Lebensqualität im Alter unter besonderer Berücksichtigung psychischer Erkrankungen Vorlesungsreihe U3L „Soziale Gerontologie“ Johann-Wolfgang -Goethe-Universität Frankfurt WS 2005/2006 Lebensqualität bei Demenz Dr. Adelheid Schulz-Hausgenoss „Lebenzufriedenheit tritt dann ein, wenn keine heftigen Mängel, bezogen auf Autonomie, Selbstwertgefühl, soziale Kontakte, körperliche und seelische Gesundheit empfunden werden.“ (Stollberg, 2002) Autonomie versus Fürsorglichkeit Zwei Ziele treten im Zusammenhang mit der Betreuung älterer pflegebedürftiger Menschen in eine oft unauflösliche Konkurrenz zueinander: § Sicherung der Grundrechte auf Schutz der persönlichen Würde und Freiheit ð Autonomie § Schutz der körperlichen Unversehrtheit durch Sicherung vor Unfällen, Verwahrlosung und Misshandlung ð Fürsorglichkeit Ø Sicherheitsaspekt wird oft als absolut angesehen: in Bestreben, totale Sicherheit zu schaffen – Einsatz von Bettgittern oder Fixierungen ØKeine Berücksichtigung der psychischen und körperlichen Folgen solcher Maßnahmen 1 Autonomie und Fürsorglichkeit Fallstricke der Fürsorglichkeit (am Beispiel Demenz) 1. Infantilisierung – das alte Kind: § Der Demenzkranke ist ungezogen und unvernünftig § Ich belehre ihn und weise ihn zurecht § Er muss „erzogen“ werden, damit er sich wieder einigermaßen „normal“ aufführt § Es ist ein Fehler ihn zu „verwöhnen“, d.h. auf seine Wünsche einzugehen, statt ihm „anzugewöhnen“, sich normalen Normen entsprechend zu verhalten Autonomie und Fürsorglichkeit 2. § § § § § Stufenschema der Depersonalisation Ich stelle fest, dass der Demenzkranke nicht mehr weiß, was er tut. Ich handle für ihn (statt gemeinsam mit ihm). Mit der Zeit setzte ich mich immer selbstverständlicher über den Kranken hinweg. Er ist kein Handelnder mehr, nur mehr ein Behandelter. Ich verfüge über ihn (z.B.: Ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl ohne ihn zu fragen an einen anderen Ort) Der Demenzkranke wird für mich zum Objekt. Es ist mir nicht mehr bewusst, dass er Gefühle, Schmerzen, Bedürfnisse, Vorlieben oder Abneigungen hat. Vier Dimensionen der Lebensqualität Subjektives Wohlbefinden Verhaltenskompetenz Erlebte Lebensqualität Objektive Umwelt Lawton et al. 1996 2 Komponenten der Lebensqualität Demenzkranker § Selbstwertgefühl (Selbstvertrauen, Zufriedenheit damit, etwas geleistet oder eigene Entscheidungen getroffen zu haben) § positive Emotionen (z. B. glücklich, zufrieden, hoffnungsvoll, jemand anderen erheitern, mit anderen Spaß haben) § keine negativen Emotionen (z.B. ängstlich, einsam, beschämt, besorgt, verunsichert, niedergeschlagen) § Gefühl der Geborgenheit (sich nützlich fühlen, von anderen akzeptiert und geliebt gefühlt) § „sense of asthetics“ (z.B. Freude haben an sensorischer Stimulation durch z.B. Musik, Farben, Natur) Warum ist das Erfassen der Lebensqualität bei einer Demenz als der häufigsten psychischen Erkrankung im Alter anders als bei den anderen psychischen Störungen (z.B. Depressionen, Ängste)? Demographischer Kontext Ø derzeit fast 10 Mio. Menschen in der BRD über 65 Jahre alt Ø ca. 2,5 Mio. gelten als psychisch krank (bes. Demenz) Ø z. Zt. ca. 1,5 Mio. Demenzkranke Ø aufgrund steigender Lebenserwartung Anstieg der Erkrankten bis zum Jahre 2050 auf ca. 2 Mio. (Bickel , 2001) Ø zahlenmäßig bedeutendster Risikofaktor der AD ist das Alter 3 Prävalenzraten und geschätzte Anzahl von Demenzkranken in Deutschland Quelle: Kruse, 2004 Was ist Demenz? Nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) handelt es sich um ein Syndrom mit den folgenden Merkmalen: Ø Abnahme der Gedächtnisfunktionen Ø Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten (z.B. Urteilsvermögen, Denkvermögen) Ø deutliche Beeinträchtigung der ADL Ø Störung von Affektkontrolle, Antrieb oder Sozialverhalten (mit emotionaler Labilität, Reizbarkeit, Apathie oder Vergröberung des Sozialverhaltens) sowie Ø Dauer der Störungen mind. sechs Monate Verlust an Alltagskompetenz durch Demenz bei älteren Patienten (Möller et al.,2002) Quelle: Kruse, 2004 4 Schweregrade der Demenz (Hager, 2004) Die Sichtweise bezüglich Demenz prägt unser Denken, unsere Wahrnehmung und unser Handeln ð und bestimmt damit auch die Lebensqualität von demenzkranken Menschen D E M E N Z 5 D = Defizit oder Direktheit E = Einsamkeit oder Erleben M = Mangel oder Miteinander E = Ekel oder Empathie N = Nutzlosigkeit oder Natürlichkeit Z = Zerfall oder Zugehörigkeit Alte Sichtweise: reduziert / medizinisch Ø ausschließlich krankhafte Veränderungen im Gehirn bestimmen das Entstehen und den Verlauf der Demenz Pflegende / Therapeuten/ Angehörige: Hoffnungslosigkeit Hilflosigkeit / Passivität Befreiung von Schuldgefühlen Mensch mit Demenz: Reduktion der Erlebenswelt Personsein wird aberkannt F41 Gefährdung des Wohlbefindens Verstehender Zugang zum Menschen mit Demenz wird verhindert Quelle: LOAD Neue Sichtweise: umfassend / biopsychosozial Ø mehrere (auch psychosoziale) Faktoren bestimmen das Entstehen und v. a. den Verlauf der Demenz Pflegende / Therapeuten / Angehörige: Hoffnung Aktivität Bestätigung für intuitiv richtiges Verhalten Mensch mit Demenz: Personsein wird anerkannt Relatives Wohlbefinden ist trotz Demenz möglich Verstehender Zugang zum Menschen mit Demenz wird möglich Quelle: LOAD 6 Der Begriff „Relatives Wohlbefinden“ „Relatives Wohlbefinden bedeutet, dass den Grundbedürfnissen der Menschen mit Demenz nachgekommen wird und es den Pflegenden und Therapeuten gelingt, Wünsche und Bedürfnisse herauszufinden und zu befriedigen, Verhalten als Kommunikation zu deuten und die darin enthaltenen Intentionen zur Zufriedenheit zu ergänzen, zu unterstützen und zum Erfolg zu bringen.“ (Müller-Hergl, 2000) Wie kann man das Befinden Demenzkranker erfassen? KOMBINATION 1. Zugang 2. Zugang 3. Zugang Interview mit dem Heimbewohner selbst Interview mit Bezugspersonen (Pflege/Angehörige) Beobachtung des Bewohners „Wie geht es Ihnen?“ „Wie fühlen Sie sich?“ „Was halten Sie von…?“ „Wie geht es Frau A?“ „Wie fühlt sich Frau A in bestimmten Situationen?“ -in festgelegten Situationen (z.B. Mahlzeiten) -in individuell verschiedenen Situationen (müssen erfragt werden) Quelle: Kruse, 2004 Probleme bei der Erfassung der Bedürfnisse von Dementen : Ø Stellvertreterbefragungen Ø Reduzierung auf Konsumentenstatus (s. „Bewohnerzufriedenheit“) Ø Merkmalsorientierung von vollstandardisierten Erfassungen Ø Oft liegen dem Entwicklungsprozess der meisten Instrumente theoretische Konzepte zur Lebensqualität im Alter zugrunde 7 Ø Wichtig: Ein Qualitätsurteil sagt solange nichts aus, wie nicht bekannt ist, ob die Dimension oder der Gegenstand, zu dem das Urteil abgegeben wird, für die Befragten überhaupt von Bedeutung ist. Leben und Wohnen im Altenheim St. Johannisstift “Die Würde des älteren Menschen zu achten und zu bewahren, ist der Leitsatz unserer Arbeit. Lebensqualität heißt für uns: ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung und Privatsphäre für jeden Bewohner. In unseren Einzel- und Doppelzimmern sowie 11 Wohnungen bieten wir 120 Menschen Platz. Jedes unserer Zimmer ist mit Dusche und WC ausgestattet, fast alle haben einen Balkon. Unsere Bewohner können die Räume mit eigenen Möbeln einrichten.” Def. von Lebensqualität (WHOQoL-Group): „Lebensqualität ist die individuelle Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation im Kontext der jeweiligen Kultur und des jeweiligen Wertesystems und in Bezug auf die eigenen Ziele, Erwartungen, Beurteilungsmaßstäbe und Interessen.“ 8 “Quality of life is what the patient says it is” (Joyce, 1994) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des „patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Ziel des Projektes: Ermittlung des Demenzkranken Wahrung der subjektiven in Wohlbefindens vollstationären Lebensqualität Einrichtungen durch Befragung von zur der Betroffenen selbst (Schulz-Hausgenoss, 2004) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Herausforderungen: 1. Resultieren kognitive Defizite (Gedächtnis, Einsicht, Urteilsvermögen, Sprache) bei Demenzkranken in ungültigen Selbstberichten? 2. Nehmen Demente LQ in der gleichen Weise wahr wie Nicht-Demente? (Schulz-Hausgenoss, 2004) 9 Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Wie ist der Spagat zwischen einem individualisierten Ansatz und einer in der Praxis ökonomischen Erfassung der LQ von dementen Altenheimbewohnern vollziehbar? (Schulz-Hausgenoss, 2004) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ 1. Schritt: Ø Durchführen von narrativen Interviews Ø Aufnahme der Interviews – Transkription – Qualitative Inhaltsanalyse: Kategorisierung des Datenmaterials durch die Analyse von Gemeinsamkeiten – Verdichtung zu Schlüsselkategorien (Schulz-Hausgenoss, 2004) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Kognitiver Status (n = 15) Variablen Mittelwerte (S.E.) Alter SDQ GDS ADL IADL Urteilsvermögen 82,07 (1,95) 2,67 (0,54) 3,73 (0,82) 47,67 (4,14) 0,8 (0,33) 1,38 (0,18) Abstraktionsvermögen 1,00 (0,28) Anmerkung: SDQ: Short Dementia Questionnaire: max. 7 Punkte: keine Demenz; 6 – 4 Punkte: leichte Demenz; 3 – 0 Punkte: mittelschwere bis schwere Demenz; GDS = Geriatrische Depressionsskala (max. 15 Punkte: Werte > 5 = Depression); ADL = Aktivitäten des täglichen Lebens (Kennwert für Pflegebedürftigkeit (max. 100 Punkte)); IADL = Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (Kennwert für Hilfsbedürftigkeit (max. 8 Punkte ); Urteilsvermögen (max. 2 Punkte); Abstraktionsvermögen (max. 3 Punkte) 10 Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Schlüsselkategorien: Zentrale Bedürfnisse Ø Privatsphäre und Wohnsituation Ø Soziale Kontakte Ø Pflege und Betreuung Ø Berücksichtigung früherer Gewohnheiten Ø Autonomie und Wahlmöglichkeiten Ø Ernährung und Hauswirtschaft Ø Nicht-Konfrontation mit Demenz-Erkrankungen von Mitbewohnern (Schulz-Hausgenoss, 2004) Verteilung der Häufigkeiten der Schlüsselkategorien Autonomie 14% Wohnen 26% Sozialkontakte 21% Ernährung 7% Frühere Gewohnheiten 10% Pflege 12% Demenz bei anderen 10% (Schulz-Hausgenoss, 2004) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ 2. Schritt: Fragebogenkonstruktion Ø Ø Fragebogen („DemView“) besteht aus den genannten sieben Bereichen mit insgesamt 37 Fragen. Leicht verständlich formulierte Fragen (z.B. aus dem Bereich Privatsphäre und Wohnsituation: „Fühlen Sie sich in Ihrem Zimmer wohl?“). (Schulz-Hausgenoss, 2004) 11 Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Kognitiver Status (n = 58) 30 n = 58 Score 24 18 12 6 0 MMST GDS Abbildung 1: Mittelwerte und Standardabweichung im MMST und in der GDS (n = 58) Anmerkung: MMST = Mini-Mental-Status-Test: 30 – 27 Punkte: keine Demenz; 26 – 18 Punkte: leichte Demenz; 17 – 10 Punkte: mittelschwere Demenz; < 10 Punkte: schwere Demenz GDS: Geriatrische Depressionsskala: > 5 Punkte: Depression wahrs cheinlich (Schulz-Hausgenoss, 2004) Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ 3. Schritt: ðAnwendung des Fragebogens in der Pflegepraxis ist erfolgt ð Ergebnisse zeigen: » hohe Reliabilität » gute Validität Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Fazit: Zur Beurteilung und Verbesserung der Lebensqualität von Demenzkranken ist es erforderlich, sowohl die objektiven als auch die subjektiven Komponenten von Lebensqualität zu erfassen. 12 Studie: „Entwicklung und Evaluation eines Instrumentes zur Erfassung des “patient view“ von demenziell Erkrankten in vollstationären Einrichtungen “ Bedeutung der Ergebnisse: - Verbesserung der Versorgungs- und Lebenssituation Demenzkranker - Erweiterung des Pflegehandelns der mit der Pflege betrauten Mitarbeiter - Entwicklung patientenorientierter Pflegekonzepte - Überprüfung der Ergebnisqualität in Einrichtungen der Altenhilfe; - Förderung von „demenzspezifischer Normalität als Leitkonzept in der Versorgung Demenzkranker im Heimbereich“ (Lind, 2002) Interessant • • Mein Fall ist für ihn sehr interessant Meine Krankheit erzeugt bei ihm großes Interesse • • Meine Blutwerte interessieren ihn ganz besonders F16 Nur ich bin für ihn uninteressant Petrus Ceelen 13