74 Zum Thema Der Reichtum der psychotischen Störungen zwischen Schizophrenie und affektiven Erkrankungen als Herausforderung und Chance W enn ich hier nochmals zum Ausdruck bringe, dass sich der Bereich der nicht organisch bedingten psychotischen Störungen nicht nur auf das, was wir als Schizophrenie und affektive Erkrankungen bezeichnen, beschränkt, glaube und hoffe ich sehr, dass ich Eulen nach Athen trage. Jeder klinische Psychiater weiß das. Die diagnostischen Systeme, etwa ICD-10 und DSM-IV, aber auch der Entwurf für das DSM-V, berücksichtigen diese klinische Realität immer differenzierter. Die Berufung auf das Dichotomie-Konzept von Kraepelin ist nicht nur anachronistisch, sondern auch ignorierend, in dem Sinne, dass Kraepelin selbst sein sogenanntes Dichotomie-Konzept in Frage gestellt hat. Er kannte einen nicht zu negierenden Bereich von Überlappungen, der es für zahlreiche psychopathologische Zustände unmöglich machte, sie der einen oder anderen prototypischen Kategorie zuzuordnen. Es ist eine der Merkwürdigkeiten der psychiatrischen Entwicklung der letzten 100 oder 150 Jahre, dass so manche klinische Realität irgendwelchen theoretischen Konzepten, ja fast Ideologien, zum Opfer fallen musste. Der dadurch entstehende Schaden trifft nicht nur die Klinik, sprich die Patienten, sondern auch die Forschung. Gruppen, die nicht zu den zwei Prototypen „Schizophrenie“ oder „manisch-depressive Erkrankungen“ bzw. „affektive Erkrankungen“ gehören, wurden entweder außer Acht gelassen oder aber mussten hierhin oder dorthin gepresst werden, um in eine bestimmte Schablone zu passen. Das klassische Beispiel dafür sind die schizoaffektiven Erkrankungen. Die anhaltenden wahnhaften Störungen, die akuten polymorphen psychotischen Störungen sowie der Grenzbereich zwischen der sogenannten „psychotischen Depression“ und den schizoaffektiven Erkrankungen sind weitere Beispiele dafür. Die schizoaffektiven Erkrankungen haben die heftigsten Auseinandersetzungen und Diskussionen hervorgerufen, die auch immer noch andauern. Obwohl auch die anderen – kleineren – psychotischen Gruppen, die nicht vollständig zu den Prototypen passen (und die wir, im Kontrast zu den „Prototypen“, als „Paratypen“ bezeichnet haben), Gegenstand von Fragen und Diskussionen sind, stehen die schizoaffektiven Psychosen aus besonderen Gründen im Mittelpunkt von solchen Auseinandersetzungen. Die Häufigkeit ihres Auftretens ist ein solcher Grund. Obwohl es hier nicht so zahlreiche epidemiologische Untersuchungen gibt wie zu Schizophrenien und Depressionen oder bipolaren Erkrankungen, herrscht weitestgehend Übereinstimmung darüber, dass nicht wenige klinische Patienten die Kriterien einer schizoaffektiven Erkrankung erfüllen. Neuere epidemiologische Untersuchungen zeigen eine beträchtliche Häufigkeit von schizoaffektiven Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung, unabhängig von einem klinischen Aufenthalt. Ein weiterer Grund für die nosologische Unsicherheit und Kontroverse ist die Tatsache, dass die schizoaffektiven Erkrankungen eine Mischung von zwei im Großen und Ganzen relativ gut definierten Erkrankungen darstellen, nämlich der Schizophrenie und der affektiven Erkrankungen, wobei jedoch die Intensität der Präsenz des jeweiligen Anteils beträchtlich variie- Die Psychiatrie 2/2011 ren kann. Dies führt nicht nur zu Irritationen, sondern manchmal auch zu diagnostischen Unsicherheiten und reflexartigen Schlussfolgerungen. Die Tatsache, dass die Besonderheit von solchen „Mischbildern“ sich nicht nur auf die phänomenologische Ebene beschränkt, sondern sich auch auf der soziodemographischen, prämorbiden, interaktionalen, verlaufsdynamischen und Ausgangsebene präsentiert, diktierte die Notwendigkeit, sich näher mit dem „schizoaffektiven Phänomen“ zu befassen. Die im Jahr 1966 publizierte und inzwischen historisch gewordene Studie von Jules Angst trug unter anderem wesentlich dazu bei, dass die schizoaffektiven Erkrankungen heute nicht mehr als eine Unterform der Schizophrenie angesehen werden, sondern dass ihre engere Verwandtschaft zu den affektiven Erkrankungen erkannt wurde. Was die klinischen Forscher, vor allem die Verlaufsforscher, seit Jahrzehnten propagieren und was im Beitrag von A. Marneros und J. Angst dargestellt wird, nämlich dass die schizoaffektiven Erkrankungen auf allen Ebenen eine Zwischenposition einnehmen, gewinnt in zunehmendem Maße auch Akzeptanz in der genetischen Forschung. Die Überlappung von genetischen Prädispositionen für Schizophrenie und für Depression oder Manie wird von den Genetikern heute kaum noch geleugnet. Wie im Beitrag von N. Craddock, einem der Pioniere der genetischen Erforschung des „Zwischenbereichs“, gezeigt wird, können bipolare Erkrankungen und Schizophrenie von genetischer Seite her nicht komplett getrennt werden und sind schizoaffektive Erkrankungen © Schattauer GmbH Downloaded from www.die-psychiatrie-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 75 Zum Thema genetisch verwandt mit beiden Prototypen. Im Moment ist man gerade dabei, einen weiteren Schritt in eine interessante Richtung zu machen – man geht Hinweisen nach, dass die phänotypische Spezifität der schizoaffektiven Erkrankungen teilweise auch mit einer genetischen Spezifität korreliert. Für die zukünftige Forschung ist die Schlussfolgerung von Bedeutung: „Es ist wichtig, dass die Forschung bereit ist, Ansätze zur phänotypischen Einordnung und Klassifikation der schizoaffektiven Störungen zu verwenden, die über die traditionelle – in DSM und ICD verankerte – Sichtweise hinausgehen.“ Außer der Genetik und der sonstigen biologischen Forschung versucht in zunehmendem Maße auch die Neuropsychologie, Antworten auf die Fragen des psychotischen Zwischenbereichs zu geben. Allerdings muss, wie S. Watzke in seinem Beitrag feststellt, die Studienlage über kognitive Beeinträchtigungen im psychotischen Zwischenbereich oder im psychotischen Kontinuum noch als eingeschränkt bezeichnet werden und unterstreicht den Forschungsbedarf; vor allem, weil neuropsychologische Untersuchungen, insbesondere von kognitiven Funktionen, offensichtlich geeignet zu sein scheinen, Hinweise auf zugrunde liegende Hirnfunktionsstörungen zu geben und probabilistische Aussagen zur Verankerung eines Störungsbildes im Spektrum der psychotischen Erkrankungen zu ermöglichen, wie der Autor auch bei eigenen Untersuchungen festgestellt hat. Eine andere Gruppe von „paratypischen“ psychischen Störungen, die zwar relativ selten auftreten, die aber sowohl von großer klinischer Bedeutung als auch von theoretischem Interesse sind, ist die Gruppe der akuten vorübergehenden psychotischen Störungen nach ICD-10 bzw. der Brief Psychoses nach DSM-IV. Das manchmal dramatische psychopathologische Bild, das diese Gruppe von Psychosen bietet, zieht seit Jahrzehnten das Inte- resse von Klinikern vieler Länder auf sich, sodass sich zu diesem Thema unterschiedliche nationale Konzepte entwickelt haben, die dann unter den oben genannten gemeinsamen Bezeichnungen der WHO bzw. der APA untergebracht worden sind. Die akuten vorübergehenden psychotischen Störungen sind längst nicht so häufig wie die schizoaffektiven Erkrankungen, und vor allem zeigen sie eine nicht zu übersehende syndromale Instabilität. Interessanter ist, dass – obwohl sie durch Wahn, Halluzinationen und psychotische Ich-Erlebnisstörungen eine phänomenologische Verwandtschaft zur Schizophrenie aufweisen – ein im langfristigen Verlauf möglicher Syndromshift häufig in Richtung der affektiven und schizoaffektiven Erkrankungen und viel seltener in Richtung einer Schizophrenie geht. Unabhängig davon, wie der Stand der Grundlagenforschung zu dieser Gruppe von Psychosen ist (allzu umfangreiche genetische und biologische Forschung gibt es jedoch nicht zu diesem Thema), zwingt die Tatsache, dass diese Psychosen eine viel günstigere Prognose als die Schizophrenie haben, dass sie nur kurz andauern und dass sie offensichtlich auch andere familiäre Verteilungsmuster aufweisen, geradezu zu vertiefter Forschung auf diesem Gebiet. Unabhängig davon freue ich mich immer, dass ich, wenn ich bei einem Patienten die Diagnose „akute vorübergehende psychotische Störung“ stelle und ihm seinen möglichen Verlauf erläutere, ihm Hoffnung machen kann, dass er kaum persistierende Alterationen oder sonstige bleibende Beeinträchtigungen zu fürchten braucht. Insofern sind auch die Argumente, die F. Pillmann in seinem Beitrag bringt, nachvollziehbar. Ich schließe mich seiner Schlussfolgerung an, dass diese Gruppe von psychotischen Störungen eine wichtige Diagnose in der klinischen Praxis darstellt und wegen ihres heuristischen Wertes für die Forschung unverzichtbar ist. Und was ist mit den anhalten Die Psychiatrie 2/2011 wahnhaften Störungen, dem Nachfolger des ehrwürdigen Konzeptes der Paranoia, die jahrzehntelang die Psychiatrie dominiert hat, jetzt jedoch zu einer Randgruppe degradiert worden ist? Manche würden sagen: „Zu Recht ist sie zu einer Randgruppe geworden.“, wie etwa Kurt Schneider, der die Paranoia – und das heißt auch ihre Nachfolgekonzepte wie die wahnhaften Störungen (DSM-IV) bzw. die anhaltenden wahnhaften Störungen (ICD-10) – für tot erklärt hat. Aber sie existieren doch! Zwar nicht so häufig, aber es gibt sie. Und sie stellen eine enorme Herausforderung in der Klinik dar – vor allem, weil sie über Jahrzehnte unverändert persistieren können, weil die Patienten keine Krankheitseinsicht haben und weil hinsichtlich ihrer Pathogenese völlig unklar ist, ob sie rein psychogen oder rein biologisch oder eine Mischung der beiden sind. Es handelt sich bei den anhaltenden wahnhaften Störungen um psychotische Störungen, zu denen es bisher kaum genetische Untersuchungen und wenig sonstige biologische Forschung gibt und die daher zum Gegenstand von vielfältigen Spekulationen geworden sind. Wenn psychologische Autoren heute von der Paranoia als der „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ sprechen, meinen sie sicherlich nicht die psychiatrisch definierten Formen des Nachfolgekonzeptes der Paranoia, also die anhaltenden wahnhaften Störungen. Deutsche Psychiater haben noch einige Schwierigkeiten mit der Diagnose der psychotischen Depression. Der synthyme, also stimmungskongruente, Wahn wird der Depression ohne weiteres zugebilligt; ja, man erwartet ihn bei den schweren, den sogenannten melancholischen Formen geradezu. Aber was ist mit den stimmungsinkongruenten psychotischen Symptomen? Wie bringt man diese in Verbindung mit der deutschen psychopathologischen Tradition? Und vor allem: Wie überwindet man die Schwierigkeiten, wenn sogenannte © Schattauer GmbH Downloaded from www.die-psychiatrie-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 76 Zum Thema schizophrene Symptome ersten Ranges auch als mögliche Symptome einer psychotischen Depression gelten? Wo verläuft hier die Grenze zu den schizoaffektiven Erkrankungen? Um diese Abgrenzung zu ermöglichen, wagte das DSM-IV – und ich befürchte, auch das DSM-V wird dies tun – den Spagat der chronologischen Differenzierung zwischen den beiden Formen: Um die Diagnose einer schizoaffektiven Erkrankung feststellen zu dürfen, benötigt man nach DSM-IV eine bestimmte Zeit, in der nur die psychotischen Symptome ohne Begleitung von affektiven Symptomen auftreten. Der Zweck der Differenzierung ist klar, nämlich psychotische Depressionen und schizoaffektive Erkrankungen voneinander abzutrennen. Aber gibt es auch empirische, biologische oder genetische Argumente dafür? Dies ist wohl auch ein zukünftiges Forschungsgebiet im psychotischen Zwischenbereich. Allerdings besitzt die psychotische Depres- Die Psychiatrie 2/2011 sion, wie die Gruppe um M. Bauer in ihrem Beitrag demonstriert, ihre eigenen Gesetze, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. Wir hoffen, dass wir mit diesem Heft zu einem breiten Interesse an diesen beeindruckenden „Zwischenformen“ psychotischer Störungen sowohl im klinischen Bereich als auch in der Forschung beitragen können. © Schattauer GmbH Downloaded from www.die-psychiatrie-online.de on 2017-08-22 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. A. Marneros, Halle