonstellation zwischen Staatsführung, staatstragender Partei, organisierten gesellschaftlichen Akteuren und der Bevölkerungsmehrheit führt dazu, daß diese Akteure gemeinsam am Fortbestand des Tabus beteiligt sind. Symptomatisch dafür ist, daß die Parlamentarier und die Führung des Unternehmerverbandes UTICA im November 2006, denen im Laufe des Jahres 2007 andere Vereinigungen folgten, den amtierenden Staatspräsidenten Ben Ali zur neuerlichen Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2009 aufforderten. Die breite Verankerung der Regierungspartei und der nationalen Organisationen der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Berufs- und Frauenvereinigungen sicherte der Staatsführung Gefolgschaft und Unterstützung, stärkte aber auch die Erwartungshaltung an Kompensationsleistungen für die Unterstützung staatlicher Politik. Organisierter Widerstand gegen einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen ist nur von Teilen der Gewerkschafter zu erwarten. Die dominante politische Kultur Tunesiens wird somit von der Bereitschaft für graduelle Veränderungen und eine Ablehnung „revolutionärer“ oder drastischer und gewaltsamer Eingriffe und Lösungen zur Veränderung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft bestimmt. Politisch-ideologisch radikale Positionen oder gar die Propagierung von Gewalt kann deswegen keine Mehrheit binden. Der Argwohn und die Angst vor Isla11 Da es legale zivilgesellschaftliche Vereinigungen nach dem Verständnis liberaler Demokratien als vom Staat (weitgehend) autonome Vereinigungen, die eine eigene Agenda verfolgen, in Tunesien nicht gibt, oder wenn einmal der Versuch gewagt wird, die betreffende Vereinigung (z.B. die Menschenrechtsorganisation LTDH) am Handeln gehindert wird, wird der Begriff „zivilgesellschaftliche Vereinigungen“ gemieden. Wenn von Vereinigungen die Rede ist, kann es sich um solche handeln, die durch gesellschaftliche Selbstorganisation entstanden sind oder durch staatliche Initiative (als „Konkurrenz“) angeregt und von entsprechend loyal verbundenen Persönlichkeiten begründet wurden. Das Vereinigungswesen an sich ist allerdings produktiv: es werden über 8.000 legale Vereinigungen gezählt. 328 Staatlicher Umgang mit Opposition misten im allgemeinen ist auch wegen deren ambivalentem Verhältnis zur Gewalt in breiten Kreisen der Bevölkerung ausgeprägt. Dieser Faktor und die radikalen Umbauvorstellungen der Islamisten für die staatliche und gesellschaftliche Organisation trugen ebenso wie die Entwicklungen in Algerien in den 1990er Jahren mit dazu bei, daß der islamistische Einfluß in Tunesien stets begrenzt blieb. Das Bedürfnis nach Schutz vor Extremismus (gewaltbereiten Islamisten nach dem Beispiel Algeriens) und terroristischen Anschlägen und deren negativen Folgen für die Wirtschaft die Prosperität des Landes ist ausgeprägt und erhöht die Konsens- und Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber der Staatsführung, die bislang sowohl effizient diesen Schutz vor islamistischer Gewalt gewährte als auch in ihren sozialen und entwicklungspolitischen Leistungen für viele alternativlos ist. Die Positionen großer Bevölkerungsteile und der Staatsführung in Bezug auf islamistischen Extremismus und die soziale Entwicklungsvision für Tunesien sind de facto weitgehend homogen. Ansatzpunkte für eine Opposition zur Mobilisierung gegen staatliche Politik oder politische Orientierungen sind dadurch sehr eingeschränkt. 1.3. Aktuelle Konfliktlagen als Stimulans und Bremse für Opposition Der anhaltend breite gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit eines „starken Staates“ zur Bekämpfung der Islamisten, deren politische und gesellschaftliche Ziele als Gefährdung für die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften betrachtet werden, ermöglichte es der Staatsführung, den repressiven Apparat und das Kontrollsystem auszubauen, seine „Duldung“ zu sichern sowie das hochgradig personalisierte und autoritär-strukturierte Entscheidungssystem, gestützt auf die staatstragende Partei RCD und ein verästeltes neopatrimoniales Klientelsystem, zu konsolidieren. Stark schematisierend können vier Hauptkonflikte identifiziert werden, die seit den 1980er Jahren bis heute in variierender Intensität unterschiedliche Oppositionsgruppen und unterschiedliches Oppositionsverhalten (im oben beschriebenen begrenzten Rahmen) animierten, die jedoch mittelfristig keine Gefahr für den Konsens zwischen Staatsführung Kapitel II : Tunesien 329 und großen Teilen der Bevölkerung über die politische Orientierung darstellen: Konflikt 1: Hier stehen sich liberale Staatsauffassung (partizipatorisches Modell) und autoritäre Staatsauffassung (autoritär-hierarchisches Modell) gegenüber. Dieser Konflikt sorgt nicht nur für innenpolitische Spannungen mit vereinzelten Personen, Vereinigungen und Oppositionsparteien, sondern – wegen der von internationalen Organisationen attestierten schlechten Menschenrechtsbilanz und mangelnden Rechtsstaatlichkeit – auch für außenpolitische Spannungen. Hauptakteure in diesem Konflikt sind - die Staatsführung/Regierungspartei RCD und einige der nicht im Parlament vertretenen legalen Parteien (PDP, FTDL), die nicht zugelassenen Parteien POCT und CR sowie einige Vereinigungen, darunter sowohl zugelassene (LTDH, ATDF, AJA) als auch nicht zugelassene Vereinigungen (CNLT, RAID-Attac). Konflikt 2: Die marktwirtschaftliche Umgestaltung und Anpassung der tunesischen Wirtschaft an den Weltmarkt birgt trotz der Bemühungen der Staatsführung, diese Anpassung sozialverträglich zu gestalten, zu lenken und armutsorientierte Maßnahmen auszubauen, Konfliktstoff. Der Gewerkschaftsverband UGTT ist zwar weitgehend unter staatlicher Kontrolle, dennoch verfügen Einzelgewerkschaften über mobilisierungskräftiges Potential und sind zur Sicherung der Arbeitsplätze, zugunsten von Arbeitsplatzerhalt und Lohnforderungen usw. zu Streiks bereit. Konflikt 3: Einem säkularen, liberaleren Religionsverständnis, das Religion an die Erfordernisse der Epoche anpassen will, steht ein religiös-konservatives und fundamentalistisches Verständnis gegenüber. Während die islamistischen Gruppen mit politischem Anspruch (Neuordnung von Staat und Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt religiösen Rechts) in diesem Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre ausgefochtenen Konflikt aufgerieben wurden, lebte die Kontroverse um den Stellenwert und die Art der Religionsinterpretation insbesondere seit 2001 im Rahmen der verstärkt auftretenden identitären Debatten in Nordafrika und Nahost wieder auf, ohne allerdings in eine organisierte Form zu münden. Konflikt 4: Hierbei handelt es sich um den sporadisch, (lokal) punktuell auftretenden Konflikt mit bewaffneten (islamistischen) Gruppen,12 die keine konkre12 Die im Dezember 2006/Januar 2007 bei Soliman ausgehobene Gruppe mit Verbindungen (Ausbildung, Bewaffnung) zu den bewaffneten Gruppen des GSPC, die sich seit Januar 2007 als „al-Qaida im islamischen Maghreb“ bezeichnen. 30 Personen, die Anschläge auf ausländische Einrichtungen geplant hatten, wurden vor 330 Staatlicher Umgang mit Opposition ten lokalen (tunesischen) Ziele verfolgen; die Bedrohung durch bewaffnete islamistische Gruppen ist u.a. aufgrund der Lage (lange Grenze zu Algerien, wo der Konflikt mit bewaffneten islamistischen Gruppen 2008 weiter anhält) und der „weichen“, offenen Grenzen (Tourismusland) latent gegeben. Es sind jedoch keine weiteren oppositionellen Gruppen in diesen Konflikt involviert. 2. Opposition in Tunesien: Eine Angelegenheit von Individuen und Organisationen ohne gesellschaftlichen Rückhalt Politische Opposition wird im Zusammenhang dieser Studie in einem weiten Sinne definiert als „Nichtübereinstimmung“ mit der Staatsführung in grundlegenden Orientierungsfragen hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Ordnung oder hinsichtlich von Teilaspekten des politischen Handelns.13 Von den neun legalen Parteien Tunesiens sind sechs im Parlament vertreten, das vom regierenden RCD, der 152 von 189 Sitzen der Deputiertenkammer einnimmt, klar dominiert wird. Die restlichen 37 Sitze teilen sich die fünf Oppositionsparteien MDS, PUP, UDU, Mouvement Ettajdid und PSL: Mouvement des Démocrates Socialistes (MDS; 14 Sitze): Die Partei wurde 1978 als Abspaltung des quasi seit der Unabhängigkeit als Einheitspartei fungierenden Parti Socialiste Destourien (umbenannt 1988 in RCD) gegründet und 1983 legalisiert. Seit 1997 ist Ismail Boulehyia Generalsekretär des MDS. Die Partei ist durch interne Querelen um die Führungspositionen und um die „Autonomie“ gegenüber der Staatsführung/RCD zerstritten. Das Programm ist weitgehend identisch mit dem der Regierungspartei; lediglich der Abbau des öffentlichen Sektors wird vom MDS nicht in dem Maße angestrebt, wie er vom RCD vertreten wird. Der programmatische Unterschied zum liberalen RCD-Flügel ist gering.14 13 14 Gericht gestellt (ein Angeklagter war 43 Jahre alt, alle anderen zwischen 22 und 31 Jahre). Vgl. u.a. die zahlreichen Artikel in der tunesischen Presse vom Januar 2007 nach Bekanntwerden der bewaffneten Konfrontation zwischen Mitgliedern der Gruppe und den Sicherheitsorganen. Zur Gerichtsverhandlung und den Urteilen erster Instanz vgl. La Presse de Tunisie, Tunis, 31.12.2007 (Affaire du groupe terroriste). Vgl. Ausführungen in Kapitel I zu „al-Qaida im islamischen Maghreb“. Vgl. Denoeux, Guilain: Tunisie: Les élections présidentielles et législatives 20 mars 1994, in: Maghreb-Machrek, Paris, Nr. 145, 1994, S. 49-72. Kapitel II : Tunesien 331 Parti de l’Unité Populaire (PUP; 11 Sitze) Der PUP wurde 1981 gegründet und 1983 legalisiert. Generalsekretär Mohamed Bouchiha trat bei den ersten pluralen Präsidentschaftswahlen Tunesiens 2004 an und erhielt 3,78 % der abgegebenen Stimmen. Der PUP, aus dem linken, sozialistischen Spektrum entstanden, entwickelte sich von radikaleren Positionen vollkommen weg, obgleich die Partei dem Staat als „Motor der Wirtschaft“ immer noch eine stärkere Rolle zuweist als der RCD. Der PUP setzt sich für klassische „linke“ Themen in Form der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ein und plädiert für eine Trennung zwischen staatlicher Verwaltung und Regierungspartei RCD.15 Union Démocratique Unioniste (UDU; 7 Sitze) Die UDU wurde 1988 gegründet und im gleichen Jahr legalisiert. Generalsekretär ist zur Zeit Ahmed Inoubli. Hauptunterscheidungsmerkmal zu den anderen im Parlament vertretenen Parteien ist das spezifische (verbale) Engagement der UDU für die arabische Einheit. In anderen Programmpunkten ähneln ihre Positionen denen des regierenden RCD. Mouvement Ettajdid (3 Sitze) Die Partei ging aus der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei hervor; sie war in den Jahren 1963-1981 verboten; 1993 nannte sich die Partei in „Bewegung der Erneuerung“ (Mouvement Ettajdid) um und trat 1994 bei den Legislativwahlen mit einem neuen „sozialen“ Programm an, das – ähnlich wie dies der regierende RCD praktiziert – die Solidarität und Förderung der sozial Schwachen in den Mittelpunkt stellt. Der langjährige Generalsekretär der Partei, Mohamed Harmel, hat nach parteiinternen Auseinandersetzungen zugunsten einer Verjüngung der Führungspositionen den Posten des Generalsekretärs 2007 abgegeben; Generalsekretär ist momentan Mohamed Ali Halwani. Parti Social Libéral (PSL; 2 Sitze) Generalsekretär der von Mounir Béji 1988 gegründeten und im selben Jahr zugelassenen Partei ist seit 17. Juli 2006 Mondher Thabet. Dezentralisierung und wirtschaftliche Liberalisierung sind neben dem „Erhalt der nationalen Errungenschaften“ (Personalstatut) und dem republikanischen System zentrale Programmpunkte der Partei. Das Besondere am tunesischen Fallbeispiel ist, daß die parlamentarische Opposition nicht nur eine loyale Opposition ist, sondern eine Konsensopposition, die explizit die Programme der Staatsführung bzw. Positio15 Vgl. Interview mit dem PUP-Generalsekretär in: Réalités, Tunis, 29.3.-4.4.2007 (Mohamed Bouchiha „Il nous faut accélérer le rythme des réformes démocratiques“), S. 10-12. 332 Staatlicher Umgang mit Opposition nen des regierenden RCD unterstützt und ihre eigenen Positionen jenen des RCD anpaßt, d.h. sozusagen explizit „Nichtübereinstimmung“ vermeidet. Parteiinterne Querelen um Macht und Einfluß, Postenbesetzungen, Verjüngung der Parteigremien usw. schwächen die parlamentarischen Oppositionsparteien zusätzlich. Ihre Vernachlässigung der nichtstädtischen Klientel und ihre vorwiegend auf die Hauptstadt und größeren Städte begrenzte Präsenz schaden zudem ihrem Ruf; es wird ihnen von einem Großteil der Bevölkerung Handeln im puren Eigeninteresse unterstellt, aber kein gesamtgesellschaftliches Engagement zugeschrieben. Gesamtgesellschaftliches Interesse und Handeln wird aber sehr wohl (auch von Kritikern) der Staatsführung zugesprochen, deren entwicklungsfördernde und sozialpolitische Maßnahmen seit 1987 als gesamtgesellschaftlich relevant anerkannt werden.16 Die parlamentarische Opposition in Tunesien kann somit als enger „Partner“ der Exekutive bezeichnet werden, die sich wie diese modernistisch, antiislamistisch und entwicklungsorientiert versteht. Alle legalen politischen Parteien in Tunesien weichen nur in Nuancen von den Positionen der Regierungspartei RCD ab; vorhandene Unterschiede (wie im Falle der UDU das außenpolitische Ziel der arabischen Einheit oder die Konzentration auf ökologische Themen wie bei der neu zugelassenen PVP) sind jedoch unerheblich, weil - sich jede im Parlament vertretene Partei der Orientierung des RCD „unterwirft“ bzw. die Politik der Staatsführung/des RCD stützt; keine der legalen Parteien über eine breite gesellschaftliche Verankerung und Mobilisierungskraft verfügt; die Staatsführung/der RCD die wichtigen Themen und gesellschaftlichen Anliegen (wie u.a. Ökologie/Umweltschutz) selbst vertritt. Ähnliches gilt für die großen nationalen Verbände17 und die Mehrzahl der (legalen) Vereinigungen. Der Staatspräsident dankte denn auch in 16 17 Vgl. hierzu auch Hibou 2006, a.a.O. (Anm. 3). Den Unternehmerverband Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat (UTICA), den Bauern- und Fischereiverband Union Tunisienne de l’Agriculture et de la Pêche (UTAP), das Großunternehmen offenstehende Institut Arabe des Chefs d’Entreprise (IACE) oder auch die Frauenorganisation Union Nationale des Femmes Tunisienne (UNFT) sowie die Organisation der Unternehmerinnen (Femmes Chefs d’Entreprises). Kapitel II : Tunesien 333 seiner Rede zum 7. November 2007 allen für ihre Bereitschaft, zum Fortschritt und Wohlstand Tunesiens beizutragen. Aus dieser Reihe fällt allerdings der Gewerkschaftsverband (UGTT) etwas heraus, weil in der UGTT auch Einzelgewerkschaften Mitglied sind, die bereit sind, ihre Belange im eigenen arbeits-, sozial- und lohnpolitischem Interesse offensiver gegenüber der Staatsführung zu vertreten und durchzusetzen. Die UGTT-Führung übernimmt dabei die Vermittlerrolle zwischen gewerkschaftlicher Basis und Regierung. Ein hervorstechendes Merkmal bei der Mehrzahl der legalen politischen Parteien und gesellschaftlichen Vereinigungen in Tunesien ist die Verlagerung der Artikulation von „Nichtübereinstimmung“ in den privaten Bereich und die Nutzung des öffentlichen Raumes zur Artikulation von Konsens und Loyalität mit der Staatsführung. Ein oppositioneller Diskurs ist dadurch auf einige wenige legale und nicht legalisierte Organisationen beschränkt, die mitgliedermäßig schwach und ohne mobilisatorischen gesellschaftlichen Einfluß sind. Die Schwäche der Oppositionsparteien zeigt sich auch daran, daß die im April 2007 von PUP-Generalsekretär Bouchiha angekündigte „Demokratische Allianz“ zwischen PUP, UDU, PSL und der Partei der „Grünen“ (PVP) zur Dynamisierung des „demokratischen Reformrhythmus“ nicht weiter von sich reden machte, obwohl sie als offenes, nicht an parteipolitische Zugehörigkeit gebundene Struktur präsentiert wurde. 2.1. Legale Opposition und Vereinigungen in „Nichtübereinstimmung“ mit der Staatsführung Von den legalen, nicht im Parlament vertretenen Oppositionsparteien: - Forum Démocratique pour le Travail et les Libertés (FDTL), Parti Démocratique Progressiste (PDP) und Parti des Verts pour le Progrès (PVP), den erst im März 2006 legalisierten und für Ökologie und Entwicklung eintretenden „Grünen“, äußern sich lediglich der FDTL und PDP regimekritisch. Innerhalb des PDP findet nach einer Annäherung an die Islamisten Ennahdas und nach einer militanteren Phase (s.u.), die parteiinternen Widerspruch erregte, 334 Staatlicher Umgang mit Opposition seit Dezember 2007 eine Diskussion statt, die eine kooperativere Position gegenüber der Staatsführung nicht (mehr) ausschließt. Der gesellschaftliche Einfluß sowohl des PDP als auch des FDTL ist jedoch minimal. Parti Démocratique Progressiste (PDP) Der PDP hat eine Umbenennung und programmatische Umorientierung hinter sich. Er gründete sich 1983 als „links progressive“ Sammlung unter dem Namen Rassemblement Socialiste Progressiste (RSP) und wurde 1988 legalisiert. Im Juni 2001 wurde auf dem Parteitag die Umbenennung in PDP angenommen und die sozialistische Komponente in den Hintergrund gedrängt. Von 1988 bis 25. Dezember 2006 war Ahmed Néjib Chebbi Generalsekretär; er trat vom Amt des Generalsekretärs freiwillig zurück, um ein demokratisches Zeichen zu setzen und den Weg für einen Wechsel und eine Verjüngung an der Führungsspitze des PDP frei zu machen. Die 1960 geborene Maya Jribi wurde zur Generalsekretärin gewählt, womit erstmals in der tunesischen Parteiengeschichte eine Frau die Führung einer Partei übernahm; Chebbi, Chefredakteur der Parteizeitung al-Mawqif, tritt jedoch ständig gemeinsam mit der neuen Generalsekretärin auf, so daß der Begriff einer Doppelspitze durchaus angebracht ist. Programmatisch war der RSP ursprünglich von sozialistischen Ideen inspiriert. Inzwischen steht die Forderung nach Demokratie und Pluralismus im Mittelpunkt. Wirtschaftspolitisch steht der PDP für eine Koexistenz von öffentlichem und privatem Sektor. Die zunächst kooperative Haltung gegenüber der Staatsführung war allerdings stets auch von Kritik an der fehlenden Neutralität der vom regierenden RCD dominierten Administration begleitet (wie 2007 auch vom PUP formuliert). Im Zusammenhang mit dem Verfassungsreferendum vom 26. Mai 2002 mobilisierten sich schließlich die Gegner einer Änderung von Verfassungsartikel 39 Absatz 3, mit der die Möglichkeit zur Wiederwahl von Staatspräsident Ben Ali 2004 und 2009 geschaffen werden sollte, um den PDP. Während die im Parlament vertretenen Oppositionsparteien der Verfassungsänderung zustimmten, war der PDP Teil der Gegenfraktion, die – auf Initiative Chebbis – am 16. November 2001 in die Gründung einer „Coordination Démocratique“ mündete; am Kapitel II : Tunesien 335 12. Mai 2002 wurde die „Nationale Konferenz der Demokraten“ organisiert, auf der neben Vertretern des PDP Vertreter einer regierungskritischen – heute marginalisierten – Fraktion des MDS sowie Vertreter der zu diesem Zeitpunkt noch nicht legalisierten Partei FTDL und von nicht legalisierten Organisationen wie PCOT und RAID/Attac-Tunisie anwesend waren.18 Sie riefen – erfolglos – zum Boykott des Referendums auf. Seit 2001/2002 verortet sich der PDP (bzw. seine Führung) auf der Seite der Kritiker des Staatspräsidenten, prangert fehlende Demokratie und Menschenrechte an, hat aber selbst kein schlüssiges und kohärentes politisches Programm. 2003/2004 näherte sich Chebbi den Islamisten von Ennahda an (Treffen mit dem in London lebenden Führer Ennahdas, Rachid Ghannouchi). In konkrete, gemeinsame politische Aktionen mündete diese Annäherung indes nicht; dennoch war sie ein Schritt, der die Partei weiter marginalisierte. 2007/2008 scheint eine weitere Nutzung der Partei zur Selbstinszenierung des ehemaligen Generalsekretärs wie auch der neuen Generalsekretärin die parteiinternen Unstimmigkeiten zu verschärfen: Umstritten war insbesondere der Hungerstreik Ahmed Néjib Chebbis und der PDP-Generalsekretärin Maya Jraibi (20. September bis Mitte Oktober 2007) aus Protest gegen die Räumungsklage, die der Vermieter der als Parteizentrale genutzten Büroräume der Parteizeitung al-Mawqif im Zentrum von Tunis anstrengte. Diese Klage wurde als Schikane der Administration gewertet.19 Der Konflikt wurde zwar im Sinne der PDP-Führung gelöst und die Klage zurückgenommen, doch parteiintern löste das Vorgehen der Parteiführung Kritik aus. Zwei Parteikader plädierten für eine Abkehr von „radikalen Methoden“; sie wiesen auf die Konvergenzen mit der Staatsführung und dem regierenden RCD hin (Modernisierung von Staat und Gesellschaft; Öffnung gegenüber universeller Kultur; Konsolidierung staatlicher Institutionen; Entwicklung; ähnliche Einschätzung der Gefahrenlage usw.). Sie forderten alle Oppositionskräfte in Tunesien auf, sich von radikalem Diskurs und Verhalten abzukehren und sich für eine Kooperation zu öffnen, um dadurch auch die „Gegenseite“ zu entradikalisieren. In selbstkritischen 18 19 Anwesend waren auch Repräsentanten der Frauenorganisation ATFD, des Ordre National des Avocats Tunisies und der Associations des Jeunes Avocats. Vgl. die Ausführungen Chebbis in: Jeune Afrique, Paris, 14.-20.10.2007, S. 46 f. 336 Staatlicher Umgang mit Opposition Überlegungen sprachen sich einige PDP-Mitglieder für die Unterstützung gradueller Reformen aus, weil ein graduelles Vorgehen, das dem Verhalten der Staatsführung entspricht, Bestandteil der politischen Kultur Tunesiens sei. Sie forderten jedoch auch die Staatsführung zu „mutigen Reformschritten“ auf und erinnerten diesbezüglich zum einen an die 1950er Jahre, als die damalige Exekutive das fortschrittliche Personalstatut durchsetzte, und zum anderen an den 7. November 1987, als der kranke und nicht mehr regierungsfähige Präsident Habib Bourguiba „verfassungsmäßig“ abgesetzt wurde.20 Eine Änderung des Verhaltens der Parteispitze löste diese parteiinterne Kritik indes nicht aus; im Gegenteil: Am 13. Februar 2008 gab Ahmed Néjib Chebbi auf einer Pressekonferenz bekannt, daß er 2009 bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren wolle. Allerdings ist nach dem geltenden Wahlgesetz eine Kandidatur nur möglich, wenn der Kandidat Präsident einer im Parlament vertretenen Partei ist und seit fünf Jahren den Parteivorsitz innehat. Die Bestimmung, daß dreißig Unterschriften von Deputierten oder Vorsitzenden von Stadträten, die die Kandidatur unterstützen, vorzulegen sind, wurde 1999 abgemildert, denn inzwischen kann die Bestimmung „unter Umständen“ ausgesetzt werden. Die bestehenden Bestimmungen des Wahlgesetzes schließen derzeit jedoch Néjib Chebbi von einer Kandidatur aus: Seine Kampagne, die gezielt die internationale Öffentlichkeit einbeziehen will, soll praktisch die Ernsthaftigkeit der Öffnungs- und Demokratisierungsbekundungen der Staatsführung testen.21 Chebbi wurde von der Mehrheit des PDP-Nationalrats in seinem Vorhaben unterstützt.22 Erneut wurde das „alte“ Verfahren der gezielten Provokation eingesetzt; beibehalten wurde zudem die zusätzlich provozierende Strategie, ausländische Medien und Vertreter Ennahdas über die Parteiaktivitäten und Absichten zu informieren und Medienwie auch Ennahda-Vertreter zur Pressekonferenz einzuladen. Die am 21. 20 21 22 Vgl. z.B. das Interview mit PDP-Kader Dr. Fethi Touzri in: Le Temps, Tunis, 24.12.2007; ähnliche Vorschläge machten Fethi Touzri und Mohamed Goumani bereits im April 2007, vgl. Réalités, Tunis, 5.-11.4.2007, S. 12 -14. Einen vergleichbaren Versuch unternahm Moncef Marzouki – gleichfalls erfolglos – vor den Präsidentschaftswahlen 1989 und 1994. Vgl. AP, 14.2.2008; www.magharebia.com, 24.1.2008 (Tunisian opposition leader announces 2009 election aspirations). Kapitel II : Tunesien 337 März 2008 von Präsident Ben Ali angekündigte Verfassungsänderung, die vorsieht, die Zulassungsbedingungen für Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 2009 zu erleichtern, wird allerdings Néjib Chebbi nicht zugute kommen; die Änderung sieht lediglich vor, die Zulassung von Parteipräsidenten (Mindestamtszeit drei Jahre zum Zeitpunkt der Kandidatur) zu erleichtern und auch Parteipräsidenten von nicht im Parlament vertretenen Parteien zuzulassen. Forum Démocratique pour le Travail et les Libertés (FDTL) Der FDTL wurde von Mustapha Ben Jaâfar als Abspaltung des MDS 1994 gegründet und vom Innenministerium 2002 legalisiert; er zeichnet sich nicht durch ein eigenständiges Programm aus; die Parteipublikationen erschöpfen sich – ähnlich wie beim PDP – in formelhaften Forderungen für (mehr) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Informations- und Vereinigungsfreiheit und der Forderung nach einer Generalamnestie.23 Die Kritik am politischen System und der Staatsführung bezieht sich u.a. auf den fehlenden Freiraum für oppositionelle Aktivitäten, den fehlenden Zugang der Oppositionsparteien zum nationalen Rundfunksender, auf die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die Dominanz der Verwaltung durch den regierenden RCD.24 Im Vorfeld des Verfassungsreferendums von 2002 näherte sich auch der FDTL den Islamisten Ennahdas und anderen (nicht legalisierten) Organisationen wie dem CNLT an, die allerdings durch ihre Versuche, mit den Islamisten Ennahdas gemeinsam eine breitere Front von Gegnern zu mobilisieren, ihre Position gegenüber der Staatsführung schwächten. 2007 kündigte der FDTL an, sich an den Legislativwahlen 2009 beteiligen zu wollen. Sein gesellschaftlicher Einfluß ist marginal. Von den legalen Vereinigungen ist es zum einen die für Frauenrechte eintretende Association Tunisienne des Femmes Démocrates (ATFD) mit ihren rund 500 Mitgliedern, die Menschenrechtsorganisation Ligue Tuni23 24 Vgl. die Webseite der Partei www.fdtl.org. Vgl. Beispielhaft seine Ausführungen in dem Interview in der islamistisch orientierten Zeitschrift Audace, Paris, Nr. 152, Oktober 2007 (Interview exclusive avec le docteur Mustapha Ben Jaafar). 338 Staatlicher Umgang mit Opposition sienne des Droits de l’Homme (LTDH), die Association des Jeunes Avocats, seit 2005 eine Fraktion der Association des Magistrats, sowie die 2004 im Vorfeld des Weltinformationsgipfels (Tunis, 17.-30.9.2005) gegründete, nicht zugelassene Journalistengewerkschaft Syndicat des Journalistes Tunisiens (SJT), die zum einen mehr Autonomie fordern (Justizbereich, Journalisten) und zum anderen im öffentlichen Raum Kritik an der Politik der Staatsführung im Medienbereich (zu starke Kontrolle; zu enge Grenzen für Meinungsfreiheit), im Menschenrechtsbereich (LTDH) und im Bereich „demokratische Öffnung“ (ATFD) äußern. Ihre Forderungen zielen alle auf Reformen des bestehenden Systems, dessen Grundorientierung (säkular, modernistisch) sie nicht in Frage stellen; sie plädieren jedoch für den Abbau autoritärer Strukturen. 2.2. Nicht legalisierte politische Zusammenschlüsse, Vereinigungen und Individuen als Hauptkritiker der Staatsführung Zu den nicht zugelassenen politischen Zusammenschlüssen zählen die wenige Mitglieder umfassenden „Parteien“ - Parti Communiste des Ouvriers de Tunisie (PCOT); dessen Sprecher Hamma Hammami (verheiratet mit der Rechtsanwältin Radhia Nasraoui, die mehrfach durch Hungerstreiks international Aufmerksamkeit erregte) führt einen sehr ideologisierten Diskurs, der das bestehende System als Diktatur bezeichnet und grundsätzlich keine positiven Entwicklungen sieht. Hammami prangert die „Ausbeutung der Arbeiterschaft“, Menschenrechtsverletzungen, Folter und die „Unterwerfung unter imperialistische Mächte“ an. - Parti du Travail Patriote et Démocratique (PTPD), 2004 als „neue Linke“ gegründet. - Congrès Républicain (CR) im Juli 2002 von dem Arzt und vehementen Regimekritiker Moncef Marzouki und einigen Menschenrechtsaktivisten gegründet; Marzouki war jedoch die treibende Kraft. Der CR machte im Vorfeld von Wahlen mit Kritik an den fehlenden Freiheiten in Tunesien und fehlendem echten politischen Pluralismus von sich reden, wobei er vielfach zu Auftritten in dem qatarischen Sender al-Jazira geladen wurde und sich den Islamisten der Ennahda annäherte. Der CP ist eine „Totgeburt“ geblieben. Monzef Marzouki führt seine Medienkritik, die sich Kapitel II : Tunesien 339 hauptsächlich gegen den Staatspräsidenten („dictateur“) richtet, als Individuum fort.25 Diese „Parteien“ üben ideologisch bedingt Kritik am Autoritarismus und an Menschenrechtsdefiziten sowie Kritik am wirtschaftlichen Kurs (PCOT, PTPD); die Positionen gegenüber der Staatsführung sind auf personalisierter Ebene kategorisch ablehnend (CP/Marzouki), ohne indes realistische Reformperspektiven aufzuzeigen. Nicht legalisierte Vereinigungen wie z.B. die im Internet aktiven Vereinigungen - RAID-Attac Tunisie (entsprechend den Attac-Positionen kritisch gegenüber den Anpassungen der tunesischen Wirtschaft an die Erfordernisse der Weltwirtschaft) - Conseil National pour les Libertés en Tunisie (CNLT); dem Komitee steht die Journalistin Sihem Bensedrine vor, die auch in ihrer Online-Publikation Kalima ihre Regimekritik übt und der Staatsführung Folter und generell die mangelnde Umsetzung von Menschenrechten vorwirft.26 Die Vorwürfe und Kritikpunkte dieser Oppositionsgruppen neigen zu Verzerrungen. Polemisch und pauschal verurteilend treten etliche in den 1980er/1990er Jahren im ausländischen (vor allem europäischen) Exil entstandenen Vereinigungen überwiegend islamistisch orientierter Regimegegner auf.27 Ihr Einfluß innerhalb Tunesiens ist marginal. Dies gilt ebenfalls für die islamistische Organisation Ennahda, deren Organisationsstrukturen in Tunesien seit Mitte der 1990er Jahre zerschlagen sind; ihre Hauptaktivitäten, die in regelmäßigeren Verlaut25 26 27 Vgl. u.a. sein Interview mit L’Audace, Paris, Nr. 151, September 2007, 4 Seiten (Le plan de Moncef Marzouki contre la dictature); der genannte Plan besteht aus der Forderung nach fairen Wahlen „ohne den Diktator“. Vgl. auch Elaph.com, 4.3.2008 (Tunisian opposition leader Dr. Moncef Marzouki says Maghreb regimes cause AlQa’idah support). Regelmäßige Veröffentlichung der Erklärungen unter www.maghreb-ddh.sgdg.org sowie unter www.kalimatunisie.com. Wie z.B. die Exiloppositionellen um die in Paris erscheinende, den Islamisten Ennahdas nahestehende Zeitschrift L’Audace, herausgegeben von Slim Bagga, einem ehemaligen Mitglied der islamistischen Studentenorganisation UGTE; das Comité de Défense des Prisonniers Politiques en Tunisie, 1999 ebenfalls von einem ehemaligen UGTE-Mitglied gegründet, oder das Comité pour le Respect des Libertés et des Droits de l’Homme en Tunisie. Politischen Einfluß in Tunesien haben diese Gruppen bzw. Einzelpersonen, die dahinter stehen, nicht. 340 Staatlicher Umgang mit Opposition barungen und polemischen Artikeln von ehemaligen Kadern und Unterstützern in verschiedenen Online-Publikationen bestehen, erschöpfen sich in Diskreditierungen einzelner Politiker, deren Familien, pauschaler Kritik an fehlenden Freiheiten, Vorwürfen von Repression usw. Die eigenen Ziele werden momentan nicht artikuliert; vielmehr wird das Bild einer moderaten Organisation gezeichnet, die sich dem legalen politischen Handeln verschrieben hat. Regimekritik kommt ferner von einzelnen Persönlichkeiten liberaler Orientierung, die in der Regel enge Kontakte zu ausländischen Medien und Organisationen unterhalten, die speziell für Menschenrechte und Pressefreiheit eintreten. Es handelt sich seit den 1990er Jahren hierbei um Journalisten und Publizisten wie z.B. Taoufik Ben Brik, Sihem Bensedrine, Omar Mestiri; die Rechtsanwältin Radhia Nasraoui oder den Richter Mokhtar Yahyaoui. Ihre Wahrnehmung innerhalb Tunesiens ist auf einen engen Zirkel Gleichgesinnter beschränkt; in der internationalen Presse bzw. bei internationalen Organisationen, die für Menschenrechte, Pressefreiheit eintreten, finden sie hingegen bedeutend mehr Aufmerksamkeit und Publikum. Die Entscheidung, den Weltinformationsgipfel 2005 in Tunis abzuhalten, wurde unter dem Einfluß der Öffentlichkeitsarbeit der oben genannten Kritiker im Ausland kontrovers diskutiert, ohne jedoch – trotz Kritik an der mangelnden Presse- und Meinungsfreiheit – den Entschluß zu revidieren. 2.3. Militante und gewaltsame Opposition Die UGTT-Führung ist zur Zeit (im Gegensatz zu den 1970er und 1980er Jahren) weitgehend entpolitisiert; die Lohnerhöhungen vom Juli 2006 dürften sich weiter kooperationsfördernd auswirken; um die Zähmung der UGTT-Basis, die Arbeitsplatzabbau und Kaufkraftverlust durch weitergehende Reformen und Privatisierungen befürchtet, dauerhafter zu sichern, müssen die Reformen von der Regierung dosiert und durch soziale Maßnahmen abgefedert werden. Die tunesische Staatsführung berücksichtigt diese Befindlichkeiten an der Gewerkschaftsbasis. Die ergriffenen sozialen Maßnahmen zugunsten der Arbeitnehmer wie auch die zum Teil zögerliche Modernisierung und Umstrukturierung von Staatsbetrieben erklären sich aus diesem Kontext. Zeitweilig versuchten Kapitel II : Tunesien 341 einzelne Regimekritiker durch Hungerstreiks (in diesem Sinne „militant“) ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen wie z.B. 2007 die PDP-Führungskader Chebbi und Jraibi (s.o.) oder im Januar 2008 die gegen ihre soziale Situation (Arbeitslosigkeit) protestierenden südtunesischen Arbeiter aus Gafsa.28 Die Forderungen kreisten in der Regel um Fragen des Respekts rechtsstaatlicher Prozedere, die Achtung der Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit oder waren soziale Forderungen (Sicherung von Arbeitsplätzen, Lohnerhöhungen, arbeitsrechtliche Absicherungen usw.). Es blieb stets bei isolierten Aktionen, die keine breitere Unterstützung durch die Bevölkerung auslösten. Gewaltsame Opposition ist in Tunesien seit Mitte der 1990er Jahre und der Zerschlagung des bewaffneten Flügels der Ennahda eine marginale Erscheinung, was einerseits der Effektivität sicherheitspolitischer Maßnahmen zu verdanken ist, andererseits aber mit dem fehlenden Unterstützungspotential für militantes und erst recht gewaltsames Handeln in der Bevölkerung zusammenhängt. Bewaffnete Gruppen konnten sich in Tunesien – im Unterschied zu Algerien – nicht etablieren und keine permanente Basis aufbauen, d.h. sie konnten nicht kontinuierlich aktiv werden.29 Tunesische Islamisten, die im europäischen Ausland leben, sollen 2008 zu Gewalt gegen eine in Tunesien lebende und arbeitende Journalistin aufgerufen haben.30 Die Radikalisierung nichtstaatlicher Akteure ist in Tunesien wegen der relativ homogenen gesellschaftlichen Strukturen und Lebensbedingungen schwierig. So sind Gewaltakte – wie z.B. der Anschlag auf die Synagoge von Djerba am 11. April 2002 (21 Tote) oder die im Dezember 2006/Januar 2007 vereitelten Selbstmordanschläge auf ausländische Botschaften durch Mitglieder islamistischer Gruppen, die sich als alQaida nahestehend definierten – isolierte Akte geblieben. Militante Akte wie die Durchführung von Hungerstreiks, um auf mangelnde bzw. feh28 29 30 Vgl. den Bericht in: Réalités, Tunis, 31.1.-6.2.2008 (Gafsa: Les raisons de la colère). Der bewaffnete Arm Ennahdas wurde 1991/1992 aufgerieben; ebenso die gewaltbereite Islamische Befreiungspartei/Sektion Tunesien. Ein solcher Aufruf zur Gewalt erfolgte gegen die Journalistin Salwa Charfi (Institut de Presse, Tunis), die eine kritische Studie zu den Fatwas auf den arabischen Internetseiten verfaßte (vgl. Jeune Afrique, Paris, 3.2.2008: Tunisie: Pourquoi les laïcs ont peur). 342 Staatlicher Umgang mit Opposition lende Freiheiten aufmerksam zu machen und durch internationale Medieneinbindung die Staatsführung zum Handeln zu zwingen, sind gleichfalls seit 2002 individuelle Aktionen mit geringer innenpolitischer Reichweite geblieben, wenn allgemeine Ziele wie Liberalisierung, Stärkung der Freiheiten usw. als Forderungen formuliert wurden; bei konkreten Anliegen wie z.B. der Aufhebung eines Reiseverbots oder 2007 in Bezug auf die Aufhebung der Kündigung des Mietvertrages für den PDP wurden allerdings durchaus Erfolge erzielt, indem die konkrete Forderung (kurzfristig) erfüllt wurde, um den Störfaktor (auch in Bezug auf ausländische Medienkommentare) zu beheben. 3. Staat und Opposition: Zum Muster einer Beziehung 3.1. Interaktionsarten Die tunesische Gesellschaft ist durch autoritäre Beziehungsstrukturen geprägt, die mehrheitlich die Unterordnung des Einzelnen oder der Gruppe unter den starken Staat begünstigen, um in den Genuß seines Schutzes und seiner Leistungen zu kommen. Das repressive Instrumentarium kommt nicht nur zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung zum Einsatz, sondern auch als Reaktion auf Kritiker, die sich vor allem international artikulieren. Zudem wird es gegenüber Kritikern angewendet, die kooperative Kontakte mit Islamisten (Ennahdas) pflegen und/oder für eine Generalamnestie eintreten, die eine Rehabilitation und Reintegration der in den 1990er Jahre verurteilten Islamisten Ennahdas bedeuten würde, die ihrerseits einen Systemwechsel anstrebten und über einen bewaffneten, gewaltbereiten Organisationsteil verfügten. Im Prinzip ist die tunesische Staatsführung stets an einer diskreten Konfliktbeilegung interessiert; persönliche Absprachen mit einzelnen Akteuren bzw. ihren Vertretern oder wie im Falle von arbeits- und tarifrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und staatlichem und privaten Arbeitgebern die institutionalisierten Verhandlungsmechanismen wirken gezielt auf Konsensfindung hin. Allerdings funktioniert(e) diese Konsensfindung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart nur unter bestimmten Bedingungen; diese Bedingun- Kapitel II : Tunesien 343 gen gelten für die legale parteipolitische Opposition wie die nicht zugelassenen Oppositionsgruppen, deren Chancen auf Zulassung sich erhöhen, wenn sie sich an den Verhaltenskodex halten. Der Handlungsspielraum vermindert sich hingegen und ist gepaart mit Schikanen gegen einzelne Mitglieder,31 wenn die Tabus überschritten werden. Was sind diese Tabus, die das Interaktionsmuster von Staatsführung/Exekutive und gesellschaftlichen Organisationen bestimmen? Die Konflikte mit zum Teil zugelassenen Vereinigungen wie der Menschenrechtsorganisation LTDH, der Frauenorganisation ATFD und der Vereinigung der jungen Rechtsanwälte AJA, zum Teil mit nicht legalisierten Vereinigungen wie dem SJT, dem CR, dem CNLT oder der tunesischen Attac-Gruppe (RAID-Attac Tunisie) sowie mit einzelnen Persönlichkeiten, die Kritik an der mangelnden Achtung der Menschenund Bürgerrechte, am repressiven Apparat, der exzessiven Kontrolle des Staates und der administrativen Willkür üben, führten immer dann zu einer verstärkten Repression, wenn sich diese Vereinigungen zusätzlich zur Kritik an der Staatsführung - 31 32 für die Rechte der inhaftierten Islamisten einsetzten und nicht nur eine Generalamnestie forderten, sondern generell für die politische Partizipation von Islamisten eintraten, sich mit Vertretern Ennahdas im Ausland trafen32 und Diese Schikanen können von Behinderungen der Ausreise aus Tunesien, dem Paßentzug bis zu tätlichen Angriffen reichen; die Schikanen gegen einzelne Personen richten sich mitunter auch gegen Familienangehörige. Des öfteren werden auch Veranstaltungen verhindert, die von regimekritischen Vereinigungen geplant sind oder an denen Vertreter solcher Vereinigungen teilnehmen sollen. Vgl. z.B. aktuell Tunisnews_French, 5.3.2008 (La police agresse Omar Mestiri et Sihem Bensedrine dans les bureaux de la douane). Dieses Verhalten hat z.B. Sanktionen gegen den ehemaligen Vorsitzenden des MDS, Mohamed Moadda, ausgelöst: Moadda hatte am 19.3.2001 zusammen mit Moncef Marzouki, Sihem Bensedrine und dem Ennahda-Führer Ghannouchi einen Appell zur Bildung einer gegen die tunesische Staatsführung und gegen ein neuerliches Mandat Präsident Ben Alis gerichteten „Patriotischen und demokratischen Front“ aufgerufen. Eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens im Hinblick auf Islamisten und die staatliche Politik ihnen gegenüber begünstigt wiederum die politische Integration und Versöhnung; dies zeigt der Kurswechsel Moaddas, der nach dem Referendum über die Verfassungsänderung, mit der die Wiederwahl Präsident Ben Alis 2009 ermöglicht wurde, eintrat. Ferner gilt, daß die Staatsführung gegenwärtig eher die Forderung einer Generalamnestie akzeptiert (wie dies z.B. auch der Mouvement Ettajdid tut), wenn gleichzeitig die politische Partizipation von Islamisten und eine 344 - Staatlicher Umgang mit Opposition ausländische Medien in ihre Öffentlichkeitsarbeit einbezogen (z.B. zu gemeinsamen Auftritten in Talkshows, in denen dann direkte Kritik an der tunesischen Staatsführung geübt wurde). Das Signifikante an der Entwicklung in tunesischen oppositionellen Kreisen im Frühjahr 2000 war, daß auf der Basis individueller Entscheidungen (z.B. zum Hungerstreik; zur Veröffentlichung von Kritik am Präsidenten; zur Anprangerung korrupter Praktiken und rechtsstaatlicher Übergriffe) das öffentliche und vor allem internationale Anprangern von Mißständen eingeleitet wurde und z.B. im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2004 und des im November 2005 in Tunis stattfindenden Weltinformationsgipfels gezielt ausländische Netzwerke (und arabische Satellitensender wie al-Jazira) genutzt wurden bzw. werden. Der Protest beschränkt sich in diesem Kontext auf Kritik am fehlenden politischen Pluralismus, fehlender Vereinigungs- und Informationsfreiheit, fehlender Rechtsstaatlichkeit und auf Forderungen, eben diese Defizite zu beheben, Demokratie umzusetzen, alle politischen Gefangenen freizulassen und eine Generalamnestie zu gewähren. Diese Forderungen werden von den genannten Organisationen und Personen sowie Ennahda-Mitgliedern im Ausland regelmäßig vorgebracht. Seit 2000 ist jedoch dieses Spektrum der Organisationen und Individuen, die öffentliche Kritik an der Staatsführung üben und sich zum Teil militant (Hungerstreik) gegen die Staatsführung stellen, konstant geblieben; ihren Einfluß konnten sie – auch wegen ihrer Einbeziehung der Islamisten Ennahdas in die Forderungen – nicht ausdehnen. Alle genannten Organisationen haben zudem Nachwuchsprobleme. Das Interesse der jungen Generation für eine Mitgliedschaft und Engagement in ihren Reihen ist gering, was die Parteien und Vereinigungen auch zugeben. Der gemeinsame Nenner, der die einzelnen Kritiker und Organisationen, deren Mitglieder immer wieder mit Schikanen gegen sich selbst rechnen mußten, verbindet, läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: - Alle Personen sind in (teils legalen, teils nicht legalisierten) Vereinigungen aktiv, deren Kritik an mangelnder Rechtsstaatlichkeit, der Men- Kooperation mit ihnen ausgeschlossen wird. Für die Staatsführung inakzeptabel ist nach wie vor die Forderung der politischen Integration von Islamisten und ihre Parteizulassung sowie jedwedes gemeinsame Auftreten mit ihnen. Kapitel II : Tunesien 345 schenrechtspolitik und fehlenden Demokratisierung sich an eine tunesische und an eine ausländische Öffentlichkeit bzw. an ausländische Politiker wendet. - Alle genannten Personen und Organisationen suchten die Kooperation mit der islamistischen Ennahda. Insbesondere der PDP, CNLT, LTDH sprechen sich für eine Einbeziehung der Islamisten Ennahdas aus. - Zwischen den im Menschenrechtsbereich aktiven Personen, die seit 2000 von sich reden machten, bestehen zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen; zudem pflegt diese aktive Personengruppe über die einzelnen Vereinigungen hinweg enge Beziehungen untereinander (es bestehen zum Teil Mehrfachmitgliedschaften). Das Verhältnis der tunesischen Staatsführung zu den Islamisten Ennahdas (ob im Exil oder innerhalb Tunesiens) unterlag bislang keiner Veränderung, auch wenn sukzessive seit 2003 Ennahda-Mitglieder, darunter 2006 und 2007 zahlreiche Führungskader, begnadigt wurden. Das Mißtrauen ihnen gegenüber ist ausgeprägt, selbst wenn sich Ennahda-Vertreter im Ausland von Gewalt distanzieren. Zu präsent ist noch die Erinnerung an die Doppelgleisigkeit Ennahdas in den 1980er und 1990er Jahren; auch die Entwicklung der islamistischen Bewegung in Algerien (seit 1989) und Marokko (seit 2003) ist nicht angetan, das Mißtrauen gegenüber den Islamisten zu schmälern. Die Forderung von Teilen der Opposition nach einer Generalamnestie stößt aus diesem Grund bei der tunesischen Staatsführung auf Unverständnis. Statt dessen setzt sie – neben Repression – weiterhin auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung, um die islamistische Bewegung (und ihre Lösungsvorschläge) unattraktiv und schließlich in den Augen der Mehrheitsbevölkerung unnötig zu machen. Der Umgang mit gewaltsamer Opposition gestaltet sich im Vergleich hierzu „unkomplizierter“: In erster Linie bestimmt das sicherheitspolitische Repertoire die Reaktionen.33 Parallel erfolgen jedoch vorbeugende Maßnahmen, um die Rekrutierungsversuche gewaltbereiter Gruppen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erschweren. Integrations- und entwicklungspolitische Maßnahmen sowie seit 2001 weitere Maßnahmen im Religions- und Medienbereich zur Verbreitung eines 33 Hierzu zählt auch eine systematische „Kriminalisierung“ dieser Gruppen. 346 Staatlicher Umgang mit Opposition moderaten Religionsverständnisses34 sollen gegen das „Werben“ gewaltbereiter Gruppen „immunisieren“. 3.2. Staatliche Politik als Gegenmittel zu Opposition Die sozialen und entwicklungspolitischen Leistungen des Staates sind wesentlich dafür verantwortlich, daß trotz der Monopol-, Kontroll- und Einmischungstendenzen der staatlichen Behörden und der ausgeprägten sicherheitspolitischen Überwachung der Rückhalt der Staatsführung in der Bevölkerung insgesamt als gut zu bezeichnen ist. Mitverantwortlich für diesen Rückhalt der Staatsführung in der Bevölkerung sind auch die auf beiden Seiten geteilten Wahrnehmungen von der Zukunft Tunesiens: Die Vision zielt auf ein wirtschaftlich prosperierendes Land, das seinen Bürgern Wohlfahrt sichert, offen und tolerant ist und „extremistische“, d.h. im tunesischen Kontext „islamistische“ Auswüchse ablehnt. Die Position der Bevölkerung zur Haltung der Staatsführung gegenüber den Islamisten wie auch die Position im sozialen und entwicklungspolitischen Bereich sind weitgehend deckungsgleich. Die Staatsführung gibt den Rhythmus und die Reichweite der Reformen in den Teilbereichen des Systems und innerhalb der Teilbereiche für einzelne Sektoren exakt vor. Der Rhythmus wird von Erwägungen der Systemstabilität (u.a. Erhalt des sozialen Friedens) und dem Willen zur staatlichen Monopol- und Kontrollsicherung geprägt; eine eigenständige Agenda kann keiner der wichtigen Akteure verfolgen. Insofern die Staatsführung spezifische Programme und Projekte seit Jahren gezielt auf sozial schwache Bevölkerungsgruppen, Kinder, Jugendliche und Frauen ausrichtet und zudem weniger entwickelte bzw. wirtschaftlich weniger leistungsstarke Regionen des Landesinnern und der städtischen Peripherie fördert, wird ihre Legitimität in breiteren Bevölkerungsschichten garantiert; es gibt kein soziales und entwicklungspolitisches Thema, das sich die Staatsführung und die Regierungspartei nicht aneig34 Vgl. Faath, Sigrid: Die Religionspolitik der Republik Tunesien. Kontinuität von Modernisierung und religiösen Reformen, in: Faath, Sigrid (Hrsg.).: Staatliche Religionspolitik in Nordafrika und Nahost. Ein Instrument für modernisierende Reformen?, Hamburg 2007, S. 215-248, Volltext unter: www.giga-hamburg.de/projects/ menastabilisierung. Kapitel II : Tunesien 347 net. Einflußreiche politische Akteure, die die staatlichen Reformmaßnahmen blockieren, sind nicht vorhanden, wenngleich die Streik- und Protestbereitschaft der Teilgewerkschaften die Regierung zu Rücksichtnahmen und massiven flankierenden Maßnahmen zwingt. Die Sozial-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Staatsführung, die reformorientiert ist und der Armutsbekämpfung einen hohen Stellenwert einräumt, stößt bei großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung. Soziale Disparitäten werden von der Staatsführung durch sektor-, regional- und gruppenspezifische Maßnahmen gezielt reduziert, so daß der soziale Friede gewährleistet ist. Die Reformen und Anpassungsleistungen der Staatsführung hauptsächlich im sozial-, wirtschafts- und entwicklungspolitischen, sowie im Infrastrukturbereich werden medial geschickt inszeniert, um die Unterstützungsbereitschaft der Bevölkerung zu mobilisieren und die Legitimität und den Handlungsspielraum der Staatsführung und staatstragenden Partei RCD zu sichern. Um soziale Abfederungsmaßnahmen oder entwicklungspolitische Förderprogramme für spezifische Bevölkerungsgruppen (z.B. Jugendliche) durchführen zu können, werden vor allem auch die Unternehmer eingebunden: Im Namen der Solidarität werden für den Fonds de Solidarité Nationale Abgaben verlangt. Spenden zu speziellen nationalen Feiertagen sind ein „Muß“, wenn sich ein Unternehmer keine Unannehmlichkeiten (gezielte Einleitung von Steuerfahndung, Untersuchung wegen Korruption usw.) einhandeln will; zahlt er anstandslos und äußert keine politische Kritik an der Staatsführung, dann kann er seinen Geschäften in Ruhe nachgehen und erhält durchaus auch Freiräume zugestanden, die ihm materielle Vorteile bringen (z.B. was die Besteuerung anbelangt). „Geben und Nehmen“ bestimmt diese klientelistischen Beziehungen zwischen Staatsführung und gesellschaftlichen Akteuren. Das informelle Moment der persönlichen Absprachen und Regelungen ist ausgeprägt. Die Staatsführung nutzt formale und informelle Kanäle zur Absprache, zur Ausübung von Druck und zur „Kompensation“ von Loyalität und Kooperationsbereitschaft (z.B. durch materielle Vergünstigungen, spezifische Förderprojekte, administrative Erleichterungen und Ausnahmeregelungen sowie Steuerbefreiungen für Unternehmer, durch Vergabe von Konzessionen, Begünstigung bei der Vergabe von Aufträgen). 348 Staatlicher Umgang mit Opposition 3.3. Außenpolitische Faktoren und militante Opposition Die ehemaligen Kader Ennahdas, die sich überwiegend im europäischen Ausland aufhalten, mischen sich in gelegentlichen TV-Interviews, über ihre Online-Periodika und Webseiten in den politischen oppositionellen Diskurs ein; von Gewaltaufrufen, wie noch Anfang der 1990er Jahre, als ihr Führer, Rachid Ghannouchi, von Algerien aus zur gewaltsamen Erhebung gegen die tunesische Staatsführung aufrief, haben sie seither Abstand genommen.35 Ein realer politisch mobilisierungsfähiger Einfluß in Tunesien fehlt ihnen jedoch. Außenpolitische Entwicklungen seit 2000/2001 haben mit Ausnahme der sporadisch in Tunesien aktiv gewordenen Gruppen, die eine alQaida-Affiliierung in Anspruch nehmen, keine Rückwirkungen auf die Militanz oder die Gewaltbereitschaft von Opposition in Tunesien selbst gehabt. Die „Werbung“ zum Jihad gegen Ungläubige (der eigenen Gesellschaften wie gegenüber Angehörigen anderer Religionen), die über islamistische Prediger und Sendungen aus dem Nahen Osten in die tunesischen Haushalte gelangt, hat immerhin dazu geführt, daß einige Tunesier nach dem Irakkrieg 2003 dem Aufruf zum Kampf gegen die ausländischen Besatzungstruppen im Irak gefolgt sind. Die Militanz (Hungerstreikdrohungen; Versuche der „Bloßstellung“ der Staatsführung in ausländischen Medien) der gewaltfreien Opposition wird ausschließlich durch innenpolitische Ereignisse gefördert. 4. Bewertung staatlicher Maßnahmen im Umgang mit Opposition Mit dem Machtwechsel von Präsident Habib Bourguiba zu Präsident Ben Ali am 7. November 1987 wurden auf institutioneller Ebene flexiblere Mechanismen zur Regelung des formalen Umgangs mit der legalen (kooperativen) Opposition eingeführt, die sich in der Zulassung weiterer Parteien, in der Förderung der parlamentarischen Präsenz der Opposition 35 Vgl. z.B. die Positionsdarstellungen bei Jorshi, Salah Eddine: Tunisia, in: Emerson, Michael/Youngs, Richard (Hrsg.): Political Islam and European foreign policy: Perspectives from Muslim democrates, Brüssel: The Centre for European Policy (CEPS) 2007, S. 46-64. Kapitel II : Tunesien 349 (durch Sitzreservierung) und in Regelungen zur finanziellen staatlichen Unterstützung für die im Parlament vertretenen Parteien niederschlug. Das Eingangszitat aus Präsident Ben Alis Rede vom Jahrestag des Machtwechsels 2007 verdeutlicht, daß sich die tunesische Staatsführung mit der Existenz einer parlamentarischen Opposition „arrangierte“ und der Anspruch der Staatsführung, modernisieren und universale Werte übernehmen zu wollen, politisch u.a. bedeutet, parlamentarische Opposition zuzulassen und zu fördern: Dabei legt sie jedoch großen Wert auf Loyalität. Loyalität wird gleichgesetzt mit Übereinstimmung in den Orientierungsfragen und Unterstützung der Politik der Staatsführung; für die tunesische Staatsführung bedeutet Loyalität ferner, daß öffentliche Kritik an ihrer Politik tabu zu sein hat. Nachdem sich breitere Teile der islamistischen Ennahda 1990/1991 im Anschluß an die Ablehnung ihrer Zulassung als politische Partei radikalisierten, ihr Führer, Rachid Ghannouchi, von Algier aus zur Errichtung eines islamischen Staates in Tunesien aufrief und die EnnahdaZeitung zur Rebellion gegen den Staat aufforderte, islamistische Studenten systematisch den Ausbildungsbetrieb der Universitäten störten und die legalen Oppositionsparteien sowie die Menschenrechtsorganisation LTDH die Situation ausnutzten, um ihrerseits an der Staatsführung wegen fehlender politischer und Vereinigungsfreiheiten, der staatlichen Medienkontrolle und der Dominanz des regierenden RCD im Verwaltungs- und Staatsapparat Kritik zu üben, wollte die Staatsführung durch das Kooperationsangebot an die nicht islamistischen Parteien und Vereinigungen die Islamisten isolieren und marginalisieren. Kontrollierte Teilliberalisierungen bestimmen seither das Reformverhalten im politischen Bereich. Die Bekämpfungsstrategien des Islamismus außerhalb des sicherheitspolitischen Bereichs wurden ferner durch ein intensives sozial- und entwicklungspolitisches Engagement ergänzt. Teilforderungen der Kritiker und Oppositionellen, die mit der antiislamistischen Orientierung der Staatsführung vereinbar sind, werden seither in kleinen Schritten erfüllt und weitere Maßnahmen jeweils angekündigt (vornehmlich in Reden zu nationalen Anlässen wie z.B. dem 7. November). Dieses Vorgehen kann als ein konstantes Verhaltensmuster bezeichnet werden; dabei wird jeweils versucht, die Kontrolle soweit wie 350 Staatlicher Umgang mit Opposition möglich z.B. durch entsprechende Besetzung wichtiger Posten mit Persönlichkeiten, die für ihre loyale Haltung bekannt sind, abzusichern. Die Integration der kooperativen Akteure in staatliche Institutionen und Kommissionen und die gezielte Zersplitterung und Isolierung konfliktbereiter, „aufsässiger“ sozialer Akteure sind die beiden dominierenden Strategien.36 Neue institutionelle Mittel kommen nicht zum Einsatz, auch hat sich das Normensystem der politischen Elite im Umgang mit Kritik und Opposition nicht gewandelt. Nach wie vor wird die Überwindung der wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und sozialen Probleme bzw. die Konsolidierung der wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Modernisierungsziele, die eine erfolgreiche Einbindung in die Weltwirtschaft und eine nachhaltige Entwicklung des Landes garantieren sollen, als Priorität eingestuft, deren Erfolg - staatliche Kontrolle der einzelnen Reformen voraussetzt und die konstruktive Mitarbeit und solidarisches Verhalten eines jeden Bürgers, jeder Partei und Vereinigung braucht.37 Konsens und Dialog als Grundlage des sozialen Friedens und die Pflicht zur Loyalität sind die Leitlinien zur Gestaltung der Beziehung zwischen Staatsführung und Bürgern bzw. den Organisationen der Gesellschaft. Das große politische Tabu, das die Bereitschaft zum Konsens und Dialog auf Seiten des Staates beeinträchtigt, ist das Anliegen einiger Oppositionsgruppen, eine islamistische Partei zu legalisieren bzw. Islamisten politisch partizipieren zu lassen. Politische Inklusion wird von Seiten des Staates bislang aber nur dann praktiziert, wenn dieses Tabu nicht gebrochen wird und wenn die De-facto-Monopolstellung der regierenden Partei nicht angegriffen wird. Die Tendenz geht zudem seit den 1990er Jahren dahin, soziale Gruppen durch spezifische Förder- und Entwicklungsmaßnahmen zu „loyalisieren“ bzw. „klientelistisch zu binden“. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die am 7. November 2007 36 37 Der tunesische Politologe Hamadi Redissi meinte dazu, die tunesische Staatsführung wolle Liberalismus ohne dessen logische Begleiterin, die Freiheit. Redissi, Hamadi: Etat fort, société civile faible en Tunisie, in: Maghreb-Machrek, Paris, Nr. 192, 2007, S. 89-117, hier: S. 114. Vgl. exemplarisch die Rede Präsident Ben Alis vom 7. November 2007; Text u.a. unter www.carthage.tn/fr. Kapitel II : Tunesien 351 angekündigte Herabsetzung des Wahlalters von 20 auf 18 Jahre zu sehen. Zugunsten der jungen Generation sind 2008 zudem bedarfsorientierte Umfragen geplant, die in entsprechende politische Maßnahmen zur Integration der Jugendlichen münden sollen. Eine positive Innen- und Außenwirkung wird von der am 21. März 2008 von Präsident Ben Ali angekündigten Verfassungsänderung erwartet, die auf eine Lockerung der Bestimmungen für die Kandidatur von Parteipräsidenten zur Präsidentschaftswahl 2009 abzielt.38 Graduelle Reformen werden mittelfristig die Politik der Staatsführung in allen Bereichen bestimmen. Es ist unwahrscheinlich, daß eine umfassende politische und informationspolitische Öffnung realisiert wird. Gerade im Kontext der seit 2008 laufenden Umsetzung der Freihandelszone mit der Europäischen Union und den Risiken, die mit diesem Schritt verbunden sind, wird die Staatsführung ihre Kontrollfunktion weder abbauen noch durch eine politische Öffnung schwächen. Vorstellbar ist, daß bei einer relativ positiven sozioökonomischen Entwicklung in den nächsten Jahren Teilliberalisierungen im politischen Bereich folgen, durch die die loyale parteipolitische Opposition im Parlament und die loyalen, kooperativen Vereinigungen formal gestärkt werden, um den guten Willen der Staatsführung zum kooperativen Umgang mit loyaler Opposition und zur kontrollierten Systemtransformation zu dokumentieren. Die Regierungspartei RCD wird jedoch auch die kommende Dekade die politische Hauptkraft darstellen. Die im Parlament vertretene Opposition wird den unterstützenden Kurs als loyale Opposition mit deckungsgleichen Ansichten zu den zentralen Fragen der politischen Orientierung fortsetzen, ohne ihre Position in und für die Gesellschaft signifikant stärken zu können. Der tunesischen Staatsführung ist es seit der Unabhängigkeit 1956 gelungen, die Bevölkerungsmehrheit in ihrer Ablehnung von militanten Vorgehensweisen und erst recht gewaltsamer Lösungen zu bestärken und eine Werteorientierung zu vermitteln, die jeglichen Gewaltkurs als unvereinbar mit dem tunesischen Selbstbild erscheinen läßt. Die diskursive Kriminalisierung der islamistischen Bewe- 38 Vgl. die Rede des Präsidenten vom 21.3.2008 unter: www.carthage.tn/fr. 352 Staatlicher Umgang mit Opposition gung39 verfehlte ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht und wurde durch unleugbare Fakten erleichtert, die Beleg für die Existenz eines bewaffneten Zweiges und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung in den 1980er und 1990er Jahren waren. Die positiven Ergebnisse staatlicher Politik im wirtschaftlichen und sozialpolitischen Bereich reduzierten zudem die Bereitschaft, politische Gegnerschaft oder politische Alternativen zu suchen oder zu unterstützen. Insofern waren die sozioökonomischen Errungenschaften und die staatliche Vision eines modernen, Anschluß an Europa und seine Prosperität findenden Tunesien nicht nur in der politischen und wirtschaftlichen Elite, sondern in der starken Mittelschicht, die gezielt gefördert worden war, konsens- und loyalitätsfördernd. Eine mittelfristige Modifikation dieser Einstellung und Verhaltensweise ist nicht zu erwarten. Die deckungsgleichen Sicherheitsbedürfnisse von Staatsführung und Bevölkerungsmehrheit,40 die seit dem offensiven Auftreten der Islamisten in Tunesien in den 1980er Jahren und der Entwicklung in Algerien als Bedrohung der bestehenden Ordnung und Errungenschaften wahrgenommen wird, begründet die Bereitschaft, den Staat in seinem Bemühen, diese Bedrohung zu bekämpfen, zu unterstützen und den Staat als „nützliches Instrument“ anzuerkennen. 39 40 Vgl. hierzu die Maßnahmen der 1980er Jahre, die von Joshua Rogers prägnant beschrieben wurden (Rogers, Joshua S.: „There is no room for a religious party“: negotiating the Islamist challenge to state legitimacy in Tunisia, 1987-1991; Text unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung, Teilprojekt 3). Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Beobachtungen von Michel Camau in der Einleitung von Jean Leca zu: Claisse, Alain/Conac, Gérard (Hrsg.): Le Grand Maghreb, Paris 1988, S. IX. Kapitel III Kontrolle und Anpassung als „Staatsziel“ im Umgang mit Opposition in Nordafrika/Nahost Sigrid Faath Die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung in Nordafrika und Nahost wird durch den Willen der staatlichen Repräsentanten geprägt, eine umfassende Kontrolle über alle politischen und gesellschaftlichen Prozesse zu sichern. Die hierzu notwendige politische Ordnung setzt folglich enge Grenzen für Kritik und Opposition. Während bei Übereinstimmung, Konsens und Unterordnung mit einer „Belohnung“ gerechnet werden kann, zieht „Nichtübereinstimmung“1 – abhängig von der Art und Weise der praktizierten Opposition – in der Regel eine „Bestrafung“ nach sich. Die Studie zum Umgang des Staates in Nordafrika und Nahost mit kooperationsbereiter, loyaler bis hin zu militanter und Gewalt einsetzender Opposition berücksichtigt mit Ägypten, Algerien, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien und Tunesien insgesamt sieben Länder, die in die euromediterrane Partnerschaft eingebunden sind.2 In den Länderanalysen steht – mit Ausnahme des Libanon3 – staatliches Handeln im Mittelpunkt. Der Staat als zentraler Akteur verfügt über ein umfangreiches Instrumentarium, um mit Opposition umzugehen und auf oppositionelle Aktivitäten zu reagieren; er stellt die Weichen für den 1 2 3 Vgl. zur weit gefaßten Definition von Opposition in dieser Studie Kapitel I, S. 23. Nichtübereinstimmung kann von Einwänden bis zu massivem Widerspruch und organisierten Aktionen der Ablehnung staatlicher Politik und ihrer Repräsentanten reichen. Zur Länderauswahl und weiteren Details zum Forschungskonzept vgl. den Einleitungsbeitrag S. 9-15. Der Libanon stellt unter den sieben ausgewählten Fallbeispielen dieser Studie eine Ausnahme dar, weil kein Zentralstaat existiert, der seine Regeln und Ordnungsmuster gegenüber den dominanten Strukturen auf konfessioneller Basis durchsetzen könnte. Vgl. zum Fallbeispiel Libanon den Beitrag von Thomas Hildebrandt S. 195-230. 354 Staatlicher Umgang mit Opposition Umgang mit Konflikten, den am Konflikt beteiligten Bevölkerungsgruppen und schließlich für die Interaktion mit der Bevölkerung als solcher. Die Untersuchung des staatlichen Umgangs mit kooperativer, militanter und gewaltsamer Opposition sollte auch Aufschluß darüber geben, ob die eingesetzten Mittel Militanz und Gewalt reduzieren und damit Konflikte deeskalieren können; ob das eingesetzte Instrumentarium und die umgesetzten Maßnahmen des Staates dazu beitragen, bestehende Unzufriedenheit oder Ablehnung staatlicher Politik auf einzelne Bevölkerungsgruppen und Organisationen zu begrenzen oder ob sie die Unzufriedenheit und das Protest- und Oppositionspotential (inklusive gewaltsamer Opposition) sogar fördern. Die Art und Weise des Umgang des Staates mit Opposition gibt Auskunft über die (mittelfristig) zu erwartende Richtung der politischen Reformen, das Transformationspotential der Staatsführung und die Dauerhaftigkeit und Prägekraft bestehender politischer und gesellschaftlicher Strukturen, Wahrnehmungen und Einstellungen. Das Wissen darüber ist für europäische Staaten und Entwicklungsagenturen um so notwendiger, je ernsthafter eine tatsächliche Neugestaltung der Kooperation zwischen der Europäischen Union und den Staaten des südlichen Mittelmeerraumes angestrebt wird. Das Plädoyer für eine „Mittelmeerunion“ und deren Institutionalisierung, die auf dem Gipfeltreffen der europäischen Staatschefs am 13. Juli 2008 in Paris geplant ist, läßt vermuten, daß neue Akzente für die Kooperation mit den euromediterranen Partnerstaaten gesetzt werden sollen. Voraussetzung für einen Ansatz, der eine Verbesserung der Kooperation beinhalten soll, ist jedoch die genauere Kenntnis der tatsächlich ablaufenden Prozesse in den Partnerstaaten und ihre Bedeutung für die Bereitschaft und Kapazität zur Transformation auf Seiten der Staatsführung wie auch der Bevölkerung. Eine zweite wichtige Voraussetzung für einen konstruktiven Kooperationsansatz ist auf europäischer Seite in Politik und Wissenschaft die Bereitschaft, die „Reisefähigkeit“4 der propagierten Konzepte zu hinterfragen. Die Ausweitung der 4 Der Begriff ist von Christof Hartmann entlehnt. Er hat in seinem Beitrag: Zwischen Universalismus und Partikularismus: Demokratie in Afrika, in: Verfassung und Recht in Übersee, Hamburg, 40. Jahrgang, Nr. 4, 2007, S. 408-422 diese Problematik am Beispiel des subsaharischen Afrika und der Forschung zu den subsaharischen Staaten aufgegriffen. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 355 politischen Partizipation oder die Inklusion aller gesellschaftlichen Kräfte (mit spezifischem Augenmerk auf islamistischen Gruppen), die Stärkung der (legalen) Opposition und eines pluralen Parteiensystems, die Bekämpfung der Korruption sind nur einige Forderungen, die neben marktwirtschaftlichen Reformen als Teil der Lösung für politische und gesellschaftliche Probleme nordafrikanischer und nahöstlicher Staaten erhoben werden.5 Die realen Bedingungen, die eine Umsetzung be- oder verhindern und nicht ausschließlich dem „mangelnden Wille“ der Staatsführungen anzulasten sind, werden dagegen allzuoft nicht mit den vorgeschlagenen Lösungskonzepten in Beziehung gesetzt und kritisch auf ihre Umsetzungschancen hinterfragt. Die Studie versteht sich deswegen zum einen als Plädoyer für eine realistischere Beurteilung der Staaten und Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens und zum anderen als Plädoyer für einen illusionsfreien Umgang nicht nur mit den Gegebenheiten in Nordafrika/Nahost, sondern auch mit der Leistungsfähigkeit der propagierten Konzepte6 in einem extrem klientelistisch und hierarchisch strukturierten Umfeld. 5 6 Vgl. z.B. die Studie des Danish Institute of International Studies (DIIS) in Kopenhagen, in der Ulla Holm die Umsetzung von politischem Pluralismus als Weg vorstellt, um die „desperate riots“ zu beenden. Erstens finden solche Proteste nicht in allen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens statt, und zweitens finden sie gerade auch dort regelmäßig statt (Algerien), wo Parteien diverser Orientierung zugelassen sind. Politischer Pluralismus alleine bringt noch keine arbeitsplatzschaffende Politik zustande oder sorgt dafür, daß die jungen Erwachsenen in den Arbeitsprozeß integriert werden und staatliche Dienstleistungen verbessert werden, die der Auslöser der meisten sozialen Proteste der letzten Jahre waren. Vgl. Holm, Ulla: North Africa: A security problem for themselves, for the EU and for the US, in: DIIS Report, Kopenhagen, Nr. 2, 2008, 40 S. So wurde z.B. seit den 1990er Jahren nach einer Opposition gesucht, die imstande wäre, ein autoritäres System zu unterminieren und die sich deswegen als „driver of change“ auch als Partner europäischer Einrichtungen zur Förderungen von Reformen und Wandel anbieten würde. Daß Opposition, selbst wenn sie Demokratie fordert, nicht automatisch vorhat, eine nicht-autoritäre Alternative zu etablieren, wenn sie selbst an der Macht wäre, oder moderne Entwicklungskonzepte umzusetzen, die mit klientelistischen Strukturen brechen usw., wurde und wird allzu oft vergessen. Obwohl es Untersuchungen wie z.B. jene von Karin Seyfert und Hanan Toukan gibt, die am Beispiel von Nichtregierungsorganisationen im Libanon nachweisen, daß deren Aktivitäten die Patron-Klientel-Beziehung nicht aufbrechen, sondern – in ihren Diensten – festigen. Vgl. die Zusammenfassung der Untersuchung in: Inamo, Berlin, Nr. 53, 2008, S. 22-25 (NGOs: Agenturen des Patronagesystems oder einer neuen Zivilgesellschaft?). Staatlicher Umgang mit Opposition 356 1. Ergebnisse der Länderanalysen: Zum Profil der Opposition Die ausführlichen Länderanalysen dienen als Grundlage für die folgenden Ausführungen zum aktuellen Profil der politischen Opposition in den sieben untersuchten Ländern. Aktuell bedeutet in diesem Zusammenhang, daß sich die Aussagen auf die Jahre 2007/2008 beziehen. Das Kurzporträt oppositioneller Akteure in den untersuchten Ländern geht ein auf - die allgemeine Situation der Opposition, ihre Stärke bzw. Schwäche; die Forderungen und Ziele der dominanten Opposition; die Kooperationsbereitschaft gegenüber der Staatsführung; das Allianzverhalten gegenüber anderen Oppositionsgruppen; die Militanz und Gewaltbereitschaft der oppositionellen Akteure und das Gefahrenpotential, das besonders von militanter und gewaltbereiter Opposition für den inneren Frieden ausgeht. 1.1. Ägypten Die gesellschaftlich einflußreichste Opposition mit landesweiter Präsenz, die gleichzeitig auch eine Fundamentalopposition ist, weil sie ein islamistisches Staats- und Gesellschaftskonzept umsetzen will, ist die nicht legalisierte, aber de facto tolerierte Muslimbruderschaft. Sie kann als einzige Opposition auf eine nationale Infrastruktur und finanzielle Ressourcen zurückgreifen, die ihr erlauben, ein solides soziales Unterstützungsnetzwerk und Klientelbeziehungen zu unterhalten. Sie ist in dieser Hinsicht die einzige Opposition, die eine Konkurrenz für die regierende Nationaldemokratische Partei (NDP) darstellt. Systemkritische, partei- und ideologieübergreifende Bewegungen wie „Kifaya“, sind dagegen konjunkturelle, schnell lebige urbane Organisationsformen, die mangels eines kohärenten Projekts zur Realisierung ihrer Forderungen keine dauerhaftere politische Unterstützung mobilisieren können. Ihre Hauptaktivität besteht im Prinzip in reiner Kritik an bestehenden Verfahren, Zuständen und politischen Maßnahmen. Die lockeren Zusammenschlüsse sozialer Protestbewegungen benutzten in der Regel eine militante Rhetorik, ihre mangelhafte Rückbindung in die Mehrheitsgesellschaft reduziert jedoch ihre Wirkkraft. Die staatliche Überwachung des universitären Kapitel III : Auswertung und Ausblick 357 Campus schränkt zudem das studentische Protest- und Mobilisierungspotential selbst für rein universitäre Anliegen ein, obwohl zwei Millionen Studenten und ca. 60.000 Lehrkräfte unter quantitativen Gesichtspunkten eine beachtliche Interessengruppe darstellen. Die säkularen (legalen) Oppositionsparteien sind systemkonform und politisch bedeutungslos; seit den Wahlen von 2005 verfügen sie insgesamt nur über 12 Sitze im Parlament. Eine koptische Opposition, um die Rechte der Minderheit zu vertreten, formiert sich, seit die Religiosität fundamentalistischer Ausprägung und die damit verbundene Intoleranz gegenüber Nichtmuslimen zunimmt; die internationale Aktionsfront zum Kampf gegen (islamistischen) Terrorismus seit dem 11. September 2001, die nicht nur von Islamisten als Kampffront gegen den Islam gedeutet wird, hat Anteil am Aufschwung islamistischer Intoleranz gegen Christen. Die koptische Minderheit tritt seit 2005 mit Protestaktionen in Erscheinung. Diese Proteste verweisen auf ungeklärte Fragen in der ägyptischen Gesellschaft, die u.a. Konversion, Kirchenbau und den politischrechtlichen Status der Kopten betreffen. Die dominante Opposition der Muslimbruderschaft strebt eine weitere „Islamisierung“ der Gesellschaft an, die schließlich in die Machtübernahme und die Veränderung des politischen Systems münden soll. Die Wahlbeteiligung von Mitgliedern der Muslimbruderschaft als „unabhängige“ Kandidaten ist Teil dieser Strategie, die politischen und gesellschaftlichen Handlungsspielraum durch Integration in die Institutionen sichern soll. Eine direkte Konfrontation mit der Staatsführung wird deswegen von der Muslimbruderschaft vermieden. Kooperationsbereit mit der Staatsführung zeigen sich all jene Interessengruppen und Oppositionsparteien, die von loyalem Verhalten profitieren und damit die Existenz ihrer ansonsten einflußlosen Organisation sichern. Parteiübergreifende Zusammenschlüsse zu einzelnen Aktionen (wie im Rahmen der Kifaya-Bewegung, um gegen die neuerliche Kandidatur von Präsident Mubarak bzw. für plurale Präsidentschaftswahlen zu protestieren) sind nur kurzfristige Störfaktoren; eine destabilisierende Gefahr für das Regime stellen sie nicht dar. Die gewaltbereiten islamistischen Organisationen Ägyptens, die in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren aktiv waren, halten seit 1997 am erklärten Gewaltverzicht fest. 358 Staatlicher Umgang mit Opposition Diejenigen, die den Kurs nicht mittrugen, schlossen sich (im Ausland) dem „internationalen Jihad“ al-Qaidas an. Derzeit erwägt keine Oppositionsgruppe in Ägypten den Sturz des Regimes mittels Gewalt. Dennoch muß der Gewaltverzicht islamistischer Gruppen nicht eine dauerhafte Absage an Gewalt bleiben, an den sich die nachwachsende vom Islamismus beeinflußte Generation gebunden fühlt. Es gibt sogar Anzeichen, daß seit 2007 von gewaltbereiten, al-Qaida-nahe stehenden Islamisten verstärkt „Werbeaktionen“ in Ägypten durchgeführt werden, um unter den jungen Islamisten Anhänger zu rekrutieren, die mit dem integrativen Kurs der Muslimbruderschaft und einer Strategie des Gewaltverzichts unzufrieden sind. 1.2. Algerien Die Zulassung von Parteien- und Vereinigungspluralismus 1989 und die Einleitung marktwirtschaftlicher Öffnungsprozesse seit 2000 führte zu einer Proliferation an politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessenorganisationen, die gleichzeitig auch das oppositionelle legale Spektrum vergrößerten. Zu strukturverändernden Reformen des politischen Systems kam es indes nicht. Die Trennlinien zwischen den einzelnen Akteuren, die offen ihre Rivalitäten austragen, verschärften sich allerdings. Die legale Opposition ist politisch wie organisatorisch und programmatisch schwach, ihr gesellschaftlicher Einfluß ist gering; Parteien haben generell in der algerischen Gesellschaft ein schlechtes Ansehen, sie gelten als Versorgungseinrichtungen für einige Kader und ihre Klientel. Trotz weit verbreiteter Kritik an klientelistischem Verhalten prägt Klientelismus auf allen Ebenen und in allen Bereichen die Verhaltensund Beziehungsmuster der algerischen Gesellschaft. Von dieser Disposition profitieren vor allem die Regierungsparteien und der Staatspräsident, die Unterstützung erhalten, weil von ihnen im Gegenzug entsprechende Zuwendungen für loyales Verhalten (Belohnung) erwartet werden kann. Das System der klientelistischen Solidarität verhindert in Algerien, daß sich massive, dauerhafte Gegnerschaft organisiert und sich gegen die Staatsführung wendet. Die sozialen Proteste von Interessengruppen (wie z.B. den autonomen Gewerkschaften) und Teilen der Be- Kapitel III : Auswertung und Ausblick 359 völkerung sind für die Staatsführung deshalb handhabbar, wenngleich die Beteiligten militant auftreten und es regelmäßig im Verlauf von Protestaktionen zu Gewaltakten kommt. Durch Einlenken und Versprechungen konnte ein sozialer Konflikt in der Regel abgemildert oder sogar beendet werden. Die hohen Deviseneinnahmen seit 2004 erleichtern der Staatsführung diese Methode zur Konfliktminderung durch Ressourcenverteilung. Es gibt zahlreiche Oppositionsgruppen unterschiedlichster politischer Orientierung (vom „linken“ Spektrum bis zum islamistischen) mit militanter Rhetorik; eine dominante legale Opposition gibt es jedoch nicht. Die Opposition ist – unabhängig von ihrem rechtlichen Status – extrem fraktioniert und aufgrund der klientelistischen Funktionsweise kooperativ, wenn die Staatsführung ihr lukrative Angebote macht. Einzelne Interessengruppen und Bevölkerungsteile richten ihre Proteste und Forderungen direkt an die Staatsführung. Wenngleich die islamistische Bewegung als ganzes gesehen nach wie vor gesellschaftlichen Rückhalt hat, sind doch ihre Möglichkeiten, sich als Opposition zu formieren und politischen Einfluß auszuüben, durch entsprechende Kontrollmaßnahmen des Staates begrenzt. Die seit 1999/2000 sukzessive amnestieren Islamisten des verbotenen FIS und seines 7-10.000 Mann umfassenden bewaffneten Armes stellen mit ihren Angehörigen ein Oppositionspotential; das von ihnen verfochtene Konzept des „islamischen Staates“ ist jedoch nicht mehr mehrheitsfähig. Das Wahlverhalten der Bürger belegt auch die begrenzte Mobilisierungskraft islamistischer Parteien nach den Erfahrungen mit dem islamistischen Terrorismus in den 1990er Jahren. Die ausbleibende breite Solidaritätsbewegung zugunsten einer politischen Rehabilitierung des FIS bzw. zugunsten der Erlaubnis für ehemalige FIS-Kader, eine Partei zu gründen, ist ein weiterer Indikator für den begrenzten Einfluß. Das Mißtrauen zwischen den Oppositionsgruppen ist ausgeprägt; Zusammenschlüsse finden deswegen selten statt und sind kurzlebig. Die Kooperationsbereitschaft mit der Staatsführung ist bei parteipolitischer Opposition und den Interessengruppen hoch, wenn ihre Forderungen berücksichtigt und ihnen Privilegien angeboten werden. Grundsätzlich gegnerisch sind lediglich die im Untergrund aktiven bewaffneten islami- 360 Staatlicher Umgang mit Opposition stischen Gruppen der salafitisch-jihadistischen Bewegung, die sich seit Januar 2007 als „al-Qaida im islamischen Maghreb“ bezeichnen. Die Durchführung von Selbstmordanschlägen hat diese Gruppen marginalisiert; eine Gefahr für die Stabilität des Staates stellen sie nicht dar, sie stören jedoch das allgemeine Sicherheitsempfinden und die Kooperation mit dem Ausland, weil sie speziell auch ausländische Ziele zum Anschlagsziel erklären. Eine größere Gefahr für den innenpolitischen Frieden als die bewaffneten Gruppen der „al-Qaida im islamischen Maghreb“ stellen aus mehreren Gründen die spontanen, sozialen Proteste dar: Erstens, weil sie in der Regel in Gewaltakte (Zerstörungen) und gewaltsame Konfrontationen mit den Sicherheitsorganen führen, die wiederum die Beziehung staatliche Organe-Bevölkerung verschlechtern, wenn es zu Verletzten oder Toten kommt; zweitens, weil sie den normalen wirtschaftlichen und institutionellen Ablauf stören, und drittens fast schon regelmäßig seit 2001 in zahlreichen Landesteilen gleichzeitig – sowohl in kleinen Gemeinden als auch Städten – ausbrechen. In Kombination mit ethnisch-identitären und politischen Forderungen (wie 2001-2004 in der Kabylei) können diese sozialen Proteste vom lokalen zum regionalen gewaltsamen Konflikt eskalieren. Eine Instrumentalisierung durch eine politische Organisation ist gegenwärtig jedoch ausgeschlossen. 1.3. Jordanien Die islamistische Opposition Jordaniens ist durch ihre Spaltung und die staatlichen Gegenstrategien zwar geschwächt, aber dennoch die dominante Opposition des Landes. Die nationalistischen und linken Oppositionsparteien haben noch einige Mitglieder in den Gewerkschaften und Berufsorganisationen oder unter den Studenten, ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluß ist jedoch gering. Die islamistische Opposition besteht aus einem legalen und illegalen Teil. Der jordanische Zweig der Muslimbruderschaft wurde bereit 1946 als Wohlfahrtsvereinigung legalisiert; der 1992 gegründete politische Arm der Muslimbruderschaft, die Partei Islamic Action Front (IAF) ist gleichfalls eine legale Organisation. Die Muslimbruderschaft/IAF ist eine Fundamentalopposition zum bestehenden System; sie strebt die Errichtung eines „islamischen Staates“ an und wendet sich gegen die enge Kapitel III : Auswertung und Ausblick 361 „Westbindung“ des Königs. Das soziale Netzwerk der Muslimbruderschaft verschafft ihr Ansehen in der Gesellschaft; ihre Ideen und Ziele finden darüber hinaus in studentischen Kreisen Anklang. Die salafitische Bewegung in Jordanien, die sich seit den 1980er Jahren ausbreitete, hat einen Zweig, der sich auf religiöse Aktivitäten an den Moscheen, im missionarischen und publizistischen Bereich konzentriert, und einen politisch engagierten Zweig. Der politisch aktive Teil der salafitischen Bewegung, der Salafi Jihad, will mittels Gewalt und einer „Revolution“ ein Kalifat in Jordanien errichten. Für diese Organisation ist der „heilige Krieg“ Pflicht, um die Gesellschaft wieder auf den „richtigen (wahren) Glaubensweg“ zurück zu bringen. Moderne staatliche Institutionen (Parlament, Parteien) bzw. eine moderne Staatsorganisation wird von den Mitgliedern des Salafi Jihad abgelehnt. Die Verbindungen zu dem internationalen Qaida-Netzwerk sind eng; dies führte jedoch dazu, daß nach den islamistischen Selbstmordanschlägen im Amman 2005, für die al-Qaida die Verantwortung übernahm, das gesellschaftliche Ansehen der salafitischen Bewegung insgesamt und des Salafi Jihad im besonderen jordanischen Umfragen zu Folge deutlich gesunken ist. Für den jordanischen Salafi Jihad ist Gewalt ein konstitutives Element, zu dem sich die Organisation auch offensiv bekennt. Innerhalb der Muslimbruderschaft führten der Irakkrieg (2003) und die Qaida-Aktivitäten im Irak, die als „Widerstand“ gegen die ausländischen Besatzer gewertet wurden, zu einer internen Spaltung in „Moderate“ und „Hardliner“, die über die politische Strategie der Muslimbruderschaft innerhalb Jordaniens uneins sind. Die moderaten Teile der Muslimbruderschaft und IAF – angeblich die Mehrheit – verhält sich weiterhin kooperativ gegenüber dem Staat, um den legalen Status und damit die Präsenz in den staatlichen Institutionen (Parlament) nicht zu gefährden. Die Hardliner-Fraktion der Muslimbruderschaft und IAF lehnen – wie die Mitglieder des Salafi Jihad – eine Kooperation mit dem Staat kategorisch ab. Die Gefahr einer Radikalisierung weiterer Mitglieder der Muslimbruderschaft besteht, wenn die repressiven Maßnahmen des Staates zunehmen und praktisch eine Auflösung der Organisation drohen würde, die auf Jahre die politische und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zementieren könnte. 362 Staatlicher Umgang mit Opposition 1.4. Marokko Marokkos Opposition unterliegt 2007/2008 denselben Restriktionen, die bereits die erste Verfassung des Landes von 1962 vorgab. Parteienpluralismus wurde verfassungsmäßig verankert. Das Kräfteverhältnis zwischen König und Parteien sowie die Rolle von Opposition regelt indirekt Verfassungsartikel 2, in dem der König, zugleich weltlicher und religiöser Führer Marokkos, als „heilig und unantastbar“ bezeichnet wird. „Nichtübereinstimmung“ bzw. Opposition zum König ist unter diesen Bedingungen für legale Organisationen unmöglich. Die übergeordnete Position des Königs, dem alle modernen Institutionen nach- und untergeordnet sind, macht ihn zum wichtigsten Akteur, der nach eigenem Ermessen Einfluß und Machtbefugnisse zuteilt. Der Freiraum für politische und gesellschaftliche Organisationen ist innerhalb dieses Systems beschränkt und wird durch die Vorgaben des Königs in seinen „Orientierungsreden“ vor dem Parlament definiert. Als Gegenleistung für die Anpassung und Einhaltung der „Grenzen“ und für „moderates“ oppositionelles Verhalten kann eine Organisation z.B. legalisiert und sogar in die politischen Institutionen integriert werden, oder sie wird als erster Schritt „geduldet“, um ihre Kooperationswilligkeit zu testen. Die Mehrheit der marokkanischen Opposition paßte sich dem System an, in dem zudem eine Positionierung gegen den König, dessen Popularität seit den terroristischen Anschlägen von 2003 noch anstieg, eine Entfremdung von der Bevölkerungsmehrheit bedeutet. Die dominante Opposition in Marokko ist islamistisch orientiert. Sie verfolgt unterschiedliche Strategien und genießt aufgrund dessen unterschiedlichen Status. Gemäß dem Status (legal, geduldet, verboten) formuliert sie wiederum ihre Zielvorstellungen in der Öffentlichkeit. Die legale im Parlament vertretene islamistische Oppositionspartei PJD führt nach außen einen moderateren Diskurs und stellt folglich „typische“ islamistische Zielsetzungen, im Gegensatz zur nur „geduldeten“ Jamacat al-adl wal-ihsan (JAI), nicht in den Vordergrund. Die verbotenen und im Untergrund aktiven islamistischen Organisationen, die Gewalt propagieren und praktizieren, sind gesellschaftlich marginalisiert. Der PJD und seine Vereinigung MUR wie auch JAI verfügen demgegenüber über landesweite Strukturen und Unterstützernetzwerke. JAI genießt bei vielen Kapitel III : Auswertung und Ausblick 363 Studenten, konservativen Vertretern der Mittelschicht und den vom Land in die Bidonvilles der Städte gezogenen Bauern und ihren Familien hohes Ansehen, weil sie sich aus dem parteipolitischen Leben heraushielt. Die Bereitschaft der legalen Opposition zur Kooperation mit der Staatsführung ist ausgeprägt. Die programmatischen Unterschiede zwischen Opposition und Regierungsparteien sind kaum wahrnehmbar. Die Allianzen und die Kooperation der Oppositionsgruppen untereinander ist begrenzt und in der Regel nicht dauerhaft. Militanz ist bei den arbeitslosen Diplomierten und ihren Vereinigungen ausgeprägt; ihr oppositionelles Handeln ist jedoch an ihren Status gebunden; werden ihre Forderungen erfüllt, integrieren sie sich in das System. Gewaltsame Opposition, für die Gewalt ein konstitutives Element ist, repräsentiert in Marokko die Salafiya-Jihadiya, die Beziehungen zur algerischen „al-Qaida im islamischen Maghreb“ unterhält. Unter bestimmten Bedingungen, so legt das Verhalten der ansonsten nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnenden JAI nahe, zeigt sich auch JAI dem Gewalteinsatz nicht abgeneigt: so rief sie 2005 zum „zivilen Ungehorsam“ und zur „Revolution“ auf, um in Marokko ein Kalifat zu errichten. Politisch mobilisierend wirkte dieser Aufruf jedoch nicht. Einen militanten Diskurs führt auch die PJD-nahe Vereinigung MUR, um die islamistische Basis trotz der Integration des PJD in das politische System und seine „Unterordnung“ unter die Vorgaben dieses Systems, vom Festhalten an einer islamistischen Zielsetzung zu überzeugen. Unter bestimmten Bedingungen ist beim PJD/MUR wie bei der JAI der Rückgriff auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht auszuschließen. Ein direktes Gefahrenpotential für den marokkanischen Staat geht von den bewaffneten Gruppen nicht aus; zu einer Massenmobilisierung sind sie ebensowenig imstande wie die militanten islamistischen Organisationen, solange der König seine Funktions- und Leistungslegitimität sichert und für die Bevölkerungsmehrheit als Garant für „Moderation“, Toleranz und Sicherheit gilt. 1.5. Syrien Die Schwäche der syrischen Opposition ist ein Tatsache, für die syrische Analysten neben der staatlichen Repression und Unterwanderungspolitik 364 Staatlicher Umgang mit Opposition durch die Sicherheitsorgane die Oppositionsgruppen selbst verantwortlich machen: Der Opposition insgesamt fehlt es demnach nicht nur an konkreten Projekten und Programmen, sondern auch an einem rationalen, den politischen Gegebenheiten angepaßten Verhalten. Die syrische Opposition besteht aus einer Vielzahl von legalen, illegalen und – wie die Muslimbruderschaft – nicht legalisierten, aber weitgehend „geduldeten“ Organisationen und Gruppen unterschiedlichster politisch-ideologischer Verortung. Neben der „traditionellen“ Opposition, die bereits vor dem Amtsantritt Bashshar al-Asads im Jahr 2000 existierte, kam es in der darauf folgenden kurzen Phase politischer Liberalisierung („Damaszener Frühling“) zur Gründung zahlreicher Organisationen („neue Opposition“). Die Muslimbruderschaft, die wie alle islamistischen Organisationen einen „islamischen Staat“ und die Umsetzung der Scharia in Syrien fordert, gab ihren bewaffneten Kampf auf und distanzierte sich zudem nach dem Machtantritt Präsident Bashshar al-Asads 2000 von einem Gewaltkurs; sie stellt sich seither reformorientiert und kooperationsbereit dar. Die nach 2000 entstandenen Oppositionsgruppen treten ebenfalls überwiegend kooperativ auf und sprechen sich für Reformen innerhalb des Systems aus; praktikable programmatische Alternativen haben sie bislang nicht ausformuliert. Die säkularen Oppositionsparteien und unabhängigen demokratischorientierten Intellektuellen, die Menschenrechts- und Frauenvereinigungen besitzen weder eine breite gesellschaftliche Verankerung noch können sie politischen Einfluß ausüben. Von den zahlreichen Gruppierungen sind lediglich die islamistisch orientierten Organisationen, davon als wichtigste die Muslimbruderschaft und die kurdischen Parteien und Vereinigungen, fähig, breitere Unterstützung zu mobilisieren. Den kurdischen Organisationen gelingt diese Mobilisierung wegen des ethnischidentitären Anliegens, das sie vertreten: Appelle an das kurdische Nationalgefühl haben Erfolg, weil der syrische Staat die Vollwertigkeit der kurdischen Nationalität nicht anerkennt. Eine tatsächliche Gefahr für das Regime stellt jedoch auch diese Opposition momentan nicht dar. Unter der Oppositionsbewegung in Syrien dominiert eindeutig die – Gewalt ablehnende – Reformbewegung. Seit 2005 kam es unter den ver- Kapitel III : Auswertung und Ausblick 365 schiedenen Parteien, Vereinigungen und Intellektuellen zu neuen Organisations- bzw. Koalitionsformen (darunter als wichtigste die „Erklärung von Damaskus“ vom 18. Oktober 2005). Eine nationale Bewegung, die Auswirkungen auf das politische Handeln der Staatsführung gehabt hätte, ist daraus nicht entstanden; auch bei dieser Bewegung fehlen kohärente Konzepte und politische Programme. Zu einer Massenmobilisierung konnte es unter diesen Umständen ebenfalls nicht kommen. Gewaltbereite islamistische („jihadistische“, zum Teil al-Qaida nahestehende) Organisationen sind im Untergrund aktiv, eine Einschätzung ihres Potentials (Mitgliederzahl) ist aber nicht möglich. Militanz und Gewaltbereitschaft ist auf wenige Gruppen, die den Jihad propagieren und in der Salafi-Jihad-Tradition stehen, beschränkt. Allerdings gehen syrische Analysten davon aus, daß die durchorganisierten religiösen Vereinigungen, die sich selbst als „unpolitisch“ bezeichnen und im sozialen Wohltätigkeitsbereich sowie in der religiösen Unterweisung netzwerkartig aktiv sind, jederzeit bereit wären, ihre logistische Infrastruktur islamistischen Organisationen wie der Muslimbruderschaft oder der Islamischen Befreiungspartei zur Verfügung zu stellen, wenn diese politisch aktiv werden wollten, weil sie eine Chance für die Umsetzung eines „islamischen Staates“ sähen. Langfristig werden die islamistischen Organisationen als die gefährlichsten Gegner des Regimes eingeschätzt, weil in der syrischen Gesellschaft die Verbreitung des Islam, seiner Riten und Symbole seit Jahren sukzessive gestärkt wird. Zum einen verfügen die islamistischen Organisationen über Finanzmittel und Netzwerkstrukturen, die ihnen erlauben, Klientel zu binden; zum anderen trägt der (säkular orientierte) Staat selbst dazu bei. Um sich religiöse Legitimität zu verschaffen, unterstützt er diese Vereinigungen und läßt sie gewähren. Die kurdische Opposition, der es hauptsächlich um die Anerkennung ihrer nationalen Rechte geht, ist zwar ein weiterer potentiell destabilisierender Faktor für das Regime. Der Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung ist jedoch regelbar, wenn die Minderheiten- und Nationalitätenfrage für Syrien (alle Minderheiten umfassend) im Sinne einer Gleichberechtigung aller Minderheiten geregelt wird. Das Gefahrenpotential gewaltbereiter islamistischer Untergrundgruppen ist zur Zeit beschränkt und damit kontrollierbar. 366 Staatlicher Umgang mit Opposition 1.6. Tunesien Das hervorstechende Merkmal der legalen Parteien und Vereinigungen in Tunesien ist die Verlagerung der Artikulation von oppositionellen Positionen in den privaten Bereich und in das Internet. Der öffentliche Raum wird hingegen zur Artikulation von Konsens und Loyalität gegenüber der Staatsführung und dem von ihr vertretenen Staats-, Gesellschafts- und Entwicklungsmodell genutzt. Ein oppositioneller Diskurs ist auf verschwindend wenige legale und nicht legalisierte Organisationen, Gruppen und Individuen beschränkt. Von ihnen wiederum nehmen viele eine dogmatische „Anti-Haltung“ zum Präsidenten bzw. „dem Regime“ ein und versuchen systematisch, über das Internet und die ausländische Presse ihre stereotype Kritik zu verbreiten, um internationale Reaktionen auszulösen. Diese „Kritiker aus Prinzip“ bieten jedoch keine praktischen Vorschläge und politisch rationalen Handlungsstrategien an, um Reformen in den von ihnen kritisierten Bereichen konstruktiv durchzusetzen. Sie sind zudem organisatorisch schwach und haben keinen gesellschaftlichen Einfluß. Tunesien hat eine dominante Regierungspartei, aber keine nennenswerte legale parlamentarische und außerparlamentarische Opposition. Die im Parlament vertretenen, aber nicht an der Regierung beteiligten Parteien (in diesem Sinne „Opposition“) sind loyal, angepaßt und programmatisch irrelevant. Dasselbe gilt sowohl für die legalen als auch für die nicht zugelassenen Parteien außerhalb des Parlaments. Rhetorische Militanz und Gewalt gegen sich selbst (in Form von Hungerstreiks) ist bei einigen der nicht im Parlament vertretenen Oppositionsgruppen und regimekritischen Individuen ausgeprägt. Zu gewaltsamen Aktionen griffen seit 2002 (Anschlag auf der Insel Djerba) nur vereinzelt Mitglieder von Qaida-nahen oder durch sie inspirierten Gruppen, die vielfach in Algerien Ausbildung und Waffen beschafft haben (wie die im Dezember 2007 in Soliman bei Tunis ausgehobene Gruppe). Rückhalt in der Bevölkerung haben diese Gruppen nicht; terroristische Aktivitäten stärken vielmehr die Staatsführung und die Bereitschaft der Bevölkerung, sie zu stützen. Eine Radikalisierung nichtstaatlicher Akteure ist in Tunesien wegen der relativ homogenen gesellschaftlichen Strukturen und Lebensbedingungen schwierig. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 367 Die im Parlament vertretene Opposition ist loyal und kooperativ. Die Versuche einiger Oppositionsparteien und regimekritischen Vereinigungen, durch eine Soldarisierung mit Islamisten der verbotenen Ennahda und ihrer seit Anfang der 1990er Jahre im Ausland lebenden Führung an Gewicht zu gewinnen, schlug indes fehl, weil eine Allianz mit Islamisten von der tunesischen Bevölkerungsmehrheit nicht mitgetragen wird. Allianzen zwischen den legalen Oppositionsparteien sind bislang nie tragfähig gewesen. Gewaltsame Opposition ist seit Mitte der 1990er Jahre, als der bewaffnete Arm der islamistischen Ennahda zerschlagen war, eine marginale, punktuelle Erscheinung. Die Nachbarschaft zu Algerien, wo bewaffnete Gruppen auch 2008 noch aktiv sind und nach Ausweichterritorium suchen, sowie die leichte Zugänglichkeit Tunesiens, das als Tourismusland relativ offene Grenzen hat, birgt die Gefahr, daß sich gewaltbereite Gruppen Anschlagsziele in Tunesien suchen. Eine Bedrohung stellt diese latente Gefahr für die Wirtschaft dar. Schwerwiegende wirtschaftliche und sozioökonomische Folgen könnte eine Anschlagserie haben, wenn der Tourismus getroffen würde und das Land für Auslandsinvestoren nicht mehr als relativ sicher gälte. Die sozialen und sozioökonomischen Errungenschaften, das Lebens- und Entwicklungsniveau könnten negativ beeinflußt werden und die Leistungslegitimität, die ein zentraler Faktor bei der Herstellung kooperativer, loyaler Beziehungen des Bürgers zum Staat darstellt, beeinträchtigen. 1.7. Der Sonderfall Libanon Gemäß der gültigen libanesischen Verfassung sind alle (konfessionellen) Gemeinschaften an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt; alle Entscheidungen müssen konsensual getroffen werden und jede Gemeinschaft hat ein Vetorecht, mit dem sie praktisch alle Institutionen des Landes blockieren kann. Von parlamentarischer Opposition im klassischen Sinne kann nicht gesprochen werden. Dem „Pluralismus im politisch-konfessionellen Bereich“ korrespondiert, so Thomas Hildebrandt, ein „Pluralismus der Gewalt- und Sicherheitssysteme“ im Libanon, in dem Staatlichkeit in vielen Bereichen inexistent ist.7 Die staatliche Ord7 Vgl. den Libanon-Beitrag in Kapitel II, S. 195-230. 368 Staatlicher Umgang mit Opposition nungsmacht (Armee, Polizei) ist schwach, während die konfessionellen Gemeinschaften in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich für Ordnung und Sicherheit sorgen. Alle konfessionellen Gemeinschaften konkurrieren miteinander um Macht und alle verfügen über Waffen und sind bereit, diese bei Bedarf zur Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen. Nach dem Mord an dem syrienkritischen ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im Februar 2005, der vehemente und anhaltende antisyrische Demonstrationen eines Teils der libanesischen Bevölkerung provozierte, stehen sich zwei Blöcke „in Opposition“ gegenüber: ein prosyrischer und ein antisyrischer Block. Die antisyrischen Demonstranten, deren Teilnehmer die „Unabhängigkeit von Syrien“ und den syrischen Truppenrückzug aus dem Libanon forderten, erreichten schließlich noch 2005 den Abzug der syrischen Truppen. Die innerlibanesische Spaltung in pro- und antisyrische Kräfte wurde damit jedoch nicht aufgehoben: Den Syrien gegenüber loyalen Kräften, den sogenannten „Kräften des 8. März“, stehen die antisyrischen „Kräfte des 14. März“ gegenüber.8 Die „Kräfte des 8. März“ bestehen aus der schiitischen Hizbullah, der schiitischen Amal-Partei, der christlichen Partei Free Patriotic Movement um Michel Aoun und weiteren kleineren Organisationen. Die „Kräfte des 14. März“ umfassen als größte Organisationen die (sunnitische) Partei Future Movement (geleitet von Saad Hariri, dem Sohn des 2005 ermordeten Rafiq Hariri), die Sozialistische Fortschrittspartei Walid Jumblatts, die (christlichen) Forces Libanaises (um Samir Geagea) und die Kataib-Partei (Libanesische Phalange Partei) um Amin Gemayel. Nach den Parlamentswahlen von 2005 waren bis März 2006 alle Parteien, bis auf das Free Patriotic Movement in der Regierung vertreten. Nach dem Regierungsaustritt der Hizbullah und der Amal-Partei stehen die „Kräfte des 8. März“ außerhalb des Regierungslagers dar und können in diesem Sinne als „legale politische Opposition“ bezeichnet werden. Außerhalb dieser beiden Lager (pro- und anti-syrisch; beteiligt/nicht beteiligt an der Regierung) stehen die palästinensischen Organisationen der Flüchtlingslager, die offiziell allerdings keine „Partei“ ergreifen. Die palästinensischen Organisationen sind in eine Fatah-nahe und eine Fa8 Die Daten beziehen sich auf Massendemonstrationen, die 2005 von der jeweiligen Seite organisiert worden waren. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 369 tah-kritische Fraktion gespalten, von denen die Fatah-nahe Organisation jedoch der derzeitigen libanesischen Regierung nahesteht. Die nicht legalisierten, bewaffneten und Gewalt einsetzenden islamistischen Gruppen, für die al-Qaida Vorbild ist, haben ihre Aktivitäten im Libanon nach dem syrischen Truppenabzug verstärkt. Sie sind in den palästinensischen Flüchtlingslagern sehr aktiv. Für den Libanon gilt jedoch, daß alle Organisationen, einen militanten Diskurs pflegen und prinzipiell bereit sind, zur Verteidigung ihrer Interessen zu den Waffen zu greifen. Es macht hierbei keinen Unterschied, ob es sich um legale oder illegale, im Untergrund aktive Organisationen handelt. Das Allianzverhalten libanesischer Gruppen und Organisationen ist sehr volatil; Pragmatismus im Hinblick auf die Eigeninteressen bestimmt die Allianzen und Wechsel der Partner, wobei die langfristigen politischen Ziele und die Konfession bei den kurzfristigen Allianzen eine sekundäre Rolle spielen. Die Volatilität stärkt jedoch wiederum das gegenseitige Mißtrauen. Wegen der Tatsache, daß alle Organisationen (legale wie illegale, im Untergrund agierende) bewaffnet sind oder (seit 2005) ihre Wiederbewaffnung aktiv betreiben, ohne von der Regierung daran gehindert zu werden, weil deren Mitglieder selbst „Teil des Problems“ und daran interessiert sind, ihre Milizen zu stärken, ist ein gewaltsamer Konfliktaustrag auch in Zukunft nicht ausgeschlossen. Der Konfessionalismus, der eher zu- als abnimmt, und die extremistischen Untergrundgruppen, zu denen die legalen Organisationen Kontakte unterhalten, so daß ihre Instrumentalisierung durch die eine oder andere Organisation nicht ausgeschlossen ist, vergrößern die Gefahr einer neuerlichen Konflikteskalation im Macht- und Verteilungskampf der Konfessionen. 2. Ergebnisse der Länderanalysen: Der staatliche Umgang mit Opposition – Maßnahmen und Bewertung Das Forschungsprojekt ging von der Annahme aus, daß den staatlichen Reaktionen auf Opposition (im weitesten Sinne als „Nichtübereinstimmung“ definiert) und den staatlichen Maßnahmen zum Umgang mit Opposition, die über rein sicherheitspolitische Maßnahmen hinausgehen, Staatlicher Umgang mit Opposition 370 eine zentrale Rolle zukommt, um die Beziehung zwischen dem Staat bzw. der Staatsführung und der Bevölkerung zu verbessern, Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags zu diskreditieren und militante und gewaltsame Opposition zu begrenzen. Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten staatlichen Maßnahmen der letzten Jahre im Umgang mit Opposition in den sieben untersuchten Ländern kurz zusammengefaßt und vor allem die Maßnahmen im Umgang mit Opposition herausgestellt, die nicht zum repressiven Repertoire staatlicher Reaktion gehören. Die staatlichen Maßnahmen werden nach drei Gesichtspunkten beurteilt: - Trugen sie zur Reduzierung von Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags bei? Trugen sie zur Reduzierung von „Unzufriedenheit“ in der Bevölkerung bei? Können sie eine dauerhaftere kooperative Beziehung zwischen Staat/Staatsführung und Bevölkerungsmehrheit begründen? 2.1. Ägypten Als wichtigstes Mittel zur Kontrolle der Aktivitäten von Opposition dienen die seit 1981 wirksamen Notstandsgesetze, die die Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit drastisch einschränken und u.a. politische Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen untersagen und Verhaftungen erleichtern. Die im Frühjahr 2008 diskutierte Aufhebung des Notstandes beinhaltet indessen keine Aufhebung der restriktiven Gesetze an sich. An die Stelle der Notstandsgesetze soll ein Antiterrorismusgesetz treten, das mit der anhaltenden Gefahr terroristischer Anschläge gerechtfertigt wird. Beobachter gehen deshalb davon aus, daß die in der Notstandsgesetzgebung festgelegten Beschneidungen für politische Freiheiten in dem neuen geplanten Gesetzestext beibehalten werden. Ein weiteres Mittel, das gegen nichtloyale Opposition bei Bedarf eingesetzt wird, ist die Diffamierung (z.B. durch Vorwürfe der Korruption, Geldwäsche); sie wird auch gegen Personen angewendet, die Oppositionsgruppen durch große Summen finanziell unterstützen (wobei insbesondere die Unterstützung der Muslimbruderschaft staatliche Gegenmaßnahmen nach sich ziehen kann). Medienkontrolle und Medienzensur stehen gleichfalls im Dienst der Monopolsicherung der Regierungspartei Kapitel III : Auswertung und Ausblick 371 NDP; die Einschüchterungsversuche von organisiertem Widerstand (wie ihn die Kifaya-Bewegung vor den Präsidentschaftswahlen 2005 organisierte) beinhalten als neues Phänomen auch den Einsatz von NDP-loyalen Schlägertrupps („baltageyya“), die sich gegen die Teilnehmer von Kundgebungen und anwesende Journalisten richten. Militante Rhetorik und militantes Verhalten der Muslimbruderschaft als der dominanten Opposition in Ägypten wird – trotz Duldung ihrer Aktivitäten – mit willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen wegen „Mitgliedschaft in einer nicht zugelassenen Vereinigung“ beantwortet. Auf der anderen Seite wird versucht, Opposition wirkungslos zu machen: Zum einen werden bekannte Persönlichkeiten und Repräsentanten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen kooptiert, indem sie formal in beratende Institutionen und Gremien wie den Nationalen Dialog, die neu gegründeten Räte für Frauen und für Menschenrechte oder in die Reformkommissionen zu sozialen, bildungspolitischen und wirtschaftlichen Themen einbezogen werden; zum anderen werden gezielt entwicklungspolitische Maßnahmen in jenen Regionen eingeleitet, wo es Opposition zur Zentralregierung gab oder gibt (wie z.B. Südägypten, Sinai); zudem greift die Staatsführung wenngleich selektiv Forderungen der Opposition (Verbesserung der Menschenrechtslage; Armutsbekämpfung) auf. Während die Repression in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren gegenüber gewaltbereiten islamistischen Gruppen und die Reintegrationsangebote Erfolg hatten (seit 1997 Absage dieser Gruppen an Gewalt), wurden parallel keine Maßnahmen eingeleitet, um den vorherrschenden fundamentalistischen Positionen, die sich auch in einem intoleranten Diskurs gegenüber der koptischen Minderheit in Ägypten manifestieren, u.a. im Bildungsbereich und im religiösen Bereich entgegen zu treten.9 Auf religions-, bildungs- und kulturpolitischer Ebene wird der militanten Rhetorik der islamistischen Bewegung und der fundamentalistischen Fernsehprogramme der Satellitensender nichts adäquates entgegen 9 Vgl. zur Religionspolitik des Staates und ihren diesbezüglichen Defiziten Pink, Johanna: Der Mufti, der Scheich und der Religionsminister. Ägyptens Religionspolitik zwischen Verstaatlichung, Toleranzverhalten und Repression, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Die staatliche Religionspolitik in Nordafrika/Nahost. Ein Instrument modernisierender Reformen?, Hamburg 2007, 290 S., hier S. 27-56, Volltext der Publikation unter: www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung. 372 Staatlicher Umgang mit Opposition gesetzt. Das heißt, die staatliche Politik setzt z.B. im Konflikt mit den Kopten keine Maßnahmen um, die langfristig die gleichberechtigte Respektierung von Muslimen und Kopten durch die Bevölkerungsmehrheit fördern könnten. Dieses Manko bedeutet jedoch auch, daß die staatliche Politik in diesen Bereichen der fundamentalistischen Bewegung keine alternativen Konzepte der Welt- und Umfeldinterpretation entgegensetzt. Anders ausgedrückt: Die Staatsführung überläßt den konservativen und fundamentalistischen religiösen Interpreten diese Bereiche und trägt so zu deren in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft bei. Die bestehende Kluft zwischen der Bevölkerung auf der einen und der Staatsführung mit ihren (wirtschaftlichen) Modernisierungszielen und ihrer außenpolitischen „Westbindung“ auf der anderen Seite vergrößert sich. Diese Kluft wird sich zudem verfestigen, wenn die religiöskulturelle und politisch-weltanschauliche Prägung der Mehrheitsgesellschaft religiös Konservativen und der islamistischen Fundamentalopposition überlassen wird. Innergesellschaftliche Intoleranz wird als prägendes Element der Gesellschaft auf diese Weise konsolidiert und Konflikte (u.a. mit der koptischen Minderheit) werden am Leben erhalten. 2.2. Algerien Die organisierte Opposition in Algerien ist – mit Ausnahme der bewaffneten islamistischen Gruppen des GSPC/al-Qaida im islamischen Maghreb10 – „domestiziert“ und kontrolliert. Die wirksamen und intakten klientelistischen Beziehungsstrukturen belohnen wie ehedem unter der Einparteiherrschaft Loyalität und Gefolgschaft; sie bestrafen Illoyalität und Opposition. Die formale politische Liberalisierung 1989, die Vereinigungs- und Parteienpluralismus zuließ, setzte diese Verhaltens- und Beziehungsregeln nicht außer Kraft; sie erweisen sich zur Durchsetzung der eigenen Interessen immer noch als sehr effektiv. Insofern sind auch die im Parlament vertretenen Oppositionsparteien nur bis zu einem bestimmten Grad „Opposition“. Der Umgang der Staatsführung mit Opposition hängt mit der angenommenen Mobilisierungskapazität der jeweiligen Opposition zusammen; d.h. in erster Linie beeinflussen sicherheitspolitische Erwägungen 10 Vgl. auch den Sonderbeitrag in Kapitel I. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 373 die Reaktionen auf oppositionelles Verhalten. Steht z.B. hinter Protesten eine mobilisierungskräftige Organisation, die möglicherweise landesweit Unterstützung erhält, ist die Bereitschaft der Staatsführung höher, auf Verhandlungen einzugehen und (wie bei den Gewerkschaften) einen Verhandlungsprozeß zu institutionalisieren. Bei spontanen Protesten wird zunächst mit Repression reagiert; wenn der Protest anhält und es zu Zerstörungen kommt, werden zur Befriedung die Hauptforderungen aufgegriffen und Abhilfe zugesagt (z.B. Infrastrukturverbesserungen; Wohnungsbau). Diese versprochenen Maßnahmen werden in der Regel nicht in langfristige Konzepte eingebettet; ein transparentes Follow-up der Zusagen oder der Mittelverteilung zur Durchführung angekündigter Projekte erfolgt nicht; eine offene Auseinandersetzung über die Ursache von Konflikten und die Unzufriedenheit der Bevölkerung wird vermieden. So bestehen auch die Hauptkonflikte, die seit der Unabhängigkeit Algeriens immer wieder in Gewalt münden, weiter: (1) Der Konflikt um die Identität mit der Amazigh-Bewegung; (2) der Konflikt mit radikalen Islamisten; (3) der Konflikt um die künftige politische (und gesellschaftliche Ordnung), der wiederum eng mit der Frage der Stellung der Religion in Staat und Gesellschaft zusammenhängt;11 (4) der Konflikt zwischen Staat und unzufriedenen Bevölkerungsgruppen wegen mangelnder staatlicher Leistungskapazität, der seit 2001 fast täglich Proteste auslöst. Die Staatsführung verfuhr mit militanter und gewaltbereiter islamistischer Opposition seit 1999 zweigleisig, indem sie ihre sicherheitspolitischen Maßnahmen und Kapazitäten verbesserte und die Überwachungsmaßnahmen zur Prävention von Anschlägen optimiert werden konnten. Dieses repressive Vorgehen wurde gepaart mit Angeboten an diejenigen, die zur Aufgabe des Kampfes bereit waren; diese Strategie hat die be11 Erst 2006/2007 liefen institutionelle Eingriffe an, um die staatliche Kontrolle über die in den Moscheen verbreiteten Inhalte zu verbessern und die Ausbildung des Moscheepersonals, vor allem auch der Prediger, neu zu gestalten. Die Zielsetzung der staatlichen algerischen Religionspolitik ist jedoch nur bedingt auf Modernisierung des religiösen Diskurses ausgerichtet; die Zugeständnisse an die religiös Konservativen und Fundamentalistischen dominieren nach wie vor. Der Staatspräsident will eine Konfrontation – und damit eine Gefährdung seines „nationalen Versöhnungskurses“ – vermeiden. Der Konflikt wurde bisher „vertagt“. Vgl. Mattes, Hanspeter: Die staatliche Religionspolitik in Algerien im Umbruch. Vom Lavieren zur profilierten Steuerung, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9), S. 57-102. 374 Staatlicher Umgang mit Opposition waffneten Gruppen marginalisiert, gelöst wurde das Problem aber nicht. Die „Charta zur Nationalen Versöhnung“, die einerseits von der Bevölkerungsmehrheit (per Referendum) als Möglichkeit zur Herstellung von Normalität begrüßt wurde, konnte das Mißtrauen gegenüber den amnestierten Islamisten (und dem Islamismus als solches) nicht verringern, weil die Charta zu konziliant ausgelegt wird und einige Amnestierte erneut aggressiv und mit denselben politischen Ansprüchen wie vor Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen antreten. Es zeichnet sich hier erneut ein Konflikt ab. Ähnlich unbefriedigend verlief für die Betroffenen der Lösungsansatz für den Konflikt in der Kabylei, dessen Forderungen u.a. die Anerkennung des Berberischen als offizielle Sprache und die Neugestaltung der Beziehung Staat-Bevölkerung umfaßten, wobei hier insbesondere gefordert wird, daß diejenigen Mitglieder der Gendarmerie Nationale vor Gericht gestellt werden, die 2001 gezielt auf Demonstranten schossen. Diese sensiblen Themen werden nicht öffentlich debattiert, so daß sich die Kluft zwischen staatlichen Institutionen und Bevölkerung in der Region weiter vertieft. Die Unzufriedenheit mit der Leistungsbilanz der Staatsführung führt zu immer größerer Ungeduld in der (jungen) Bevölkerung. Auf diese Unzufriedenheit reagiert der Staat mit alten Methoden, obwohl die soziale Kohäsion aufgebrochen ist und die Tendenz unter den Jüngeren steigt, sich von allem was den Staat oder den politischen Bereich repräsentiert, zu distanzieren. Der Staatspräsident hat eine Hemmung, vom Grundsatz des größtmöglichen Konsens abzuweichen; dadurch werden dringende Reformen – die er Kraft Amtes entscheiden könnte – abgebremst, verzögert oder verwässert. Gerade bei der jungen Bevölkerung breitet sich seit Jahren das Gefühl der Stagnation, der Blockade und der Perspektivlosigkeit aus. Der (soziale) Protest gewinnt deswegen als Ausdruck der Unzufriedenheit und als Mittel, durch militantes Auftreten die Staatsführung zur Erfüllung zumindest einiger Forderungen zu zwingen, an Bedeutung. 2.3. Jordanien Seit dem Irakkrieg 2003 verstärkte der jordanische König die Bemühungen, die Opposition entweder in einen Dialog einzubeziehen, sie zu Kapitel III : Auswertung und Ausblick 375 kooptieren oder zu neutralisieren, damit seine prowestliche Politik – die in der Bevölkerungsmehrheit keinen Rückhalt hat – zumindest keinen organisierten Widerstand hervorruft. Die „politische Mitte“ sollte ausgebaut werden. Dazu diente u.a. die fortgesetzte Verteilung sozialer Leistungen in den jordanischen Palästinenserlagern und klientelbindender Leistungen an die ostjordanische Bevölkerung. Die politische Reformagenda wurde verlangsamt. Das Wahlrecht (Ein-Mann-Eine-StimmePrinzip) wurde beibehalten, um die Wahlerfolge der Muslimbruderschaft bzw. ihrer (legalen) Partei, der Islamic Action Front, von vorneherein zu beschränken und statt dessen die traditionell königsloyalen Stämme und Notabeln zu stärken. Die königsloyalen Stämme und Notabeln sind an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert, von dem sie materiell profitieren. Zur weiteren Eingrenzung des islamistischen Einflusses wurde ferner versucht, die soziale Verankerung der Islamisten zu schwächen, indem den Wohltätigkeitsvereinen der Muslimbruderschaft Korruption vorgeworfen wurde und folglich die Kontrolle über die Vereine verschärft wurde. Restriktionen der Versammlungs- und Pressefreiheit und die Förderung von loyalen Parteien (nicht islamistischer Orientierung) bei Neuanträgen auf Parteigründung waren weitere Maßnahmen, um vor allem der Muslimbruderschaft und ihrer politischen Partei Islamic Action Front nach der US-amerikanischen Intervention im Irak oder dem israelisch-libanesischen „Sommerkrieg“ von 2006 keine Möglichkeit zur Massenmobilisierung zu lassen. Diese Maßnahmen sind auf staatlicher Seite um so notwendiger, als die „Antinormalisierungskomitees“, die sich seit dem von König Husain 1994 mit Israel – gegen die Mehrheitsmeinung in Jordanien – geschlossenen Friedensvertrag wenden, mit militanter Rhetorik auftreten und mobilisierungsfähig sind.12 Die Bewegung gegen eine „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel wird von den Islamisten massiv unterstützt und hat in den palästinensischen Lagern auf jordanischem Territorium viele Anhänger. 12 Vgl. zur „Antinormalisierungsbewegung“ und ihrem Einfluß Vogt, Ulrich: AntiAmericanism in Jordan, Lebanon, Syria, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Anti-Americanism in the Islamic world, London 2006, S. 125-164, hier: S. 132 ff. (The anti-normalizaton movement vs. Israel/the United States). 376 Staatlicher Umgang mit Opposition Im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und der Infiltration von bewaffneten (Qaida-nahen) Islamisten der Salafi-Jihad-Bewegung nach Jordanien wurde die Sicherheitsüberwachung der Grenze zu Irak ausgebaut; größere Anschläge konnten dadurch – bis auf den Anschlag in Amman 2005 – vermieden werden. Dennoch ist die Gefahr von Anschlägen nicht gebannt, zumal die außenpolitische prowestliche Position des Königs, seine enge Kooperation mit den USA und vor allem die Aufrechterhaltung des Friedensabkommens mit Israel auf anhaltenden Widerstand stößt: Nicht nur die gewaltbereiten Gruppen der islamistischen Bewegung, auch Teile der Muslimbruderschaft, deren „Hardliner“-Fraktion sich seit 2007 für eine militantere Strategie ausspricht, sind aktiver geworden. Bislang konnten durch Leistungsverteilung an loyale Bevölkerungsgruppen – dank geopolitischer Renten – die klientelistischen Bindungen zwischen König und großen Teilen der Bevölkerung sowie dem traditionell königstreuen Militär aufrechterhalten werden. Die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Agenda für die Sicherung der innenpolitischen Stabilität wurde vom König erkannt. Die Regierung erhielt deswegen nach den Legislativwahlen vom November 2007 das Mandat, wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen, Korruption zu bekämpfen und die Arbeitslosenrate zu senken; damit wurden gleichzeitig die wichtigsten Themenbereiche der Muslimbruderschaft/Islamic Action Front besetzt. Ob ein Teil derer, die von der Rentenverteilung profitieren (wie z.B. die Palästinenser in den Lagern), von der Muslimbruderschaft durch geschickte Instrumentalisierung außenpolitischer Themen (Westbindung, US- und Israel-Kooperation als „Verrat“) zu einer Abkehr von ihren bisher neutralen oder loyalen Positionen zum König gebracht werden können, ist offen; anzunehmen ist indessen, daß eine wirtschaftlich bedingte Kürzung von Leistungen und eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen einen solchen Effekt haben könnten. Problematisch an der Außenpolitik des jordanischen Königs ist, daß sie polarisiert, emotionalen Widerstand entzündet und verhindert, daß um den König ein „jordanisches“ nationales Identitätsgefühl entstehen kann. Die „Jordan Kapitel III : Auswertung und Ausblick 377 First“-Kampagne13 vom Oktober 2002 war ein solcher Versuch, der jedoch als Totgeburt zu werten ist. 2.4. Marokko König Mohammed VI. begründete nach seiner Amtsübernahme in vieler Hinsicht einen neuen Stil im Umgang mit der Bevölkerung und ihren Problemen, was zum einen seine Position und die der Monarchie stärkte und zum anderen die Position der organisierten Opposition insgesamt schwächte. Gestärkt ging der König auch aus der Herausforderung durch die Selbstmordanschläge einer islamistischen Gruppe im Mai 2003 in Casablanca hervor; er gilt in breiten Kreisen der Bevölkerung seither noch mehr als zuvor als Garant eines „moderaten“ Marokko. Opposition hat im marokkanischen politischen System aufgrund der Befugnisse und Funktionen, die der König als weltlicher und religiöser Herrscher hat, und wegen der Themen, die König Mohammed besetzt, kein Aktionsfeld mehr: König Mohammed hat seit 1999 sukzessive alle Themenbereiche vereinnahmt, die große Teile der Bevölkerung bewegen und zur Mobilisierung von Unmut und Kritik an der staatlichen Politik genutzt werden könnten. Neben dem Ausbau der Sicherheitsorgane und ihren Kapazitäten zur Bekämpfung bewaffneter Gruppen wurden seit den Anschlägen von 2003 in verschiedenen Bereichen Reformen intensiviert, um in langfristiger Perspektive nicht nur den Einfluß gewaltbereiter islamistischer Gruppen einzudämmen, sondern auch den Islamismus als solchen zurückzudrängen. Drei Maßnahmen, die ganz besonders die soziale Kohäsion und Anbindung an den König fördern sollen, wurden konstruktiv umgesetzt und zügig vorangetrieben: Es handelt sich (1) um die Wiedergutmachung von Menschenrechtsvergehen unter König Hassan II., damit die Beziehung König-Bevölkerung auf eine neue Vertrauensbasis gestellt werden kann; (2) um die Förderung der Amazigh-Kultur, damit die identitäre Frage nicht politisch instrumentalisiert werden kann, und (3) um die Armutsbekämpfung durch umfassende nationale Programme, die gesellschaftliche Randgruppen erfassen und sie vor den in diesem Milieu 13 Vgl. Vogt, Ulrich: Jordanien, in: Faath, Sigrid (Hrsg.): Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg 2004, S. 99-113, hier: S. 107-110. 378 Staatlicher Umgang mit Opposition werbenden islamistischen Gruppen schützen sollen. Religionspolitische Eingriffe sind ein weiteres wichtiges flankierendes Instrument.14 Damit hat der König alle sensiblen Bereiche, denen grundsätzlich Mobilisierungspotential innewohnt, als seine Aktionsfelder reklamiert: die Religion, die „nationale Versöhnung“ (Menschenrechtsfragen), die nationale Identität Marokkos, die Armutsbekämpfung bzw. die menschliche Entwicklung und in diesem Zusammenhang auch die Frauenförderung und Frauengleichstellung. Das bedeutet, daß in Marokko einzig der König die Orientierung und den Reformrhythmus in diesen Bereichen vorgeben kann. Wenngleich sich die praktische Umsetzung von neuen Gesetzesbestimmungen oft als schwierig erweist, weil Traditionalisten und die um ihre Privilegien fürchtenden Mitglieder der Administration oftmals versuchen, Reformen zu bremsen oder Bestimmungen zu boykottieren, so fanden bereits in allen Reformbereichen merkliche Eingriffe statt, die auch zum Abbau von Konfliktpotential und zur Stärkung kooperativer Ansätze beigetragen haben, so z.B. bei der Amazigh-Bewegung und im Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur Amazigh-Identität, deren Förderung als Teilkomponente marokkanischer Identität zunehmend auf Zustimmung stößt. Mit gezielten „Werbekampagnen“ durch Rundreisen, Informationsbesuche bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Betonung der sozialen Komponente wirtschaftlicher Reformen zur Reduzierung der Armut versucht der König, Unterstützung zu sichern. Es herrscht in Marokko ein politischer Konservatismus vor, in dem sich der gesellschaftliche Konservatismus spiegelt, der allerdings dennoch dem König und seinen (modernisierenden) Reformzielen langfristig zugute kommen kann: Die religiös-legitimierte Monarchie bietet quasi die Grundlage für den neuen Ansatz des Königs im Umgang mit der Bevölkerung. Insofern kann es innerhalb dieses konservativen Systems sogar – wenn schrittweise vorbereitet – zu Tabubrüchen kommen: Die zwei zentralen Beispiele sind die nationale Versöhnungsinitiative und die Anerkennung der Amazigh-Forderungen als legitim, die in eine langfristig angelegte, konkrete Förderpolitik mündeten. Die politischen Maß14 Vgl. Faath, Sigrid: Marokkos reformorientierte Religionspolitik. Eingriffe in Tradition und Religion, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9), S. 135-174. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 379 nahmen König Mohammeds seit 1999 wirkten in einigen Bereichen konfliktreduzierend; gleichzeitig stärkten sie die Monarchie und marginalisierten die formal modernen Institutionen des Landes. 2.5. Syrien Der Umgang mit Opposition unter Präsident Bashshar al-Asad verhärtete sich nach einer kurzen Phase der Lockerung 2000/2001, die als „Damaszener Frühling“ bezeichnet wurde. Zu ersten Verhaftungen und Verurteilungen, gekoppelt an Diffamierungskampagnen gegen Oppositionelle und die Schließung von Diskussionsforen, die eine demokratische Öffnung forderten, kam es bereits 2001; eine deutliche Verstärkung der sicherheitspolitischen Kontrollmaßnahmen folgte im Vorfeld und nach Ausbruch des Irakkriegs 2003. Im Rahmen der „Öffnungspolitik“ 2000/2001 wurden mehrere Hundert politische Gefangene aus der Haft entlassen, aber ihnen wie allen anderen Kritikern des Regimes ist jede Teilnahme an regimekritischen kollektiven Aktionen untersagt. Die Situation für politische Gefangene in den Gefängnissen hat sich allerdings verbessert, da nicht mehr gefoltert wird. Die Schikanen gegenüber individuellen Kritikern des Regimes (wie Ausreiseerschwernis zu Konferenzen) sind nach wie vor die Regel, ungeachtet dessen, daß diese Einzelpersonen über keinen regimegefährdenden gesellschaftlichen bzw. politischen Einfluß verfügen. Die Kontrollen und Maßnahmen werden mit dem Hinweis auf den geltenden Ausnahmezustand gerechtfertigt. Zwei Kategorien von Opposition werden besonders intensiv kontrolliert: Die islamistische Fundamentalopposition und die kurdische Opposition. Gegenüber der islamistischen Opposition wird allerdings, solange sie sich „friedlich“ und angepaßt verhält und keine kollektiven Aktionen organisiert, nicht generell und ausschließlich repressiv reagiert. Um den islamistischen Einfluß zu begrenzen, führt die Staatsführung als „präventive“ Abwehrmaßnahme einen „islamischen Diskurs“ und betreibt eine „offizielle Islamisierung“ Syriens:15 Der Moscheebau wird gefördert, religiöse Themen können in den Medien behandelt werden, neue 15 Vgl. zu den religionspolitischen Maßnahmen Ziadeh, Radwan: Policies of religious inclusion in Syria, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9), S. 197-214. 380 Staatlicher Umgang mit Opposition Koranschulen, Privatschulen und Kindergrippen, geführt von fundamentalistischen Persönlichkeiten, wurden zugelassen und auch eine fundamentalistische Frauenorganisation, die Qubaissiyat, die ein effizientes Netzwerk sozialer Fürsorge für Frauen und Privatschulen unterhält, wurde legalisiert. Beschwichtigende Maßnahmen, die in der Regel in Zusagen und Ankündigungen des Präsidenten bestehen, sich um eine Angelegenheit zu kümmern, dienen dem Abblocken von sporadischen Kundgebungen, auf denen mehr Freiheiten und Rechte (z.B. die Regularisierung „staatenloser“ Kurden in Syrien) gefordert werden. In der Regel folgt den Ankündigungen kein konkreter Ansatz, um das angesprochene Problem zügig zu lösen. Der Umgang mit der kurdischen Bevölkerung und ihren Oppositionsgruppen ist mehrgleisig: Zum einen ist es der kurdischen Bevölkerung – wie anderen Ethnien – verboten, sich politisch zu organisieren; das Parteiengesetz verbietet Parteien auf ethnischer und religiöser Basis. Kollektive Proteste werden repressiv beantwortet, aber auf individueller Ebene wird versucht, kurdische Persönlichkeiten als loyale Unterstützer der Regierung zu gewinnen. An dem Verbot, die kurdische Sprache, die als Amtssprache in Syrien nicht anerkannt ist, an Schulen zu unterrichten, wird ebenso festgehalten wie z.B. an der Politik, kurdische geographische Bezeichnungen in den kurdischen Siedlungsgebieten nicht zuzulassen. Das Problem der über 200.000 durch syrische administrative Maßnahmen in den 1960er Jahren entstandenen „staatenlosen“ Kurden wurde ebenfalls bislang nicht geregelt, obwohl sich das kurdische Nationalgefühl seit 2000 stärker manifestiert. Das eingesetzte Repertoire im Umgang mit der islamistischen Opposition begünstigt langfristig eher das gesellschaftliche konservative religiöse Milieu und schafft dadurch eine Voraussetzung, die in Zukunft die Ausbreitung islamistischen Gedankenguts begünstigen kann. Das staatliche Verhalten gegenüber dem kurdischen Anliegen verstärkt langfristig einen Konflikt mit mobilisatorischem Potential. Das Ignorieren kurdischer Forderungen, zur Anerkennung der kurdischen kulturellen Rechte und Identität fördert eine Spaltung der Gesellschaft und begünstigt eine Radikalisierung kurdisch-nationalistischer Organisationen. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 381 2.6. Tunesien Die tunesische Staatsführung neigt zu einer relativ diskreten Konfliktbeilegung und zur Unterstützung von Absprachen wie zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, um Arbeitskonflikte nicht in Streiks münden zu lassen. Ähnlich wird versucht, Konflikte mit Parteien oder Vereinigungen oder mit individuellen Kritikern zu regeln. Die gewünschte Konsensfindung funktioniert jedoch nur unter bestimmten Bedingungen, die von einem ungeschriebenen Verhaltenskodex vorgegeben werden: So darf am Staatspräsidenten und seiner Familie persönlich keine Kritik geübt werden; Kontakte mit Islamisten (vor allem auch im Ausland) und gemeinsame Auftritte im ausländischen Fernsehen werden nicht geduldet; die Forderung z.B. nach politischer Partizipation von Islamisten verhindert vollends eine Annährung an die Staatsführung und kooperative, sanktions- und repressionsfreie Beziehungen; ein Positionsund Verhaltenswechsel kann allerdings wiederum ein verändertes staatliches Verhalten nach sich ziehen und kooperative Beziehungen zulassen. Das Verhältnis der tunesischen Staatsführung zu den Islamisten Ennahdas, deren Organisation in Tunesien seit Mitte der 1990er Jahre aufgerieben ist, unterlag keiner Veränderung; ebensowenig wurden die genannten Tabus für den Umgang von Parteien, Vereinigungen und Individuen mit Islamisten gelockert. Das Mißtrauen gegenüber Islamisten ist ausgeprägt und wurde durch die Ereignisse seit dem Anschlag von Djerba 2002 und den vereitelten Anschlägen im Dezember 2007 nicht geschmälert. Die Zweigleisigkeit der Ennahda in den 1980er/1990er Jahren (öffentlich wurde Gewalt abgelehnt; im Untergrund eine bewaffnete Gruppe aufgebaut) und der bei anderen islamistischen Organisationen (in Algerien, Marokko) zu beobachtende „doppelte Diskurs“ wirkt hier nach. Ausgeprägte sicherheitspolitische Maßnahmen und Kontrollen sollen gewaltbereite Opposition aufdecken helfen. Reformen im religionspolitischen Bereich16 sollen die Modernisierung des religiösen Diskurses und seine Verbreitung vorantreiben; eine verbesserte Kon- 16 Vgl. Details hierzu bei Faath, Sigrid: Die Religionspolitik der Republik Tunesien. Kontinuität von Modernisierung und religiösen Reformen, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9), S. 215-248. 382 Staatlicher Umgang mit Opposition trolle der religiösen Institutionen und Ausbildung der Imame ist Teil dieser Reformbemühungen. In sehr hohem Maße setzt die Staatsführung allerdings ihr Engagement im sozialen und wirtschaftlichen Bereich fort, um das Entwicklungs- und Lebensniveau der Bevölkerung anzuheben und sie auf diese Weise gegen islamistische Ideen zu immunisieren. Es sind ganz wesentlich die sozialen und entwicklungspolitischen Leistungen des Staates, die – trotz der Monopol-, Kontroll- und Einmischungstendenzen der staatlichen Behörden und der ausgeprägten sicherheitspolitischen Überwachung – dafür sorgen, daß der Rückhalt der Staatsführung in der Bevölkerungsmehrheit intakt ist. Es ist ein breiter Konsens über die Orientierung des Staates in Tunesien vorhanden. Es gibt diesbezüglich eine von der Staatsführung und der Bevölkerung geteilte Vision eines wirtschaftlich prosperierenden Landes, das seinen Bürgern Wohlfahrt sichert, offen und tolerant ist und Extremismus (d.h. im tunesischen Kontext „Islamismus“) ablehnt. Die Sozial-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Staatsführung ist reformorientiert und will insbesondere Armut bekämpfen. Soziale Disparitäten wurden bisher durch entsprechende sektor-, regional- und gruppenspezifische Maßnahmen reduziert, so daß der soziale Friede nicht gefährdet ist. Die wie in den anderen nordafrikanischen Staaten auch in Tunesien ausgeprägten klientelistischen Strukturen bestimmten das Geben und Nehmen zwischen der Staatsführung und gesellschaftlichen Akteuren. Das informelle Moment der Absprachen und Regelungen ist in diesem System ausgeprägt und sie werden genutzt, um Loyalität (z.B. auch der Unternehmer) und Kooperationsbereitschaft zu sichern. Das Normensystem der politischen Elite im Umgang mit Kritik und Opposition hat sich nicht gewandelt. Handlungsbestimmend ist nach wie vor die Überzeugung der Staatsführung, daß zur wirtschaftlichen und sozialen Prosperität und nachhaltigen Entwicklung des Landes die staatliche Kontrolle der einzelnen Reformprozesse ein Muß und die konstruktive Mitarbeit und solidarisches, loyales Verhalten eines jeden Bürgers, jeder Partei und Vereinigung Pflicht ist. Die bisherigen wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Erfolge staatlicher Politik trugen mit dazu bei, daß die Bereitschaft der tunesi- Kapitel III : Auswertung und Ausblick 383 schen Bevölkerung, politische Gegnerschaft zu unterstützen oder überhaupt politische Alternativen zu suchen, gering war (und ist). Eine mittelfristige Modifikation dieser Einstellung und der Konsens- und Loyalitätsbereitschaft ist in der Mehrheitsgesellschaft nicht zu erwarten. Die tunesische Staatsführung und die Gesellschaft profitiert heute davon, daß die Bevölkerungsmehrheit eine Werteorientierung vertritt, für die ein Gewaltkurs als unvereinbar mit dem tunesischen Selbstbild erscheint. 2.7. Der Sonderfall Libanon Ein Zentralstaat mit effektivem Gewaltmonopol ist im Libanon nicht existent. Die mit dem Abkommen von Tai’f 1989 etablierte Nachbürgerkriegsordnung verankerte den Konfessionalismus und die Macht politischer Familiendynastien, die alle über ein eigenes Ordnungs- und Gewaltsystem verfügen und unterschiedliche, pragmatische Allianzen im Kampf um die Machtbeteiligung und Machtteilung eingehen. Die formal existierenden zentralstaatlichen Institutionen (Präsident, Regierung, Parlament, staatliche Sicherheitsdienste), die zwischen den großen Konfessionen und Clans aufgeteilt sind, unterliegen deren Logik und Interessen. Die bewaffneten Milizen einer jeden Interessengruppe werden als Drohpotential eingesetzt; die Gewaltbereitschaft drückt sich nicht nur in einer militanten Rhetorik aus, sie ist real; zur Wahrung der eigenen Interessen wird nicht vor Gewaltakten (u.a. politische Morde) zurückgeschreckt. Das konkordanzdemokratische Modell war nicht fähig, eine gewaltfreie Konfliktlösung zu fördern. Das Prinzip einer gleichberechtigten Beteiligung aller Konfessionen und Bevölkerungsgruppen setzt voraus, daß auch die demographisch gesehen dominante Gruppe den Willen hat, gemeinsam mit den anderen einen Staat zu gründen und eine übergeordnete, libanesische Identität als konstitutives Element der Zusammengehörigkeit (vor den konfessionellen und Clanzugehörigkeiten) zu etablieren. Dies ist nicht der Fall gewesen; die fehlenden gemeinsamen Bemühungen aller relevanten politischen Akteure zur Entwaffnung der Milizen und zur Stärkung nationaler Sicherheitsorgane belegen dies. Sowohl die prosyrischen Kräfte des Libanon, angeführt von den schiitischen Organisationen der Hizbullah und Amal-Partei, als auch die anti- 384 Staatlicher Umgang mit Opposition syrischen Kräfte, die derzeit die Regierung bilden, unterhalten Milizen und sorgen für deren Bewaffnung bzw. den Waffennachschub. Die konfessionelle Spaltung und die Spaltung der Gesellschaft in prosyrische/antiwestliche und antisyrische/prowestliche Kräfte wird von den legalen politischen Akteuren ausgenutzt, um die eigene Position zu stärken. Dazu werden auch Kontakte zu den illegalen gewaltbereiten Gruppen in den Palästinenserlagern unterhalten. Die prosyrische/antiwestliche Seite, angeführt von der Hizbullah, deren bewaffnete Truppen eher Armeecharakter haben, ist sich ihres gesellschaftlichen Einflusses und ihrer militärischen Stärke bewußt, so daß für sie die Gewaltoption eine vielversprechende Strategie ist, um ihre Ziele und Interessen durchzusetzen. Neuerliche Kompromisse wie sie das mit dem Ta’if-Abkommen 1989 vereinbarte konkordanzdemokratische System vorsah, sind auch wegen dieses Dominanzanspruchs der Hizbullah nicht zu erwarten. 3. Zusammenfassende Bewertung der länderspezifischen Ergebnisse 3.1. Gesellschaft und Opposition Generell gilt, daß in allen untersuchten Staaten17 sowohl die Monarchen (Jordanien, Marokko) als auch die Staatspräsidenten (Ägypten, Algerien, Syrien, Tunesien)18 den machtpolitischen Status quo und die Hauptorientierungen im wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und außenpolitischen Bereich durch ihre Politik absichern wollen. Das staatliche Handeln wie auch das Verhalten gesellschaftlicher organisierter und nichtorganisierter Gruppen in diesen hierarchischen, auf Führungspersönlichkeiten ausgerichteten, von Klientelstrukturen geprägten Systemen, wird von verschiedenen Faktoren beeinflußt; hierzu gehört, daß - „Nichtübereinstimmung“ in allen Bereichen (politisch, religiös, kulturell) in der Mehrheitsgesellschaft und im politischen Raum in der Regel auf Ablehnung stößt und Mechanismen zur Gegenwehr, Abwehr, Auflösung oder Vereinnahmung nach sich zieht. Die Anerkennung und Re17 18 Eine Ausnahme stellt hier wiederum der Sonderfall Libanon dar. Die Staatsoberhäupter stützen sich auf eine dominante Partei (Ägypten, Syrien, Tunesien) oder auf eine Regierungskoalition, in der zwei Parteien dominieren, die zwei Fraktionen der ehemaligen Einheitspartei repräsentieren (Algerien). Kapitel III : Auswertung und Ausblick - - - 19 20 21 385 spektierung von Pluralismus im Denken, im Glauben und in der Lebensgestaltung ist auf gesamtgesellschaftlichem Niveau kaum oder nur rudimentär umgesetzt. eine Tradition offener Debattenkultur nicht existiert; dafür regeln in jedem Land zahlreiche kodifizierte und nicht kodifizierte „Tabus“ den Umgang zwischen den staatlichen Institutionen und der Bevölkerung, aber auch die Interaktion der gesellschaftlichen Gruppen untereinander. In beiden Fällen ziehen Übertretungen der Tabus Sanktionen nach sich. Religion (oder Religionen wie z.B. im Libanon) ein zentraler und in alle sozialen und politischen Bereiche hineinwirkender Faktor ist. Die politische Instrumentalisierung von Religion spielt eine große Rolle in Konflikten, bei der Art und Weise ihrer Austragung und den staatlich eingesetzten Mitteln zum Umgang mit Konflikten, in denen das Religionsverständnis bzw. die Auslegung von Religion als oppositionskonstituierendes und mobilisierendes Element eingesetzt wird.19 Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung in den nordafrikanischen und nahöstlichen Gesellschaften im allgemeinen einen höheren Stellenwert als Kompromißverhalten genießt.20 Gewalt wird vielfach heroisiert; der religiöse Diskurs konservativer und insbesondere fundamentalistischer Prediger und Organisationen leistet hierzu einen ebenso aktiven Beitrag wie die Solidaritätsbande (Clan-/Familienbande) der von paternalistischen Traditionen geprägten Gesellschaften.21 Der Einsatz von Gewalt durch den Staat oder eine gesellschaftliche Gruppe löst auch aus diesem Grund nicht automatisch eine generelle Distanzierung und Verurteilung von Gewalt in den Gesellschaften aus. Erst die terroristischen Anschläge islamistischer Gruppen, die sich nicht gegen eine spezifische Gruppe (Polizei, Armee; Repräsentanten staatlicher Institutionen), sondern gegen die Gesellschaft als Ganzes richteten, führten zu Protesten gegen Gewalt und zur Verurteilung derer, die Gewalt propagieren und Rechtfertigungen für Gewaltakte liefern. Negative Auswirkungen hatte diese Vgl. detailliert Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9). Vgl. Faath, Sigrid: Protest und Gewalt in Nordafrika/Nahost. Zum Gegenstand des Forschungsprojekts „Menastabilisierung“, Hamburg 2007, 52 S., hier S. 34 ff. (Zum gesellschaftlichen Ansehen von Gewalt), Text unter: www.giga-hamburg.de/projects/ menastabilisierung. Die Studien des algerischen Anthropologen Abderrahmane Moussaoui sind hierzu sehr aufschlußreich. Moussaoui wertete die Gespräche mit ehemaligen Mitgliedern bewaffneter islamistischer Gruppen in Algerien aus. Sie verdeutlichten, daß die Solidaritätsbande (des Clans, der Familie) und als „Ehrverletzungen“ empfundene Maßnahmen staatlicher Institutionen bei sehr vielen jungen Männern den Ausschlag gaben, den bewaffneten Kampf gegen den Staat aufzunehmen. Vgl. Moussaoui, Abderrahmane: De la violence en Algérie. Les lois du chaos, Arles/Paris 2006. 386 Staatlicher Umgang mit Opposition Ablehnung terroristischer Gewalt für die islamistischen Bewegungen; unmittelbar nach den Anschlägen wurden islamistische Organisationen pauschal als „Bodenbereiter“ für terroristische Gruppen mit verantwortlich gemacht: Eine solche Entwicklung ist z.B. in Algerien seit Mitte der 1990er Jahre, als die terroristischen Anschläge gegen die Bevölkerung ihren Höhepunkt erreichten, in Tunesien seit dem Anschlag auf Djerba 2002, in Marokko seit den Anschlägen von 2003 und in Jordanien seit dem Anschlag in Amman von 2005 zu beobachten gewesen. Entwicklungstendenzen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens können besser erfaßt werden, wenn diese vier Aspekte in die Analyse einbezogen werden, weil sie - zum einen die Grenzen für staatliche Eingriffe aufzeigen und zum anderen auf die Wirkkräfte in der Mehrheitsgesellschaft hinweisen, die deren Bereitschaft, Reformen und Politikorientierungen der Staatsführung zu unterstützen, beeinflussen. 3.2. Zu den Maßnahmen gegen gewaltbereite Gruppen Die Staatsführungen der untersuchten Staaten haben sich nach dem 11. September 2001 der internationalen Terrorismusbekämpfung angeschlossen und sind aktiv an der Bekämpfung des internationalen alQaida-Netzwerkes beteiligt. Die nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten kooperieren seither im sicherheitspolitischen Bereich enger als zuvor. Informationen werden ausgetauscht und verhaftete Mitglieder des Netzwerkes bei entsprechenden Ersuchen in die Herkunftsländer ausgeliefert. Präventivmaßnahmen in Form von Kontrollmaßnahmen und Überwachungen des islamistischen Milieus durch die Sicherheitsorgane sind in den Staaten, in denen nationale Qaida-nahestehende Gruppen eine Organisationsstruktur aufgebaut haben und aktiv sind (Marokko, Algerien) oder zumindest durch vereinzelte Anschläge Präsenz bekundeten (Tunesien, Jordanien), besonders ausgeprägt. Maßnahmen zur „Abwerbung“ von Mitgliedern terroristischer Gruppen durch Angebote zur Reintegration in die Gesellschaft und mildere Urteile bei freiwilliger Waffenabgabe und Distanzierung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung erfolgen seit 1999/2000 parallel zur Bekämpfung mit sicherheitspolitischen Mitteln in Algerien. In Ägypten hatte die massive Repression und schließlich das Angebot zur Reintegration in die Kapitel III : Auswertung und Ausblick 387 Gesellschaft 1997 dazu geführt, daß die Führungskader der Jamaca alislamiya und des Islamischen Jihad einen Waffenstillstand beschlossen und gegen eine Fortsetzung der Gewaltstrategie plädierten. Vereinzelte Anschläge, für die al-Qaida oder al-Qaida-nahe Gruppen verantwortlich zeichneten, wurden dadurch jedoch nicht verhindert. Reintegrationsangebote werden zudem stets nur für einen Teil der Mitglieder gewaltbereiter Gruppen attraktiv sein; eine generelle „Austrocknung“ bewaffneter islamistischer Gruppen – ob mit oder ohne Qaida-Anbindung22 – ist dadurch nicht möglich. Das Hauptziel der Staatsführungen ist es deswegen, den personellen Nachschub bewaffneter Gruppen zu unterbinden und sie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu isolieren. Die hierzu ergriffenen Maßnahmen fielen in den untersuchten Ländern sehr unterschiedlich aus; sie zeigten auch eine unterschiedliche Wirkung, die von der allgemeinen sozioökonomischen Lage der Bevölkerung und der Beziehung zwischen Staatsführung und Bevölkerung beeinflußt wird. In Tunesien konnte z.B. die Ablehnung von gewaltbereiten Gruppen durch die Bevölkerungsmehrheit auch wegen der positiv empfundenen sozioökonomischen Lebensbedingungen und der relativen Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihren Umfeldbedingungen konsolidiert werden. Die seit 2007 erneut intensivierten Anstrengungen zur Förderung der Integration der Jugend in den Arbeitsmarkt können sich zu einem weiteren wichtigen Ansatz entwickeln, weil die Rekrutierung unter Jugendlichen und der Aufbau eines Unterstützernetzwerkes sich dadurch schwieriger gestalten kann. Eine ähnliche Tendenz kündigt sich in Marokko an, allerdings ist dort die Ausgangslage problematischer, weil die gewaltbereiten Gruppen über eine Infrastruktur und eine „Klientel“ verfügen. Sie konnten sich in dem konservativen religiösen Umfeld zudem leichter etablieren. Ihr Hauptrekrutierungsfeld waren und sind die sozial schwachen Viertel (Bidonvilles) der städtischen Zentren. Ein umfassendes Repertoire sozialer, sozioökonomischer, religionsund medienpolitischer Maßnahmen wird in Tunesien und Marokko ein22 Die öffentlich erklärte „Qaida-Anbindung“ dient einigen Gruppen in erster Linie dazu, ihr Renommee zu heben. Eine internationale Orientierung ist selten damit verbunden; die nationale Zielsetzung dominiert. Vgl. hierzu auch Blom, Amélie u.a. (Hrsg.): The enigma of Islamist violence, New York/Paris 2007, 216 S. 388 Staatlicher Umgang mit Opposition gesetzt, um das gesellschaftliche Umfeld gegen die Gewalt verherrlichende und zu Gewalt aufrufende Propaganda islamistischer Prediger und Gruppen zu immunisieren. Vergleichbar weitreichende Maßnahmen wie in Tunesien und Marokko wurden im religionspolitischen Bereich weder in Algerien, Ägypten, Jordanien, Syrien noch im Libanon unter den einzelnen konfessionellen Gemeinschaft umgesetzt. Drei weitere Faktoren liefern gewaltbereiten Gruppen speziell in nahöstlichen Staaten Argumente zugunsten des bewaffneten Kampfes, der von ihnen selbst in der Regel als „Widerstand“ bezeichnet wird: (1) die Präsenz Israels und der ungelöste palästinensisch-israelische Konflikt, (2) der ungelöste Konflikt im Irak, ausgelöst durch „westliche“ Intervention, und (3) die „Außenpolitik“ „westlicher“ Staaten in der nahöstlichen Region. Abgesehen von den direkt betroffenen Staaten und Bevölkerungsgruppen haben die Nachbarstaaten die Folgen dieser Konflikte und ihre radikalisierende Wirkung auf die palästinensischen Flüchtlinge und ihre militanten Organisationen in Jordanien, Libanon, Syrien zu tragen. In Staaten, in denen zudem die Kluft zwischen einer „westlich“ orientierten Außenpolitik der Staatsführung und den außenpolitischen Positionen großer Bevölkerungsteile ausgeprägt ist (Ägypten, Jordanien; Libanon pro-syrische/antiwestliche Kräfte vs. antisyrische/prowestliche Kräfte), werden weitere mobilisierungsfähige Argumente zum „Widerstand“ gegen „westliche Einflußnahme“ usw. geliefert. Die nahöstlichen Konflikte haben in den Maghrebstaaten keine vergleichbare Wirkung auf die Bevölkerung und die Opposition. Die bewaffnete Opposition in den Maghrebstaaten argumentiert zwar auch „antiwestlich“, aber ihr Bezugsrahmen ist national; mit Anschlägen gegen westliche Einrichtungen soll in erster Linie die Staatsführung bzw. das Regime getroffen werden. Dadurch ergeben sich in den Maghrebstaaten weitaus mehr Chancen, durch sozioökonomische und entwicklungspolitische Maßnahmen bewaffnete Gruppen zu marginalisieren. Die Untersuchungen des algerischen Anthropologen Moussaoui23 zu den Beweggründen, die für Einzelne den Ausschlag gaben, sich überhaupt einer bewaffneten Gruppe anzuschließen, verdeutlichen, daß eine weitere staatliche Maßnahme dringend notwendig wäre: Die Beziehung zwi23 Vgl. Moussaoui 2006, a.a.O. (Anm. 21). Kapitel III : Auswertung und Ausblick 389 schen Staatsführung bzw. staatlichen Institutionen und der Bevölkerung müssen verbessert werden, um auszuschließen, daß staatliche sicherheitspolitische (Kontroll-)Maßnahmen rechtsstaatliche Kriterien soweit außer Acht lassen, daß sie von den Betroffenen als „Ehrverletzung“ gewertet werden und Mitglieder der Solidargruppe sich verpflichtet fühlen, diese Ehrverletzung zu rächen. In den von Moussaoui untersuchten Fällen gaben solche Ehrverletzungen oftmals den Ausschlag, sich für den bewaffneten Kampf gegen die Staatsführung zu entscheiden. Mit anderen Worten: Die Stärkung des rechtsstaatlichen Umgangs mit den Bürgern ist eine wichtige Voraussetzung, um Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags langfristig zurückzudrängen. Eine der zentralen Forderungen, die während des Konflikts in der Kabylei in Algerien (2001-2004) von den Protestierenden gestellt wurde, war die Forderung nach mehr Respekt gegenüber dem Bürger und nach rechtsstaatlichem Verhalten. In dieser Hinsicht müssen in allen Staaten noch erhebliche Leistungen erbracht werden. Nur in Teilbereichen und ansatzweise wurden bislang Maßnahmen ergriffen, die zur Verbesserung der Beziehung und einem Abbau von Mißtrauen zwischen Staats/Staatsführung und Bürgern beitragen. Um identitäres Konfliktpotential24 zu entschärfen, damit es nicht zur Mobilisierung von bewaffneter Opposition instrumentalisiert werden kann, wäre ein identitäres Konzept nötig, das plural ausgerichtet ist und die vorhandenen ethnischen, linguistischen und religiösen Komponenten integriert. Während in Marokko diesbezügliche Anstrengungen unternommen werden,25 um identitäres Konfliktpotential abzubauen und rechtliche Gleichheit und gesellschaftliche Anerkennung zu etablieren, fehlt in Ägypten, Algerien, Jordanien und Syrien ein solcher Ansatz. 24 25 Dies schließt ethnisch-kulturell-linguistische Forderungen und Forderungen, die sich auf eine gleichberechtigte Anerkennung nichtmuslimischer religiöser Gruppen sowie auf die Regelung der Anerkennung unterschiedlicher islamischer Glaubensrichtungen beziehen, ein. In Tunesien stellt sich das Problem nicht in der sonst üblichen krassen Form, da es keine nennenswerten Minderheiten gibt und das Konzept der „Tunisianité“ seit der Unabhängigkeit positiv zur Entwicklung nationalstaatlicher Bezüge und eines Zugehörigkeitsgefühls wirkte; im Vergleich mit den Entwicklungen z.B. in Algerien tritt dieser positive Aspekt besonders hervor. Es ist ein Ansatz, der ausgebaut werden kann. 390 Staatlicher Umgang mit Opposition Auch im Libanon ist mit seinen konfessionellen Gemeinschaften keine entsprechende Tendenz erkennbar. Die staatliche Politik in diesen Ländern erzeugt eher ein gegenteiliges Ergebnis; die Religionspolitik ist hierfür ein prägnantes Beispiel: Sie soll einerseits durch eine verbesserte Kontrolle des religiösen Bereichs und die Einflußnahme auf die Inhalte (Unterbindung von Aufrufen zur Gewalt; Verherrlichung von Gewalt) Extremismus bekämpfen, andererseits schrecken die Staatsführungen davor zurück, religiös Konservative und Fundamentalisten zu brüskieren und ihren Einfluß auf die Gesellschaft tatsächlich zu beschneiden; in der Praxis bedeutet dies, daß den religiös Konservativen und den Islamisten (sofern sie formal von direkten Gewaltaufrufen gegen den Staat absehen) Freiräume zur Verbreitung ihrer Religionsinterpretation und Weltdeutung zugestanden werden, auch wenn diese sich gegen plurale Konzepte, innergesellschaftliche und religiöse Toleranz stellen.26 Langfristig wirkt diese Politik konfliktverschärfend, weil sie nicht geeignet ist, das gesellschaftliche Umfeld für (populistische) Agitation unempfänglich zu machen, so daß religiöse oder kulturell-identitäre Argumente27 zur Aufwiegelung gegen Andersgläubige (wie z.B. in Ägypten gegen Kopten), gegen Minderheiten jeder Art (u.a. auch Homosexuelle) oder gegen die Staatsführung und ihre Außenpolitik keine Resonanz finden. 3.3. Eine vorläufige Bilanz Die Länderanalysen machten eines deutlich: Im Prinzip ähneln sich in allen untersuchten Staaten die Ziele der Staatsführungen. Priorität haben: - die Machtkonsolidierung und die längerfristige Absicherung der Macht sowie die Förderung einer angepaßten, „loyalen“ Opposition und das Festhalten an einer Konsenskultur. In Bezug auf parteipolitische Opposition, die in den formal bestehenden Mehrparteiensystemen „unvermeidbar“ ist, streben die Staatsführungen 26 27 Vgl. hierzu ausführlich die Ergebnisse der Untersuchungen zur staatlichen Religionspolitik, in: Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9), S. 249-272. Wie z.B. in Jordanien, wenn gegen die Normalisierung der Beziehungen zu Israel das Argument angebracht wird, diese Politik gefährde die islamische und arabische Identität. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 391 an, durch Ausübung von mehr oder weniger direktem Druck28 oder durch institutionelle Maßnahmen29 die Parteien zu kontrollieren, damit keine Konkurrenz zur Staatsführung entsteht. Diese Maßnahmen werden auch gegen solche Organisationen umgesetzt, die – wie die Mehrzahl der (legalen oder nichtzugelassenen) Oppositionsgruppen – organisatorisch und programmatisch viel zu schwach sind, um bei Wahlen einen großen Stimmenanteil zu erringen. Alle Staatsführungen streben ungeachtet dessen an, parteipolitische Opposition auf eine rein formale, gegenüber der Staatsführung und der jeweiligen Regierung loyale Oppositionsrolle zu beschränken, die den Konsens mit der Staatsführung pflegt. Die fehlende öffentliche Debattenkultur und das Fehlen einer positiven Einstellung zu einer solchen Debattenkultur bei der Bevölkerungsmehrheit wirkt sich hier aus. Alle, die sich öffentlich (politisch) betätigen wollen, sind implizit aufgefordert, sich der Orientierung, den Positionen und Konzepten der Staatsführung anzupassen und sie konstruktiv zu unterstützen. Diese durchgängige Erwartungshaltung bei den nordafrikanischen und nahöstlichen Staatsführungen ist nicht nur ein Ergebnis rein machtpolitischer, autoritärer Tendenzen, sondern wird auch von den vorherrschenden gesellschaftlichen Traditionen beeinflußt: „Nichtübereinstimmung“, sich von der Mehrheit abspalten, aus der Gemeinschaft austreten ist sozial verpönt. Dies gilt sowohl für den gesellschaftlichen wie auch den religiösen Bereich. Fundamentalopposition, die eine grundsätzlich Veränderung des Staats- und Gesellschaftsmodells zum Ziel hat (wie islamistische Organisationen), hat nur in Tunesien grundsätzlich keinen Raum für politische und gesellschaftliche Betätigung – in allen anderen Staaten wird sie nur dann ausgeschlossen, wenn sie sich nicht der Konsenspflicht im Rahmen des bestehenden Systems beugt oder zur Gewalt gegen den Staat aufruft bzw. Gewalt ausübt. Ein ähnliches Verhalten ist gegenüber 28 29 Dazu zählen u.a. administrative Schikanen gegenüber Führungskadern; Maßnahmen, um öffentliche Versammlungen zu erschweren oder ein einfaches Verbot; Zensurmaßnahmen; Diffamierungskampagnen. Ein probates Mittel ist das Wahlrecht und die Wahlkreisaufteilung, das Parteiengesetz oder die Einrichtung von Räten, Kommissionen usw. als beratende Instanzen der Staatsführung, die das Parlament und die Parlamentarier in die Bedeutungslosigkeit abdrängen. Staatlicher Umgang mit Opposition 392 oppositionellen Vereinigungen ungeachtet ihres tatsächlichen gesellschaftlichen Einflusses zu beobachten. Im Vergleich zu der organisatorisch wie programmatisch sehr schwachen, unter sich zerstrittenen und gesellschaftlich einflußlosen säkular, liberal und „links“ orientierten Opposition in Nordafrika und Nahost ist die islamistische Opposition30 und jene Opposition, die sich auf ethnisch-linguistische, identitäre Forderungen stützt, gesellschaftlich einflußreicher. Das heißt nicht, daß sie das Potential zur gewaltsamen Machtergreifung31 hätte oder über Wahlen an die Macht kommen könnte; die institutionellen Arrangements der Staatsführungen wissen letzteres zu verhindern. Sie kann jedoch als „dominant“ bezeichnet werden, weil sie Potential hat, mit emotionsgeladenen Themen32 größere Bevölkerungsteile zu mobilisieren und die Staatsführung aus diesem Grund zum Handeln zwingt. In Staaten, in denen größere Bevölkerungsgruppen mit der sozialen (Ägypten), politischen (Libanon) oder rechtlichen Situation (Syrien/Kurden) unzufrieden sind, sind die Organisationsstrukturen dieser Oppositionsgruppen ausgeprägter; trotz staatlicher Kontrolle und Repression können sie durch den gesellschaftlichen Rückhalt ihren Fortbestand sichern. Die latente Gefahr, daß gewaltbereite Fraktionen dieser Opposition mittels Gewalt ihre Forderungen durchsetzen wollen, ist vorhanden. Eine vorläufige Bilanz der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung gewaltsamer Opposition und zur Reduzierung von Konfliktpotential fällt zugunsten der Staatsführungen in Tunesien und Marokko positiv aus, weil sie - - 30 31 32 ihre sozialen Leistungen und entwicklungspolitischen Maßnahmen für Randgruppen stärkten, mit hohem Einsatz sozioökonomische Entwicklungsprogramme verfolgen, die zur Anhebung des Lebensniveaus (Wohlstandes) in der Gesamtgesellschaft beitragen sollen, und versuchen, der Bevölkerung eine nationale Zukunftsperspektive zu bieten, die sehr stark auf das staatliche Zugehörigkeitsgefühl bzw. natio- Eine Ausnahme ist Tunesien. Eine Ausnahme ist der Libanon und die schiitische Hizbullah, deren militärische Mittel sie in eine dominante Position im Land brachten. Aus den Bereichen Außenpolitik (Ägypten, Jordanien, Syrien), Religion und Identität. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 393 nale Identität setzt. Die Gemeinsamkeit der Interessen von Staat/Staatsführung und Bevölkerung und die Notwendigkeit, gemeinsame Anstrengungen zur Umsetzung von Entwicklung und Wohlfahrt zu unternehmen, wird herausgestellt. Trotz der anhaltenden Wirkung paternalistischer Traditionen und klientelistischer Strukturen konnte in Tunesien ein solches Empfinden der „Tunisianité“ Verbreitung finden; es begünstigt die Konsens- und Kooperationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und die Neigung zu „moderaten“, gewaltfreien Lösungen. Im Falle Marokkos, das kulturell und linguistisch pluraler zusammengesetzt ist (Berberophone; größere jüdische marokkanische Gemeinde), stellt König Mohammed seit 2003 die Weichen, um eine nationale Identität zur Referenz zu machen, die ethnische, linguistische und religiöse Differenz überwinden soll. Diese Maßnahmen leisteten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag, um Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags zu diskreditieren. Wie effektiv insbesondere die sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen in mittelund langfristiger Perspektive sein werden, hängt von der ökonomischen Entwicklung ab. Je spürbarer für den Einzelnen (vor allem der jungen Generation) positive Veränderungen der Lebenssituation und sozialen Perspektiven sind, desto bessere Chancen bestehen, daß gewaltbereite Organisationen nur begrenzten Zulauf erhalten werden und nur mit begrenzter Unterstützung in der Gesellschaft rechnen können. Unter den sieben untersuchten Fallbeispielen sind Tunesien und Marokko auch Ausnahmen, was die staatlichen Maßnahmen und damit die Chancen für eine langfristig relativ gewaltfreie Beziehung zwischen Staatsführung und Bevölkerungsmehrheit anbelangt. Nicht nur die sozioökonomischen Maßnahmen zur Reduzierung von „Unzufriedenheit“ in der Bevölkerung sind in diesen Staaten am weitesten vorangeschritten, sondern gleichfalls die religionspolitischen Eingriffe zur Förderung eines liberaleren, „moderaten“, Gewalt ablehnenden Religionsverständnisses. Im Gegensatz zu diesen beiden Staaten hat Algerien erst zaghaft und inkonsistent begonnen, Einfluß auf die verbreiteten religiösen Inhalte zu nehmen; in Ägypten, Jordanien und Syrien oder bei den religiösen Gemeinschaften des Libanon finden keine weitreichenden inhaltlichen Ein- 394 Staatlicher Umgang mit Opposition griffe statt.33 Unabhängig von diesen positiven staatlichen Maßnahmen in Tunesien und Marokko zum Abbau von gesellschaftlicher Unzufriedenheit, zur Minderung des Einflusses gewaltbereiter islamistischer Gruppen und deren Instrumentalisierung des Islam zur Rechtfertigung von Gewalt ist das Verhältnis der Staatsführungen zu Opposition in allen untersuchten Staaten ähnlich. Alle Staatsführungen reagieren auf Opposition, wenn sie sich aktiv „gegnerisch“ und illoyal verhält, mit Repression. 3.4. Die Euromediterrane Partnerschaft – Ein Referenzrahmen mit Einfluß für den staatlichen Umgang mit Opposition? Die Ergebnisse von zwei Studien34 aus dem Jahr 2005 zum Einfluß der Euromediterranen Partnerschaft auf den demokratischen politischen Wandel in Nordafrika und Nahost sind auch noch 2008 gültig. Die Ablehnung externer Einmischung in Fragen, die die staatliche Ordnung, den zeitlichen Rahmen zur Umsetzung von Reformen und die Prioritätensetzung für Reformschritte betreffen, ist ausgeprägt. Dies gilt nicht nur für die Staatsführungen und ihre Unterstützer, sondern auch für die meisten Oppositionsgruppen. Sowohl die Euromediterrane Partnerschaft als auch die 2004 in einem Strategiepapier vorgestellte Europäische Nachbarschaftspolitik, die sich auch an die nordafrikanischen und nahöstlichen Partner der Europäischen Union richtet, nennt als politisches Ziel die Demokratieförderung. Formal stimmten die Partnerstaaten in Nordafrika und Nahost diesem Ziel zwar zu, sie bestehen aber darauf, den Rhythmus und die Reichweite von Maßnahmen – insbesondere solchen partizipatorischer Art – selbst zu bestimmen. Gerade hinsichtlich des Umgangs mit islamistischer Opposition und mit Oppositionsgruppen, die selbst nicht islamistisch orientiert sind, aber Allianzen mit Islamisten eingehen oder sich für 33 34 Hier sei für Details nochmals auf die Studie zur staatlichen Religionspolitik verwiesen; Faath 2007, a.a.O. (Anm. 9). Vgl. Jacobs, Andreas/Mattes, Hanspeter (Hrsg.): Un-politische Partnerschaft. Eine Bilanz politischer Reformen in Nordafrika/Nahost nach zehn Jahren Barcelonaprozess, Sankt Augustin 2005, 146 S.; vgl. ferner Faath, Sigrid (Hrsg.): Demokratisierung durch externen Druck? Perspektiven politischen Wandels in Nordafrika/Nahost, Hamburg 2005, 468 S. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 395 deren politische Partizipation aussprechen, bestehen die Staatsführungen auf ihrer eigenen Zuständigkeit. Diese Haltung wird auch gegenüber der US-Regierung und US-Einrichtungen eingenommen. Zu bedenken gilt in diesem Zusammenhang, daß in allen nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten die nationale Souveränität (und das Gefühl oder der Anschein, national souverän zu handeln) einen sehr hohen Stellenwert hat und jedwede Einmischung von außen breite Solidarität zugunsten der Staatsführung erzeugt. Bei bewaffneten Gruppen steigt bei externer Einflußnahme die Bereitschaft, mittels Gewalt, die sich gegen Ausländer oder ausländische Einrichtungen richtet, ihre Ablehnung auszudrücken. Jede Form von Konditionalität, mit der ein externer Akteur politisches Verhalten in den nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten in die von ihm gewünschte Reformrichtung lenken will, ist kontraproduktiv, weil sie pauschale Ablehnung hervorruft. Wenn die Staatsführungen in Nordafrika und Nahost bisher auf Forderungen zur politischen Öffnung vermeintlich eingingen, dann waren die eingeleiteten Schritte stets formaler Art. Die Macht- und Systemstrukturen wurden dadurch nicht angetastet. Handlungsbestimmend für alle Staatsführungen ist – bezogen auf politische Liberalisierungsschritte oder die Modifikation des Umgangs mit Opposition – die eigene Einschätzung der Gefahr, die aus einem solchen Schritt für die innere Sicherheit und Ordnung resultieren kann. Daß sich diese Einschätzung nicht mit der Einschätzung europäischer Politiker oder Wissenschaftler decken muß, liegt auf der Hand. Europäische „Ratgeber“ für den Umgang mit Opposition und Liberalisierungsmaßnahmen ignorieren oftmals die strukturellen Gegebenheiten, die eine schnelle Einführung westlich liberaler politischer Organisationsstrukturen erschweren oder verhindern oder deren Einführung schnell kontraproduktive Entwicklungen erzeugt (wie in Algerien nach 1989). Die in Abschnitt 3.1. aufgelisteten Faktoren tragen dazu bei, daß sich ein System des „beschränkten Pluralismus“ etabliert,35 in dem von den 35 Vgl. die Ausführungen zu den postkommunistischen Staaten und ihren Transformationsproblemen; Margarete Wiest gebrauchte den Begriff „beschränkter Pluralismus“, der an die Situation in nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten erinnert. Vgl. 396 Staatlicher Umgang mit Opposition Bürgern verlangt wird, daß sie einen „von oben“ definierten Grundkonsens akzeptieren und loyal die von der Staatsführung daraus abgeleiteten politischen Orientierungen Entscheidungen mittragen. Überspitzt ausgedrückt müssen westliche außenpolitische Akteure in Nordafrika/Nahost sich von pauschalen Forderungen nach Demokratisierung, politischer Öffnung und „Inklusion aller politischen Kräfte“ (womit in der Regel die Einbeziehung von Islamisten in den politischen Prozeß gemeint ist) lösen. Europäische Politik sollte sich von ihren Wunschvorstellungen frei machen, die aus europäischen Erfahrungswerten gewonnen wurden und weder den realen politischen noch gesellschaftlichen Gegebenheiten in Nordafrika/Nahost gerecht werden können. Es macht wenig Sinn, fortgesetzt Forderungen zu stellen und in Kooperationsverträge einzubauen, die nicht den Bedingungen und Möglichkeiten eines Landes und seiner Gesellschaft angepaßt sind. Ein weiterer Aspekt darf, wenn die Frage der externen Förderung und Einflußnahme gestellt wird, nicht vernachlässigt werden: Das Ansehen, das der externe Akteur in Nordafrika und Nahost bei den politisch und gesellschaftlich einflußreichen Vertretern und Organisationen hat. Es ist nicht zu leugnen, daß das Ansehen „westlicher“ Staaten und Werte seit dem 11. September 2001 und dem Irakkrieg 2003 und wegen ihrer Solidarität mit Israel in den nahöstlichen Staaten derzeit negativer denn je ist. Das bedeutet insbesondere für diejenigen nahöstlichen Staatsführungen, die wie Ägypten und Jordanien sehr enge Beziehungen zu den USA unterhalten und darüber hinaus Friedensabkommen mit Israel unterzeichneten, daß die Staatsräson eine noch stärkere Anpassung an westliche Forderungen verbietet. Im anderen Fall würden der Fundamentalopposition zusätzliche Argumente zur Gegenmobilisierung geliefert. Es waren immerhin solche externen Faktoren, die seit 2003 massiv zur Ausweitung gewaltbereiter Gruppen im Nahen Osten beitrugen.Wenn Azarva, Pletka und Rubin in „Dissent and reform in the Arab world. Empowering democrats“ im letzten Satz ihrer Einleitung schreiben Wiest, Margarete: Beschränkter Pluralismus. Postkommunistische autoritäre Systeme, Text unter: www.eurozine.com, 8.9.2006, 13 S. Kapitel III : Auswertung und Ausblick 397 „Though it may be true that liberal reformers do not, at present, command a significant following on the Arab street, it is they, and not the Islamists, who are the true engines of democratic reform in the Middle East“,36 dann ist ihnen zuzustimmen. Auch die Ergebnisse der Länderstudien in diesem Band weisen auf die Schwäche liberaler Reformer hin. Solange aber die liberal und demokratisch orientierten Oppositionsgruppen zersplittert, ohne überzeugende Programmatik und ohne gesellschaftlichen Einfluß sind, muß mit den Gegebenheiten pragmatisch umgegangen werden, um zumindest Maßnahmen zu unterstützen, die - wirtschaftliche und soziale Entwicklung fördern, zur Diskreditierung von Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags beitragen und zur Etablierung von rechtsstaatlichen Verhältnissen in den Beziehungen Staat/Administration und Bürger beitragen. Maßnahmen in diesen drei Bereichen können langfristig die Grundlagen für weitergehenden, liberalisierenden politischen und gesellschaftlichen Wandel schaffen. Perspektiven In den letzten Jahren haben alle Staatsführungen in den untersuchten Ländern durch institutionelle Modifikationen ihre Position gestärkt und die Kontrollfunktion des Staates ausgebaut. Die Vorkehrungen, um die Kontrolle sowohl über die legale wie illegale Opposition als auch die in Gang befindlichen Reformen nicht zu verlieren, greifen. Politische Öffnungsmaßnahmen werden sich auch in den nächsten Jahren auf Teilbereiche beschränken, die überschaubar, d.h. kontrollierbar sind, und nur schrittweise vorangetrieben werden. Die Grundstrukturen des jeweiligen politischen Systems und die Machtverteilung werden sie nicht angreifen. Eine Ausnahme von der Regel könnte der Libanon sein, wo sich mit den sich abzeichnenden Machtverschiebungen eine Auflösung des 1989 eta- 36 Azarva, Jeffrey/Pletka, Danielle/Rubin Micahel (Hrsg.): Dissent and reform in the Arab world: Empowering democrats, Washington D.C. 2008 (American Enterprise Institute), 124 S., Text unter: www.aei.org/books. 398 Staatlicher Umgang mit Opposition blierten Systems der gleichberechtigten Machtbeteiligung zwischen den konfessionellen Gemeinschaften ergeben könnte. Es ist nicht auszuschließen, daß in Tunesien und Marokko, wenn es zu einer Konsolidierung der wirtschaftlichen Entwicklung käme, weitere wirtschaftliche und politische Öffnungsschritte folgen. Die Maghrebstaaten befinden sich in einer deutlich besseren Ausgangssituation, um sich auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprobleme zu konzentrieren und jene Reformen voranzutreiben, die dazu beitragen können, die nationale Identität zu stärken – jenseits von ethnischen, linguistischen und religiösen Differenzen. In Tunesien ist die Grundlage hierfür bereits nach der Unabhängigkeit gelegt worden, in Marokko wird sie „vorbereitet“. Mittelfristig kann diese Entwicklung auch nach Algerien übergreifen. Es ist davon auszugehen, daß wirtschaftliche Notwendigkeiten37 die Staatsführungen in den Maghrebstaaten in den nächsten Jahren zwingen werden, weiteren liberalisierenden Wandel zuzulassen, um die sozioökonomische Leistungsfähigkeit zu sichern und Konfliktpotential zu mindern. Im Nahen Osten ist bei einer anhaltenden Konfliktsituation im Irak und in den Palästinensischen Gebieten weder mit neuen Reformimpulsen noch mit einer Reduzierung des Gewaltpotentials zu rechnen. Eine Diskreditierung von Gewalt hat bei den regionalen Konfliktkonstellationen, solange diese Konflikte virulent sind, keine Chance auf Erfolg. Maghreb und Mashrek werden sich auseinanderentwickeln und weniger Gemeinsamkeiten haben als in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit. 37 Wenn z.B. die „Rückkehrwilligen“ studierten Kader mit beruflicher (internationaler) Auslandserfahrung tatsächlich für Investitionen, Managementfunktionen usw. zurückgewonnen werden sollen, dann sind solche Maßnahmen nötig; Umfragen unter rückkehrwilligen Tunesiern von 2008 belegen dies. Vgl. Jeune Afrique, Paris, 11.17.5.2008, S. 51 (Comment faire revenir les cerveaux). Auswahlbibliographie Allgemeine Literatur Dahl, Robert A. 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Sigrid Faath, Privatdozentin Dr. habil.; Studium der Politischen Wissenschaft; Ethnologie und Soziologie; zur Zeit wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsprojekts „Menastabilisierung“ am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg (www.giga-hamburg.de/projects/menastabilisierung). Arbeitsschwerpunkte: Nordafrika; Innen- und Außenpolitik; politische und gesellschaftliche Transformation; Religionspolitik; Konfliktpotentiale in Nordafrika/Nahost; hierzu zahlreiche Veröffentlichungen. Thomas Hildebrandt, Dr. phil., Studium der Islamwissenschaft, Arabistik, Ethnologie und Soziologie in Hamburg, Leipzig, Bamberg, Damaskus und Beirut; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamkunde und Arabistik an der Universität Bamberg. Hauptarbeitsgebiete sind das moderne arabischislamische Geistesleben sowie aktuelle politische Entwicklungen im Nahen Osten mit Schwerpunkt Libanon; zu ersterem erschien 2007 „NeoMu’tazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam“ (zugleich Dissertation); zu letzterem Abfassung einer Reihe von Artikeln, darunter „Die Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri im Februar 2005: Die Folgen für die libanesische Innenpolitik und die syrisch-libanesischen Beziehungen“ (DOI-Focus 22, Hamburg 2005). Florian Kohstall, Dipl. Pol., Studium der Politikwissenschaft in München, Granada, Berlin und Aix-en-Provence; derzeit Promotion zum Thema Hochschulreformen in Ägypten und Marokko in Aix-en-Provence; von 2004 bis 2007 Forschungsassistent am Centre d’Études et de la Documentation Économiques, Juridiques et Sociales (CEDEJ) in Kairo mit Zuständigkeit für Kapitel VII : Autorenverzeichnis 413 die Redaktion des politischen Jahrbuchs „L’Egypte dans l’année“; seit 2007 Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft am Institut d’Études Politiques in Aix-en-Provence und Mitarbeit am Forschungszentrum IREMAM; Leitung zusammen mit Frédéric Vairel der Forschungsgruppe „Wahlen in arabischen Ländern“. Hanspeter Mattes, Dr. phil. (Politische Wissenschaft), Diplom-Volkswirt; stellvertretender Direktor des GIGA Institut für Nahost-Studien, Hamburg; 19832006 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg. Herausgeber des Nahost-Jahrbuches (1987-2004); verantwortlich für den GIGA Focus Nahost; zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur Innen- und Außenpolitik der nordafrikanischen Staaten; Arbeitsschwerpunkte: Politische Transformation, Soft-security-Probleme, Energiepolitik Algeriens und Libyens. Raëd Moussa, Dr. (Zeitgenössische Geschichte des Mittelmeerraumes, Universität Aix-Marseille I); Studium der Geschichte und Politischen Wissenschaft an der Birzeit Universität in Palästina und in Frankreich an der Universität AixMarseille I; 2007/2008 Förderung im Rahmen des Fernand Braudel Fellowship Programmes; Lehre an verschiedenen französischen Universitäten und u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Francais des Relations Internationales (IFRI) in Paris; zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut d’Etudes de l’Islam et des Sociétés du Monde Musulman (IISMM) der Ecoles des Hautes Etudes des Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Das GIGA ist ein mit öffentlichen Mitteln finanziertes Forschungsinstitut in Form einer Stiftung bürgerlichen Rechts mit dem Anspruch, zugleich ein unabhängiger Think Tank für Politik und Wirtschaft zu sein. Zu den zentralen Aufgaben des Instituts zählen • die Analyse von politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen und Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Nah­ost, • die Durchführung qualitativ hochwertiger Forschung in den Bereichen Area Studies und Comparative Area Studies sowie die Förderung und Weiterentwicklung der Regionalstudien in Deutschland, außerdem • im Rahmen des Wissenstransfers die kompetente Beratung und Information von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über Ereignisse und Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Nahost. Das GIGA ist Mitglied in der Präsident: Prof. Dr. Robert Kappel Vorsitzender des Kuratoriums: Staatsrat Gunther Bonz Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats: Prof. Dr. Jürgen Rüland GIGA German Institute of Global and Area Studies Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien Neuer Jungfernstieg 21 • 20354 Hamburg • Germany Tel.: ++49 (0)40 - 428 25-593 • Fax: ++49 (0)40 - 428 25-547 E-Mail: [email protected] • http://www.giga-hamburg.de