Der Reichtum der psychotischen Störungen zwischen

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Der Reichtum der psychotischen Störungen
zwischen Schizophrenie und affektiven Erkrankungen
als Herausforderung und Chance
W
enn ich hier nochmals zum
Ausdruck bringe, dass sich der
Bereich der nicht organisch bedingten
psychotischen Störungen nicht nur
auf das, was wir als Schizophrenie
und affektive Erkrankungen bezeichnen, beschränkt, glaube und hoffe ich
sehr, dass ich Eulen nach Athen trage.
Jeder klinische Psychiater weiß das.
Die diagnostischen Systeme, etwa
ICD-10 und DSM-IV, aber auch der
Entwurf für das DSM-V, berücksichtigen diese klinische Realität immer differenzierter. Die Berufung auf das Dichotomie-Konzept von Kraepelin ist
nicht nur anachronistisch, sondern
auch ignorierend, in dem Sinne, dass
Kraepelin selbst sein sogenanntes Dichotomie-Konzept in Frage gestellt
hat. Er kannte einen nicht zu negierenden Bereich von Überlappungen,
der es für zahlreiche psychopathologische Zustände unmöglich machte, sie
der einen oder anderen prototypischen Kategorie zuzuordnen. Es ist eine der Merkwürdigkeiten der psychiatrischen Entwicklung der letzten 100
oder 150 Jahre, dass so manche klinische Realität irgendwelchen theoretischen Konzepten, ja fast Ideologien,
zum Opfer fallen musste. Der dadurch
entstehende Schaden trifft nicht nur
die Klinik, sprich die Patienten, sondern auch die Forschung. Gruppen,
die nicht zu den zwei Prototypen
„Schizophrenie“ oder „manisch-depressive Erkrankungen“ bzw. „affektive Erkrankungen“ gehören, wurden
entweder außer Acht gelassen oder
aber mussten hierhin oder dorthin gepresst werden, um in eine bestimmte
Schablone zu passen. Das klassische
Beispiel dafür sind die schizoaffektiven Erkrankungen. Die anhaltenden
wahnhaften Störungen, die akuten
polymorphen psychotischen Störungen sowie der Grenzbereich zwischen
der sogenannten „psychotischen Depression“ und den schizoaffektiven
Erkrankungen sind weitere Beispiele
dafür.
Die schizoaffektiven Erkrankungen
haben die heftigsten Auseinandersetzungen und Diskussionen hervorgerufen, die auch immer noch andauern. Obwohl auch die anderen – kleineren – psychotischen Gruppen, die
nicht vollständig zu den Prototypen
passen (und die wir, im Kontrast zu
den „Prototypen“, als „Paratypen“ bezeichnet haben), Gegenstand von Fragen und Diskussionen sind, stehen die
schizoaffektiven Psychosen aus besonderen Gründen im Mittelpunkt
von solchen Auseinandersetzungen.
Die Häufigkeit ihres Auftretens ist ein
solcher Grund. Obwohl es hier nicht so
zahlreiche epidemiologische Untersuchungen gibt wie zu Schizophrenien und Depressionen oder bipolaren
Erkrankungen, herrscht weitestgehend Übereinstimmung darüber,
dass nicht wenige klinische Patienten
die Kriterien einer schizoaffektiven
Erkrankung erfüllen. Neuere epidemiologische Untersuchungen zeigen eine beträchtliche Häufigkeit von
schizoaffektiven Erkrankungen in der
Allgemeinbevölkerung, unabhängig
von einem klinischen Aufenthalt. Ein
weiterer Grund für die nosologische
Unsicherheit und Kontroverse ist die
Tatsache, dass die schizoaffektiven
Erkrankungen eine Mischung von
zwei im Großen und Ganzen relativ
gut definierten Erkrankungen darstellen, nämlich der Schizophrenie und
der affektiven Erkrankungen, wobei
jedoch die Intensität der Präsenz des
jeweiligen Anteils beträchtlich variie-
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ren kann. Dies führt nicht nur zu Irritationen, sondern manchmal auch zu
diagnostischen Unsicherheiten und
reflexartigen Schlussfolgerungen. Die
Tatsache, dass die Besonderheit von
solchen „Mischbildern“ sich nicht nur
auf die phänomenologische Ebene beschränkt, sondern sich auch auf der
soziodemographischen, prämorbiden,
interaktionalen, verlaufsdynamischen
und Ausgangsebene präsentiert, diktierte die Notwendigkeit, sich näher
mit dem „schizoaffektiven Phänomen“ zu befassen. Die im Jahr 1966
publizierte und inzwischen historisch
gewordene Studie von Jules Angst
trug unter anderem wesentlich dazu
bei, dass die schizoaffektiven Erkrankungen heute nicht mehr als eine Unterform der Schizophrenie angesehen
werden, sondern dass ihre engere Verwandtschaft zu den affektiven Erkrankungen erkannt wurde. Was die
klinischen Forscher, vor allem die Verlaufsforscher, seit Jahrzehnten propagieren und was im Beitrag von A.
Marneros und J. Angst dargestellt
wird, nämlich dass die schizoaffektiven Erkrankungen auf allen Ebenen
eine Zwischenposition einnehmen,
gewinnt in zunehmendem Maße auch
Akzeptanz in der genetischen Forschung.
Die Überlappung von genetischen
Prädispositionen für Schizophrenie
und für Depression oder Manie wird
von den Genetikern heute kaum noch
geleugnet. Wie im Beitrag von N.
Craddock, einem der Pioniere der genetischen Erforschung des „Zwischenbereichs“, gezeigt wird, können
bipolare Erkrankungen und Schizophrenie von genetischer Seite her
nicht komplett getrennt werden und
sind schizoaffektive Erkrankungen
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genetisch verwandt mit beiden Prototypen. Im Moment ist man gerade
dabei, einen weiteren Schritt in eine
interessante Richtung zu machen –
man geht Hinweisen nach, dass die
phänotypische Spezifität der schizoaffektiven Erkrankungen teilweise
auch mit einer genetischen Spezifität
korreliert. Für die zukünftige Forschung ist die Schlussfolgerung von
Bedeutung: „Es ist wichtig, dass die
Forschung bereit ist, Ansätze zur phänotypischen Einordnung und Klassifikation der schizoaffektiven Störungen
zu verwenden, die über die traditionelle – in DSM und ICD verankerte –
Sichtweise hinausgehen.“
Außer der Genetik und der sonstigen biologischen Forschung versucht in zunehmendem Maße auch die
Neuropsychologie, Antworten auf die
Fragen des psychotischen Zwischenbereichs zu geben. Allerdings muss,
wie S. Watzke in seinem Beitrag feststellt, die Studienlage über kognitive
Beeinträchtigungen im psychotischen
Zwischenbereich oder im psychotischen Kontinuum noch als eingeschränkt bezeichnet werden und unterstreicht den Forschungsbedarf; vor
allem, weil neuropsychologische Untersuchungen, insbesondere von kognitiven Funktionen, offensichtlich
geeignet zu sein scheinen, Hinweise
auf zugrunde liegende Hirnfunktionsstörungen zu geben und probabilistische Aussagen zur Verankerung eines
Störungsbildes im Spektrum der psychotischen Erkrankungen zu ermöglichen, wie der Autor auch bei eigenen
Untersuchungen festgestellt hat.
Eine andere Gruppe von „paratypischen“ psychischen Störungen, die
zwar relativ selten auftreten, die aber
sowohl von großer klinischer Bedeutung als auch von theoretischem Interesse sind, ist die Gruppe der akuten
vorübergehenden psychotischen Störungen nach ICD-10 bzw. der Brief
Psychoses nach DSM-IV. Das manchmal dramatische psychopathologische
Bild, das diese Gruppe von Psychosen
bietet, zieht seit Jahrzehnten das Inte-
resse von Klinikern vieler Länder auf
sich, sodass sich zu diesem Thema unterschiedliche nationale Konzepte
entwickelt haben, die dann unter den
oben genannten gemeinsamen Bezeichnungen der WHO bzw. der APA
untergebracht worden sind. Die akuten vorübergehenden psychotischen
Störungen sind längst nicht so häufig
wie die schizoaffektiven Erkrankungen, und vor allem zeigen sie eine
nicht zu übersehende syndromale Instabilität. Interessanter ist, dass – obwohl sie durch Wahn, Halluzinationen
und psychotische Ich-Erlebnisstörungen eine phänomenologische Verwandtschaft zur Schizophrenie aufweisen – ein im langfristigen Verlauf
möglicher Syndromshift häufig in
Richtung der affektiven und schizoaffektiven Erkrankungen und viel seltener in Richtung einer Schizophrenie
geht. Unabhängig davon, wie der
Stand der Grundlagenforschung zu
dieser Gruppe von Psychosen ist (allzu
umfangreiche genetische und biologische Forschung gibt es jedoch nicht zu
diesem Thema), zwingt die Tatsache,
dass diese Psychosen eine viel günstigere Prognose als die Schizophrenie
haben, dass sie nur kurz andauern und
dass sie offensichtlich auch andere familiäre Verteilungsmuster aufweisen,
geradezu zu vertiefter Forschung auf
diesem Gebiet. Unabhängig davon
freue ich mich immer, dass ich, wenn
ich bei einem Patienten die Diagnose
„akute vorübergehende psychotische
Störung“ stelle und ihm seinen möglichen Verlauf erläutere, ihm Hoffnung
machen kann, dass er kaum persistierende Alterationen oder sonstige bleibende Beeinträchtigungen zu fürchten braucht. Insofern sind auch die
Argumente, die F. Pillmann in seinem
Beitrag bringt, nachvollziehbar. Ich
schließe mich seiner Schlussfolgerung
an, dass diese Gruppe von psychotischen Störungen eine wichtige Diagnose in der klinischen Praxis darstellt
und wegen ihres heuristischen Wertes
für die Forschung unverzichtbar ist.
Und was ist mit den anhalten
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wahnhaften Störungen, dem Nachfolger des ehrwürdigen Konzeptes der
Paranoia, die jahrzehntelang die Psychiatrie dominiert hat, jetzt jedoch zu
einer Randgruppe degradiert worden
ist? Manche würden sagen: „Zu Recht
ist sie zu einer Randgruppe geworden.“, wie etwa Kurt Schneider, der die
Paranoia – und das heißt auch ihre
Nachfolgekonzepte wie die wahnhaften Störungen (DSM-IV) bzw. die anhaltenden wahnhaften Störungen
(ICD-10) – für tot erklärt hat. Aber sie
existieren doch! Zwar nicht so häufig,
aber es gibt sie. Und sie stellen eine
enorme Herausforderung in der Klinik
dar – vor allem, weil sie über Jahrzehnte unverändert persistieren können, weil die Patienten keine Krankheitseinsicht haben und weil hinsichtlich ihrer Pathogenese völlig unklar
ist, ob sie rein psychogen oder rein
biologisch oder eine Mischung der
beiden sind. Es handelt sich bei den
anhaltenden wahnhaften Störungen
um psychotische Störungen, zu denen
es bisher kaum genetische Untersuchungen und wenig sonstige biologische Forschung gibt und die daher
zum Gegenstand von vielfältigen Spekulationen geworden sind. Wenn psychologische Autoren heute von der
Paranoia als der „Epidemie des 21.
Jahrhunderts“ sprechen, meinen sie
sicherlich nicht die psychiatrisch definierten Formen des Nachfolgekonzeptes der Paranoia, also die anhaltenden
wahnhaften Störungen.
Deutsche Psychiater haben noch
einige Schwierigkeiten mit der Diagnose der psychotischen Depression.
Der synthyme, also stimmungskongruente, Wahn wird der Depression
ohne weiteres zugebilligt; ja, man erwartet ihn bei den schweren, den sogenannten melancholischen Formen
geradezu. Aber was ist mit den stimmungsinkongruenten psychotischen
Symptomen? Wie bringt man diese in
Verbindung mit der deutschen psychopathologischen Tradition? Und
vor allem: Wie überwindet man die
Schwierigkeiten, wenn sogenannte
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schizophrene Symptome ersten Ranges auch als mögliche Symptome einer psychotischen Depression gelten?
Wo verläuft hier die Grenze zu den
schizoaffektiven Erkrankungen? Um
diese Abgrenzung zu ermöglichen,
wagte das DSM-IV – und ich befürchte, auch das DSM-V wird dies tun –
den Spagat der chronologischen Differenzierung zwischen den beiden
Formen: Um die Diagnose einer schizoaffektiven Erkrankung feststellen
zu dürfen, benötigt man nach DSM-IV
eine bestimmte Zeit, in der nur die
psychotischen Symptome ohne Begleitung von affektiven Symptomen
auftreten. Der Zweck der Differenzierung ist klar, nämlich psychotische
Depressionen und schizoaffektive Erkrankungen voneinander abzutrennen. Aber gibt es auch empirische,
biologische oder genetische Argumente dafür? Dies ist wohl auch ein
zukünftiges Forschungsgebiet im psychotischen Zwischenbereich. Allerdings besitzt die psychotische Depres-
Die Psychiatrie 2/2011
sion, wie die Gruppe um M. Bauer in
ihrem Beitrag demonstriert, ihre eigenen Gesetze, die unbedingt berücksichtigt werden müssen.
Wir hoffen, dass wir mit diesem
Heft zu einem breiten Interesse an diesen beeindruckenden „Zwischenformen“ psychotischer Störungen sowohl im klinischen Bereich als auch in
der Forschung beitragen können.
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A. Marneros, Halle
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