Die Einstellung der muslimischen und der nicht

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Sascha Hodjati
Die Einstellung der muslimischen und der
nicht-muslimischen Wohnbevölkerung in
Deutschland zum Terrorismus
Eine empirische Untersuchung
Diplomarbeit
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 3
Einleitung ............................................................................................................. 4
1. Definitionen und Begriffserklärungen ....................................................... 8
1.1
1.2
1.3
1.4
Der Islam ....................................................................................................................................8
Der Islamismus.......................................................................................................................14
Der islam-extremistische Terrorismus ............................................................................16
Zwischenfazit ..........................................................................................................................21
2. Integration und ihre unterschiedliche Wahrnehmung........................... 22
3. Theoretische Ansätze zur unterschiedlichen Wahrnehmung des
Terrorismus ................................................................................................ 28
3.1
3.2
3.3
3.4
Konflikttheorie ........................................................................................................................28
Anomietheorie .........................................................................................................................31
Der Subkulturansatz..............................................................................................................36
Der Desintegrationsansatz ..................................................................................................44
4. Die empirische Befragung.......................................................................... 54
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.5.1
4.5.2
4.5.3
4.6
4.6.1
4.6.2
4.6.3
4.6.4
4.6.5
4.6.6
4.6.7
4.6.8
4.6.9
Forschungsstand ....................................................................................................................54
Methodik...................................................................................................................................54
Stichprobenziehung...............................................................................................................58
Soziodemographische Daten ..............................................................................................60
Religion und Gruppe.............................................................................................................62
Religiosität und Einstellungen zu verschiedenen Religionen..............................................62
Bedeutung und Praktizierung des Islam ................................................................................67
Wahrnehmung der Eigengruppe und Fremdgruppe............................................................69
Wahrnehmung des Terrorismus ........................................................................................71
Wahrnehmung der Terroranschläge.......................................................................................71
Wahrnehmung der islam-extremistischen Terrorgefahr......................................................79
Bekämpfung des islam-extremistischen Terrorismus ..........................................................80
Wahrnehmung der sozialen Unterdrückung bestimmter Minderheiten und
Ethnien .......................................................................................................................................83
Bewertung bestimmter Gruppen, Parteien und Organisationen........................................85
Medien und ihr Einfluss auf die Einstellungen zum Terrorismus .....................................95
Integration und die Wahrnehmung des Terrorismus.........................................................100
Diskriminierungen und die Wahrnehmung des Terrorismus ...........................................108
Soziokulturelle Rahmenbedingungen und die Wahrnehmung des Terrorismus ...........112
5. Vergleich von Theorie und Empirie ....................................................... 117
6. Schlussbetrachtung .................................................................................. 119
1
Literaturliste .................................................................................................... 124
Anhang ............................................................................................................. 131
2
Abbildungsverzeichnis
ABBILDUNG 1: DER ISLAM-EXTREMISTISCHE TERRORISMUS UND SEINE ANTEILE AM
WELTWEITEN TERRORISMUS, AUSGEHEND VON BEKANNTEN
TERRORGRUPPEN ......................................................................................... 19
ABBILDUNG 2: RELIGIOSITÄT ............................................................................................... 63
ABBILDUNG 3: EINSTELLUNGEN ZU VERSCHIEDEN RELIGIONEN UND DEM ATHEISMUS
(NEGATIVES URTEIL).................................................................................... 64
ABBILDUNG 4: ZAHLEN DER TODESOPFER UND VERLETZTEN DER ABGEFRAGTEN
TERRORANSCHLÄGE ..................................................................................... 72
ABBILDUNG 5: ZAHLEN DER GEFUNDENEN TREFFER BEI „GOOGLE“ (SUCHE:
TERRORANSCHLAG + TAG/JAHR + ORT/LAND JE NACH HÖHERE
TREFFERQUOTE)........................................................................................... 73
ABBILDUNG 6: BETROFFENHEIT VON ANSCHLÄGEN, ERSTE DREI NENNUNGEN
(ANGABEN IN PROZENT) .............................................................................. 74
ABBILDUNG 7: KEINE BETROFFENHEIT DURCH TERRORANSCHLAG
(ANGABEN IN PROZENT) .............................................................................. 76
ABBILDUNG 8: TERRORANSCHLÄGE, DIE DEN BEFRAGTEN WENIGER BIS ÜBERHAUPT
NICHT BETROFFEN GEMACHT HABEN (ANGABEN IN PROZENT) ..................... 78
ABBILDUNG 9: HOHE WAHRNEHMUNG SOZIALER UNTERDRÜCKUNG VON MINDERHEITEN
(ANGABEN IN PROZENT) .............................................................................. 83
ABBILDUNG 10: ABLEHNENDE EINSTELLUNG GEGEN BESTIMMTE GRUPPEN, PARTEIEN
UND ORGANISATIONEN (ANGABEN IN PROZENT) ......................................... 88
ABBILDUNG 11: POSITIVE EINSTELLUNG FÜR BESTIMMTE GRUPPEN, PARTEIEN,
ORGANISATIONEN (ANGABEN IN PROZENT) ................................................. 91
ABBILDUNG 12: KORRELATION DER RELIGIOSITÄT UND SYMPATHIE ZU BESTIMMTEN
GRUPPEN (MUSLIMISCHE BEFRAGTE)........................................................... 92
ABBILDUNG 13: KORRELATION MOSCHEEBESUCH UND SYMPATHIE ZU BESTIMMTEN
GRUPPEN ...................................................................................................... 93
ABBILDUNG 14: TEILWEISE BIS HOHES VERSTÄNDNIS FÜR DIE ZIELE UND DEN
GEFÜHRTEN KAMPF (ANGABEN IN PROZENT)............................................... 94
ABBILDUNG 15: EINFLUSS DER MEDIEN AUF DIE ZUSTIMMUNG VON DEN OBEN
GENANNTEN AUSSAGEN ............................................................................... 98
ABBILDUNG 16: ZUMINDEST TEILWEISE GEWÄHRLEISTUNG DER
INTEGRATIONSMAßNAHMEN (ANGABEN IN PROZENT)................................ 106
ABBILDUNG 17: PERSÖNLICH ERFAHRENE DISKRIMINIERUNGEN (MINDESTENS EINMAL)... 109
ABBILDUNG 18: WIE ZUFRIEDEN SIND SIE MIT FOLGENDEN LEBENSBEREICHEN? .............. 111
ABBILDUNG 19: BEDEUTUNG DES FREUNDESKREISES DER MUSLIMISCHEN BEFRAGTEN .... 113
ABBILDUNG 20: BEDEUTUNG DES FREUNDESKREISES DER NICHT-MUSLIMISCHEN
BEFRAGTEN ................................................................................................ 114
3
Einleitung
Seit vielen Jahren warnen Islamwissenschaftler und Terrorismusforscher vor der steigenden
Gefahr des islam-extremistischen Terrorismus (Vgl. Hoffman 2001; Laqueur 2001; Tibi
2002). Schon in den 1990er Jahren konnten Heitmeyer et al. beweisen, dass bei vielen jungen
Türken, die desintegriert sind, die Wahrscheinlichkeit steigt, sich islam-extremistischen
Gruppen zuzuwenden. Dieser Zusammenhang sollte nicht außer Acht gelassen werden, denn
es ist nicht nur zu einer Steigerung von Terrorismus mit islam-religiösem Hintergrund
gekommen, sondern viele Wissenschaftler sowie die Jahresberichte des Bundesinnenministeriums weisen auch auf die steigenden Mitgliederzahlen von islam-extremistischen
Gruppen hin.1 Doch kann von diesem Trend auf die ganze muslimische Gemeinschaft
geschlossen werden? Gibt es überhaupt auf Seiten der muslimischen und nicht-muslimischen
Wohnbevölkerung unterschiedliche Einstellungen zum Terrorismus, wenn ja, inwiefern
unterscheiden sie sich voneinander und welche Ursachen sind dafür verantwortlich?
Genau diese Fragen soll die Diplomarbeit beantworten. Sie hat sich zum Ziel gesetzt,
dieses schwierige Phänomen nicht nur theoretisch zu durchleuchten, sondern anhand einer
eigenen quantitativen Befragung von Muslimen und Nicht-Muslimen herauszufinden, ob die
Haupthypothese, dass Erstere den islam-extremistischen Terrorismus weniger ablehnen, sich
bewahrheitet. Die Einordnung der Befragten in Muslime und Nicht-Muslime geschah durch
die vor der Fragenbogenausgabe gestellte Frage, ob der Befragte Muslim oder Nicht-Muslim
ist, d.h. die Unterscheidung hat nichts damit zu tun, wie religiös der Befragte ist.
Sollte sich die von mir erwartete unterschiedliche Einstellung der Muslime und NichtMuslime zum Terrorismus bewahrheiten, besteht die weitere Aufgabe der empirischen
Befragung darin, ihre Unterschiede darzustellen und zu überprüfen, ob die von mir
prognostizierten Ursachen für dieses Phänomen sich bestätigen lassen.
1
Vgl. Heitmeyer, Müller und Schröder (1997) und die Jahresberichte des Bundesinnenministerium, auch zu
finden auf der offiziellen Internetseite: http://www.bmi.bund.de.
4
Dabei mache ich hauptsächlich folgende Ursachen für die unterschiedliche Bewertung des
Terrorismus verantwortlich:
-
Wahrnehmung von Eigen- und Fremdgruppe
-
Unterschiedliche Normen- und Werte durch subkultur- oder kontrakulturähnliche
Verhältnisse
-
strukturelle und soziale Desintegration
-
Identitätskrise, die eine innere Zerrissenheit auslöst
-
Minderwertigkeitsgefühle, ausgelöst durch die eigene Positionswahrnehmung in der
Gesellschaft
-
Abwehrmechanismen zur Bekämpfung der eigenen Frustration und Minderwertigkeitsgefühle
-
Wahrnehmung von sozialen Ungleichheiten und sozialer Ungerechtigkeit
-
Medienbeeinflussung
Meines Erachtens gibt es zahlreiche Faktoren, die für die unterschiedliche Einstellung zum
Terrorismus verantwortlich sein könnten. In der Untersuchung geht es weniger darum, zu
untersuchen, in welchem Maße die muslimische Wohnbevölkerung Sympathien für islamextremistische Terroristen besitzt, es geht vielmehr um erste empirische Erkenntnisse zu
einem bestehenden Gesellschaftsproblem. Denn mit den Einstellungen zum Terrorismus kann
aufgezeigt werden, dass die nicht-muslimische und die muslimische Wohnbevölkerung zwei
sehr unterschiedliche Bevölkerungsteile der deutschen Gesellschaft verkörpern, in der ein
Konfliktpotenzial auf Grund gegenseitigen Misstrauens, gegenseitiger Schuldzuweisung der
Missstände und gegenseitiger Ablehnung besteht. Hieraus scheint sich ein Risiko zu ergeben,
aus dem sich leicht mehr entwickeln kann als nur verschiedene Einstellungen zum
Terrorismus.
Es ist dieses Konfliktpotenzial, das eine Verbreitung von Extremismus und religiösem
Fanatismus in der Gesellschaft auslösen kann. So gibt es m. E. verschiedene populistische
Politiker und unseriöse Medien, die mit diesem „Feuer spielen“ statt zu versuchen, dieses
Problem einzudämmen, und zudem Gesetze und Meinungen fördern, die den Konflikt eher
noch
verstärken.
Denn
es
ist
leicht,
die
muslimische
Wohnbevölkerung
als
Terrorsympathisanten zu stigmatisieren, schwieriger ist es jedoch, verantwortungsbewusst die
Ursachen dafür zu finden und zu der eigenen Mitverantwortung für dieses Phänomen Position
zu beziehen.
5
Die vorliegende Diplomarbeit soll theoretisch und empirisch nachweisen, dass die
Mehrheitsgesellschaft an den Sympathien verschiedener Muslime für islam-extremistische
Gruppen eine Mitverantwortung trägt und nur wenn beide, die deutsche Mehrheitsgesellschaft
und die muslimische Minderheit, daran arbeiten, dieses Konfliktpotenzial zu verringern,
sowie durch eine gemeinsame und gleichberechtigte Auseinandersetzung mit diesen
Konflikten Lösungen suchen, kann ein friedliches Miteinander in Zukunft ermöglicht werden.
Daher ist das Ziel dieser Arbeit, nicht nur herauszufinden, inwiefern sich die muslimischen
und nicht-muslimischen Befragten bei der Einschätzung des Terrorismus unterscheiden,
sondern sie soll auch dazu beitragen, die inneren und äußeren Gesellschaftsprobleme der
muslimischen Minderheit nachvollziehen zu können, um so zu verstehen, weshalb
Terrorismus unterschiedlich wahrgenommen wird und aus welcher Motivation heraus ein
Mitglied der muslimischen Minderheit Sympathien für islam-extremistische Gruppen
entwickelt.
Bevor diese Unterschiede jedoch untersucht werden können, müssen in Kapitel 1 zuallererst
Begriffe wie Islam, Islamismus und islam-extremistischer Terrorismus näher erläutert
werden, um zu verhindern, dass es zu einer Vermischung dieser Begriffe kommt. Hierbei
wurde bewusst die Begriffsbezeichnung islam-extremistischer Terrorismus gewählt, da der
Begriff islamistischer Terrorismus dazu führen kann, Islam, Islamismus und Terrorismus zu
verwechseln, wozu m. E. viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft neigen. Der Begriff
„islam-extremistisch“ kristallisiert eindeutig heraus, dass es sich um eine Extremposition
handelt, genau wie beim Linksextremismus und Rechtsextremismus. Der Begriff
„islamistisch“ hingegen verführt dazu, die Außenposition zu vernachlässigen und den Blick
stärker auf seine religiöse Komponente zu richten. Das kann zu unzulässigen
Verallgemeinerungen führen und darin münden, dass kein Unterschied mehr zwischen
Muslimen und Islamisten gemacht wird und dadurch die Abgrenzung zum Terroristen noch
geringer wahrgenommen wird. Insbesondere solche unklare Begriffsverständnisse tragen zur
Stigmatisierung der gesamten Minderheit der Muslime bei (vgl. Leibold und Kühnel, 2005).
Das Fatale daran ist, dass die Muslime dadurch eher dazu motiviert werden können, zu
Anhängern der Extremisten zu werden.
Nach dieser begrifflichen Trennung wird es im zweiten Kapitel um Fragen der Integration
gehen. Denn verschiedene Aspekte der Integration werden u. a. als Ursachen für die
unterschiedlichen Einstellungen zum Terrorismus erwartet. Erst danach besteht die
Möglichkeit, im dritten Kapitel theoretisch zu erörtern, weshalb die Muslime Terrorismus
unterschiedlich wahrnehmen. Die verschiedenen Theorien abweichenden Verhaltens sowie
6
die Kulturkonflikttheorie und der Desintegrationsansatz bieten eine gute Basis für die
Erklärung unterschiedlicher Einstellungen zum Terrorismus. Doch all diese Theorien nützen
wenig, wenn sie nicht empirisch nachweisbar sind und es gar keine unterschiedliche
Wahrnehmung des Terrorismus gibt.
Daher sollen im vierten Kapitel die empirischen Ergebnisse der quantitativen Befragung
von 72 Muslimen und 68 Nicht-Muslimen Klarheit verschaffen. Die beiden Gruppen wurden
mit Hilfe eines (teil-)standardisierten Fragebogens, der an Schulen in Duisburg und Aachen,
im Stadtzentrum und Umgebung der Stadt Aachen und Duisburg, an der Universität
Duisburg-Essen, an einer marokkanischen und türkischen Moschee und in einer christlichen
Pfarrgemeinde verteilt wurde, befragt. Insgesamt dauerte die Erhebungsphase fünf Monate,
und zwar vom Februar 2006 bis zum Juli 2006. Beide, Muslime und Nicht-Muslime, sollten
einen 20-seitigen Fragebogen ausfüllen, der außer den Einstellungen zu Muslimen und NichtMuslimen, die Praktizierung des Islams, Medienbeeinflussung und Wahrnehmung der
Muslime in der deutschen Gesellschaft auch ähnliche Fragestellungen enthielt, um die
Antworten miteinander vergleichen zu können. Neben der Darstellung der empirischen Daten
hat das fünfte Kapitel zum Ziel, auf die Zusammenhänge zwischen den theoretischen
Ansätzen und den empirischen Ergebnissen einzugehen. Das Kapitel 6 schließt die Arbeit mit
der Schlussbetrachtung ab.
7
1.
Definitionen und Begriffserklärungen
Um sich mit dem Thema „Einstellung der muslimischen und der nicht-muslimischen
Wohnbevölkerung in Deutschland zum Terrorismus“ auseinandersetzen zu können, müssen
zunächst einige Begriffe näher erläutert werden. Dabei handelt es sich nicht um
allgemeingültige Definitionen und Begriffserklärungen, sondern um Ansätze, wie man sich
diesen Begriffen annähern kann.
1.1
Der Islam
In der vorliegenden Diplomarbeit wird von zwei Gruppen die Rede sein, zum einen von der
nicht-muslimischen
Wohnbevölkerung2,
zum
anderen
von
der
muslimischen
Wohnbevölkerung.3 Daraus ergeben sich folgende Fragen, die erst einmal geklärt werden
müssen: Was ist eigentlich ein Moslem/Muslim? Was versteht man unter dem Islam? Welche
Verhaltensweisen zeichnen einen Gläubigen dieser Religion aus? Zur ersten Annäherung an
den Begriff Islam soll ein Eintrag aus einem Wörterbuch einen Eindruck darüber vermitteln,
was unter Islam verstanden wird:
„[Der] Islam ist eine von Mohammed im 7. Jahrhundert gestiftete Weltreligion. Nach dem
Christentum ist [der Islam] die zweitgrößte und gegenwärtig am stärksten expandierende Religion
der Welt, deren Anhänger auf mehr als eine Milliarde Menschen geschätzt werden. In Europa gibt
es etwa 35 Millionen [Angehörige] dieser Glaubensrichtung. In Deutschland beträgt die Zahl der
Muslime circa 3,3 Millionen, das sind [etwas über 4 Prozent] der Bevölkerung. Die
Selbstbezeichnung Islam bedeutet die völlige Hingabe an den Willen Gottes; derjenige, der diese
Hingabe zeigt, ist der Muslim (Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2005).“
Der Islam besitzt in Deutschland eine sehr große Anhängerschaft. Das ist bemerkenswert, da
noch Anfang der 1960er Jahre der Islam bei uns kaum eine Rolle gespielt hat, da damals nur
knapp 15.000 Muslime in Deutschland lebten. Heute sind es über drei Millionen Menschen.
Rund 500.000 von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft (vgl. Sen und Aydin 2002,
Anfangsseite). Die größte Gruppe bilden die türkischen Muslime, allein sie zählen etwa 2,4
2
3
Unter der nicht-muslimischen Wohnbevölkerung versteht man alle Menschen, die nicht zu der
Religionsgemeinschaft des Islams gehören oder sich selbst nicht dazu zählen.
Zu der muslimischen Wohnbevölkerung zählt man alle Menschen, die sich der Religionsgemeinschaft des
Islams zuordnen oder dieser Religionsgemeinschaft angehören. Darunter fallen Personen aus Ländern mit
islamischem Hintergrund wie Iran, Irak, Marokko, Türkei, ehem. Jugoslawien usw., aber auch Deutsche
oder Deutsche mit ausländischer Herkunft. Die Angehörigen des Islams sind zum größten Teil Ausländer
oder gehörten vor der Einbürgerung zu dieser Kategorie. Daher ist ein Zusammenhang zu der
Ausländerproblematik nicht von der Hand zu weisen und fließt in vielen Teilen der Arbeit mit ein. In dieser
Diplomarbeit besteht trotzdem nur eine Differenzierung durch die Religionszugehörigkeit und nicht durch
den Ausländerstatus, da dieser für die Fragestellung nur eine untergeordnete Rolle spielt (s. dazu auch Sen
und Aydin 2002, S. 15).
8
Millionen Mitglieder. Ebenfalls leben in Deutschland Muslime aus Bosnien-Herzegowina
(167.000), dem Iran (116.000), Marokko (81.000) und Afghanistan (72.000). Zahlenmäßig
folgen ihnen die Libanesen (54.000), die Iraker (51.000), die Pakistani (38.000) sowie die
Syrer und die Tunesier (je 24.000). Darüber hinaus gibt es kleinere muslimische Gruppen aus
Ägypten, Albanien, Jordanien, Indonesien, Serbien, Montenegro, Kroatien und Algerien
sowie aus verschiedenen afrikanischen Staaten (vgl. ebd. S. 15).
Durch die Zuwanderung der vergangenen 40 Jahre haben sich die Muslime zur
zweitgrößten Religionsgemeinschaft in Deutschland entwickelt. Dabei handelt es sich jedoch
nicht um eine homogene Gruppe, sondern um sehr unterschiedliche Richtungen, denen
gemeinsam ist, dass sie sich alle als Muslime definieren wie beispielsweise die Sunniten, die
Schiiten und die Aleviten.4 Haben sich die Muslime bis in die 1980er Jahre vielfach selbst als
Randerscheinung wahrgenommen, so lassen sich seit den 1990er Jahren verstärkt
Bemühungen feststellen, sich als Religionsgemeinschaft zu etablieren. Hierzu gehört auch die
Schaffung einer eigenen religiösen Infrastruktur, wie es z.B. der Zentralrat der Muslime in
Deutschland versucht, indem er sich für die Vereinheitlichung des Islamunterrichtes einsetzt.
Mit der enormen Steigerung von Anhängern des Islams entwickelte vor allem der Begriff
„Muslime“ oder „Moslem“ eine bedeutende Rolle. So bezeichnen die meisten Menschen
Anhänger des Islams als „Muslime“ oder „Moslems“, doch was bedeuten eigentlich die
Begriffe „Muslim“ und „Moslem“?5 Die Bedeutung des Begriffes wird verständlicher, wenn
man die religiöse Deutung des Korans, das Tafsir Al-Quran, zu Hilfe nimmt:
„Das Wort ‚Muslim’(oder Moslems) wird abgeleitet vom Substantiv ‚Islam’ und bedeutet: jemand,
der durch seine Unterwerfung unter Allahs Willen zu vollkommenem Frieden gelangt ist. Der
Muslim ist ein Mensch, der Allah(t) als den Einzigen Gott anerkennt, sich Seinen Gesetzen und
Befehlen unterwirft und Seine Gebote befolgt (Rida 2003, S. 25).“
Beim Islam handelt es sich um eine monotheistische Religion, die für sich „beansprucht, die
einzig wahre Botschaft zu sein ‚Koran 3/19’ (Tibi 2002, S. 264).“ Der Islam stellt sich über
alle anderen Religionen, indem er zwar die monotheistischen Religionen des Judentums und
Christentums anerkennt, jedoch bezeichnet er den Glauben des Islams als den
Vollkommensten. Im heiligen Buch der Muslime, dem Koran, gibt es dazu eine Textstelle, in
der den Muslimen diese Wertigkeit vermittelt wird:
„Er hat herabgesandt zu dir das Buch mit der Wahrheit, bestätigend das, was ihm vorausging;
4
5
Es gibt jedoch viele Muslime, für die die Aleviten keine Muslime sind, vor allem, weil für die Aleviten
bestimmte Regeln nicht gelten. So essen sie Schweinefleisch und trinken Alkohol, auch der Koran spielt für
sie eine geringere Rolle als für andere Muslime.
Die Begriffe Muslim oder Moslem haben die gleiche Bedeutung.
9
und vordem sandte Er herab die Thora und das Evangelium als eine Richtschnur für die
Menschen; und Er hat herabgesandt das Entscheidende (Schweer 2003, S. 57).“
Somit beschreibt der Islam den Koran als übergeordnete Regelung für alle drei
Weltreligionen. D.h. die Thora und die Bibel waren nur die „Anfangsversuche“, die etliche
Fehler enthielten, die aber mit dem Koran wieder korrigiert wurden und nun endlich ein
vollkommenes Werk geschaffen haben.
Nachdem die „Exklusivität“ des Islams aufgezeigt wurde, stellt sich die Frage, wie sich
ein Muslim sieht und nach welchen Regeln er sein religiöses Leben auszurichten hat. Wie in
jeder Religion gibt es auch im Islam religiöse Pflichten, an die sich jeder Gläubiger zu halten
hat. So sollte jeder Muslim nach den fünf Säulen des Islams leben, den Koran lesen und sein
tägliches Leben an die Textinhalte des Korans anpassen. Die fünf Säulen des Islams, die jeder
achten sollte, lauten wie folgt:
1.
Shahada – Glaubensbekenntnis: Die erste Säule, das Glaubensbekenntnis, ist die Basis für
die anderen. Wer öffentlich bekennt: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist
der Gesandte Allahs”, hat damit den Islam angenommen. Der erste Teil ist ein
Bekenntnis, das von allen Monotheisten gesprochen werden kann.
2.
Salat – Rituelles Pflichtgebet: Die für das tägliche Leben wichtigste und das äußere Bild
der islamischen Welt am stärksten formende Kraft ist das Pflichtgebet, das fünfmal am
Tag verrichtet wird und für alle Muslime vom 12. Lebensjahr an verbindlich ist.
3.
Zakat – Die Almosen- oder Armensteuer: Die Zakat ist eine Abgabe vom Vermögen. Sie
ist Erfüllung der sozialen Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Sie diente früher dem
gerechten sozialen Ausgleich zwischen reichen und armen Bevölkerungsschichten.
4.
Saum – Das Fasten im Ramadan: Seit den Anfängen des Islams ist der neunte Mondmonat
des Jahres, der Ramadan, die Zeit des Fastens. Vom Morgengrauen bis zum
Sonnenuntergang darf nicht gegessen, getrunken, geraucht, kein Wohlgeruch genossen,
kein Geschlechtsverkehr ausgeübt werden. Der Mondmonat Ramadan wandert durch alle
Jahreszeiten. Jeder Muslim, der dazu körperlich in der Lage ist, muss fasten. Ausnahmen
gelten etwa für Kranke, schwangere Frauen oder Frauen, die ihre Menstruation haben.
5.
Hadsch – Die Pilgerfahrt nach Mekka: Jeder Muslim soll einmal im Leben im
Wallfahrtsmonat, dem letzten Monat des islamischen Mondjahres, eine Pilgerfahrt nach
Mekka unternehmen und an den heiligen Stätten die vorgeschriebenen Riten vollziehen.
Durch den Nachvollzug der Pilgerfahrt in der gleichen Art, wie sie von Mohammed
überliefert wird, wendet sich der Gläubige zu den Ursprüngen seiner Religion zurück (vgl.
Schweer 2003, S. 12).
10
Zusätzlich zu den fünf Säulen des Islams hat der Koran eine herausragende Bedeutung für den
Islam. Er ist das heilige Buch Gottes, vergleichbar mit der Bibel für die Christen und der
Thora für die Juden. Der Koran wurde laut Überlieferungen von Gott geschrieben und ist
einheitlich. Jede Kopie des Korans entspricht im genauen Wortlaut dem Original. Der Text
des Korans ist in 114 Abschnitte (Suren) untergliedert; sie wurden vermutlich nach dem
Prinzip der abnehmenden Länge aneinandergereiht. Die Suren lassen sich in zwei Gruppen
einteilen, je nachdem, ob sie in Mekka (610-622) oder in Medina (622-632) offenbart wurden,
was in der Überschrift jeweils angegeben wird. In Mekka überwog die kurze,
situationsgebundene Offenbarung, oft verbunden mit Polemik gegen das Unverständnis der
Menschen und mit Gerichtsdrohungen, während in Medina längere Ausführungen über
religiöse und politische Themen, aber auch legislative Texte in den Vordergrund traten. Als
Hauptthemen lassen sich benennen: die Einzigartigkeit und Barmherzigkeit Gottes, die
Pflichten der Muslime, biblische Gestalten wie Adam, Abraham, Moses, auch Jesus und seine
Mutter Maria sowie Gericht, Hölle und Paradies (vgl. Microsoft Encarta Enzyklopädie
Professional 2005).
Nach der Darstellung des religiösen Lebens der Muslime sind noch zwei Begriffe des
Islams gerade für unsere Thematik von herausragender Bedeutung, nämlich die Begriffe
„Scharia“ und „Djihad“. Sie werden oft in den unterschiedlichsten Zusammenhängen genutzt,
zumeist falsch interpretiert und vor allem auch durch viele Islamisten6 entfremdet. So nutzen
viele Islamisten diese Begriffe für ihren Kampf7 und beeinflussen dadurch die
Medienberichterstattung über deren Bedeutung. Das hat wiederum dazu beigetragen, dass
viele Vorurteile gegen den Islam entstanden sind.
Der erste Begriff, die „Scharia“, legt sowohl die Pflichten des Individuums fest als auch
die der Gemeinschaft. Sie kann von ihrer Konzeption her als das vollständige Rechtssystem
der Welt betrachtet werden. Die „Scharia“ lässt keinen Freiraum für neue Entwicklungen,
denn prinzipiell gilt, dass alles, was dem Koran oder der Sunna8 nicht widerspricht, in die
6
7
8
Was der Unterschied zwischen Muslim und Islamist ist, wird im folgenden Kapitel erklärt. Zum näheren
Verständnis soll nur kurz erwähnt werden, dass ein Muslim ein Gläubiger des Islams und ein Islamist ein
religiös islamischer Fundamentalist ist.
Vgl. den folgenden Internetlink, der eine Übersetzung aus Teilen des Trainingshandbuches der Al-Qaida
enthält. Internetlink: http://www.koran.terror.ms/ (Stand: 03.10.2005).
In der islamischen Terminologie versteht man unter Sunna das Vorbild des Propheten, seine Lebensführung,
wie sie sich in seinen Ansprüchen (qawl), Handlungen (fi’l) und Gepflogenheiten sowie dem
stillschweigenden Einverständnis (taqrir) mit dem, was in seiner Gegenwart gesagt oder getan wurde,
kundgab. Sie wurde von den Prophetengefährten und einer „Kette wahrheitsgetreuer Übermittler“ (isnad) in
den Sammlungen der Taten und Worte Muhammads (hadith) bewahrt. Einerseits stellen sie eine
authentische Erläuterung der von Gott offenbarten Gebote und Verbote im Koran dar, andererseits dienen
sie zur Verdeutlichung von Vorschriften allgemeiner Natur sowie als Ergänzung dessen, was nicht
ausdrücklich im Koran erwähnt ist (s. dazu Antes 1991, S. 63).
11
„Scharia“ aufgenommen werden kann (Schweer 2003, S. 13). Doch ob die „Scharia“ wirklich
diese überragende Bedeutung hat, darüber streiten sich die Islamwissenschaftler und
religiösen Gelehrten. So spricht zum Beispiel der Islamwissenschaftler Bassam Tibi der
„Scharia“ eine relativ geringe Bedeutung zu, indem er anmerkt:
„Das Wort Schari’a kommt nur ein einziges Mal im Koran vor; die entsprechende Stelle heißt:
‚Wir haben Dir eine Schari’a gegeben, dann leb’ dannach’ (Koran Sure al-Djathiya, Nr. 45, Vers
18). Somit ist die ‚Schari’a’ hier als Ethik und moralische Orientierung zu verstehen und nicht als
ein Rechtssystem. Die ‚Schari’a’ als Rechtsordnung wurde erst einhundert Jahre nach Abschluss
der islamischen Offenbarung entwickelt. Das Argument, die ‚Schari’a’ sei göttlich und gehöre zur
kulturellen Identität der Muslime, ist nicht haltbar. Jeder ‚Schari’a’ Experte weiß, dass es keine
einheitliche ‚Schari’a’ gibt. Denn die ‚Schari’a’ ist interpretativ (Tibi 2002, S. 188f.).“
Der zweite Begriff „Djihad“ hat seinen Ursprung im Koran und zählt zu den Begriffen, die
viele in ihrer Bedeutung unterschiedlich definieren. Viele islamische Extremisten sprechen im
Zusammenhang mit dem Begriff vom heiligen Krieg, andere Muslime wiederum verstehen
darunter eher die Selbstanstrengung eines jeden Gläubigen, Allah näher zu kommen. Beide
haben in gewisser Hinsicht Recht und Unrecht. Nehmen wir dazu wieder Bezug auf den
Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der die Funktion des Begriffes „Djihad“ wie folgt
beschreibt:
„Muslime sind nach ihrer Religion verpflichtet, Da’wa/Aufruf zum Islam als Mission zur
Verbreitung des Islams zu betreiben. Das Mittel dazu ist der Djihad, was im Islam ,Anstrengung’,
nicht, wie im Westen falsch verbreitet, ‚heiliger Krieg’ bedeutet. Diese Anstrengung zur
Verbreitung des Islams kann friedlich erfolgen, und die Hidjra9 nach Europa ist in unserer Zeit
ein Beispiel hierfür. Doch die Djihad-Pflicht darf in Notsituationen auch mit Mitteln des ,Qital’
(Kampf), also mit Gewalt, ausgeübt werden (Tibi 2002, S. 54).“
Den heiligen Krieg gibt es in diesem Zusammenhang nicht. Folgt man Schweers
Erläuterungen (vgl. Schweer 2003, S. 13f.), kann nachvollzogen werden, warum viele eher
den kriegerischen Aspekt des Begriffes „Djihad“ wahrnehmen. In seiner Auseinandersetzung
mit dem Begriff Djihad schreibt er, dass oft der Eindruck entstand, dass der Begriff „Djihad“
gleichgesetzt wird mit einer Sanktionierung der Ungläubigen mit den Mitteln des Kampfes.
Doch diese Sichtweise ist ebenso irreführend wie die weit verbreitete Ansicht, der Islam habe
sich seinen Weg mit Feuer und Schwert gebahnt. Wenn es in Sure 9, 29 des Korans heißt:
„Kämpfet wider diejenigen aus dem Volk der Schrift, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag
glauben und die nicht als unerlaubt erachten, was Allah und sein Gesandter als unerlaubt erklärt
haben und die nicht dem wahren Bekenntnis folgen, bis sie aus freien Stücken den Tribut
entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen“,
9
Hidjra bedeutet Auswanderung zur Verbreitung des Islams.
12
so ist damit nicht die willkürliche Tötung von Juden und Christen gemeint. Der Aufruf zur
Kampfbereitschaft gründet vielmehr auf der Einteilung der Welt in islamische und
nichtislamische Gebiete. So unterteilt der Islam in diesem Sinne die Welt in zwei Gruppen,
und zwar in die Gläubigen und die Ungläubigen, die im Koran auch oft „Götzendiener“
benannt werden. Zu den Ungläubigen zählen alle, die nicht zum Islam, Christentum oder
Judentum gehören. Sie werden nicht toleriert und mit ihnen befindet man sich nach dem
Koran in einem dauerhaften Konfliktzustand und stellt die Ungläubigen vor die Wahl, zu
konvertieren oder sich mit dem Islam im Kriegszustand zu befinden. Diese etwas
kriegerischen Worte werden besser verständlich, wenn man sich in die Zeit des Propheten
Mohammed und der Entstehung des Korans versetzt.
Es war eine kriegerische Zeit, in der dem Propheten Mohammed und den ersten Muslimen
gar keine andere Wahl blieb, als sich und ihre Gemeinschaft mit kriegerischen Mitteln zu
verteidigen und ihre Botschaft zu schützen, ansonsten wäre die Botschaft sofort
untergegangen. So kann man davon ausgehen, dass „Djihad“ nicht einfach Krieg bedeutet,
sondern, wörtlich übersetzt, „sich anstrengen“. Im Kontext der entsprechenden Suren ist
damit in der Regel „das Sichabmühen auf dem Weg Gottes“ gemeint, wozu auch die
Anwendung von Gewalt gehören kann. Die Betonung liegt auf „kann“ und ist nicht ein
Hauptbestandteil des Wortes „Djihad“. So rechtfertigt der Koran den Krieg nicht um seiner
selbst willen, aber er akzeptiert ihn als gelegentlich notwendiges Erfordernis, anders gesagt,
der Zweck heiligt die Mittel.
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