Inhalt - Sylvia Wetzel

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Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe von Sylvia Wetzel.........
Hinweise zur deutschen Übersetzung..................................
Danksagungen..........................................................................
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer.....................
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Einleitung des Herausgebers..................................................
1 Dein Geist ist deine Religion............................................
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2 Buddhismus und geistige Gesundheit................................
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3 Alles entsteht aus dem Geist............................................
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4 Dein Geist ist so weit wie das Meer................................
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Vortrag: Erkenne dich selbst – Zufriedenheit kommt aus deinem
Geist – Entspanne dich, wenn Probleme auftauchen – Untersuche
deinen Geist – Dein Geist ist wie ein Spiegel – Widersprecht mir
– Fragen: Erfahrungen interpretieren – Entscheidungen – Gurus
und Lamas – Meditation – Karma – Sinn der Lebens – Die wahre
Natur des Geistes – Ost und West
Fragen: Was ist Geisteskrankheit? – Heilen – Analytische Meditation – Gesellschaftliche Ursachen – Das Meer der Unzufriedenheit
und die Wellen der Probleme – Wie lange dauert Heilung? – Eltern und Kinder – Die Rolle von Sexualität und Körper – Sinn
des Lebens – Reinkarnation – Nirvana – Ärger
Vortrag: Buddhismus und die Natur des Geistes – Ein Objekt und
viele Standpunkte – An Namen festhalten – Falsche Identität
– Wir müssen an nichts glauben – Die Dinge neu betrachten
Vortrag: Falsche Vorstellung schaden mehr als Drogen – Geistige
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Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Unzufriedenheit – Die Natur des Geistes entdecken – Spiritualität
ist nicht im Außen – Ein enger Geist lehnt ab. Weisheit nimmt an
– Gut und Schlecht sind im Geist – Fragen: Körper und Geist – Erwachen und Liebe – Nirvana – Geistige Entwicklung und innere
Reinigung – Die Rolle des Lehrers – Krankheiten – Der zerrissene
Geist
Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges............
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Einleitung des Herausgebers..................................................
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5 Entsagung und Bodhicitta................................................
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6 Weisheit...............................................................................
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7 Einführung in Tantra.........................................................
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Vortrag: Entsagung: Entsagen heißt weniger festhalten – Wir können unser Leben verändern – Übertriebene Erwartungen – Bodhicitta: Nicht nur ich habe Probleme – Gleichheit im Buddhismus
und im Kommunismus – Etwas für andere tun tut gut – Im
eisernen Netz der Ichsucht – Das eigene Leben ordnen – Die
Grundlage aller Religionen – Kulturelle Projektionen – Bitte kein
Fanatismus – Eine Heilmeditation
Vortrag: Nur Leerheit löst Anhaften auf – Weiße und schwarze
Liebe – Emotionen und der mittlere Weg – Erfahrungen als vergänglich erkennen schenkt Freiheit – Meditation über das Ichgefühl
– Feste Ich-Vorstellungen und Anhaften – Leerheit bedeutet
nicht anhaften – Anhaften heißt den Wert einer Sache übertreiben – Wer bin ich, und wie sehe ich mich? – Dualität bedeutet in
Widersprüchen leben – Meditation stoppt irritierende Vorstellungen – Fragen: Buddhismus und inneres Wachstum – Anhaften
– Buddha ist in uns – Relative und absolute Mantra-Rezitation
– Emotionale Verwicklungen – Wir können alle Probleme lösen
Vortrag: Die relative und absolute Natur des Geistes – Wir brauchen nicht nur vergängliche Freude – Bewusstes und unbewusstes Karma – Entsagung von Leiden – Neurotisches Festhalten
auflösen – Konkrete Vorstellungen – Entsagen heißt entspannt
bleiben – Meditation ist individuell – Der Supermarkt des Dharma – Überempfindlichkeit – Enttäuschung und falsche Vorstellungen – Ein offener Geist macht glücklich – Ein ausgeglichener
grenzenlos.indb 6
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Inhalt Geist – Fanatismus und Hass – Druck hilft nicht – Plastik-Intellektuelle – Annehmen, was geschieht – Lass los – Meditation über
alle drei Aspekte
8 Hinayana, Mahayana, Vajrayana....................................
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Glossar.......................................................................................
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Vortrag: Ich will glücklich sein – Mahayanis jammern nicht
– Schluss mit dem Selbstmitleid – Andern helfen und selbstgenügsam sein – Keine Irritation und Platz für alle – Ein weite
Sicht – Sutra und Tantra – Tantra und der ganz feine Geist – Der
Körper ist kostbar – Ich bin universelles Mitgefühl – Der geistige
Körper – Die Natur des Geistes ist Klarheit – Identifiziere dich
nicht mit Verblendung – Mach dich nicht runter – Die Klarheit
des Geistes –Wo sind meine Gedanken? Wer bin ich?
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4 Dein Geist ist so weit wie das Meer
S
chaut in euren Geist. Wenn ihr felsenfest daran glaubt, dass
all eure Freude von materiellen Dingen kommt, und ihr euer
ganzes Leben der Jagd nach ihnen widmet, dann seid ihr Opfer einer ernsten Fehleinschätzung. Ich spreche hier nicht von
einer rein intellektuellen Einstellung. Wenn ihr das zum ersten
Mal hört, denkt ihr vielleicht: „Mein Geist ist nicht so. Ich glaube
nicht tief und fest daran, dass äußere Dinge mir Glück bringen.“
Überprüft das im Spiegel eures Geistes, dann werdet ihr feststellen, dass es diese Haltung jenseits des Intellekts gibt. Und all
euere alltäglichen Handlungen zeigen, dass ihr ganz tief an diese
falschen Vorstellung glaubt. Nehmt euch einen Augenblick Zeit
und überprüft, ob ihr nicht doch unter dem Einfluss eines solch
minderwertigen Geistes steht.
Ein Geist, der fest an die materielle Welt glaubt, ist eng und
begrenzt. Er hat keinen Raum. Er ist krank, er ist nicht gesund, in
buddhistischen Begriffen ist er dualistisch.
In vielen Ländern haben die Menschen Angst vor Leuten, die
aus der Reihe tanzen, zum Beispiel vor Drogenkonsumenten.
Sie erlassen Gesetze gegen den Drogenkonsum und führen sehr
gründliche Zollkontrollen durch, um die Leute abzufangen, die
Drogen ins Land schmuggeln wollen. Schaut euch das einmal
genauer an. Wenn jemand Drogen nimmt, dann kommt das
nicht von den Drogen, sondern vom Geist der Person. Man sollte
mehr Angst vor der psychologischen Haltung haben – vor dem
verunreinigten Geist –, die Menschen dazu bringt, Drogen zu
nehmen oder sich selbstzerstörerisch zu verhalten. Stattdessen
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machen wir ein großen Wirbel wegen der Drogen und ignorieren die Rolle des Geistes dabei. Auch das ist eine ernste Fehleinschätzung. Und diese ist viel schlimmer als die Drogen, die ein
paar Leute nehmen.
Falsche Auffassungen sind wesentlich gefährlicher, als nur ein
paar Drogen. Drogen finden keine allzu weite Verbreitung, aber
falsche Ansichten können sich überallhin ausbreiten; sie können
Schwierigkeiten und Unruhe im ganzen Land bewirken. All das
kommt vom Geist. Das Problem ist, dass wir die psychologische
Natur unseres Geistes nicht verstehen. Wir interessieren uns nur
für die materiellen Substanzen, die Menschen zu sich nehmen;
die dummen Ideen und verunreinigten Fehleinschätzungen, die
dauernd die Grenzen passieren, nehmen wir dagegen gar nicht
wahr.
Alle geistigen Probleme kommen vom Geist. Wir müssen den
Geist behandeln, statt den Menschen zu erzählen: „Oh, du bist
unglücklich, weil du dich schwach fühlst. Du brauchst unbedingt
ein neues Auto mit einem starken Motor …“, oder irgendeine
Art materiellen Besitz. Jemandem zum Einkaufen zu schicken,
um ihn glücklich zu machen, ist keineswegs ein weiser Rat. Das
Grundproblem der Menschen ist ihre geistige Unzufriedenheit,
nicht Mangel an Besitz. Im Umgang mit geistigen Problemen
und bei der Behandlung von Patienten unterscheiden sich die
Psychologie Buddhas und die Praxis im Westen sehr.
Kommt der Patient zurück und sagt: „Nun, ich habe mir –
wie von dir empfohlen – den neuen Wagen gekauft, aber ich bin
noch immer unglücklich“, so sagt der Arzt vielleicht: „Du hättest
dir einen teureren kaufen sollen“, oder „Du hättest eine andere
Farbe aussuchen sollen.“ Aber auch wenn er diesen Ratschlag
umsetzt, kommt er wieder – immer noch unglücklich. Es ist egal,
wie viele oberflächliche Veränderungen im Umfeld eines Menschen angeregt werden, seine Probleme hören dadurch nicht auf.
Anstatt andauernd einen aufwühlenden Lebensumstand durch
einen anderen zu ersetzen – und dabei einfach ohne Ende ein
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 65
Problem mit dem nächsten und dann mit dem übernächsten
auszutauschen –, empfiehlt die buddhistische Psychologie, das
Auto für eine Weile ganz aufzugeben und zu beobachten, was
dann geschieht. Ein Problem durch ein anderes zu ersetzen, löst
nichts; es bringt einfach nur Veränderung. Solch eine Veränderung reicht zwar oft aus, um Menschen zu täuschen – sie glauben
dann, es ginge ihnen besser, aber das ist keine wirkliche Besserung. Eigentlich machen sie immer wieder die gleiche Erfahrung.
Natürlich meine ich das alles nicht wörtlich. Ich versuche einfach
nur zu zeigen, wie Menschen geistige Probleme durch materielle
Mittel zu lösen versuchen.
Erkennt die Natur eures Geistes. Als Menschen streben wir
immerzu nach Zufriedenheit. Indem wir die Natur des Geistes
kennen, können wir innere Zufriedenheit erreichen; vielleicht
sogar für immer. Aber wir müssen dafür die Natur unseres eigenen Geistes erkennen. Wir sehen die sinnliche Welt so klar, aber
in Bezug auf unsere innere Welt sind wir völlig blind, obwohl es
doch am fortwährenden Einfluss falscher Ansichten liegt, dass
wir von Elend und Unzufriedenheit beherrscht werden. Genau
das müssen wir entdecken.
Deshalb solltet ihr euch unbedingt vergewissern, dass ihr
euch nicht sinnlos abmüht – unter dem Einfluss der falschen Ansicht, nur äußere Objekte könnten euch Zufriedenheit schenken
oder euer Leben lebenswert machen. Derartige Ansichten sind,
wie ich schon zuvor sagte, nicht bloß intellektueller Art; die lange Wurzel dieser Täuschung reicht bis tief in euren Geist hinein.
Viele eurer stärksten Begierden liegen tief unter eurem Intellekt
begraben; und das was unter dem Intellekt liegt, ist gewöhnlich
stärker als der Intellekt selbst.
Einige Leute denken jetzt vielleicht: „Im Grunde bin ich psychologisch gesund. Ich glaube nicht an das Materielle; ich befasse mich mit Religion.“ Nur ein bisschen religiöse Philosophie
oder ein paar Lehrsätze machen euch aber noch nicht zu einer
spirituellen Person. Viele Universitätsprofessoren können ein-
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leuchtende intellektuelle Erklärungen zum Buddhismus, Hinduismus und Christentum geben, doch das allein macht sie noch
nicht zu spirituellen Personen. Sie gleichen eher einem Fremdenführer für spirituell Neugierige. Wenn ihr eure Worte nicht in
Erfahrungen umsetzen könnt, hilft eure Gelehrtheit weder euch
selbst noch anderen. Es ist ein großer Unterschied, ob man eine
Religion intellektuell erklärt oder dieses Wissen in die spirituelle
Erfahrung umsetzt.
Ihr müsst das, was ihr gelernt habt, zu eurer eigenen Erfahrung machen und verstehen, wie sich die verschiedenen Handlungen auswirken. Eine Tasse Tee ist wahrscheinlich von größerem Nutzen als große Gelehrtheit in einem philosophischen
System, das euren Geist nicht unterstützen kann, weil euch der
Schlüssel dazu fehlt – der Tee löscht wenigstens euren Durst. Mit
dem Studium einer Philosophie, die keine Wirkung hat, vergeudet ihr bloß Zeit und Energie.
Ich hoffe, ihr versteht die eigentliche Bedeutung des Wortes
„spirituell“. Spirituell sein bedeutet, die wahre Natur des Geistes
erkennen zu wollen, sie zu erforschen. Sonst gibt es nichts Spirituelles. Mein Rosenkranz ist nicht spirituell; meine Robe ist nicht
spirituell. Das „Spirituelle“ betrifft den Geist, und spirituelle
Menschen sind diejenigen, die dessen Natur erkennen wollen.
Dadurch gelingt es ihnen, die Auswirkungen ihrer Handlungen
von Körpers, Rede und Geist zu verstehen. Wenn ihr die karmischen Resultate eures Denkens und Tuns nicht versteht, seid
ihr nicht spirituell. Nur ein bisschen über religiöse Philosophie
Bescheid zu wissen, macht euch noch nicht zu einer spirituellen
Person.
Wollt ich den spirituellen Pfad betreten, so müsst ihr beginnen zu verstehen, welche geistigen Einstellungen ihr habt und
wie euer Geist die Dinge wahrnimmt. Wenn ihr gänzlich durch
Anhaftung an winzige Atome gefangen seid, hindert euch euer
begrenzter, begieriger Geist daran, die Freuden des Lebens zu
genießen. Äußere Energie ist so unglaublich begrenzt, und euer
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 67
Geist selbst wird äußerst begrenzt, wenn ihr euch von ihr fesseln lasst. Wenn euer Geist eng ist, regen euch kleine Dinge sehr
leicht auf. Lasst euren Geist weit werden wie ein Ozean.
Wir hören religiöse Menschen viel über Moral reden. Was ist
Moral? Moral ist die Weisheit, die die Natur des Geistes versteht.
Der Geist, der seine eigene Natur versteht, wird automatisch
ethisch oder positiv; und die Handlungen, die von solch einem
Geist motiviert werden, sind ebenfalls positiv. Das nennen wir
Moral. Die grundlegende Natur eines engen Geistes ist Unwissenheit; deshalb ist der enge Geist negativ.
Wenn ihr die psychologische Natur eures eigenen Geistes
kennt, wird Depression in einem Nu beseitigt. Es gibt keine
Feinde und Fremde mehr, alle Lebewesen werden zu euren
Freunden. Der enge Geist lehnt ab, Weisheit akzeptiert. Überprüft euren eigenen Geist, um zu sehen, ob das stimmt oder
nicht. Auch wenn ihr alle Sinnesfreuden, die das Universum zu
bieten hat, genießen könntet, wäret ihr dennoch nicht zufrieden.
Das zeigt, dass Zufriedenheit von innen kommt und nicht von
außen.
Manchmal bewundern wir die moderne Welt: „Was für fantastische Fortschritte die wissenschaftliche Technologie gemacht
hat; wie wunderbar! All diese Dinge hatten wir früher nicht.“
Aber tretet einmal zurück und betrachtet das Ganze mit einem
anderen Blick. Viele der Dinge, die wir vor nicht allzu langer Zeit
noch für fantastisch hielten, wenden sich jetzt gegen uns. Dinge,
die wir entwickelten, weil wir sie für hilfreich für unser Leben
hielten, schaden uns jetzt. Betrachtet dabei nicht nur eure unmittelbare Umgebung, sondern prüft das möglichst umfassend – ihr
werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage. Wenn wir materielle Dinge produzieren, denken wir: „Oh, das ist nützlich.“ Aber
allmählich wendet sich diese äußere Energie nach innen und
zerstört sich selbst. Das ist die Natur der vier Elemente: Erde,
Wasser, Feuer und Luft. Die buddhistische Wissenschaft lehrt
das so.
grenzenlos.indb 67
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68 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Euer Körper bildet keine Ausnahme von dieser Regel. Solange die Elemente zusammenarbeiten, gedeiht euer Körper. Aber
nach einer Weile wenden sich die Elemente gegeneinander und
zerstören schließlich euer Leben. Warum passiert das? Aufgrund
der begrenzten Natur materieller Phänomene: Wenn ihre Kraft
aufgebraucht ist, fallen sie in sich zusammen wie die alten und
bröckelnden Gebäude, die wir um uns herum sehen. Wenn unser Körper krank und altersschwach wird, zeigt das, dass unsere
inneren Energien nicht im Gleichgewicht sind, sondern gegeneinander wirken. Das ist die Natur der materiellen Welt; mit Glauben hat das nichts zu tun. Solange wir in diesem menschlichen
Körper aus Fleisch, Blut und Knochen leben, gibt es schlechte
Bedingungen, egal ob wir daran glauben oder nicht. Das ist die
natürliche Evolution des weltlichen Körpers.
Der menschliche Geist ist indessen völlig anders. Er hat das
Potential, sich unendlich weiterzuentwickeln. Wenn ihr – und
sei es auch nur im Kleinen – entdecken könnt, dass wahre Zufriedenheit von eurem Geist kommt, erkennt ihr, dass sich diese
Erfahrung grenzenlos ausdehnen lässt. So wird es möglich, immerwährende Zufriedenheit zu entdecken.
Es ist eigentlich sehr einfach. Ihr könnt das in diesem Moment
selbst überprüfen. Wo erlebt ihr das Gefühl von Zufriedenheit?
In eurer Nase? In euren Augen? Eurem Kopf? Eurer Lunge? Eurem Herzen? Eurem Magen? Wo ist dieses Gefühl der Zufriedenheit? In euren Beinen? Eurer Hand? Eurem Gehirn? Nein!
Es ist in eurem Geist. Würdet ihr sagen, es sei in eurem Gehirn,
könntet ihr schließlich auch sagen, es sei in eurer Nase oder in
euren Beinen! Wenn eure Beine schmerzen, fühlt ihr es da unten und nicht in eurem Kopf. Aber welchen Schmerz, welches
Vergnügen oder welches andere Gefühl ihr auch immer erfahrt
– alles ist ein Ausdruck des Geistes.
Wenn ihr sagt: „Ich hatte heute einen guten Tag“, zeigt das,
dass in eurem Geist die Erinnerung an einen schlechten Tag vorhanden ist. Ohne den Geist, der Bezeichnungen erfindet, gibt es
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 69
weder eine gute noch eine schlechte Erfahrung. Wenn ihr sagt,
das heutige Abendessen sei gut gewesen, bedeutet das, dass ihr
die Erfahrung eines schlechten Abendessens in eurem Geist habt.
Ohne die Erfahrung eines schlechten Abendessens könnt ihr das
heutige nicht „gut“ nennen.
Auch Aussagen wie „Ich bin ein guter Ehemann; ich bin eine
schlechte Ehefrau“ sind bloße Geistesschöpfungen. Jemand, der
sagt: „Ich bin schlecht“, ist nicht notgedrungen schlecht. Jemand, der
sagt: „Ich bin gut“, ist nicht notwendigerweise gut. Wenn der Mann
sagt: „Ich bin ein solch guter Ehemann“, so tut er das vielleicht, weil
sein Geist voller Stolz ist, und das ist eine negative Haltung. Sein
enger Geist – vollkommen eingenommen von der verblendeten Ansicht, er sei gut – wird in Wahrheit zur Ursache vieler Probleme für
seine Frau. Wie kann er dann ein guter Ehemann sein? Selbst wenn
er für Essen und Kleidung sorgt, wie kann er ein guter Ehemann
sein, wenn sie Tag für Tag mit seiner Arroganz leben muss?
Wenn ihr die psychologischen Aspekte menschlicher Probleme versteht, könnt ihr wirklich wahre liebevolle Güte für andere entwickeln. Nur von Liebevolle Güte zu reden hilft euch
nicht, sie auch zu entwickeln. Einige Menschen haben vielleicht
Hunderte Male Schriften über Liebevolle Güte gelesen, aber ihr
Geist ist noch das direkte Gegenteil. Es geht hier nicht nur um
Philosophie, nicht nur um Worte. Ihr müsst wissen, wie der Geist
funktioniert; erst dann entwickelt ihr Liebevolle Güte. Erst dann
könnt ihr spirituelle Menschen werden. Andernfalls bleibt alles
auf der intellektuellen Ebene, auch wenn ihr davon überzeugt
seid, ein spiritueller Mensch zu sein. Ihr gleicht dem arroganten
Mann, der von sich glaubt, er sei ein guter Ehemann. Es bleibt
eine Fiktion, eine bloße Schöpfung eures Geistes.
Es lohnt sich wirklich, euer wertvolles menschliches Leben
dafür zu verwenden, den verrückten Elefantengeist zu kontrollieren und eurer kraftvollen geistigen Energie eine gute Ausrichtung zu geben. Wenn ihr eure geistige Energie nicht zähmt, wütet die Verwirrung auch in Zukunft durch euren Geist, und ihr
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70 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
verschwendet euer ganzes Leben. Geht mit eurem eigenen Geist
so weise um wie möglich. Dann wird euer Leben sinnvoll.
Ich habe euch nicht mehr zu sagen, doch wenn ihr Fragen
stellen wollt, so tut das bitte.
Fragen
Frage: „Sie sagen, es bringe Glück, die Natur des eigenen Geist
zu erkennen – das verstehe ich. Aber Sie haben in diesem Zusammenhang den Ausdruck ,immerwährend‘ verwendet, der
beinhaltet, dass man über den Tod des physischen Körpers hinausgehen kann, wenn man den eigenen Geist vollständig erkennt. Ist das korrekt?“
Lama: „Ja, das ist richtig, aber das ist noch nicht alles. Wenn man
weiß, wie es geht, kann man negative körperliche Energie in
Weisheit umwandeln. Dann ,verdaut‘ sich die negative Energie
selbst, ohne euer Nervensystem zu blockieren. Das ist möglich.“
Frage: „Ist der Geist Körper oder ist der Körper Geist?“
Lama: „Was meinst du damit?“
Frage: „Ich nehme den Körper schließlich wahr.“
Lama: „Weil du ihn wahrnimmst? Nimmst du diesen Rosenkranz
wahr (hält ihn hoch)?“
Frage: „Ja.“
Lama: „Macht ihn das zum Geist? Weil du ihn wahrnimmst?“
Frage: „Das ist meine Frage.“
Lama: „Nun, das ist eine gute Frage. Körper und Geist sind eng
verbunden. Wenn etwas euren Körper beeinflusst, dann beeinflusst es auch euren Geist. Aber das bedeutet nicht, dass die relative Natur eures physischen Körpers, sein Fleisch und seine
Knochen, Geist ist. Das kann man nicht sagen.“
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 71
Frage: „Was sind die Ziele des Buddhismus? Erleuchtung, Brüderlichkeit, universelle Liebe, außergewöhnliche Bewusstseinszustände, Erkenntnis der Wahrheit, Verwirklichung von Nirvana?“
Lama: „All das: außergewöhnliche Bewusstseinszustände, der vollständig erwachte Geisteszustand, universelle Liebe und die Abwesenheit von Voreingenommenheit oder Parteilichkeit. Das alles
beruht auf der Erkenntnis, dass alle Lebewesen im ganzen Universum darin gleich darin sind, dass sie glücklich sein und Leid
vermeiden wollen. Im Moment macht unser dualistischer Geist,
der voller falscher Vorstellungen steckt, folgende Unterscheidung:
‚Das ist meine beste Freundin. Ich möchte sie für mich haben und
mit niemandem teilen.‘ Der Buddhismus will genau das Gegenteil
davon erreichen, nämlich universelle Liebe. Kurz gesagt, ist das
Ziel aller Lehren des Buddha über die Natur des Geistes, dass wir
alle die von dir genannten Verwirklichungen erreichen.“
Frage: „Aber welches Ziel gilt als höchstes oder wichtigstes?“
Lama: „Die höchsten Ziele sind Erleuchtung und die Entwicklung universeller Liebe. Einem engen Geist fallen solche Verwirklichungen schwer.“
Frage: „Welche Entsprechung gibt es zwischen den Farben in
der tibetischen Malerei und den Meditationsstadien oder unterschiedlichen psychologischen Zuständen?“
Lama: „Unterschiedliche Arten von Geist nehmen unterschiedliche Farben wahr. So sagen wir etwa, dass wir ,rot‘ sehen,
wenn wir wütend sind. Das ist ein gutes Beispiel. Andere Geisteszustände visualisieren entsprechende Farben. Wenn Menschen emotional gestört sind und in ihrem täglichen Leben nicht
richtig funktionieren, kann es manchmal hilfreich sein, sie mit
bestimmten Farben zu umgeben, damit sie ihr Gleichgewicht
wieder finden. Wenn ihr darüber nachdenkt, entdeckt ihr, dass
Farbe vom Geist kommt. Im Zorn seht ihr rot – ist diese Farbe
nun innen oder außen? Denkt darüber nach.“
grenzenlos.indb 71
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72 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Frage: „Welche praktischen Auswirkungen für das tägliche Leben hat Ihre Aussage, dass man eine Vorstellung von ‚schlecht‘
haben muss, um die Vorstellung von ‚gut‘ zu entwickeln?“
Lama: „Ich habe gesagt, dass es die Interpretation deines eigenen
Geistes ist, wenn du Dinge als gut oder schlecht interpretierst.
Was schlecht für dich ist, ist nicht notwendigerweise auch für
mich schlecht.“
Frage: „Aber mein Schlecht bleibt mein Schlecht.“
Lama: „Dein Schlecht ist für dich schlecht, weil dein Geist es
schlecht nennt.“
Frage: „Kann ich darüber hinausgehen?“
Lama: „Ja, das ist möglich. Du musst dich fragen: ‚Warum bezeichne ich das als schlecht?‘, und dir dann selbst eine Antwort
geben. Du musst Objekt und Subjekt, die innere und die äußere
Situation hinterfragen. Dann kannst du erkennen, dass die Wirklichkeit irgendwo dazwischen liegt, dass es im Raum dazwischen
einen Geist gibt, der eins ist. Das ist Weisheit.“
Frage: „Wie alt waren Sie, als sie ins Kloster eintraten?“
Lama: „Ich war sechs Jahre alt.“
Frage: „Was ist Nirvana?“
Lama: „Wenn du den aufgewühlten Geist mit seinen falschen
Ansichten überwindest und ganzheitliche, immerwährende
Weisheit und Zufriedenheit findest, hast du Nirvana erlangt.“
Frage: „Jede Religion sagt, sie sei der einzige Weg zur Erleuchtung. Erkennt der Buddhismus an, dass alle Religion dieselbe
Quelle haben?“
Lama: „Man kann diese Frage auf zwei Arten beantworten – indem man entweder das Absolute oder das Relative betrachtet.
Religionen, die Erleuchtung betonen, meinen damit wahrschein-
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 73
lich dasselbe, aber sie unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise, in ihren Methoden. Ich halte das für hilfreich. Aber es
stimmt auch, dass einige Religionen möglicherweise auf falschen
Ansichten beruhen. Aber dennoch lehne ich sie nicht ab. Zum
Beispiel gab es vor einigen tausend Jahren einige Hindu-Traditionen, die glaubten, Sonne und Mond seien Götter. Einige dieser Traditionen gibt es immer noch. Aus meiner Sicht sind diese
Vorstellungen falsch, aber ich heiße die Traditionen dennoch
gut. Warum? Auch wenn ihre philosophischen Anschauungen
nicht korrekt sind, lehren sie grundlegende ethische Prinzipien:
dass man ein guter Mensch sein soll und anderen nicht schaden
sollte. So können ihre Anhänger den Punkt erreichen, an dem
sie selbst entdecken: ‚Oh, ich hielt die Sonne für einen Gott, aber
jetzt erkenne ich, dass das falsch ist.‘ Deshalb gibt es in jeder Religion Gutes, und wir sollten nicht urteilen: ‚Das ist völlig richtig;
das ist völlig falsch.‘“
Frage: „Was wissen Sie über das Leben der Menschen in Tibet
heutzutage? Haben sie die Freiheit, wie früher ihrer buddhistischen Religion zu folgen?“
Lama: „Sie sind nicht frei, und jede religiöse Praxis ist verboten.
Die chinesischen Behörden sind gegen alles, was mit Religion
zu tun hat. Klöster wurden zerstört und heilige Schriften verbrannt.“
Frage: „Auch wenn die Bücher verbrannt wurden, tragen ältere
Menschen das Dharma immer noch im Herzen und im Geist,
oder haben sie alles vergessen?“
Lama: „Es ist nicht möglich zu vergessen. Man kann ihren Geist
nicht von einer so mächtigen Weisheit trennen. So bleibt das
Dharma in ihrem Herzen.“
Frage: „Alle Religionen, wie auch der Hinduismus, lehren ihre
Anhängern, schlechte Handlungen zu vermeiden und Gutes zu
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tun, und dass das zu guten karmischen Resultaten führt. Wie
hilft diese Ansammlung von positivem Karma dem Buddhismus
zufolge Erleuchtung zu erlangen?“
Lama: „Die geistige Entwicklung geschieht nicht durch radikale Veränderungen. Die geistigen Schleier werden ganz allmählich beseitig oder gereinigt. Es handelt sich um eine stufenweise
Entwicklung, die Zeit benötigt. Einige Menschen können zum
Beispiel nicht akzeptieren, was der Buddhismus über universelle
Liebe lehrt, dass man anderen das Glück wünschen sollte, das
man selbst gerne hätte. Sie meinen: ‚Es ist unmöglich, alle anderen so zu lieben wie mich selbst.‘ Sie brauchen Zeit, um universelle Liebe oder Erleuchtung zu verwirklichen, weil ihr Geist mit
falschen Ansichten beschäftigt ist, und es keinen Platz für Weisheit gibt. Aber ganz langsam können die Menschen durch ihre
religiöse Praxis zur vollkommenen Weisheit geführt werden.
Deshalb brauchen wir meiner Ansicht nach viele Religionen. Materielle Veränderungen sind einfach, aber die geistige Entwicklung braucht Zeit. Ein Arzt sagt vielleicht zu einem Kranken: ‚Du
hast sehr hohes Fieber, du solltest besser auf Fleisch verzichten
und ein paar Tage nur Zwieback essen.‘ Wenn sich die Kranke
dann etwas erholt hat, erlaubt der Arzt ihr wieder, gehaltvollere
Speisen zu sich zu nehmen. Auf diese Weise führt der Arzt die
Person wieder zur völligen Gesundheit zurück.“
Frage: „Wenn tibetische Nonnen und Mönche sterben, verschwinden dann ihre Körper, nehmen sie ihre Körper mit?“
Lama: „Ja, sie tragen sie in ihrer jola (Schultertaschen der Mönche)
ins nächste Leben. Das war nur ein Scherz! Nein, das ist nicht möglich. Aber es gibt einige Praktizierende, deren Körper sich in Weisheit auflöst; sie verschwinden also tatsächlich. So etwas ist durchführbar. Aber ihren materiellen Körper nehmen sie nicht mit.“
Frage: „Unser Geist kann uns ja betrügen und ohne einen Lehrer
können wir die Wahrheit nicht entdecken. Sind buddhistische
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 75
Klöster dann so angelegt, dass die Mönche ihre Kollegen zur
nächsten Stufe der Weisheit hinaufziehen – wie in einer Kette?
Machen Sie gerade so etwas; lehren Sie, um selbst zu lernen?“
Lama: „Ja, Klöster funktionieren in etwa so, und es ist auch wahr,
dass ich lerne, wenn ich lehre. Wir brauchen Lehrer, da Bücherwissen nur trockene Information ist. So gesehen ist es so relevant wie der Wind, der durch die Bäume bläst. Wir brauchen
einen Schlüssel, um dieses Wissen in Erfahrung umzusetzen, um
dieses Wissen mit unserem Geist zu vereinen. Dann wird Wissen zur Weisheit und zur perfekten Lösung für Probleme. Zum
Beispiel ist die Bibel ein hervorragendes Buch, das jede Menge
großartiger Methoden enthält, aber wenn ihr den Schlüssel nicht
besitzt, dringt das Wissen der Bibel nicht in euer Herz. Nur weil
ein Buch hervorragend ist, bedeutet das nicht, dass einem das darin enthaltene Wissen zufließt, wenn man es liest. Das geschieht
erst, wenn der eigene Geist Weisheit entwickelt.“
Frage: „Sie sagten, das Erlangen der Erleuchtung sei ein gradueller Prozess, aber man kann sicherlich nicht gleichzeitig erleuchtet und unerleuchtet sein. Muss man daraus nicht folgern, dass
Erleuchtung plötzlich geschieht?“
Lama: „Natürlich, du hast recht. Man kann nicht erleuchtet und
unwissend gleichzeitig sein. Die Annäherung an die Erleuchtung
ist ein gradueller Prozess, aber wenn ihr sie einmal erreicht habt,
gibt es keinen Rückfall. Von dem Moment an, in dem ihr den
vollständig erwachten Geisteszustand erreicht habt, bleibt ihr für
immer erleuchtet. Es ist nicht wie bei einer durch Drogen ausgelösten Halluzination, bei der man sich amüsiert, solange man berauscht ist, dann aber wieder in sein gewöhnliches deprimiertes
Selbst zurückfällt, sobald die Wirkung der Droge nachlässt.“
Frage: „Können wir diese anhaltende Erleuchtung tatsächlich in
diesem Leben erfahren, noch während wir leben, bevor wir sterben?“
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76 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Lama: „Ja, das ist möglich. In diesem Leben – wenn man genug
Weisheit besitzt.“
Frage: „Oh – wenn man genug Weisheit besitzt?“
Lama: „Ja, das ist der Haken: Wenn ihr genug Weisheit besitzt.“
Frage: „Warum brauchen wir einen Lehrer?“
Lama: „Warum braucht ihr einen Englischlehrer? Für die Kommunikation. Mit der Erleuchtung ist es dasselbe. Erleuchtung ist
auch Kommunikation. Sogar für weltliche Aktivitäten, etwa das
Einkaufen, müssen wir eine Sprache lernen, damit wir mit den
Ladenbesitzern kommunizieren können. Wenn wir schon dafür
Lehrer brauchen, brauchen wir natürlich auch jemanden, der uns
auf einem Pfad führt, auf dem es so viele Unbekannten gibt: vergangene und zukünftige Leben und tiefe Bewusstseinsebenen. Das
sind ganz neue Erfahrungen. Man weiß nicht, wohin man geht
oder was geschieht. Man braucht jemanden, um sicher zu sein,
dass man auf der richtigen Fährte ist und nicht halluziniert.“
Frage: „Wer lehrte den ersten Lehrer?“
Lama: „Die Weisheit. Der erste Lehrer war die Weisheit.“
Frage: „Nun, wenn der erste Lehrer keinen menschlichen Lehrer
hatte, warum brauchen wir dann einen?“
Lama: „Weil es keinen Anfang und kein Ende gibt. Weisheit ist
universelle Weisheit, Weisheit ist universelles Bewusstsein.“
Frage: „Bringt uns die Entwicklung universeller Liebe zur Erleuchtung oder muss man zuerst Erleuchtung erlangen und
dann universelle Liebe entwickeln?“
Lama: „Zuerst entwickelt ihr universelle Liebe. Dann erreicht
euer Geist die Verwirklichung der Ausgewogenheit, in der ihr
weder dies noch das betont. Euer Geist erreicht einen Gleichgewichtszustand. Buddhistisch gesagt: Man geht über den dualistischen Geist hinaus.“
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 77
Frage: „Ist es wahr, dass uns der Geist auf dem spirituellen Pfad
nur bis zu einem gewissen Punkt bringen kann und man dann
den Geist aufgeben muss, um weiter zu kommen?“
Lama: „Wie kann man seinen Geist aufgeben? Ich scherze. Nein, wir
können den Geist nicht aufgeben. Solange ihr ein Mensch seid
und ein so genanntes ‚gewöhnliches Leben‘ führt, habt ihr immer einen Geist. Wenn ihr die Erleuchtung erreicht, habt ihr immer noch einen Geist. Euer Geist begleitet euch immer. Ihr könnt
ihn nicht loswerden, indem ihr einfach sagt: ‚Ich will keinen
Geist haben.‘ Karmisch gesehen sind euer Geist und euer Körper
zusammengeschmiedet. Es ist unmöglich, euren Geist mit intellektuellen Mitteln zu beseitigen. Wäre euer Geist ein materielles
Phänomen, wäre das vielleicht möglich, aber so ist es nicht.“
Frage: „Werden Lamas jemals körperlich krank und welche Methoden benutzen sie, um eventuelle Krankheiten zu überwinden? Wenden Sie Heilkräfte an?“
Lama: „Ja, manchmal wenden wir Heilkräfte an. Manchmal benutzen wir die Kraft von Mantras, und manchmal meditieren
wir. Zu anderen Zeiten bringen wir pujas dar. Wisst ihr was das
ist? Manche Menschen glauben, es sei nur ritueller Gesang und
Glockengeläute, aber es ist viel mehr als das. ,Puja‘ ist ein Sanskritwort, wörtliche übersetzt bedeutet es ,Gabe‘. Die eigentliche
Bedeutung des Wortes ist ,Weisheit‘, ein erwachter Geisteszustand. Wenn also eure Weisheit ,bim bam bim‘ läutet, dann ist
das gut. Aber wenn eure Weisheit nicht läutet, und ihr nur das
äußere Bimbam hört, ist es keine Puja.“
Frage: „Was Sie da sagen, ist von der westlichen materialistischen
Philosophie nicht so weit entfernt. Problematisch sind nicht so
sehr die Objekte, sondern unsere Einstellung ihnen gegenüber.“
Lama: „Wenn du von ‚Einstellung‘ sprichst, beziehst du dich
dann auf die geistige Neigung, nach materiellen Objekten zu
greifen bzw. nicht zu greifen?“
grenzenlos.indb 77
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78 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Frage: „Nun, äußere Objekte existieren, aber sie existieren außerhalb von uns, und unser Bewusstsein versteht sie auf derselben
Ebene. Ich glaube, dass die Objekte erhalten bleiben, wenn wir
sterben – aber nicht für uns, nicht für das Individuum.“
Lama: „Ich stimme dir zu. Wenn wir sterben, sind die äußeren
Objekte noch da, aber unsere Interpretation davon, unsere Projektion, verschwindet. Ja, das stimmt.“
Frage: „Warum sind Sie dann so radikal gegen die materialistische Philosophie eingestellt? Warum sagen Sie, die Außenwelt
sei illusorisch, wenn die materielle Welt doch bleibt, nachdem
unser Bewusstsein gegangen ist?“
Lama: „Ich sage, die materielle Welt sei illusorisch, weil die Dinge, die ihr wahrnehmt, nur in der Wahrnehmung eures eigenen
Geistes existieren. Betrachtet diesen Tisch: Das Problem ist, dass
ihr glaubt, eure Sicht des Tisches existiere weiter. Ihr glaubt, er
existiere weiter, wenn ihr nicht mehr da seid – und zwar genau
in der Weise, auf die ihr ihn wahrnehmt. Das stimmt nicht! Eure
Sicht des Tisches verschwindet, aber eine andere Sicht des Tisches besteht weiter.“
Frage: „Wie erkennen wir den richtigen Lehrer?“
Lama: „Ihr könnt euren Lehrer erkennen, indem ihr eure Weisheit
anwendet, statt jemandem einfach blind zu folgen. Überprüft
möglichst viele potenzielle Lehrer: ‚Ist das der richtige Lehrer für
mich oder nicht?‘ Analysiert genau, bevor ihr den Anweisungen
eines Lehrers folgt. Im Tibetischen Buddhismus warnen wir
davor, sich auf einen Lehrer stürzen wie sich ein Hund auf ein
Stück Fleisch stürzt. Wenn ihr einem hungrigen Hund ein Stück
Fleisch hinwerft, wird er es ohne jedes Zögern verschlingen. Es
ist ausgesprochen wichtig, dass ihr mögliche spirituelle Führer,
Lehrer, Gurus oder wie auch immer ihr sie nennen wollt, sehr
vorsichtig prüft, bevor ihr ihre Führung akzeptiert. Erinnert ihr
euch, was ich vorhin über falsche Ansichten und verunreinigte
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Teil Eins: Dein Geist ist so weit wie das Meer 79
Lehren gesagt habe? Sie sind gefährlicher als Drogen! Wenn ihr
den irrigen Ansichten eines falschen spirituellen Führers folgt,
so kann das katastrophal für euch ausgehen und dazu führen,
dass ihr nicht nur dieses Leben, sondern auch viele weiter Leben
vergeudet. Statt euch zu helfen, kann euch das großen Schaden
zufügen. Bitte seid sehr weise bei der Wahl eures spirituellen
Lehrers.“
Frage: „Da Sie ein buddhistischer Mönch aus Tibet sind, möchte
ich gern wissen, ob Sie von Lobsang Rampa gehört haben. Er hat
viele ausführliche Bücher über Tibet geschrieben, ohne selbst je
dort gewesen zu sein. Er ist nun tot, aber er sagte, dass der Geist
eines tibetischen Lamas in ihn eintrat und er deshalb in der Lage
war, diese Dinge zu schreiben. Ist das möglich und wenn nicht,
wie kann er dann diese Bücher geschrieben haben?“
Lama: „Ich glaube nicht, dass diese Art von Besessenheit möglich
ist. Auch solltest du genauer überprüfen, was er geschrieben hat,
denn es gibt viele Fehler in seinen Büchern. Er sagt zum Beispiel,
Lamas würden das Weisheitsauge mit einem chirurgischen Eingriff öffnen. Das stimmt nicht. Das Weisheitsauge ist eine Metapher für spirituelle Einsicht, und es wird von Lamas geöffnet,
die den Schlüssel der Weisheit besitzen. Auch sprechen Lamas,
die Verwirklichungen haben, nicht darüber, und die, die über
ihre Verwirklichungen reden, besitzen keine.“
Frage: „Lama, was verstehen Sie unter einem ‚dualistischem
Geist‘ und was meinen Sie mit ‚überprüfen‘?“
Lama: „Vom Moment deiner Geburt an bis jetzt haben stets zwei
Dinge deinen Geist verkompliziert. Es gibt immer zwei Dinge,
nie nur eins. Das verstehen wir unter dualistischem Geist. Immer
wenn ihr ein Ding seht, vergleicht es euer Geist automatisch und
instinktiv mit etwas anderem: ‚Und wie sieht es mit dem aus?‘
Diese Gespaltenheit stört euer Gleichgewicht; hier ist der dualistische Geist am Werk.
grenzenlos.indb 79
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80 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Nun zu deiner anderen Frage: Wenn ich euch empfehle zu überprüfen, dann meine ich, dass ihr euren Geist erforschen sollt, um
zu sehen, ob er gesund ist oder nicht. Überprüft jeden Morgen
euren Geisteszustand, und sorgt dafür, dass ihr den Tag über
nicht ausflippt. Das ist alles, was ich mit ‚überprüfen‘ meine.“
Frage: „Wenn alles karmisch vorbestimmt ist, wie wissen wir
dann, ob unsere Motivation korrekt ist, oder gibt es doch eine
freie Wahl?“
Lama: „Reine Motivation ist nicht vom Karma vorbestimmt. Eine
reine Motivation entsteht durch Verstehen, durch Erkenntnis und
Weisheit. Wenn euer Geist die Dinge nicht versteht, könnt ihr
nur schwer eine reine Motivation erzeugen. Zum Beispiel kann
ich anderen nicht helfen, wenn ich meine selbstsüchtige Natur
nicht verstehe. Solange ich mein selbstsüchtiges Verhalten nicht
erkenne, gebe ich anderen die Schuld an meinen Problemen. Erst
wenn ich meinen eigenen Geist kenne, wird meine Motivation
rein, und ich kann meine Handlungen von Körper, Sprache und
Geist aufrichtig dem Wohlergehen der anderen widmen.“
Danke, das war eine wunderbare Frage, und ich denke, dass diese Ausführungen über reine Motivation eine gute Stelle sind, um
aufzuhören. Ich danke euch sehr. Wenn wir eine reine Motivation haben, sorgt das für einen guten Schlaf, für gute Träume und
guten Genuss. Ich danke euch vielmals.
Assembly Hall, Melbourne, Australien, 27. März 1975
grenzenlos.indb 80
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5 Entsagung und Bodhicitta
H
eute habe ich Pech. Und ihr habt auch Pech, denn ihr müsst
mit mir, dem Müllmann, vorlieb nehmen. Ihr müsst nun
meinen Müll, mein Geschwafel, ertragen. Leider hat Seine Heiligkeit gesundheitliche Beschwerden, und deshalb sollten wir
alle für seine Gesundheit beten, und dafür, dass es nicht notwendig ist, in eine Situation zu geraten, in der ihr meinen Müll ertragen müsst. Wie dem auch sei, aufgrund dieser Umstände hat
mir Seine Heiligkeit die Erlaubnis erteilt, den Babysitter für euch
zu spielen.
Seine Heiligkeit hat einen besonderen Text von Lama Je
Tsongkhapa ausgewählt, den wir Die drei Hauptaspekte des Pfades
zur Befreiung oder Erleuchtung (tib. lam-tso nam-sum) nennen. Man
nennt sie auch kurz Die drei Hauptpfade. Und so werde ich versuchen, euch heute eine Einführung in diesen Text zu geben, allerdings ist es nicht meine Aufgabe, ins Detail zu gehen.
Historisch betrachtet, entstand dieser Text durch Lama Je
Tsongkhapas direkte, visuelle Kommunikation mit Manjushri.
Manjushri gab ihm diese Unterweisung, und Lama Je Tsongkhapa gab sie an seine Schüler weiter. Es handelt sich um einen
kurzen Text, aber er enthält die Essenz der gesamten BuddhaLehre. Er ist einerseits sehr einfach und praktisch, und ist andererseits eine universelle Unterweisung, die jeder verstehen
kann.
Die drei Hauptaspekte sind Entsagung, Bodhicitta und die
Weisheit von Shunyata, sie werden auch „Drei Prinzipien“ genannt. Mir ist es wichtig, dass ihr versteht, was damit gemeint
grenzenlos.indb 85
11.04.2007 11:04:36
86 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
ist, denn schließlich weckt der Begriff „Entsagung“ in der westlichen Welt ganz bestimmte Assoziationen. Die Leute befürchten, dass sie ihre Freuden verlieren könnten. Aber ohne Entsagung gibt es keinen Ausweg aus unserer Situation.
Entsagung
Zuerst sollten wir alle daran denken, dass wir uns vom EgoGeist und von den Fesseln des Samsara befreien möchten. Das,
was uns an Samsara kettet und uns unglücklich macht, ist unser
Mangel an Entsagung. Was ist Entsagung? Wodurch wird man
zu einem entsagten Menschen?
Wir sind unglücklich, weil wir ein extremes Verlangen nach
sinnlichen Objekten, nach samsarischen Objekten, haben und
nach ihnen greifen. Wir versuchen, unsere Probleme zu lösen,
aber wir tun es nicht am richtigen Ort. Der richtige Ort ist unser
eigenes Festhalten am Ego. Diese Verhärtung müssen wir auflösen, das ist alles.
Dem Buddha zufolge sollen Mönche und Nonnen die Gelübde der Entsagung einhalten. Mönche und Nonnen entsagen der
Welt, damit weniger Verlangen nach Sinnesobjekten entsteht
und sie weniger an ihnen festhalten. Aber man kann nicht sagen,
dass sie Samsara bereits aufgegeben hätten, denn auch Mönche
und Nonnen haben immer noch einen Magen! Sowohl das englische Wort renunciation als auch das deutsche Wort „Entsagung“
sind da nicht ganz klar. Man kann zwar sagen, dass Mönche und
Nonnen ihrem Magen entsagen, aber das bedeutet natürlich
nicht, dass sie ihn wegwerfen.
Ich möchte, dass ihr eines versteht: Sinnesfreuden zu entsagen bedeutet nicht, alle schönen Dinge wegzuwerfen. Denn
selbst, wenn ihr das machen würdet, würde es noch lange nicht
bedeuten, dass ihr ihnen entsagt. Entsagung ist eine durch und
durch innere Erfahrung. Entsagung von Samsara bedeutet nicht,
grenzenlos.indb 86
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Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 87
dass ihr Samsara wegwerft, weil euer Körper und eure Nase
Samsara sind. Wie könntet ihr auch eure Nase wegwerfen? Die
Nase und der Körper sind Samsara – das ist zumindest bei mir so
– und daher kann ich sie nicht wegwerfen. Entsagung bedeutet
schlicht: weniger Verlangen. Es bedeutet, vernünftiger zu sein,
scih psychisch nicht so sehr unter Druck zu setzen und nicht verrückt zu spielen.
Für uns ist es also vor allem wichtig einzusehen, dass wir weniger Gier nach Sinnesfreuden haben sollten, denn unsere Gier
und unser Verlangen nach weltlichen Vergnügungen bescheren
uns meist keine Zufriedenheit. Sie führen nur zu noch mehr Unzufriedenheit und zu verwirrten, gefühlsmäßigen Reaktionen.
Das zu erkennen ist die Hauptsache
Wenn ihr genug Weisheit und Methode besitzt, um auf vollkommene Weise mit den Objekten der fünf Sinne umzugehen
– so dass sie keine negativen Reaktionen bewirken – könnt ihr
euch getrost mit ihnen abgeben. Und wir Menschen sollten
selbst beurteilen können, wie weit wir uns auf die Erfahrung der
Sinnesfreuden einlassen können, ohne dass sie uns verwirren.
Wir sollten das für uns selbst entscheiden, denn es geht hier ausschließlich um die persönliche Erfahrung. Es ist wie bei französischem Wein. Manche Leute vertragen ihn überhaupt nicht. Sie
würden ihn zwar gerne trinken, aber ihre nervliche Verfassung
lässt das nicht zu. Andere können ein wenig trinken, wieder andere ein bisschen mehr, und einige vertragen sehr viel.
Ich möchte, dass ihr versteht, warum es den buddhistischen
Schriften zufolge Mönchen und Nonnen ganz verboten ist, Wein
zu trinken. Es geht dabei nicht darum, dass Wein oder Trauben
schlecht seien. Trauben und Wein sind etwas Schönes, und Rotwein hat eine fantastische Farbe. Da wir aber einfache Anfänger
auf dem Pfad zur Befreiung sind, verfangen wir uns leicht in negativen Energien. Das ist der Grund. Wein ist nicht an und für
sich schlecht. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, was mit Entsagung
gemeint ist.
grenzenlos.indb 87
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88 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Wer war der große indische Heilige, der gerne Wein trank?
Erinnert ihr euch an diese Geschichte? Dieser Heilige, an dessen
Namen ich mich nicht mehr erinnere, ging in eine Bar und trank
und trank, bis ihn der Barkeeper schließlich fragte: „Wie wollen Sie bezahlen?“ Der Heilige antwortete: „Ich zahle, wenn die
Sonne untergeht.“ Aber die Sonne ging nicht unter, und der Heilige trank einfach weiter. Der Barkeeper wollte sein Geld, aber
irgendwie beherrschte der Heilige den Lauf der Sonne. Derartig
hohe Verwirklichungen – wir können sie Wunder oder esoterische Verwirklichungen nennen – gehen über das Verständnis
gewöhnlicher Menschen, wie wir es sind, hinaus. Aber der Heilige hatte tatsächlich Macht über die Sonne, und er trank vielleicht 130 Liter Wein! Und er musste dabei nicht einmal Wasser
lassen!
Ich möchte euch Folgendes vermitteln: Entsagung von Samsara geht nicht nur Mönche und Nonnen etwas an. Wer auch immer
nach Erleuchtung und Befreiung strebt, muss Samsara entsagen.
Wenn ihr euer Leben, eure alltäglichen Erfahrungen überprüft,
stellt ihr fest, dass ihr sehr mit euren kleinen Freuden beschäftigt
seid. Das Festhalten daran ist für uns Buddhisten ein großes Hindernis, für uns ist daran nichts besonders Wertvolles. Die westliche Denkweise: „Ich sollte das Beste, das Größte haben“, ähnelt
jedoch unserer buddhistischen Einstellung. Auch wir glauben,
dass wir die beste und die vollkommenste Freude, die am längsten hält, haben sollten, statt unser Leben damit zu vergeuden,
uns den Genuss von einem Glas Wein zu erkämpfen.
Deshalb müssen wir diese starre Einstellung des Festhaltens
und nutzloses Handeln aufgeben, und stattdessen das verwirklichen, was das Leben sinnvoll macht und befreit.
Mit liegt viel daran, dass ihr das nicht nur als philosophische
Aussage versteht. Wir können unseren Geist untersuchen und
erkennen, welche Geisteshaltung die täglichen Probleme hervorbringt und was weder objektiv noch subjektiv nutzt. So können wir durch Meditation unsere Einstellung und unser Han-
grenzenlos.indb 88
11.04.2007 11:04:36
Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 89
deln verbessern. Denkt nicht: „Meine Einstellungen und meine
Handlungen stammen aus meinem Karma von früher, deshalb
kann ich nichts tun.“ Das ist ein falsches Verständnis von Karma. Denkt nicht: „Ich bin machtlos.“ Menschliche Wesen besitzen Macht. Es steht in unserer Macht, unseren Lebensstil, unsere
Einstellungen und unsere Gewohnheiten zu verändern. Diese
Fähigkeit könnt ihr „Buddha-Potential“ oder „göttliches Potential“ nennen oder wie auch immer ihr wollt. Der Buddhismus ist
so einfach; er ist eine universelle Lehre, die alle Menschen, ganz
gleich ob sie religiös oder nicht religiös sind, verstehen können.
Das Gegenteil der Entsagung von Samsara – um das noch
anders zu erklären – ist der extreme Geist, den wir die meiste
Zeit über haben. Der begehrliche Geist, der festhält und zu einer
übertriebene Projektion auf die Objekte führt, die nichts mit deren Realität zu tun hat.
Der Buddhismus sagt also nicht, die Dinge seien nicht schön.
Sie sind schön. Eine Blume hat eine gewisse Schönheit. Aber diese Schönheit ist nur konventionell oder relativ. Ein von Begierde
erfüllter Geist projiziert jedoch etwas auf das Objekt, was jenseits
der relativen Ebene liegt, etwas, das nichts mit dem Objekt zu
tun hat und uns quasi hypnotisiert. Dieser Geist halluziniert, er
ist verblendet und hält an etwas Falschem fest.
Ohne gründliche Beobachtung, ohne die Weisheit der Innenschau können wir das nicht erkennen. Aus diesem Grund
beinhaltet die buddhistische Meditation das Überprüfen von
Sachverhalten, die so genannte „analytische Meditation“. Hier
kommen auch Logik und Philosophie zur Anwendung. Buddhistische Philosophie und Psychologie helfen uns, die Dinge besser
zu verstehen. Analytische Meditation ist ein wissenschaftlicher
Ansatz zur Analyse unserer eigenen Erfahrung.
Schließlich solltet ihr auch verstehen, dass Mönche und Nonnen unter Umständen keinerlei Entsagung besitzen. Das stimmt
doch, oder etwa nicht? Im Buddhismus sprechen wir von der
oberflächlichen und von der universellen Struktur. Wenn es also
grenzenlos.indb 89
11.04.2007 11:04:36
90 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
heißt, Mönche und Nonnen besäßen Entsagung, so bedeutet das
lediglich, dass wir versuchen, sie zu entwickeln. Westliche Menschen denken manchmal Mönche und Nonnen seien heilig. Wir
sind nicht heilig, wir geben nur unser Bestes. Diese Sichtweise ist
vernünftig; auch hier solltet ihr nicht übertreiben. Es gibt Laien,
Mönche und Nonnen, und wir sind alle Mitglieder der buddhistischen Gemeinschaft. Wir sollten einander gut verstehen und
dann loslassen. Lasst die Kirche im Dorf – überzogene Erwartungen sind ungesund.
Nun sollte ich besser auf das zurückkommen, was ich erklären soll. Ich glaube, das reicht als Einführung zum Thema Entsagung Nun kommen wir zu Bodhicitta.
Bodhicitta
Wenn ihr Bodhicitta entwickeln wollt, müsst ihr zunächst eure
Ego-Probleme verstehen – Gier, Verlangen, Zorn und Ungeduld,
eure eigene Situation, eurer Unfähigkeit mit den Dingen umzugehen, eure Dramen – und dann Mitgefühl für euch selbst entwickeln. Habt Mitgefühl mit euch selbst, weil ihr euch in dieser
Situation befindet. Mit diesem Gedanken fängt es an: „Ich bin
nicht die oder der Einzige in dieser Situation, voller Ego-Konflikte und Probleme. In allen Gesellschaften der Welt gehören
einige Menschen zur Oberschicht, einige zur Mittelschicht und
andere zur Unterschicht. Einige sind sehr schön, andere sehen
mittelmäßig aus, und wieder andere sind hässlich. Aber jeder
strebt genau wie ich nach Glück und möchte nicht unglücklich
sein.“
Auf diese Weise stellt sich langsam ein Gefühl von Ausgewogenheit ein. Irgendwie entsteht tief in uns eine ausgeglichene
Haltung gegenüber Feinden, Fremden und Freunden, und zwar
nicht nur intellektuell. Es entsteht eine wirklich aufrichtige Einstellung, die aus tiefstem Herzen kommt.
grenzenlos.indb 90
11.04.2007 11:04:37
Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 91
Der Buddhismus lehrt eine Meditationstechnik, mit der ihr
alle Lebewesen im Universum „gleich machen“ könnt. Ohne ein
gewisses Gefühl für die Gleichheit aller Lebewesen des Universums kann man nicht sagen: „Ich möchte mein Leben den anderen widmen.“, und man kann auch kein Bodhicitta entwickeln.
Bodhicitta ist äußerst wertvoll, es ist wie ein Diamant. Der Raum
für Bodhicitta entsteht aber nur, wenn ihr spürt, dass alle Lebewesen gleich sind.
Mir liegt am Herzen, dass ihr den Unterschied zwischen
der kommunistischen und der buddhistischen Vorstellung von
Gleichheit versteht. Die buddhistische Idee von Gleichheit könnt
ihr jetzt gleich erfahren. Die kommunistische Idee dagegen ist
auch nach einer Million Jahren nicht zu erleben – es sei denn
jeder hat ein Gewehr.
Dem Buddhismus zufolge brauchen wir die Erkenntnis der
Gleichheit, um geistig gesund zu werden. Das „Gleichmachen“
der anderen muss im eigenen Geist geschehen und nicht dadurch, dass man Menschen äußerlich verändert. Meine Aufgabe ist, mich durch meine mentalen Projektionen – von lästigen
Feinden, von Freunden, an die ich mich klammere, oder von
Fremden, die ich leicht vergesse – nicht aus dem Gleichgewicht
bringen zu lassen. Diese drei Kategorien von Objekten hat mein
eigener Geist geschaffen. Im Außen existieren sie nicht.
Solange es für euch auch nur ein Objekt von Hass gibt – und
sei es auch nur ein einziger Mensch – solange es für euch noch
ein übertrieben wahrgenommenes Objekt der Begierde und ein
mit Desinteresse betrachtetes Objekt der Unwissenheit gibt, jemanden, den ihr ignoriert und der euch gleichgültig ist – und
solange ihr die drei Gifte Hass, Begierde und Unwissenheit in
Bezug auf diese drei Objekten habt, solange habt ihr ein Problem.
Das Problem liegt nicht in den Objekten.
Wie kann ich glücklich sein, wenn Elisabeth (die Übersetzerin) mein größtes Problem, meine Feindin, ist? Wie kann ich da
glücklich sein? Gleichmut ist eine innere Erfahrung. Vergesst
grenzenlos.indb 91
11.04.2007 11:04:37
92 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Bodhicitta – wir alle haben noch einen langen Weg vor uns. Was
ich sagen will ist, dass der Tibetische Buddhismus und Lama
Tsongkhapa es bereits für äußerst schwierig halten, Gleichmut
zu verwirklichen. Es ist aber gut, es wenigstens zu versuchen.
Auch wenn es schwierig ist, versucht es.
Ausgewogenheit oder Gleichmut könnten wir auch den
„Mittleren Weg“ nennen. Ganz praktisch gesprochen sollten
Buddhisten auch eine gesunde und ausgewogene Einstellung
in Bezug auf westliche und östliche Religionen entwickeln. Wir
sollten christlichen Praktizierenden Gleichmut und Respekt entgegenbringen. So wird man glücklich, und um Glück geht es
uns ja hauptsächlich. Ich glaube, es ist falsch, wenn westliche
Baby-Buddhisten meinen, der Buddhismus sei besser als das
Christentum. Das ist falsch, denn erstens ist es nicht wahr, und
zweitens erzeugt es negative Schwingungen und führt zu einer
ungesunden geistigen Einstellung.
Ich glaube wirklich, dass Buddhisten viel von Christen lernen können. Vor kurzem war ich in Spanien und besuchte einige
christliche Klöster. Die Entsagung und die Lebensweise einiger
christlicher Mönche dort erschienen mir viel korrekter, als das,
was ich in vielen tibetischen Klöstern beobachtet habe. Mönche
in tibetischen Klostergemeinschaften haben häufig eine sehr individualistische Einstellung, während die christlichen Mönche,
denen ich begegnet bin, völlig in der Gemeinschaft aufzugehen
scheinen. Sie haben kein Privateigentum. Für mich sind diese
Mönche Objekte der Zuflucht. Natürlich ist es andererseits auch
in Ordnung, wenn eine bestimmte Person einen individualistischen Lebensstil für ihr spirituelles Wachstum braucht. Deshalb gibt es ja verschiedene Religionen.
Versucht im täglichen Leben so viel Ausgewogenheit wie möglich zu praktizieren und weder Feinde zu haben, noch Objekte,
an die ihr euch übertrieben klammert. Auf diese Weise kann im
Raum der Ausgewogenheit Bodhicitta wachsen, die Einstellung,
mit der ihr euch allen Lebewesen im Universum widmet.
grenzenlos.indb 92
11.04.2007 11:04:37
Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 93
Bodhicitta ist eine sehr hohe Verwirklichung. Es ist das genaue Gegenteil der Selbstsucht. Mit Bodhicitta stellt ihr euch
ganz in den Dienst der anderen. Ihr wollt sie zur höchsten Befreiung führen, die über jedes weltliche Glück hinausgeht.
Wir haben extreme Gedanken. Manchmal legen wir zu viel
Nachdruck auf Aktivitäten, die uns nichts einbringen, und setzen dafür ungeheuer viel Energie ein. Denkt zum Beispiel an bestimmte Sportler oder an Leute, die ihr gesamtes Geld und ihre
ganze Energie in Motorradrennen investieren und sich damit
schließlich selbst umbringen. Wofür?
Bodhicitta ist von großem praktischem Nutzen. Es ist wie
Medizin. Die selbstsüchtige Einstellung dagegen gleicht einem
Nagel oder einem Schwert im Herzen. Sie ist unangenehm und
tut weh. Mit Bodhicitta hingegen fühlt ihr euch von dem Moment an, in dem ihr euch öffnet, unglaublich friedlich, und ihr
spürt enorme Freude und unerschöpfliche Energie. Vergesst Erleuchtung – sobald ihr beginnt, euch anderen zu öffnen, stellt
sich enorme Freude und Befriedigung ein. Für andere zu arbeiten ist sehr interessant; ihr könnt unbegrenzt aktiv werden. Euer
Leben wird reich und interessant – und zwar auf Dauer.
Es ist auffällig, wie leicht sich die Menschen im Westen langweilen. Sie sind schnell gelangweilt. Ihnen fällt nicht ein, was sie
Besseres tun könnten, und so nehmen sie schließlich Drogen und
so weiter. Menschen, die Drogen nehmen, sind ja nicht unbedingt dumm. Sie sind intelligent, aber sie wissen nicht, wohin sie
ihre Energie lenken sollen, damit sie der Gesellschaft und ihnen
selbst nutzt. Sie sind blockiert und erkennen das nicht – und so
zerstören sie sich selbst.
Wenn ihr nun Bodhicitta nicht als Einstellung verstehen wollt,
die sich ganz und gar anderen widmet – und manchmal kann es
schwierig sein, es auf diese Weise zu verstehen – so könnt ihr
es auch als eine eigennützige Einstellung betrachten. Warum?
Wenn ihr anfangt, euch für andere zu öffnen, stellt ihr fest, dass
euer Herz vollständig geknebelt ist; euer „Ich“, euer Ego, ist ge-
grenzenlos.indb 93
11.04.2007 11:04:37
94 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
knebelt. Lama Tsongkhapa beschreibt (in Drei Hauptaspekte des
Pfades) das Ego als das „eiserne Netz des Festhaltens am Selbst“.
Wie löst man diese Fesseln? Wenn ihr anfangt, euch anderen zu
widmen, erlebt ihr unglaublichen Frieden und unglaubliche Entspannung. Deshalb sage ich, dass ihr euch auch mit einer eigennützigen Einstellung anderen widmen könnt, nämlich mit dem
Wunsch, diesen Frieden und diese Entspannung zu spüren.
Das, was wirklich zählt, ist eure Einstellung. Spürt ihr Offenheit und Hingabe allen Lebewesen in diesem Universum gegenüber, reicht das aus, und ihr könnt euch entspannen. Bodhicitta
bewirkt meiner Meinung nach etwas sehr viel Kraftvolleres als
angestrengtes Meditieren, und in einer westlichen Umgebung ist
es auch sehr viel praktischer.
Es gibt ja in unserem Leben des 20. Jahrhunderts keine Zeit
für die Meditation. Auch wenn wir meditieren wollen, sind wir
träge: „Ich war gestern Nacht zu lange auf. Gestern habe ich zu
schwer gearbeitet …“ Ich halte den starken Entschluss, sich für
andere einzusetzen – nach dem Motto: „Ich werde mein ganzes
restliches Lebens, jeden Tag und insbesondere heute, mit allen
Kräften anderen widmen“ für ausgesprochen kraftvoll. Manche
Menschen fangen an zu meditieren und wollen gleich eine Art
konkrete Konzentration erlangen. Man kann jedoch nicht in kurzer Zeit konkrete Konzentration entwickeln, wenn man nicht zuerst das eigene Leben in Ordnung gebracht hat. Und Menschen
im Westen fällt es besonders schwer, ihr Leben zu ordnen. Es ist
das Schwierigste überhaupt.
Natürlich sind das nur die Projektionen eines tibetischen
Mönchs! Doch wie wollt ihr gut meditieren, wenn ihr euer Leben
nicht auf die Reihe bringt? Es ist nicht möglich. Wie kann euch
das Meditieren gelingen, wenn euer Leben durcheinander ist?
Na ja, ich weiß nicht so recht, was ich da rede! Vielleicht sollte
ich mich besser zusammenreißen.
Das letzte Thema ist die Leerheit, Shunyata. Aber habt keine
Angst: Seine Heiligkeit wird Shunyata erklären. Ich möchte nur
grenzenlos.indb 94
11.04.2007 11:04:37
Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 95
noch Folgendes sagen: Diese drei Aspekte – Entsagung, Bodhicitta und die Weisheit der universellen Wirklichkeit – sind die
Essenz des Buddhismus, die Essenz des Christentums, die Essenz der universellen Religion. Hier gibt es keine Widersprüche.
Wenn ein buddhistischer Mönch über diese drei Themen spricht,
denken Menschen aus dem Westen vielleicht, er sei auf einem
östlichen Trip. Aber diese drei Themen gehören weder zur östlichen noch zur westlichen Kultur.
Geschichtlich betrachtet ist es zwar so, dass Buddha Shakyamuni die Vier Edlen Wahrheiten lehrte. Doch welcher Kultur
gehören die Vier Edlen Wahrheiten? Das Wesen der Religion hat
nichts mit der Kultur eines bestimmten Landes zu tun. Mitgefühl,
Liebe, Wirklichkeit – welcher Kultur gehören sie? Menschen aller Länder, aller Nationen können die Drei Grundlegenden Aspekte, die Vier Edlen Wahrheiten oder den Achtfachen Pfad umsetzen. Es gibt da keinen Widerspruch.
Die Drei Grundlegenden Aspekte des Pfades wurden Lama
Tsongkhapa von Manjushri übermittelt, und über Lama Tsongkhapa gelangte die Überlieferung dann bis in die heutige Zeit. Es
handelt sich dabei aber nicht um eine Lehre, die ausschließlich
zur Gelugpa-Tradition gehört. Alle vier tibetischen Traditionen
kennen diese drei Aspekte. Glaubt bloß nicht, die Praxis in den
vier Traditionen sei unterschiedlich. Man kann nicht sagen, Entsagung sei bei den Kagyus, Gelugs, Sakyas und Nyingmas verschieden, oder die Zufluchtnahme bei den Gelugs unterscheide
sich von der Zufluchtnahme bei den Kagyus. Wie kann man so
etwas sagen? Selbst wenn Buddha Shakyamuni hierher käme
und sagen würde: „Sie sind verschieden“, würde ich seine Aussage zurückweisen. Selbst wenn Buddha Shakyamuni sich hier
manifestieren würde, umgeben von Lichtstrahlen, und sagen
würde: „Sie sind verschieden“, würde ich antworten: „Nein, das
sind sie nicht.“
Menschen fallen leicht der Verblendung anheim. Sie halluzinieren schnell. Um Buddhist zu werden, muss man zunächst
grenzenlos.indb 95
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96 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
nur zu Buddha, zum Dharma und zur Sangha Zuflucht nehmen.
Wie kann man dann sagen, die Zuflucht der Gelugs und die der
Kagyus seien verschieden? Unsere Vorstellungen sind sehr beschränkt, unsere Ausrichtung ist sehr beschränkt. Ich möchte,
dass ihr seht, wie beschränkt die Menschen sind.
Dazu ein Beispiel: Vietnamesische Buddhisten können keinen tibetischen Buddha visualisieren. Tibeter können keinen chinesischen Buddha visualisieren. Für Menschen aus dem Westen
ist es sehr schwierig, einen japanischen Buddha zu visualisieren. Bedeutet das, ihr müsst all diese anderen Buddhas ignorieren? Bedeutet das, dass ihr anfangt, sie zu diskriminieren, nach
dem Motto: „Ich nehme nur zu tibetischen Buddhas Zuflucht“,
oder: „Ich nehme nur zu westlichen Buddhas Zuflucht. Ich gebe
östliche Buddhas auf. Ich gebe japanische Buddhas auf.“? Versteht ihr, wie beschränkt wir sind? Das nenne ich menschliche
Beschränktheit. Weil wir die Dinge nicht auf der universellen
Ebene verstehen, erzeugen wir kulturell begrenzte Projektionen,
damit unser Ego etwas zum Festhalten hat. Der Buddha, an den
sich die Buddhisten der verschiedenen Nationen klammern, ist
nichts weiter, als ein Objekt ihres Festhaltens am Ego. Ich habe
die Menschen aus dem Westen wissenschaftlich studiert und dabei festegestellt: Viele von ihnen haben tibetische Thangka-Malerei gelernt, und die Buddhas, die sie malen, sind völlig anders.
Obwohl die Größenverhältnisse den tibetischen Vorgaben entsprechen und die Originale, an denen sie sich orientieren, ebenfalls tibetisch sind, sehen die Buddhas, die sie malen, westlich
aus. Das ist meine wissenschaftliche Erkenntnis. Es zeigt, dass
Menschen nur auf der Basis ihrer eigenen begrenzten Erfahrung
handeln.
Auf alle Fälle finde ich es schade, dass die Gelugpas nicht zu
denselben Objekten Zuflucht nehmen wollen, zu denen auch die
Nyingmapas Zuflucht nehmen, zum Beispiel zu Padmasambhava. Es steht in vielen Gelugpa-Texten, dass Lama Je Tsongkhapa
eine Manifestation von Padmasambhava war. Vielleicht kann
grenzenlos.indb 96
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Teil Zwei: Die Grundlagen des spirituellen Weges 97
ich auch sagen, Lama Je Tsongkhapa sei eine Manifestation von
Jesus.
Vielleicht entstehen bereits bei der ersten Zufluchtnahme
falsche Vorstellungen. Aber ihr müsst begreifen, dass Zufluchtnehmen nicht einfach ist. Es ist etwas sehr Tiefgründiges. Nehmt
ihr ganz am Anfang mit einem fanatischen Verständnis von
Buddha, Dharma und Sangha Zuflucht, dann gerät alles durcheinander. Ihr werdet buddhistische Fanatiker. Als wirkliche
Buddhisten solltet ihr Zuflucht zu den Buddhas und Bodhisattvas der zehn Richtungen nehmen – das ist meine Empfehlung. In
den zehn Richtungen gibt es keine Unterteilung in Ost und West.
Manchmal halte ich es für nicht förderlich, sich so sehr am Sehen
zu orientieren. Jedenfalls sind Buddha, Dharma und Sangha keine visuellen Objekte.
Die christliche Art und Weise, Gott als etwas Universelles
und Allgegenwärtiges zu erklären, ist gut. Das führt zu einem
guten Verständnis der Dinge. Das ist besser als die Haltung:
„Mein Buddha, mein Dharma, meine Sangha“. Das ist Unsinn! Diese Einstellung ist das Problem. Es ist lächerlich, Anhaftung an
ein bestimmtes Objekt zu entwickeln, ganz gleich ob es um „meinen Lama“ oder „meine Dinge“ geht. Buddha selbst sagte, wir
sollten weder an ihm, noch an Erleuchtung noch an den Sechs
Paramitas haften. Wir sollten an nichts haften.
Nun, die Zeit ist beinahe um. Ich finde es immer noch schade, dass Seine Heiligkeit nicht kommen konnte. Wenn wir Seine
Heiligkeit einladen, ist das für mich, als würde ein zweiter Buddha auf diese Erde kommen. Deshalb ist es bedauerlich, dass er
nicht hier sein kann und ihr mit derartigem Müll vorlieb nehmen
müsst – mit einer gewöhnlichen Person wie mir.
grenzenlos.indb 97
11.04.2007 11:04:37
98 Grenzenlos ist die Kraft des Geistes
Eine Heilmeditation
Nun lasst uns ein paar Minuten meditieren. Wir senden weiße,
strahlende Lichtenergie aus und reinigen damit alle Hindernisse.
Besonders von unserem Herzen senden wir weiße, glückselige,
strahlende Lichtenergie zu Seiner Heiligkeit.
(Stille)
Und vom Herzen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama kommt ein
weißes strahlendes Mantra, das OM MANI PADME HUM aus Licht,
zu unseren Herzen.
(Stille)
Vom Scheitel bis zur Sohle wird unser gesamtes Nervensystem
durch das Mantra OM MANI PADME HUM aus dem Herzen Seiner
Heiligkeit gereinigt.
(Stille)
grenzenlos.indb 98
11.04.2007 11:04:37
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