Bedeutung der Kommunikation in der transkulturellen Pflege

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Charlotte Uzarewicz
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Die Bedeutung der leiblichen
Kommunikation im Kontext trans~
kultureller Pflege
"Von dem. was man heute denkt. hangt das ab. was morgen auf den Straßen und Plätzen gelebt wird.»
(fose Ortega y GassetJ
.
1
.
~
~
.~
260
11. Teil: TranskultureJle Kompeten~
6.1
Einleitung 99
Kommunikation ist ein Begriff, der sich üblicher
Weise auf die gesprochene oder geschriebene
Sprache bezieht. Menschen können aber auch
auf andere Weise und über andere Kanäle kommunizieren und täglich miteinander in Kontakt
treten LOO (siehe dazu auch Kap. 11.5 von Altorfer
und Käsermann ). Jeder kennt die Situation, dass
man sofort mitgahnen muss, wenn man einen
gähnenden Menschen ansieht oder auch nur
vom Gähnen liest. Auch die Unmöglichkeit sich
des Mitlachens in einer Gruppe fröhlicher und
ausgelassener Menschen zu enthalten verweist
auf andere Formen der Kommunikation zwischen Menschen. Die phänomenologische Fragestellung hierbei ist nicht die nach den Ursachen
derartiger Erscheinungen, sondern: Was geht
vor sich? Welche Formen des Kontaktes gibt es?
Über welche Kanäle läuft eine derartige Kontakt aufnahme? Im hier zugrunde gelegten Ansatz wird von der Leiblichkeit'Ol des Menschen
ausgegangen - ein in der Philosophie allgemein
bekanntes und diskutiertes, in der Pflege bislang
weitgehend unbeachtetes Konzept. «Der Leib
kann gewissermaßen nur von einem anderen
Leib verstanden werden.» [Fuchs, 2004: 18 J, daher bietet die leibliche Kommunikation Wege
der Verständigung an. Wir können an der Leiblichkeit anderer teilhaben, weil wir selbst leiblich sind. Aus unserem leiblichen Wissen, unserem Wissen um die Leiblichkeit heraus kennen
wir z. B. die Möglichkeiten des Ptlegens, des
Heilens, der Zuneigung und der Abneigung. Wir
wissen, wie es ist, wenn man Hunger oder Durst
hat, wie dumpfe oder stechende Schmerzen
sind, was Müdigkeit oder Frische sind, weil wir
selbst hungrig und durstig, freudig erregt, müde
oder frisch sind. Wir «kennen» dies alles aus unserer eigenen Leiblichkeit, aus ihrer Struktur,
ihrer Topographie, ihren Regeln. Trotz der
großen historischen und kulturellen Relativität
und Variabilität (z. B. des Gehens oder Schwimmens, um hier die Körpertechniken Mauss'I02
einmal aufzugreifen), gibt es auch ein ganz entschiedenes gegenseitiges Verständnis, jenseits
symbolischer Vermittlungen, das aus dem Gehen und Laufen auf zwei Beinen, dem Agieren
6. Leibliche Kommunikation
mit zwei Armen und zehn Fingern an zwei Händen, dem Sehen mit zwei Augen - d. h. aus
der anthropologischen Grunddisposition - resultiert. lo3 Die unendlich große Verschiedenheit
und Vielfalt unter den Menschen findet hier
ein ausreichend gemeinsames Fundament für
transkulturelle Interaktionen - auch jenseits der
verbalen Sprache. 1m Folgenden soll es darum
gehen, das Konzept der leiblichen Kommuni.
kation vorzustelJen. An der Darstellung und
der 1nterpretation eines FaUbeispiels wird im
Anschluss verdeutlicht, welchen Nutzen dieses
Konzept in transkulturellen Interaktionssitua_
tionen haben kann.
•
Übung
Leibliche Kommunikationswege
Finden Sie Beispiele von Situationen - wie
das Mitgähnen oder Mitlachen - die sie erlebt haben und denen man sich nicht oder
nur schwer entziehen kann.
Beschreiben Sie diese Beispiele und versuchen Sie, die charakteristischen Merkmale
solcher Situationen herauszuarbeiten.
•
6.2
Theoretische Grundlagen
99
100
101
102
103
Im vorliegenden Artikel wird das Konzept derleibJi.
6.2.1
ehen Kommunikation, das in «Das Weite suchen»
leib und Körper
von Uzarewicz/Uzarewlcz ]2005) ausführlich dargelegt worden ist, um das der Transkulturalität erweiten. Die aus dieser Quelle stammenden Formulierungen und Textpassagen werden nicht im Einzelnen zitiert.
Der Terminus '<nonverbale Kommunikation,) ist
eine Negation und beinhaltet keine positive Erklärung der Phänomene, die er benennen wiU.
Vgl. hierzu ausfuhrlich die Werke von Hermann
Schmitz, System der Philosophie, besonders Bd.
1. Teil: Der Leib [1998a).
Mauss hat an vielen empirischen Beispielen ein·
drücklich dargelegt, wie unterschiedlich Menschen
sich ihres Körpers bedienen, wobei dicse Differenzen nicht nur individuelle bzw. psycho-physische
sind. sondern historischen und soziokulturellen
EinOLissen unterliegen. In diesem Zusammenhang
spricht er von den Techniken des Körpers, die im
SozialisOltionsprozess erlernt werden, «Die Stellung
der Arme, der Hände während des Gehens, stellen
eine soziale Eigenheit dar und sind nicht einfach ein
Produkt irgendwelcher rein individueller, fast aus·
schließ] ich psychi.ch bedingter Handlungen und
Mechanismen." IMauss, 1978: 202).
Diese anthropologische Disposition ist in reduktionistischer - weil bedürfnisorientierten - Form
in den Pflegekonzeplen versteckt, die auf den Aktivitäten des Täglichen Lebens (ATL) bzw. den Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des täglichen Lebens (AEDL) basieren. Erweitert man diese
psychosomatisch verstandenen Kategorien um die
leibliche Dimension, erhält man ein umfassenderes HOlndlungskonzept, nicht nur für Migrantlnnen.
Leib ist keineswegs ein veraltetes Synonym für
Körper; vielmehr handelt es sich bei diesen
beiden Begriffen um verschiedene Weisen, den
Menschen zu betrachten. Vorstellungen, die mit
Körper verbunden sind, sind uns eher geläufig: Körpergefühl, Bodystyling, Körperkult oder
auch kulturell verschiedene Vorstellungen von
und Umgang mit Körperlichkeit sind allgemein
bekannte und weithin beschriebene Themen.
Weniger attraktiv erscheint dagegen der Leib:
Leibschmerz, Leibesübungen. Leibchen, Dickleibigkeit, Beleibtheit, Unterleib. Die Assoziationsketten, die beim Hören derartiger Begriffe
gestartet werden, scheinen in gegensätzliche
Richtungen zu laufen.!o, Betrachtet man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Leib, welches auf eine germanische Wortwurzel (Up,
lif) zurück zu führen ist, wird deutlich, dass Leiblichkeit auf das Engste mit dem Lebensbegriff
verbunden ist: am Leben sein, lebendig sein. lOS
Der Leib ist kein stoffliches Gebilde wie der
Körper. Hier fmdet sich eine erste Analogie zum
Konzept der Transkulturalität: Diese überwindet
das substantialistische (und damit das differenzialistische) Kulturkonzept, indem es den Mythos, dass Kultur eine fest umschriebene Substanz hat, aufdeckt (siehe dazu auch Kap. 1.1 von
n.
Dornheim und Kap. II.l von Domenig). Die
Leiblichkeit gehl ebenfalls über die fest umschriebene Substanz der Körperlichkeit hinaus.
Als körperlicher Leib ist dieser zwar an Stoftlichkeil gebunden; aber Leiblichkeit geht weit über
den Körper hinaus und bezeichnet eine dynamische Struktur des Lebendigen. des Lebenden.
Daher heißt leiblich sein in erster Linie (sich)
spüren. Um die Begriffe besser voneinander abzugrenzen, mag folgendes Bild hilfreich sein:
Die Grenze des Körpers ist die Haul; sie umhüllt diesen und lässt eine Unterscheidung
zwischen einem innen (im Körper) und einem Außen (außerhalb des Körpers) zu.
a Die Grenze des leiblichen Körpers ist das
mit den Sinnen wahrnehmbare, der sinnliche
Körper; die Sinne reichen über die Hautgrenze des Körpers hinaus (z.B. riechen, hören), sind aber aufgrund ihrer Stofflichkeit
(Sinnesorgane) an diesen gebunden.
Die Grenze des Leibes ist das Spürbare. Der
Leib hat keine klar umgrenzten Konturen. Er
reicht weiter als die Sinne. Man kann jenseits
der Sinne etwas spüren.
Dieses Spüren ist ein Vorgang, der den Menschen insgesamt, ganz und gar umfasst, oft mit
einem Schlage, urplötzlich noch bevor die Sinne
ins Spiel kommen und mit Wahrnehmung beginnen. Auch Menschen, deren Sinne nicht (mehr)
arbeiten, - wie z. B. Apalliker. Bewusstlose - spüren etwas: die Anwesenheit der Pflegenden im
Raum, die Stimmung oder Atmosphäre im Zimmer. Im Alltag gibt es viele Phänomene, die uns
so gewöhnlich erscheinen, dass man darüber
nicht nachdenkt: Wenn man einen Raum betritt,
spürt man sofort, ob da «dicke Luft" oder hei-
104 Das hat u.a. auch etwas mit der SprachentwIcklung
in neuerer Zeit zu tun, die hier aber nicht Thema
sein kann.
105 So erklan sich auch, dass sich die heute noch gan·
gigen Worte Leibchen, I.eibschmerz. Dickleibigkeit
etc. auf die Region <'Bauch/Rumpf» beziehen; seit
Alters her und auch in verschiedenen kulturellen
Vorstellungen wird um die Gegend des Nabels/der
Lende das Zentrum hzw. der Sirl. des Lebens ver·
ortet.
261
262
11. Teil: Transkulturelle Kompetenz
6. Leibliche Kommunikation
tere Gelassenheit herrscht; die Atmosphäre wird
unmittelbar ganzheitlich gespürt. Jnsofern sind
Wahrnehmen und Spüren zwei verschiedene
Qualitäten. Wir nehmen zwar unseren Körper
mit den Sinnen wahr, spüren aber dabei unseren
eigenen Leib. Ohne eigenleibliches Spüren
könnten wir unseren Körper nicht als eigenen
wahrnehmen, weil da nichts wäre, was man sinnvoll «wir» und «uns» nennen könnte und weil wir
nicht wissen könnten, um wessen Körper es sich
handelt [Uzarewicz/ Uzarewicz, 2005: 73-74].
•
Übung
Wortspiel
Fertigen Sie eine Liste mit zwei Spalten an
und schreiben Sie über die rechte Spalte
das Wort Körper, über die linke Spalte das
Wort Leib.
- Finden Sie Substantive, zusammengesetzte
Wörter und/ oder Adjektive zu diesen
Oberbegriffen und tragen Sie diese in die
jeweilige Spalte ein.
Betrachten Sie nun das Ergebnis und entwickeln Sie dabei ein «Gespür» für die Unterschiede dieser heiden Konzepte.
o Was
ist Spüren' Beschreiben Sie Situationen aus Ihrem beruflichen Alltag, in denen
das Spüren für Sie eine besondere Bewandtnis hat.
•
6.2.2
Transkulturalität und leiblichkeit
So lange der Mensch lebt, ist er auch leiblich.
Natürlich gibt es kulturelle überformungen der
Leiblichkeit. Durch Sozialisation erlernen die
Menschen sich in bestimmten Situationen spezifisch und angemessen zu verhalten; sie spielen
ihre Rollen. Habitus, Manieren, Benehmen sowie Haltung legen Zeugnis davon ab, dass Menschen selbst immer ihre Leiblichkeit umformen.
So erhält der Leib «eine Außenseite; er wird
zum Körper-für-andere und zum Träger sozialer
l und kultureller, Anmerkung der Autorin] Sym-
bolik.» [Fuchs, 2004: 13]. Die Menschen verwenden unterschiedliche Zeichen und Symbole
essen und trinken Verschiedenes, wählen ander~
Bekleidungen, bauen diverse Behausungen, spielen verschiedene Spiele, aber ihre Leiblichkeit ist
überall weitgehend die gleiche. Sie kennen unterschiedliche Anlässe Angst zu haben, sie sind
auf un terschiedliche Weise krank, sie haben «von
Gott und der Welt» unterschiedliche Vorstellun_
gen und Ideen. Das ist der Grund für die vielfälligsten Unterschiede trotz gemeinsamer leiblicher Basis. Alle diese Phänomene lassen sicb
mit der (Schmitz'schen) Theorie der Leiblichkeit
erhellen.
Um sich in aufgeregten Situationen zu entspannen bzw. zu beruhigen, mögen die einen
Mozart oder Vivaldi hören, die anderen orientalische Klänge oder den Sprechgesang der Koransuren. Ent-Spannung bedeutet auf leiblicher
Ebene die Spannung aus mir herauszunehmen,
aus einer gespürten Enge oder einem Beengt-sein
sich Weite zu verschaffen, sich innerlich (wieder)
auszudehnen. Auch der Schreck ist z. B. für jeden
Menschen, gleich welcher Herkunft, Nationalität, Religion oder welchen Geschlechts, ein engendes Erlebnis. Ebenso kennt jeder die eigenleiblichen Regungen wie Hunger, Durst, Wollust,
Schmerz, Müdigkeit und Ekel und spürt diese an
seinem eigenen Leib.
Was heißt es z.B., wenn MigrantInnen in Altenheimen Heimweh haben? Heimweh ist eine
Sehn-Sucht nach einem anderen Ort und einer
anderen Zeit (vgl. Uzarewicz/ Uzarewicz, 1998:
223 f.J, die man leiblich spürt als ein Wegstreben
und gleichzeitig Bei-sich-sein-wollen. '06 Das kann
zu einer seltsamen Mischung aus Spannung und
Schwellung führen (die Ferne, die man doch so
nah haben möchte), so dass man nicht mehr ein
noch aus weiß: Nicht mehr essen können, seltsame Leibschmerzen, Apathie können äußere
Erscheinungen dieses leiblichen Strebens sein.
In dem hier genannten Beispiel hat Heimweh
eine doppelte Qualität, da die MigrantInnen ei-
106 Gleiches be;chreibt Linck [2001: 127J in einem ganz
anderen Zusammenhang: "Schon die Sehnsucht ist
nichts anders als 1eibliche Richtung aus der Enge in
die Weite.»
nerseits nicht in ihrem HerkunftsJand und andererseits in einer fremden Institution leben.
Das "Stückchen Heimat» wird oft assoziiert mit
Gefühlen nach Vertrautheit, Gewohnheit und
Geborgenheit. Hier mag für einige BewohnerInnen das Glas mit sehr siißem Schwarztee Heimat vermitteln, für die anderen eine heiße Suppe
zu Mittag (wie früher bei Mutter) oder der Geruch orientalischer Gewürze, der Mittags aus der
Küche dringt. Was ist nun das Gemeinsame dieser drei unterschiedlichen Qualitäten süß, heiß
und «orientalisch»? In jedem dieser verschiedenen Beispiele handelt es sich darum, durch unterschiedliche Maßnahmen die leibliche Ökonomie dadurch wieder ins Gleichgewicht zu
bringen, indem sich die betreffenden Personen
Weitung verschaffen können und den jeweiligen
(Lebens)Rhythmus mit dem des sie umgebenden
Rhythmus synchronisieren. Damit entstehen
Sensationen des Geborgenseins auf leiblicher
Ebene (innerliche Ausdehnung, Weitung), die
im transkulturellen Verständigungsprozess bedeutungsvoll sind. Das eigenJeibliche Spüren ist
in diesem Sinne transnational, transkulturell,
transhistorisch. Die unterschiedlichen Formen,
Anlässe und Ausprägungen sind jeweils kulturelle, soziale, geografische, ökonomische etc. Varianten. Kulturell spezifische Ausprägungen sind
in unserem Leibgedächtnis gespeichert, welches
untrennbar mit dem eigenleiblichen Spüren verbunden ist [vgl. Fuchs, 2004: 17 f. J.
Die leibliche Ökonomie zielt also auf ein
Gleichgewicht zwischen den leiblichen Qualitäten 107 ab, d. h. sie ist labil, ständig in Bewegung
und daher auch beeinflussbar von außen. Denn
der Leib geht über die Körpergrenzen hinaus
und steht mit den ihn umgebenden Medien in
permanenten Austauschprozessen. Man kann
sagen, dass Menschen grundsätzlich das Weite
suchen, weil der Zusammenhalt der Leibesinseln
zum Leib Engung bedeutet. ,0<\ Das Weite suchen
kann man auf un terschi edlichste Arten: En tspannungstechniken (ent-spannen) gehören ebenso
dazu wie reisen, wandern, migrieren oder auch
der Blick in die Ferne zum Horizont, wenn man
am Meer sitzt oder einen Berggipfel erklommen
hat.'09 Wie aber funktioniert nun diese Leiblichkeit und wie soll man sich leibliche Kommunikation vorstellen?
•
Übung
Cl Was bedeutet für Sie Heimat? Wenn Sie «in
der Fremde» wären, wie würden Sie fur
sich dieses Heimatgefuhl versuchen herzustellen? Bearbeiten Sie diese Frage alleine.
Sie dann in einer Kleingruppe
die grundlegenden Gemeinsamkeiten Ihrer
unterschiedlichen Maßnahmen.
fJ Diskutieren
C Versuchen Sie die gefundenen Gemeinsam-
keiten mit den Begriffen Weite/Weitung,
Enge/Engung, dumpf/weich/gedämpft bzw.
spitz/hell/schrill zu charakterisieren.
•
6.2.3
Kanäle der leiblichen
Kommunikation 11D
Es gibt verschiedene Wege leiblich zu kommunizieren. Wie wichtig dieses Thema gerade auch
für die Pflege ist, wird deutlich, wenn man sich
L07 Vgl. hitrtu das AJphabet der Leiblichkeit von H.
Schmit< 1998 a, 1992; Ularewicz/Uzarewio 2005:
90 Cf.
t08 Leibesinseln sind "Gegenden" am Körper, die weder
klar konturiert noch stabiJ sind. Man spurt Z. ß. bei
Hunger die Magengegend; dieses Spuren mag ein
Zentrum besitzen, strahlt aber weit und diffus darüber hinaus und affi,iert bei starkem Hunger die gesamte Person (vg!. Uzarewicz/Uzarewiez. 2005: 98 ff.l.
t09 Dass es so wichtig ist, nahezu existenziell, sich zu
spüren und dieses Spuren auf den Dialog zwischen
Engung und Weitung angewiesen ist, d.h. das Verhaltnis zwischen diesen beiden Größen immer neu
auszuloten ist, ?eigen auch die so genannten Extremsportarten: Hier geht es darum. durch Anstrengung/Engung die Weite zu erfahren und in diesem
Erfahren sich und seine Lebendigkeit zu spuren.
110 Es handelt sich hier um eine exemplarische Darstellung; die vorgestellten Kanäle leiblicher Kommuni ka·
tion sind nicht vollständig, wohl aber zentral. Weilere
Anschlussstellen leiblicher Kommunikation sind
Stimmungen und Atmosphären, die auf die leibliche
Befindlichkeit unmittelbar einwirken. Aber auch
Rhythmen und Resonanzen (,.ll. in der Musik), sowie ßeweglU1gssuggestionen und Gestaltverlaufe von
Dingen können zu Kamilen fur leibliche Kommuni·
kation werden (vg!. Schmitz, 1992: t90ff.; Soentgen,
1998: 36; Uzarewiczl Uzarewicz, 2005: 158 ff. I.
26!
2M
Il. Teil: TranskultureJle Kompetenz
klar macht, was in der pflegerischen Interaktionssituation geschieht: Es begegnen sich (mindestens) zwei Menschen, die miteinander reden,
die sich dabei ansehen und sich evtl. auch anfassen, also Körperkontakt haben. Der Blick, die
Stimme, der Händedruck gelten als Medien für
Mitteilungen auf leiblicher Ebene (vg!. Soentgen, 1998: 38].
Der Blick. «Blicke scheinen mindestens soviel zu
können wie eine bewaffnete Armee.» lebd.: 37),
z. B. kann ein Blick jemanden überwältigen, bannen, fesseln, fast umbringen oder zum Schweigen bringen, aber auch in einen anderen ein·
dringen, jemanden beruhigen, auffordern oder
das Gegenüber entwaffnen. «Blicke ( ... ) greifen
tief ins leibliche Befinden beider Partner ein
{... ).» lSchmitz, 1992: 411. Der warme Blick ist
dazu in der Lage, ängstliche Patientlnnen, die
den Blick der Pflegenden suchen, zu beruhigen,
z. B. auf dem Weg in den Operationssaal, oder
unruhige PatientInnen mit einem ruhigen und
gelassenen Blick merklich zu entspannen. Eine
verbale Erläuterung über den bevorstehenden
Eingriff im Sinne einer gut gemeinten Aufklärung wäre hier u. U. kontraproduktiv, der Einsatz der Stimme, wenn sie denn auch noch im
eher alltagshektischen Geschehen tendenziell
selbst hektisch und schrill ist, würde Aufgeregte
vielleicht sogar tiefer in ihrer verfahrenen Situation befestigen. «Blicke sagen mehr als tausend
Worte» - dieses alte Sprichwort ist für die leibliche Kommunikation durchaus wörtlich zu
nehmen. Auch zwischen Mensch und Tier ist der
Blick ein wichtiger Kommunikationskanal, man
denke nur an die DompteurInnen im Zirkus,
die sich mit Großkatzen umgeben und diese
durch Augenkontakt «in der Gewalt haben». In
der Erziehung von Kindern, die ja manchmal
der Dressur von kleinen Raubtieren ähnelt, wird
hin und wieder ein strenger Blick eingesetzt,
wenn verbale Argumente versagen. Die sprachlose Zurechtweisung kann in ihrer Eindringlichkeit intensiver sein als verbale Schelte.
Die Stimme. Neben dem Blick ist es die Stimme,
die in einem solchen Fall ebenfalls als Anschlussstelle für leibliche Kommunikation genannt werden kann. Es kommt dabei nicht auf den Inhalt
6. Leibliche Kommunikation
des Gesagten lll an, sondern auf die Stimme> um
jemanden aus der Fassung zu bringen, aufzureizen oder zu beruhigen. In unserer Alltagspraxis
gibt es genügend Beispiele hierfür: Das Vorlesen
von Gutenachtgeschichten, das (Vor)singen von
Schlafliedern, das gemeinsame Gutenacht· oder
Tischgebet, das in verschiedenen Religionen
praktiziert wird oder der Fernseher, der in vielen
Haushalten ganztägig im Hintergrund läuft und
durch Stimme und bewegte Bilder vermittelt,
dass man nicht alleine ist. Ebenso kann man sich
in die Lage hineinversetzen als kranker Mensch
in einer fremden Umgebung zu sein; fremd in
vielfacher Hinsicht: In einem Krankenhaus von
unbekannten Menschen umgeben, die etwas von
einem wollen> evtl. sogar an den Körper gehen,
von einer Sprache umgeben zu sein, die man
nicht (gut) versteht bzw. beherrscht> von einem
Körper bedrängt zu sein, der einem fremd geworden ist, weil man (noch) keine Diagnose hat
und die Reaktionen des eigenen Körpers gänzlich unbekannt sind. Auf wen oder was soll man
sich da verlassen oder vertrauen können? In einer solchen Situation, die im Krankenhaus nahezu
alltäglich ist, tut es einfach gut, wenn jemand da
ist, der einem auf der leiblichen Ebene begegnet
und z. B. durch Stimme und Blick vermittelt:
«Du bist nicht alleine! Wir kümmern uns um
Dich im Sinne von: Wir tragen Sorge für Dich!»
[vgl. Schnepp. 1996 J.
Die Hände. Auch die Hände als dritter Kanal der
leiblichen Kommunikation können hierbei unterstützend eingesetzt werden. In der beschriebenen Situation macht es wenig Sinn, den Menschen etwas härter anzufassen, ihn aufzufordern,
sich zusammen zu reißen. Das käme einem Indie-Enge-treiben gleich und würde eher zum
Rückzug führen. Die Wärme, die bei einer Berührung von der Hand ausgehen kann, ist nicht
111 Die Bedeutung der Sprache für die leibliche Kom·
munikation wäre gesondert zu behandeln; man
denke nur an (ergreifende) Gedichte, ßibliotherapie
(ßibliotherapie ist der durch den Fachmann (die
Fachfrau) individuell ausgewahlte Lesestoff als the·
rapeutisches Hilfsmittel bei somatischen und psy'
chischen Erkrankungen» [Mannhard, 199 L: 214; allSfuhrlich dazu vgl. Petzold, 1995 j) und Ähnliches.
nur eine physiologische, sondern eine leibliche,
die in einer beengenden (beängstigenden) Situation Weitung verschafft. Jeder kennt sicherlich
die Beruhigung und Erleichterung, die z. B. das
Handauflegen auf Kopf, Stirn, Bauch oder Rucken bewirken. Wenn man einen Tisch anfasst
oder jemandem die Hand gibt, so spürt man
gleichzeitig den Tisch oder die andere Hand und
sich selbst. Das Spüren der Hand bzw. des Tisches kann man an den Körpern festmachen, sie
sind stofflich. Diese Gleichzeitigkeit und Beidseitigkeit ist im pflegerischen Alltag nur zu gewähnlich, weil man ständig irgendetwas oder
irgendjemanden «berührt». Damit passiert aber
auch immer eine Berührung auf leiblichem Niveau - eben leibliche Kommunikation. Da bei jeg~
licher Kommunikation Missverständnisse möglich sind, sind sie es auch bei Berührung. Wenn
ich als frisch operierte Patientin nach einem
schweren Eingriff und noch «benebelt» von der
Narkose gerade dabei bin, wieder «zu mir zu finden» und eine jungdynamische Pflegefachfrau
mich im Rahmen der morgendlichen Toilette
mobilisieren will (und muss), so hängt der Verlauf des restlichen Tages entscheidend davon ab,
wie sie mich anfasst: Ob ich den Tag guten Mutes - zwar geschwächt, aber mit Zuversicht - angehe oder ob ich nach der Morgenwäsche mich
ins Bett zurück und die Bettdecke über den Kopf
ziehe und eher weinerlich, passiv, der Welt abgewandt den Tag verbringen werde.
•
Übung
Welche Kanäle der leiblichen Kommunikation gibt es?
-. Wle setzen Sie in Ihrer beruflichen Praxis
Ihren Blick ein, um etwas zu erreichcn?
Nennen Sic drei Beispiele unterschiedlicher
Situationen.
Wie reagieren Menschen auf Ihre Stimme?
.. Welche Stimmlagen von anderen Menschen
sind für Sie besonders angenehm, welche
besonders bedrohlich. Versuchen Sie Ihre
Zuordnung unter Zuhilfenahmen der Begriffe der Leiblichkeit zu begründen.
D Die Hände: Was empfinden Sie, wenn Sie
mit kalten Händen berührt werden und
wenn Sie mit warmen Händen berührt
werden? Was sagt Ihnen ein fester Griff,
was ein sehr weicher Griff?
•
6.2.4
Einleibung als Beispiel leiblicher
Kommunikation
Leiblichkeit ist Kommunikation. «Von leiblicher
Kommunikation im Allgemeinen will ich immer
dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer
für ihn leiblich spürbaren Weise so betroffen
und heimgesucht wird, dass er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in
Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu
richten und sich davon für sein Befinden und
Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben
läßt.» (Schmitz, 1989: 31-32). Nach Schmitz
[ebd.: 95 Er] ist die Einleibung'" die wichtigste
Form der leiblichen Kommunikation. 11} "Einleibung bedeutet, dass Gegenstände, die nicht zum
eigenen Leib gehören, in sein Befinden eingrei~
ren.» ISoentgen, 1998: 39). Einleibung entsteht
dadurch, dass eine oder mehrere Personen in ein
«sich bildendes übergreifendes leibliches Gefüge» [Schmitz, 1989: 95] - in einen sog. Ad·
hoc-Leib - eingebettet sind und zwar durch
Bezug auf die Enge des Leibes. Hier tritt die
Leiblichkeit weit über die Körperlichkeit hinaus
und vereinigt sich mit anderen Leibern. Doch wie
entsteht eine solche übergreifende leibliche Einheit? Folgende Bedingungen führen diese herbei:
C das Herstellen eines gemeinsamen
Rhythmus:
z. B. durch Singen, Klatschen, Rufen, Sprechen,
LEI das Herstellen einer gemeinsamen leiblichen
Richtung: z. B. bei Märschen, Wandergruppen,
Demonstrationen; aber auch das gemeinsame
aus dem Fenster schauen,
I) 2 Einleibung ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff
der Einverleibung!
113 Ausleibung, Bewegungssuggestionen, Geslaltverläufc
und synasthetische Charaklere bleiben hier unberücksichtigt [vgJ. hiel'?u UzarewicuUzarewicz 2005!.
26:
11. Teil: Transkulturelle Kompetenz
266
ri das Herstellen einer gemeinsamen Enge auch
für große Menschengruppen. Diese ist nicht
nur räumlich zu verstehen (z. B. bei Kundgebungen auf Marktplätzen), sondern auch metaphorisch: Demagogische VolksrednerInnen
sind in der Lage, Menschenmassen in ihren
Bann zu ziehen, so dass den einzelnen Individuen kein Ausweg mehr bleibt.
Bei der Einleibung werden weiter verschiedene
Arten unterschieden:
Die einseitige Einleibung. Einseitige Einleibung
geschieht z.B. bei der Suggestion. Hier übernimmt der Suggestor oder die Suggestorin (ob
Mensch oder Ding) die Rolle der Enge des übergreifenden Leibes. «Suggestion beruht auf der
fesselnden Wirkung eines Schlüsselreizes, der die
Rolle der Enge des Leibes an sich zieht und eben
deshalb zum Schlüssel für das leibliche und vom
Leiblichen her bestimmbare Verhalten der von
Suggestion Betroffenen wird.» [Schmitz, 1989:
84]. Bei der Eigensuggestion wird dieser Reiz absichtlich hervorgerufen und nicht nur erlitten.
Die wechselseitige Einleibung. Wechselseitige
Einleibung ist «die Basis der Sozialkontakte unter
Menschen wie unter Tieren.» [Schmitz, 1992: 57];
dabei werden zwei Unterformen differenziert:
C
antagonistische wechselseitige Einleibung: Das
Gegeneinander im Zusammenwirken wird
betont; z. B. zW'ei Boxer im Boxkampf, der
Tonero und der Stier, zwei gegeneinander
kämpfende Menschen;
solidarische wechselseitige Einleibung: Das
Miteinander im Zusammenspiel wird betont.
Hierzu gehört z. B. auch das gemeinsame Lamentieren, Weinen oder Schreien bei einem
Unglücksfall, das als eine leibliche Äußerung
des sich gegenseitigen Vergewisserns, des SichHaltens gesehen werden kann. Hier bildet sich
ein übergreifender Ad-hoc-Leib, der den Einzelnen aus seinem Schmerz, seiner Einsamkeit
befreit. Weitere Exempel sind das Gespräch,
das Musizieren oder (n. U. mehrstimmige) Singen im Chor oder das Tanzen [vgl. ebd.: 54 ff.l.
Manches wird sogar zu Kunstwerken gesteigert, wie z. B. bei SynchronspringerJnnen oder
BaUetttänzerJnnen, bei denen nicht nur die
6. Leibliche Kommunikation
flewegungsabläufe auf der technischen Ebene
minutiös aufeinander abgestimmt werden
müssen. Sondern es ist vor allem das Gespür
füreinander und für die gemeinsamen Bewegungen, welche diese Art von leiblicher Kommunikation ausmacht und damit die Qualität
der Kunst bestimmt.
Sicherlich keine künstlerische, aber doch professionelle Könnerschaft einleibender Kommunikation bedarf es wohl in fast jedem Beruf, insbesondere dort, wo man es permanent mit
anderen Menschen zu tun hat, wie in der Pflege.
Ein Beispiel aus dem Krankenhausalltag ist das
gut eingespielte Operationsteam, insbesondere
die operierende Chirurgin und die «Instrumentenschwesten>. Aber auch das Hand-in-HandArbeiten des PAegepersonals beim Betten und
Lagern eines bettlägerigen Menschen, beim Waschen, bei der Körperpflege sowie beim Essen
eingeben erfordert ein solches eingespieltes Können. Besonders eindrucksvolle Beispiele wechselseitiger Einleibung finden sich in Krohwinkels
(1997) Analysen über kongruentes bzw. inkongruentes PAegeverhalten. Danadl wird ein Pflegeverhalten als kongruent bezeichnet, wenn die
willentlich-emotionale und die physisch-funktionale Dimension der Pflegenden während einer Pflegehandlung übereinstimmen. Inkongruent ist es, wenn diese beiden Dimensionen
auseinanderfallen. Die Frage, wie die übertragung dieser Dimensionen auf die zu Pflegenden
stattfindet, wird nicht ausgeführt, sondern es
werden lediglich die Auswirkungen, die derartiges kongruentes bzw. inkongruentes Pflegeverhalten hat, analysiert'l4 Die Antwort auf die
Frage des «Wie» gibt jedoch die Leibphänomenologie: Der Patient spürt es (am eigenen Leibe)
und er antwortet ebenfalls auf leiblicher Ebene
und zwar geschieht beides über die Kanäle der
leiblichen Kommunikation.
Leibliche Kommunikation findet also permanent statt und greift ständig in das leibliche Befinden der Menschen ein. Dabei müssen die
114 Krohwinkel spricht hier von defhitorientiert-vcrsorgender Pflege, die abhängigkeits fordernd wirkt
und von fahigkeitsorienticn-fördernder Prozesspflege IKrohwinkel, 1997: l4Sff.).
leiblichen «KommunikationspartneT» nicht unbedingt ein menschliches oder überhaupt ein
lebendiges Gegenüber sein." S Eine derartige
Funktion können z. B. auch die Kuscheltiere
kleiner Kinder, die vertraute Landschaft, der gemütliche Sessel oder die Wohnung einnehmen.
Die eigentümliche Intimität mit dem vertrauten
Raum bedeutet beispielsweise, dass wir in den
Raum als einer ganzen Situation eingeleibt sind.
Die Konsequenz daraus ist, dass kleine Veränderungen große Auswirkungen haben können. Alle
Menschen versuchen, sich einen Platz so einzurichten, dass sie sich wohl fühlen; meistens ist es
die eigene Wohnung. Auch Migrantlnnen, die
per definitionem «in der Fremde» leben, suchen
sich einen Platz, wo sie es gut aushalten, wo sie
sich zu Hause fühlen können. Wenn man nun
aus dieser geschaffenen Vertrautheit plötzlich
weggerissen wird - z. B. durch einen Unfall -,
oder diese für eine Weile aufgeben muss, weil
man für einige Wochen in ein Krankenhaus eingewiesen wird, wird die Leiblichkeit unmittelbar
getroffen, weil die Stimmung, die Atmosphäre
der eigenen Welt nicht mehr stimmt. Irritationen, Aggressivität, Unsicherheit, motorische
Unruhe, Weinerlichkeit, Verwirrtheit, plötzlich
auftretender Sprachverlust der erlernten Fremdsprache ete. können Ausdruck der gestörten Einleibungsmuster sein. Diese müssen im Falle einer Krankenhauseinweisung erst wieder neu
arrangiert werden, wobei sich die «Einleibungspartner» ebenfalls neu finden müssen. Das kann
man im Alltag an sich selbst ebenfalls gut beobachten: Wie lange dauert es nach einem Wohnungsumzug, bis man sich in den neuen vier
Wänden heimisch fühlt, bis sie zu den «eigenen»
vier Wänden geworden sind? Wohnen kommt
von Gewöhnung. Schmitz definiert Wohnen als
«Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum.»
(Schmitz, 1995: 264]. Wenn diese Umfriedungaus welchen Gründen auch immer - durchbrochen wird, sind damit gleichzeitig die Gewohnheiten eines Menschen affiziert. Welchen
essenziellen Einfluss derartige Geschehnisse nicht
nur auf das Wohlbefinden, sondern auf die Gesundheit haben, wird an Hand des Fallbeispiels
(vgl. hierzu 6.3) weiter ausgeführt. Auch das
Phänomen der «vielen Besucher", welches im
Kontext von Migrantlnnen im Krankenhaus im-
mer wieder beschrieben wird, zeigt, wie wichtig
Einleibung als leibliche Kommunikationsform
ist: Wenn viele Menschen um einen im Bett liegenden Menschen stehen bzw. sitzen, sich evtl.
gleichzeitig unterhalten, so dass der Geräuschpegel recht hoch ist, dann teilen sie gemeinsam
den Raum in dem Sinne, dass sie aneinander
teilhaben: Ein übergreifendes leibliches Gebilde
entsteht, wodurch die Einsamkeit und Isoliertheit des oder der im Bett Liegenden - wenigstens
zeitweise - aufgehoben wird. Das kann zur Linderung des Leidens maßgeblich beitragen.
•
Übung
Was ist Einleibung?
Nennen Sie Beispiele - möglichst aus Ihren
Erfahrungen mit Migrationssituationen - für
einseitige Einleibung,
wechselseitige antagonistische Einleibung,
wechselseitige solidarische Einleibung.
Beschreiben Sie die Interaktionen in Ihren
Beispielen unter Berücksichtigung der leiblichen Dimension.
6.3
Fallbeispiel: leibliche Kommunikation im Migrationskontext
Im Fallbeispiel von Herrn Aydogan (siehe Kasten) sind die Diagnoseverfahren im klassischen
dualistischen Denken von Körper und Geist verhaftet. Nach einer somatischen Diagnostik, die
sehr invasiv ist, aber ohne Erfolg in der Ursachensuche bleibt, stellt die hinzugezogene Psychiatrie
die Diagnose «endogene» Depression und verJ 15 Leibliche Kommunikation ist keineswegs aul den
Dialog I'on Mensch(en) zu Mensch(en) ode,. Men·
sch(cn) und Tier(en) beschränkt. Leibliche Kom·
munikation "funktioniert» mit Pflanzen ebenso wie
mit Dingen. Konnerinnen des pflegens oder PflegeExpertInnen im Benner'schen Sinne sind Beispiele
dafür, dass hier leibliche Kommunikation in Gestalt
der Einleibung vorliegt, die sich gerade nicht der
Sprache bedienen muss.
267
6. leibliche Kommunikation
weist damit auf den Umstand, dass man dafür
eigentlich keine Erklärung hat. Herr Aydogan
selbst kann mit dieser Diagnose auch nichts anfangen, sie sagt ihm nichts, er nimmt die Medikamente nicht. Wie sollten auch die kleinen Pillen
(Antidepressiva) etwas gegen die zu große Leber
machen; wie sollte das funktionieren? Im übrigen
bleibt die Psychiatrie in der Diagnose die Erklärung schuldig, warum eine endogene Depression
Lehcrschmerzen verursacht. Das Konzept Psyche
ist etwas sehr Abstraktes, nichts Greifbares, Herr
Aydogan jedoch hat manifeste Beschwerden, die
er sehr intensiv spürt und relativ genau beschreiben kann; sie haben für ihn in ihm einen Ort."6
Fallbeispiel: Herr Aydogan
"Der fünfundvierzigjährige Herr Aydogan,
der aus dem ganz östlichen Teil der Türkei
(Nähe russisch-persische Grenze) kommt,
lebt seit elf Jahren alleine in der Bundesrepublik. Die Frau und die (inzwischen
fünf) Kinder verblieben in der Türkei. Mehr
als unter der Trennung von seiner Familie
leidet er unter der Perspektivlosigkeit in seinem Leben. Er fühlt sich hier sehr isoliert,
hat niemanden, mit dem er sprechen könnte,
keinen Kontakt mit den Deutschen. Sein Arbeitsplatz sei <viel naSs, viel Dreck, schwer
Platz schaffen,.
Seit acht Jahren ist er wegen <Leberschmerzen, in ärztlicher Behandlung und zur Diagnostik und Therapie in Krankenhäusern,
wo wiederholt Leberbiopsien und Laparaskopien gemacht wurden. Der Befund der
Ärzte führte dazu, dass zwischen subjektivem Empfinden (Symptomrepräsentation)
und objektiv Feststellbarem eine erhebliche
Differenz bestand, die zur überweisung an
einen Psychiater führte. Dieser diagnostizierte eine ,endogene Depression, und verordnete Antidepressiva, die jedoch nicht genommen wurden.
Während des letzten Klinikaufenthaltes
wurde mit dem türkischen Patienten eine
genaue Exploration sowohl zur Lebenslage
als auch zu seinen emotionellen Zuständen
und Schmerzen durchgeführt. Die Leberschmerzen würden immer dann auftreten,
wenn er sich sehr alleine fühle, verstärkt an
den Abenden und Wochenenden. Seine Leber sei <zu groß" seine Leber 'sei gefallen,.
Auf Nachfrage, welche Leber er meine, sagte
er: <icb Kam Cigel; meine Leber viel groß,.' 17
Er schildert weiter, seine ,Moral sei kaputt,.
Er sieht einen ursächlichen Zusammenhang
zwischen seinen Arbeits- und Lebensbedingungen und seiner Erkrankung. Er
wisse nicht, wie sein Leben weitergehe. er
könne nicht mehr entscheiden. Die Fragen,
ob er Traurigkeit habe, bejaht er: ,Evet, ben
üzüntü,."" <Ich viel UZÜlltÜ. Schaffen-Platz
Meister oder Kapo schlecht sprechen, ich
denken (sich Sorgen machen, traurig sein),
Familie Brief schicken, ich denken. Ich allein, ich krank. Ich allein,.
Auf gezielte Nachfrage bestätigt sich die Vermutung, dass üzüntu und Leberschmerzen
bei ihm ein (differenter) Ausdruck ein und
derselben desolaten Lebenslage/Grundstärung sind: <''\Tenn üziinW, dann Leber viel
Schmerz, viel groß,. Er formuliert seine Erwartung an die westliche Medizin, ihn gesund zu machen, denn er sei gesund gekommen und möchte gesund wieder gehen ...
Die Frage nach der möglichen Rückkehr er·
lebt er als Kränkung - darüber könne er erst
entscheiden, wenn er wieder gesund sei. Seiner Meinung nach haben die Ärzte die
Krankheit nur noch nicht gefunden - er
könne nicht verstehen, das seine Leberkrankheit auf den Maschinen nicht zu finden sein. Der Beweis, dass er sehr krank sei,
liege in den vielZähligen Krankenhausaufenthalten und den vielen Untersuchungen.»
(Theilen, 1985: 311-312; Kellnhauser/Sche\Vior-Popp, 1999: 571.
116 Etymologis<:h sind die Wörter Leber und Leben ver-
wandt.
ll7 Ciger hat ,wci Bedeutungen. Zum einen steht es für
Innereien: Leber, Lunge und zum anderen für das Innere einer Sache. einer Person oder eines Menschen.
[18 Ozünt<i bedeutet Trau rigkeit, Perspektivlosigkeit.
Betrachten wir in einem ersten Schritt die Lebensumstände von Herrn Aydogan. Er hat von
den elf Jahren, die er in der Bundesrepublik lebt,
acht Jahre lang Erfahrungen mit dem hiesigen
Gesundheitssystem gesammelt, die wohl eher als
enttäuschend bezeichnet werden können (denn
die Ärzte finden nichts, was man eigentlich auf
den Maschinen sehen müsste). Dennoch glaubt
er immer noch an die Kompetenzen, die Kraft
dieses Systems. Er hält daran fest, dass es eine
Institution bzw. Instanz geben muss - außerhalb
seiner selbst - die ihn wieder gesund macht,
denn schließlich kennt er sich selbst (sein Selbst)
als gesund.
Aus der Perspektive des Gesundheitssystems
ist Herr Aydogan ein Fall, der enorme Kosten
v.a. in der Diagnostik verursacht hat, wobei aber
keine Therapieerfolge erkennbar sind. Eher hat
es den Anschein, als ob die Kosten stetig steigen,
da die Medizin mit den üblichen Ansätzen von
Diagnostik und Therapie tendenziell weiter pathologisiert anstalt zu heilen. Aus einer leibphänomenologischen Perspektive könnte man
die bisherigen Maßnahmen ergänzen und über·
legen, ob es sich bei diesem Bild um den Verlust
der «Einleibungspartner» handelt, somit kaum
mehr leibliche Kommunikation stattfindet, was
den Entzug der Basis für Sozialkontakte nach
sich gezogen hat. lJ ' Denn Herr Aydogan kam
alleine, als gesunder 34jähriger Mann nach
Deutschland und in eine andere Welt. Seine Lieben sind in der Türkei geblieben, weit weg und
mit wenigen Möglichkeiten des unmittelbaren
Kontaktes. Derartige Trennungen können sehr
schmerzhaft sein; je nach Bedingungen und
Umständen werden sie als genauso «gravierend
und schmerzhaft empfunden wie der Tod eines
geliebten Menschen» ITan, 199B: 81].1'0 Die Arbeit scheint nicht leicht zu sein, so dass viel
Energie hierbei gebunden bzw. abgezogen wird.
Nach Feierabend bleibt wenig davon übrig, um
z. B. Deutschkurse zu besuchen, Kontakte mit
anderen Menschen in gleicher Situation zu suchen oder gar Kontakte zu Deutschen zu knüpfen. Auch wenn es an seinem Arbeitsplatz mehrere türkische Migranten geben sollte, heißt das
noch lange nicht, dass sie sich aufgTUnd der Gemeinsamkeit "Migration» oder "Türke" als Gemeinschaft verstehen. Innerhalb der Türkei gibt
es sehr große regionale, kulturelle, ökologische
und soziale Unterschiede (wie übrigens in jedem
Land). Weiter kann man davon ausgehen, dass
er seine Urlaubszeit bei seiner Familie verbringt
und nicht in Deutschland bleibt, um hier soziale
Beziehungen aufzubauen. Jn der Urlaubszeit bei
seiner Familie knüpft er an die ehemaligen leiblichen Kommunikationsmuster an. In Deutschland lebt er jedoch im <<luftleeren Raum» auf
Zeit, in Isolation, die irgendwann in diesem Pro·
zess der drei Jahre bis zur Manifestation der
Symptomatik zu einer Leere führt (innerlich wie
äußerlich). Herr Aydogan lebt und seine Lebendigkeit macht sich bemerkbar, sie wird durch die
stetige Unterdrückung spürbar. Die Leber sitzt
im Rumpf, im Torso, im Leib und schmerzt. Für
die hiesige Medizin ist die Leber ein Organ, ein
lebenswichtiges Organ. Also ist es nur konsequent, genau nachzusehen, was dieser Leber fehlt.
Dass es vielleicht gar nicht das Organ Leber ist,
sondern dieses «Lebenswichtige", das <<Innere
einer Person, eines Menschen», also quasi das,
was die Person eigentlich ausmacht, darauf kann
eine somatisch orientierte Medizin nicht kommen. In der übersetzungsleistung wird das Unbehagen an der eigenen Existenz als Pathologie
an einem Organ missverstanden. Indem Herr
Aydogan diese leibliche Derangiertheit1>1 in und
an der Leber verortet, leistet er diesem Missverständnis Vorschub; er «materialisiert» quasi sein
Unbehagen, um sich verständlich zu machen.
Die Medizin vergrößert aber durch die invasive
Diagnostik sein Leiden: indem sie durch Laparaskopien und Biopsien Löcher macht. Substanz
wegnimmt, nimmt sie gleichzeitig Substanz von
der Lebendigkeit, vergrößert die Leere, in der
Herr Aydogan lebt. Seine Leber ist gefallen,
könnte man übersetzen mit: Sein Leben ist in die
119 Vgl. hier-w auch Gibran 11989: IBL der beschreibt,
dass es nicht nur eine Verbindung «zwischen Seele
und Körper» gibt, sondcrn ebenso Verbindungen
"der Körper mit seiner Umgebung».
120 Ein türkisches Sprichwort beschreibt die intensivc
Empfindung einer Trennung sehr deutlich: "D~r
Tod ware nicht schlimm. wenn es die Trennung mIr
nicht gabe" [Tan. 1998: 811.
121 Derangiertheit: von Derangement: St6rung. Verwirrung, Zerruttung Ivgl. Duden Frel1ldwärterlexikon].
269
270
11. Teil: Transkulturelle Kompetenz
Leere, in ein Loch sozusagen in die Perspektivlosigkeit gefallen, niemand und nichts fängt ihn
auf.
Herr Aydogan baut in seinen Erklärungen
eine Brücke, die offenbar nicht erkannt wird:
«Wenn ilzimtü, dann Leber viel Schmerz, viel
groß». Wenn die Traurigkeit, die Perspektivlosigkeit da ist, geschieht etwas mit «der Leber»
bzw. seiner Lebendigkeit; sie schmerzt ihn. Die
leibliche Ökonomie ist aus den Fugen geraten.
Herr Aydogan droht, sich in der Weite der Perspektivlosigkeit zu verlieren. In diesem Zusammenhang Trauer bzw. Traurigkeit zu pathologisieren und dann zu therapieren ist aus leiblicher
Perspektive der falsche Weg, weil damit wieder
eine Form der Unterbindung, der Unterdrückung seiner Lebensäußerungen stattfindet. Wie
gehen wir hier in Deutschland mit Trauer um?
Wie ist uns zumute, wenn wir mit einem traurigen Menschen zusammen sind bzw. sein müssen? Floskeln wie «es wird schon wieder!», «nur
den Kopf nicht hängen lassen», «da muss man
durch» oder gar «nun reißen Sie sich mal zusammen'» sind uns nur allzu vertraut und zeigen deutlich, dass wir mit einem solchen Phänomen nicht umgehen wollen oder können, dass es
irgendwie unbequem ist. Wir wollen das Trauern nicht zulassen in einer Welt des Hochglanzes,
wo das «Gut-drauf-sein» als Leistungssport gilt.
Aber genau darum geht es hier aus einer leiblich-therapeutischen Perspektive: Trauer zulassen
und teilen (können) im Sinne von mit-fühlen
oder mit-leiden. 122 Pflegende und andere Angehörige von Gesundheitsberufen können sich hier
als «Einleibungspartnen, anbieten. l2l Dadurch
können die Isolation, die Einsamkeit bzw. das
Alleinsein aufgelöst werden. Die Perspektivlosigkeit wird somit mit-teilbar, und das ist ein erster
Schritt zum Weg aus der Demoralisiertheit (moralim bozuk) [vgl. auch Theilen, 1985: 313].
Das Leibkonzept kann helfen, einerseits die
eigenen, hiesigen kulturellen Selbstverständlichkeiten, die in den verschiedenen Rollenmustern
zum Tragen kommen, zu erkennen, andererseits
professionell mit Menschen umzugehen. «Die
oft vorschnellen Aussagen <der ist doch gesund>
oder ,der spricht nicht deutsch. bedeuten im
übertragenen Sinne: ,ich weiß nicht, wo und wie
ich anfangen soll zu untersuchen, zu fragen, ich
6. Leibliche Kommunikation
verstehe sein Normen- und Kultursystem nicht
und welche Bedeutung darin Gesundheit und
Krankheit haben ( ... )n) [ebd.: 314}.
Die Symptom beschreibung «meine Leber viel
groß», «viel Schmerz» im Kontext von Traurig_
keit, die in türkischen Schilderungen sehr häUfig
kombiniert sind,'14 «entspricht der ganzheitlichen Empfindung (dem eigenleiblichen Spüren,
Anmerkung der Autorin), dass am Leben, am
Leib etwas ins Ungleichgewicht gekommen iSh,
[ebd.: 296). Die somatische übersetzung der
Symptombeschreibungen ist also nicht metaphorisch zu verstehen, sondern leiblich direkt.
Das «Fallen der Organe» oder das nicht mehr
richtige «Pulsieren des Nabels» sagen sehr direkt,
dass die leibliche Ökonomie nicht mehr in der
Balance ist, dass der Rhythmus nicht mehr
stimmt. Wenn Schmitz definiert: Leiblich sein
(und damit Lebendig sein) heißt irgendwo in
der Mitte zwischen Enge und Weite zu sein, wird
klar, dass es sich im Fallbeispiel um eine umfassende Derangiertheit 125 der Person und seiner
Lebendigkeit handelt, weil die Belastungen, die
Schwere des Lebens nach unten ziehen [vgl. ebd.:
297; Schmitz, 1998bJ.
Das Motiv "Platz schaffen, schwer Platz schaffen» taucht in der kurzen Beschreibung des FaHbeispiels zweimal auf. Sobald diese Traurigkeit
bzw. Perspektivlosigkeit (üzüntü) auftritt - also
das Verlieren in einer undifferenzierten Weite,
welches zusammengeht mit der Erhöhung einer
Spannung - reagiert Herr Aydogan mit Schmerz
(Leber viel Schmerz, viel groß). Schmerz ist ein
engendes Erlebnis und das Phänomen «Leber
viel groß" kann auf die Spannung hindeuten, die
er spürt. Er ist nicht mehr er selbst, das spürt
er ganz genau und deswegen will er auch so nicht
122 Zum Konzept des Mit· Leidens vg!. auch Kappeli,
2004.
123 "Geteiltes Leid ist halbes Leid" - dieses Sprichwort
kann hier im wahrsten Wortsinn verstanden werden.
124 In dem hiCj;igen kulturellen Hintergrund gilt das
Herz als Organchiffre. welches sehr häufig in Zu·
sammenhang mit allgemeinem Lebenslcid genannt
wird.
125 ln dies<m Kontext ist eine essenzielle bzw. existentielle Störung des Lebens. der Lebendigkeit von
Herrn Aydogan gemeint.
zurück kehren. Er fürchtet, dass dort neue
schwierigkeiten entstehen, weil er eben nicht
mehr er selbst ist. Die leibliche Ökonomie versucht, das Gleichgewicht wieder herzustellen,
<{schwankt» dabei aber von einern Extrem ins
andere. Gerade weil Herr Aydogan zwischen
zwei extrem unterschiedlichen Welten lebt bzw.
hin und her pendelt - was den Boden unter den
Füssen schwinden lassen kann - müsste die Therapie darauf abzielen, «Einleibungspartnen> zu
finden, die durch das Herstellen von einem gemeinsamen Rhythmus. einer gemeinsamen leiblichen Richtung etc. das Einpendeln in der Mitte
der Leiblichkeit erlaubt. Dadurch wird auch eine
Verbindung zwischen den beiden extremen
Welten er-lebbar und lebbar gemacht. Exemplarische Maßnahmen könnten dabei auf den
Ebenen Musik, Wohnungseinrichtung, Essen,
Arbeitsplatz und Familie durchgeführt werden,
so wie es bei Herr Aydogan auch ansatzweise geschehen ist: {,Der Verweis an sein traditionelles
System, an das er glaubte, aber zu dem er offenbar auch menschlich nicht mehr Zugang hatte,
sollte (. .. ) dazu führen, dass er über diese Aktion beHihigt wird, auch dort (in seiner Heimat,
Anmerkung der Autorin) sein Problem anzusprechen, seine Traurigkeit und die Hintergründe mit den Menschen seines Kulturkreises
zu thematisieren, um mit diesen ( ... ) eine Lösung zu entwickeln." [TheiIen, 1985: 313). Damit werden die noch vorhandenen Ressourcen
von Herrn Aydogan aufgegriffen: Er ist in der
Lage, in den Urlauben an seine «Einleibungspartner» und -muster anzuknüpfen. Dadurch,
dass dieser Vorschlag aus der «Welt seiner Migration» kommt und man ihm zu verstehen gibt,
dass die «Welt seiner Heimat» wichtig ist, dadurch dass es Verknüpfungsmöglichkeiten gibt,
werden ihm Wege eröffnet, Verbindungen zwi·
sehen den Welten zu finden und somit auch
neue «Einleibungspartner» und -muster, mit denen ein gemeinsamer (Lebens)Rhythmus und
eine gemeinsame Richtung (auch Perspektive)
gefunden werden kann.
Sieht man sich allgemein die klassischen, traditionellen Therapien an, die bei gefalJenen Organen zur Anwendung kommen, handelt es sich
überwiegend um die Verabreichung von Süßem
(innerlich wie äußerlich) und um das leibliche
«Zurechtrücken" der gefallenen Organe in das
eigene Zentrum. Dies geschieht durch Verbände
bzw. Binden um den Leib bzw. den Bauch und
somit durch das Herstellen von Enge Ivg1. ebd.:
318f.). Diese therapeutischen Maßnahmen sind
aus leiblicher Perspektive sinnvoll, denn «körperlicher und seelischer Schmerz wird im Türkischen sprachlich wie metaphorisch stets mit
der Geschmacksqualität ,bitter, [acil dargestellt,
ebenso das Leiden und Mitleiden.» [Tan, 1998:
801,12' Redewendungen des Wohlbefindens und
des Sich-gut-gehen-lassens sind oft Wortkombinationen mit «süß» oder «Zucker». Die Migrationssituation - und besonders für die erste
Generation der Einwanderer und Einwanderinnen - ist auf vielerlei Ebenen ein schmerzlicher
Einschnitt in das Leben, so dass «Deutschland
lange Zeit mit 'Schmerz, assoziiert wan, [ebd.:
80J. Man findet in Literatur und Musik den Begriff «Bitterland» als Synonym für Deutschland.
Das leibhaftige Erleben einer länger da uernden
Migrationssituation, des Hin-und-her-gerissenseins zwischen zwei Welten, in denen man keine
Verbindungen finden kann, kann in einer solchen Perspektive zu chronischen Schmerzen
führen; einem permanenten beengenden, einengenden Gefühl. Um hier wieder ins Gleichgewicht zu kommen, sich zu finden und seinen
Platz in der Gesellschaft zu finden, ist die Behandlung mit Süßem ein möglieber gangbarer
Weg, denn süß (tatli) symbolisiert (<einen Zustand körperlicher wie seelischer Ausgeglichenheit. ( ... ) Nicht zufällig wird im Türkischen jede
gemeinsame Mahlzeit mit etwas <Süßem> abgeschlossen, was individuell den Abschluß einer
psychosomatischen Deprivation (Hunger) und
gesellschaftlich die Reproduktion des Kollektivs
bestätigt. Die Bezeichnungen für <Nachtisch,
(tatli) und <süß, (tatli) fallen im Türkischen zusammen. Daher überrascht es nicht, dass im
126 Auch im Chinesischen findet man hierzu Parallelen:
«Im Elend leben.. wird als «Bitterkeit essen» verbali.
sien [Unck. 200): 1)9J. In der deutschen Sprache
gibt es ebenfalls Redewendungen. die das leibliche
Unbehagen mit der Geschmacksqualitat bitter umschreiben: Ein Mensch kann verbittert sein oder
man muss manchmal die eine oder andere bittere
Pille schlucken.
27l
272
6. Leibliche Kommunikation
", Teil: Transkulturelle Kompetenz
Türkischen, aber auch im Persischen, jeder Leidensweg mit etwas Süßem beendet wird, zum
Beispiel enden aUe kollektiven Trauerzeremonien
und der Abschluß von Trauer ausnahmslos mit
einer gemeinsamen Mahlzeit, die im gemeinsamen Verzehr von etwas ,Süßem, (, .. ) gipfelt,»
!ebd.]. Auch in der christlichen Religion ist dies
nicht unbekannt. Das prominenteste Beispiel
hierfür ist das Osterfest, welches den Abschluss
eines langen Leidensweges darstellt und welches
in vielfältigen regionalen Variationen immer mit
dem Verzehr von Süßigkeiten verbunden ist.
Hinter dem Bedürfnis nach Süßem als physiologischer Geschmacksqualität steckt also ein
weiteres leibliches Bedürfnis nach Vertrautheit,
Geborgenheit, leiblicher Kommunikation, d. h.
nach dem Kontakt mit «Einleibungspartnern».ll7
Essen und Trinken sind so genannte Grundbedürfnisse und für das rein physiologische
Überleben notwendig; gleichermaßen sind sie
elementar für die Vitalität eines Menschen [vgl.
ebd.: 81J.128
6.4
Die transkulturelle Sprache der
leiblichkeit
Das vermeintliche Hauptproblem im Umgang
mit Migrantlnnen wird in der Literatur bisher
als ein Sprachenproblem beschrieben. Vor dem
Hintergrund des hier dargelegten Ansatzes kann
die Hypothese aufgestellt werden, dass es tatsächlich nicht um Sprach-, sondern um Berührungsbarrieren im leiblichen Sinne geht. Die
Klage der türkischen Patiendnnen über Berührungsdefizite bezeugt dabei die fehlende
leibliche Kommunikation im therapeutischen
Prozess und gibt Auskunft über die bisherige
Ignoranz der leiblichen Dimension. Dass im
hiesigen Gesundheitssystem die Kanäle der leiblichen Kommunikation brach liegen, darauf verweisen jedenfalls die (berechtigten) Kritiken von
MigrantInnen an den BehandlerInnen. Kritiken
wie «deutsche Ärzte (und Pflegende, Anmerkung der Autorin) haben keine Zeit für die Patienten, sie setzen sich nicht ans Bett, sie seien
nicht so freundlich, sie klopfen nicht auf die
Schulter, geben nicht die Hand» [vgI. Theilen,
1985: 300 f.J sagen sehr deutlich, dass eine Behandlung nur dann Erfolg haben kann, wenn
die behandelnde Person die zu behandelnde
Person berührt. «Wenn man jemanden berührt,
berührt man immer auch gleichzeitig etwas in
ihm.» [Uzarewicz/Uzarewicz. 2005: 152J. Eine
durch ein Berührungsdefizit entstehende Distanz spüren die PatientInnen leiblich, was eine
mögliche Genesung zumindest erschwert.
Die leibliche Kommunikation bietet einen
Zugang zu den Anderen, der selbstverständlich
auch scheitern kann, der ihnen aber nicht als
Angehörige dieser oder jener (religiösen, geschlechtlichen, kulturellen oder nationalen bzw.
ethnischen) Kategorie begegnet, sondern als
leiblich strukturierte Lebewesen, die leiblich reagieren und antworten (können). Die Theorie
der Leiblichkeit eröffnet einen Weg zu dem, was
uns am unmittelbarsten betrifft. Sie lässt die differenzialistischen Kategorien hinter sich und ermöglicht so eine unverstellte Kommunikation.
Sie erst erlaubt es, die Menschen in ihrer radikalen Einheit und gleichzeitig in ihrer individuellen Vielfalt ernst zu nehmen und ihnen gegenüber verantwortlich zu handeln. Die Sprache der
Leiblichkeit ist eine transkulturelle Sprache, sie
ist eine Voraussetzung dafür, dass wir Menschen
überhaupt einander verstehen können. Verbindet man die Theorie der Leiblichkeit mit dem
Konzept der Transkulturalität, so lassen sich folgende handlungs(an)leitende Schritte daraus
ableiten, um die Konzepte der transkulturellen
Kompetenz wie Empathie, Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung [vgI. Domenig
2001: 148) zu operationalisieren:
die Erschließung der je subjektiven Wissensund Sinnordnungen der PatientInnen sowie
der Versuch einer Transformationsleistung
im Sinne einer lneinanderverschränkung der
Wissens- und Sinnordnungen; dabei dürfen
die eigenen Deutungsmuster nicht als ausschließliche normative Grundlage dienen.
Auf der leiblichen Ebene:
.11 die Nutzung des leiblichen Wissens und die
Erkundung der leiblichen Disposilionen,
munikation und die Nutzung der Potenziale
leiblicher Kommunikation speziell der Einleibung.
Damit können Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten sowie Widerspruche und Unterschiede
zwischen den handelnden Menschen herausgefiltert werden, die fur transkulturelle Interaktionen unabdingbar sind (vgl. Uzarewicz/Uzarewicz, 2001: 171 J.
Zusammenfassung
Gemeinsam ist allen Menschen, trotz der
großen sozialen, ökologischen, ökonomischen, religiösen, kulturellen Vielfalt, die
Leiblichkeit als anthropologische Grunddisposition.
Der Leib ist nichts Stoffliches; er ist eine dynamische Struktur des Lebendigen und an
das (eigenleibliche) Spüren gebunden, welches weit über den Körper und die Sinne
hinaus reicht.
Als Kanäle der leiblichen Kommunikation
gelten u.a. der Blick, die Stimme, der Händedruck. Es sind Medien für Mitteilungen
auf leiblicher Ebene, d. h. mit diesen Medien
kann man Menschen in ihrem Innersten berühren.
Auf der kognitiven, rationalen Ebene:
III
r;, die Aktivierung der Kanäle leiblicher Kom-
die Reflexion der eigenen persönlichen (gewöhnlich nicht-bewussten), der biomedizinischen sowie der pflegerischen Wissens- und
Sinnordnungen,
127 Dieses leibliche BediJrfnis wird z.B. auch mit dem
unmaßigcn Verzehr von Schokolade und anderen
Sußigkeiten ausgedruckt, wenn man sich einsam
undfoder vernachlässigt fühlt; d. h. Sehnsucht nach
Kontakt hat.
128 Vgl. hierzu unser Sprichwore "Sage mi r, was Du
isst, und ich sage Dir, wer Du bist!"
......-.....
c Einleibung ist die wichtigste Form der leiblichen Kommunikation und die Basis aller
Sozialkontakte. Sie entsteht durch das Herstellen eines gemeinsamen Rhythmus, einer
gemeinsamen Richtung sowie den Bezug
auf eine gemeinsame Enge. Es werden die
Formen der einseitigen, wechselseitigen antagonistischen bzw. solidarischen Einleibung unterschieden.
IC
Da die Sprache der Leiblichkeit eine transkulturelle, transnationale und transhistorische Sprache ist, bietet sie im Umgang mit
MigrantInnen weitere Möglichkeiten des
Verstehens und des Verständnisses an, woraus wiederum weitere Handlungsstrategien
möglich werden. Damit werden die Konzepte der transkulturellen Kompetenz operationalisiert.
273
274
275
11. Teil: Transkulturelle Kompetenz
literatur
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In: Domenig, D. IHrsg.}: Professionelle Transkul·
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Renate Bühlmann und Yvonne Stauffer
Bedeutung der Kommunikation in
der transkulturellen Pflege
.Pflegen heißt, dem anderen das Gesicht zuwenden."
[Liliane fllchl.]
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