Paradoxes Europa - Universität Leipzig

Werbung
SERIE EUROPA  EUROPE SERIES
Paradoxes Europa
Zur (Eigen-)Dynamik der Eurokrise
Maurizio Bach
Georg Vobruba
No.3/2014
Maurizio Bach
Paradoxes Europa. Zur (Eigen-)Dynamik der Eurokrise
Maurizio Bach
Ordinarius für Soziologie an der Universität Passau
Professor for Sociology at the University of Passau
[email protected]
Serie Europa – Europe Series
ISSN: 2193-8318
Institut für Soziologie
Universität Leipzig
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Deutschland
Institute for Sociology
University of Leipzig
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Germany
Zusammenfassung
Die Europäische Union steckt in einer der tiefsten Vertrauens- und Legitimationskrisen ihrer Geschichte. Kennzeichnend dafür ist eine Dynamik nicht-beabsichtigter
und paradoxer Effekte des Krisenmanagements. Der Beitrag erschließt diese Effekte
soziologisch mit Hilfe der Theorie eigendynamischer sozialer Prozesse. Insbesondere
drei Strukturmerkmale des europäischen Konfliktregimes begünstigen die paradoxen
Eigendynamiken des Krisenverlaufs und machen rationale Krisenlösungen immer
unwahrscheinlicher: (1) die relativ niedrige Problemlösungsfähigkeit der EU angesichts eines dualen Systems von zugleich intergouvernementalen und supranationalen
Regulierungsansprüchen, (2) der auf Kurzfristigkeit angelegte Pragmatismus politischen Entscheidens vor dem Hintergrund einer starken Dominanz der „funktionalistischen“ Integrationsmethode, und (3) die systemische Geschlossenheit der Währungsunion mit konfliktverschärfenden Wirkungen.
Summary
The European Union is suffering one of the deepest confidence and legitimation
crises in its history. This can be recognized by dynamic unintended and paradoxical
effects of crisis management. The paper examines these effects by adopting the
sociological paradigm of self-perpetuating social processes. Mainly three characteristics of the European conflict regime foster the paradoxical dynamics of the crisis and
weaken the prospects of rational crisis management significantly: First, the EU’s low
problem-solving capacity in the light of the dual system of concurrent intergovernmental and supranational policy aspirations; second, the political short term pragmatism against the background of prevailing method of functionalist European integration, and third, the closed system of monetary union, which forecloses the exit
option, with its conflict-intensifying effects.
Der Beitrag erscheint in:
Fehmel, Thilo; Lessenich, Stephan; Preunkert, Jenny (Hg.) (2014): Systemzwang und
Akteurswissen. Theorie und Empirie von Autonomiegewinnen. Frankfurt am Main:
Campus (im Druck).
Inhalt
0
1.
Eine untypische Krise ................................................................................................. 03
2.
Teufelskreise der europäischen Krise ....................................................................... 04
3.
Strukturdynamiken des europäischen Konfliktregimes ......................................... 09
4.
Fazit .............................................................................................................................. 13
Literatur ................................................................................................................................ 14
Bach: Paradoxes Europa
3
1. Eine untypische Krise
Wirtschaftskrisen sind meist kurz währende Phasen eines Konjunkturzyklus. Deren
Ursachen liegen in einer vorausgehenden Prosperität, und die Krise wird durch einen
darauf folgenden Aufschwung wieder überwunden. Danach beginnt über kurz oder
lang der Kreislauf wieder von vorne (vgl. Pareto 1966: 492ff.; Spiethoff 1955). Die
Krise der Europäischen Union zeigt jedoch ein gänzlich anderes Verlaufsmuster:
Ausgehend von den Turbulenzen auf dem US-amerikanischen Finanzmarkt nach der
Lehmann-Pleite weitete sie sich erst zur einer Weltwirtschaftskrise, dann zur Staatsschulden- und Euro-Krise aus. Auf den Finanzmärkten hat sich die Lage mittlerweile
beruhigt, die Europäische Union ist aber weiterhin mit einer der tiefsten Vertrauensund Legitimationskrisen ihrer Geschichte konfrontiert (vgl. Blumann, Fabrice 2010).
Alle Bemühungen seitens der Europäischen Union, führender Mitgliedstaaten sowie
internationaler Wirtschaftsorganisationen, ihrer Herr zu werden, führten bisher nicht
zu den erhofften Problemlösungen. Stattdessen verschärften sich die sozialen Probleme und eskalierten die Konflikte in Europa, insbesondere in der Peripherie. Einer
prosperierenden Wirtschaftsentwicklung im Norden Europas stehen anhaltende
wirtschaftliche Depressionen und soziale Polarisierungen im Süden Europas gegenüber. Aus der Euro-Krise hat sich eine umfassende Krise der europäischen Gesellschaft
entwickelt, wobei Kosten und Lasten sehr ungleich auf die Mitgliedsländer und
Regionen verteilt sind. Aus der Finanzkrise sind in wenigen Jahren neue europaweite
Ungleichheits- und Verteilungskonflikte hervorgegangen. Diese überfordern die
Konfliktverarbeitungsfähigkeit der supranationalen Institutionen (vgl. Preunkert,
Vobruba 2012: 203). Der europäische Verband ist weitgehend handlungsunfähig. Die
»Krisen Europas« (Lepsius 2013) haben sich somit nicht nur wechselseitig verstärkt,
es sind auch kumulative Wirkungsverkettungen entstanden, die den Bestand der Europäischen Union existenziell gefährden können. Nichts weniger als die Zukunft des
Integrationsprojektes steht auf dem Spiel.
Statt von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen, wie sie für wirtschaftliche Krisen
typisch sind, ist für das gegenwärtige Krisenszenario in Europa eine Dynamik nichtbeabsichtigter und paradoxer Effekte kennzeichnend. Das kommt sinnfällig in einem
Wandel der Krisensemantik zum Ausdruck: ›Ansteckungsgefahr‹, die Leitmetapher
der Finanzkrise (vgl. Vobruba 2012: 72ff.), wurde mittlerweile von ›Teufelskreisen‹
abgelöst. Der Begriff des Teufelskreises ist zur Chiffre für die gegenwärtige EU- und
Europakrise, ihrer Selbstblockaden und Stagnation avanciert.1 Bei dieser diffizilen
1 Kaum eine wirtschafts- oder politikwissenschaftliche Krisenanalyse, in der nicht Teufelskreise
identifiziert werden: Falk Illing etwa beschreibt einen »Teufelskreis des Vertrauensverlustes des
Finanzmarktes« (Illing 2013: 23) und einen der staatlichen Bankenrettung (ebd.: 38); Fritz W. Scharpf
zeigt einen Teufelskreis der Währungsunion auf, in dem die »Unterschiede der nationalen Inflationsund Wachstumsraten durch die einheitliche EZB-Geldpolitik verstärkt wurden« (Scharpf 2011: 328),
und Claus Offe analysiert einen solchen aus Euro-Rettung und »Renationalisierung der Solidaritätshorizonte« (Offe 2013). Auch Jenny Preunkert und Georg Vobruba diagnostizieren im Zusammen-
4
SERIE EUROPA No. 3/2014
Problemlage stoßen wirtschaftswissenschaftliche Krisenanalysen an ihre Grenzen. Es
liegt nahe, auf soziologische Ansätze und Konzepte zurückzugreifen. Dabei ist festzustellen, dass ›Krise‹ trotz inflationärer Verwendung kein analytisch aufschlussreicher Begriff der Soziologie ist. Soziologische Erklärungskraft gewinnt der Krisenbegriff erst, wenn er theoretisch spezifiziert und in entsprechende kausale Modelle
übersetzt wird (vgl. etwa Friedrichs 2007). Zu den klassischen kausalen Mechanismen
zählen: unbeabsichtigte und unerwünschte Effekte, Emergenzprodukte, Paradoxien,
Rückkopplungen, Eskalationsprozesse, Zirkulärstimulationen, contagion und andere
(vgl. zusammenfassend: Boudon 1979; Maurer, Schmid 2010). Sie lassen sich dem
Oberbegriff ›soziale Eigendynamiken‹ subsumieren. Im folgenden Beitrag soll die
gegenwärtige Europakrise mit Hilfe der Theorie eigendynamischer sozialer Prozesse soziologisch erschlossen werden. Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann definieren soziale Eigendynamik als Prozesse, »die sich  einmal in Gang gekommen oder ausgelöst  aus sich selbst heraus und ohne weitere externe Einwirkung weiterbewegen
und dadurch ein für sie charakteristisches Muster produzieren und reproduzieren«
(Mayntz, Nedelmann 1987: 648f.). Sie gewinnen dabei gleichsam ein Eigenleben, das
sich von den Handlungsplänen und Steuerungsabsichten der Akteure verselbständigen kann. Eigendynamische soziale Prozesse zeichnen sich durch ein meist kompliziertes Ineinandergreifen und Umkehren von Ursache und Wirkung sowie durch
verstärkende bzw. hemmende Rückschleifen aus. Es handelt sich dabei um einen
analytischen Begriff für nicht-beabsichtigte soziale Prozesse, wobei »die Art ihrer
Verursachung, Aufrechterhaltung und Verlaufsform« (ebd.: 651) rekonstruiert werden. In den Blick geraten dabei insbesondere »zirkuläre Verursachungsmechanismen«
(ebd.: 659). Solche zirkulären Kausalitäten können auf allen sozialen Ebenen und in
sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen auftreten und emergente, unerwünschte,
paradoxe, dysfunktionale oder auch (selbst-)zerstörerische Prozesse freisetzen.
2. Teufelskreise der europäischen Krise
Eine erste Paradoxie der Währungsunion zeigt sich in einer europaweiten Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Die vor Einführung der Einheitswährung bestehenden regionalen sozio-ökonomischen Disparitäten – vor allem das Nord-Süd-Gefälle
 wurden nicht durch eine allmähliche Angleichung der Produktivitäts- und Lebensverhältnisse ausgeglichen. Vielmehr treten in der Krise die alten innereuropäischen
cleavages wieder hervor. Die Modernisierungsverlierer von früher sind die underdogs
von heute: überschuldet, mit stagnierender Wirtschaft, hohem Außenhandelsdefizit,
unterentwickelter Wohlfahrtsstaatlichkeit, ausgeprägter sozialer Ungleichheit und
hang der Finanzkrise eine »negative Vertrauensdynamik«, die freilich auch als circulus vitiosus
interpretiert werden kann (Preunkert, Vobruba 2012: 207).
Bach: Paradoxes Europa
5
überwiegend auf Unterstützung durch die EU-Rettungsschirme angewiesen. Das gilt
für Griechenland, Spanien, Portugal und teilweise für Italien und Irland. Damit hat
sich die programmatische Prophezeiung von Binnenmarkt und Währungsunion in
ihr Gegenteil verkehrt. Statt einer zunehmenden sozio-ökonomischen Konvergenz
zeigt sich eine höchst ungleiche Verteilung der Wohlstandseffekte auf die Mitgliedstaaten und Ländergruppen. Dabei kommen allerdings nicht nur historische Pfadabhängigkeiten zum Tragen; die Währungsunion selbst wirkt als eigenständiger Verursachungsmechanismus. Die Produktivitätsunterschiede zwischen den beteiligten
Volkswirtschaften lassen sich seit Einführung der einheitlichen Währung nicht mehr
wie zuvor durch geldpolitischen Interventionismus der nationalen Zentralbanken
und variable Wechselkurse ausgleichen. Die Währungsunion versperrt den wettbewerbsschwachen Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien definitiv
die Möglichkeit der Abwertung ihrer Währungen. Als funktionales Äquivalent steht
ihnen nur noch das Instrument der »inneren Abwertung« zur Verfügung: Senkung
der Lohnkosten, Abbau des Wohlfahrtsstaates, Reduktion der Staatsbediensteten,
Steuererhöhungen, betriebliche Rationalisierung (vgl. Illing 2013; Streeck 2013:
237ff.; 246ff.). Das hat zwangsläufig eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit und daraus
resultierende soziale Verwerfungen und Konflikte in den betreffenden Ländern zur
Folge. Diese Probleme wirken sich wiederum negativ auf die Volkswirtschaften aus,
indem sie deren Wettbewerbsfähigkeit unterminieren, zu einer Erhöhung der
Staatsausgaben und damit zwangsläufig auch der Staatsschulden führen.2 Eine
Destabilisierung der politischen Systeme in den Krisenländern ist die Folge (vgl.
Scharpf 2011). Darin zeigt sich ein Muster zirkulärer Kausalität: Die paradoxen
Effekte der europäischen Währungsintegration wirken dergestalt auf die Ursachen 
die nationalen Produktivitätsungleichheiten  zurück, dass sie sich in einer Abwärtsspirale eigendynamisch selbst verstärken.
Eine weitere unbeabsichtigte (allerdings nicht von allen Mitgliedstaaten gleichermaßen als negativ betrachtete) Nebenfolge der Währungsintegration betrifft die Zinsentwicklung im Euroraum. Diese nivellierte sich unter Mitberücksichtigung der Länder mit guter Bonität anfangs nach unten. Die niedrigen Zinsen waren direkt auf die
Einführung der Währungsunion zurückzuführen, denn nun kamen Staaten mit notorisch schwacher Bonität in den Genuss einer für den Euroraum insgesamt, also unter
Berücksichtigung der zahlungsfähigen Mitgliedsstaaten geltenden Zinskonvergenz.3
Die südlichen Mitgliedstaaten gelangten so überraschend in den Genuss kostengünstiger Kredite, was zu einer Erhöhung der Staatsausgaben führte. So lange, wie die
wettbewerbsschwächeren Schuldenstaaten von den relativ niedrigen Zinsen auf den
internationalen Finanzmärkten profitierten und dadurch problemlos ihre Staats2 vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2013: 11.
3 So fielen die Durchschnittszinsen beispielsweise für Griechenland nach dem Beitritt zur
Währungsunion von 11,9 Prozent auf 4,2 Prozent, was einen hohen Anreiz zu zusätzlicher Verschuldung schuf (vgl. Illing 2013: 48).
6
SERIE EUROPA No. 3/2014
kredite refinanzieren konnten, blieben die beschriebenen strukturellen Probleme in
der Latenz. Die Euro-Euphorie, die vielfach mit der Einführung der Einheitswährung einherging, wurde also in den südlichen Ländern der EU von einer unverhofften Wohlstandsillusion genährt, die auf billigen Krediten basierte (vgl. Tsoulakis
2013; Brenke 2012). Die Illusion platzte mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008, als
der Bankenhandel von Vertrauenseinbrüchen überschattet wurde und für die Kreditinstitute wieder realistischere Risikokalkulationen sowie Renditeerwartungen die
Oberhand gewannen (vgl. Illing 2013: 18f.). Damit wurde offenkundig: Die ohnehin
relativ ausgeprägte soziale Ungleichheit im Euroraum, die in dem ökonomischen
Produktivitäts- sowie im institutionellen Modernisierungsgefälle zwischen Nord- und
Südeuropa wurzelt, hatte sich nicht vermindert, sondern deutlich vertieft.
Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang von einem Matthäus-Effekt zu sprechen, weil
diejenigen Gesellschaften, die bereits als strukturell Benachteiligte dem Währungsverband bzw. der Europäischen Union beigetreten sind, in eine Abwärtsspirale der
Ungleichheitsverschärfung geraten sind. Die programmatische Vision eines einheitlicheren und homogeneren Sozialraums Europa, die den Architekten des Binnenmarktes und der europaweiten Währung vorschwebte, hatte sich für die peripheren
Mitgliedstaaten als Selbsttäuschung erwiesen. Das Nord-Süd-Gefälle der sozialen
Ungleichheit in der Europäischen Union, das bereits vor der Währungsunion bestand, hat sich nicht nur linear reproduziert, die Schere ist in den vergangenen Jahrzehnten noch größer geworden  trotz und/oder aufgrund der wirtschaftlichen und
politischen Integration in Europa (vgl. Mau, Verwiebe 2009: 264ff.; Scharpf 2012).
Auch diese gesellschaftliche Dynamik entzieht sich weitgehend der politischen Steuerung. Sie folgt keinem institutionenpolitischen Design. Soziale Mechanismen wie
der Matthäus-Effekt wirken als zirkuläre Verursachungsprozesse endogen und ungeplant. Soziologisch lassen sich diese Prozesse durch die gesellschaftliche Interdependenzstruktur des Systems der europäischen Arbeitsteilung und die nicht-beabsichtigten Nebenfolgen der Binnenmarkt- und Währungsintegration, die ihrerseits wieder
Kaskaden von Nebenfolgen heraufbeschwören, erklären (dazu 3. Abschnitt unten).
Eine weitere Kettenreaktion von nicht-beabsichtigten Folgen haben die europäischen
Maßnahmen zur Abwendung des Staatsbankrotts Griechenlands und anderer insolventer und mit Refinanzierungsproblemen konfrontierter Mitgliedstaaten in Gang
gesetzt. Mit den durch die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und den
Internationalen Währungsfonds ins Werk gesetzten ›Rettungsmaßnahmen‹ vergrößerten sich die nationalen sowie regionalen Disparitäten im Euroraum in den Bereichen Staatsverschuldung, Einkommensentwicklung, Arbeitslosigkeit, Armutsrisiken,
Gesundheitsversorgung etc. nochmals (Illing 2013: 73ff.).4 Die Euro-Rettungsschirme können die sozialen und wirtschaftlichen Strukturprobleme der südlichen
Krisenländer nicht beheben, eine Konsolidierung der Staatshaushalte in den über4 Zu den sozialen Problemen in Griechenland siehe The Economist, 25.05.2013: 32; zu Spanien ebd.:
29.
Bach: Paradoxes Europa
7
schuldeten Krisenländern ist auch gar nicht zu erwarten (vgl. Lepsius 2013). Im Gegenteil: War die nationale Wirtschaftskraft von Ländern wie Griechenland, Portugal
oder Spanien – gemessen etwa am BIP-Wachstum und an den Leistungsbilanzungleichgewichten  im Verhältnis zu derjenigen Deutschlands, Dänemarks oder
Österreichs schon vor dem Beitritt zur Währungsunion asymmetrisch, so verminderten sich die Potenziale nochmals deutlich im Zuge der Konsolidierungspolitik
(vgl. Scharpf 2011; Grossmann 2011; Illing 2013).
Die Krisenländer wurden nun zudem unmittelbar von Kreditgarantien der Europäischen Union und von der Zahlungsbereitschaft der wirtschaftsstarken Geberländer
abhängig, welche seither die Konditionen diktieren können. Als Gegenleistung für
tiefgreifende Einspar- und Rationalisierungsmaßnahmen vor allem in der öffentlichen Verwaltung erhielten die bedürftigen Staaten frisches Geld lediglich als Kredite
zur Refinanzierung bestehender Verbindlichkeiten. Hinzu kommt: Aufgrund der
anhaltend hohen Zinsen für Staatsverbindlichkeiten und der Belastung der Sozialsysteme in den südlichen Krisenländern ist auch unter dem ›Rettungsschirm‹ der Europäischen Union damit zu rechnen, dass die Staatsschulden exponentiell weiter zunehmen werden. Eine Konsolidierung der Haushalte ist somit auf absehbare Zeit
nicht zu erwarten; der »Konsolidierungsstaat« (W. Streeck) wird weiterhin vor allem
ein Schuldenstaat bleiben. Der Teufelskreis aus permanenter Zahlungsunfähigkeit,
steigendem Kreditbedarf, weiteren Sparauflagen und zunehmender sozialer Verelendung wird in der Peripherie Europas somit kaum zu durchbrechen sein.
Die mit den Sparauflagen der Austeritätspolitik verknüpften sozialen Härten und
Verwerfungen bleiben freilich nicht folgenlos. Sie lösen weitere Rückkopplungsschleifen im Wirtschafts- und Sozialsystem, vor allen aber auch in den nationalen
politischen Arenen aus. Der circulus vitiuosus der europäischen Rettungspolitik verzahnt sich mit dem paradoxen Zirkel der europäischen Ungleichheit. Ein weiterer
Teufelskreis kommt auf nationaler politischer Ebene zum Vorschein: der Teufelskreis der sozialen und politischen Konflikte.
Hier zeigt sich ein weiteres kaum lösbares Dilemma des von der Europäischen
Union eingeschlagenen Weges der fiskalpolitischen Konsolidierung: Die Strukturreformen in den südlichen Ländern bedürfen nicht nur Zeit – Zeit für Planung, Interessenaggregation und Implementation, sie setzen vor allem stabile politische Verhältnisse mit regierungsfähigen Parteien bzw. Koalitionen und funktionierenden
Institutionen, die das Vertrauen der Bürger genießen, voraus. Das Zusammenwirken
von äußerem, durch die Krise erzeugtem Handlungsdruck mit verkürzten Zeithorizonten und den ebenfalls relativ kurzfristig zu erfüllenden Konsolidierungsauflagen
der europäischen Geldgeber führt unvermeidlich zu negativen Synergieeffekten.
Diese untergraben die Legitimation und damit die Stabilität der politischen Systeme
in den Krisenländern. Dieses Dilemma zeigt ein Doppelgesicht: Einerseits das einer
Krise des Krisenmanagements, wobei kurzfristige und langfristige Erfordernisse für
8
SERIE EUROPA No. 3/2014
die Lösung der Eurokrise in einen schwer auflösbaren Widerspruch geraten
(Preunkert, Vobruba 2012: 220).
Zum anderen wird deutlich, dass die bisherigen Problemlösungen mit der Demokratie kollidieren: Die Spar- und Reformpakete bedürfen parlamentarischer Mehrheiten
und erfordern einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens. Beides ist angesichts der allgemeinen politischen Spannungen und Ungewissheiten zu einem zunehmend riskanten Unterfangen geworden (vgl. Offe 2013). Voluntaristisch lässt sich
dieser Teufelskreis aus sozialer Konfliktverschärfung, politischer Destabilisierung
und dramatisch zunehmendem Reformbedarf schwer aufbrechen. Dabei sind neben
dem Faktor Zeit auch die strukturellen Defizite der betreffenden Gesellschaften in
Rechnung zu stellen, in erster Linie die traditionell durch Patronage- und
Klientelverhältnisse sowie aufgeblähte und ineffiziente Staatsbürokratien geprägten
Modernisierungsdefizite. Jahrzehntelang bestand in Italien oder Griechenland eine
erhebliche Reformresistenz unter den politischen Eliten und in den Verwaltungen
(vgl. Tsoulakis 2013: 27ff.). Die Ära Berlusconi in Italien ist dafür symptomatisch.
Kurzfristig können externe Schocks gesellschaftlichen Wandel ebenso anstoßen wie
soziale Notlagen. Grundlegende gesellschaftliche Strukturreformen lassen sich jedoch nicht von außen oktroyieren. Modernisierungsprozesse setzen kollektive
Lernprozesse und institutionelle Innovationen voraus. Sie sind darüber hinaus immer
von gesellschaftlichen Konflikten begleitet. Die bisherige Konsolidierungsstrategie
der Europäischen Union verhindert aber gerade solche innergesellschaftlichen Lernprozesse und Konfliktverarbeitungen. Stattdessen hat sie für den Erhalt des Euro
einen riskanten Weg eingeschlagen, den der Externalisierung der sozialen Kosten in die
schwächsten Mitgliedsländer. Das treibt nicht nur eine Konfliktspirale in den betroffenen Gesellschaften und in Europa insgesamt an. Es stellt auch das Modernisierungsprojekt der Europäischen Union und damit die Glaubwürdigkeit der europäischen Solidaritätsidee in Frage.
Dazu trägt ein schiefes Deutungsmuster, das in der Krise auf breite Resonanz in der
Öffentlichkeit stieß, noch bei: Die verbreitete Vorstellung, die Krisenländer hätten
die Malaise selbst verschuldet, was moralisch rechtfertige, deren gesamte Bevölkerung pauschal in Haftung zu nehmen.5 Fritz W. Scharpf spricht in diesem
Zusammenhang von einem »Schuld-und-Sühne-Schema« (Scharpf 2012: 336). Dieser
Topos entwickelte sich zu einer self-fullfilling prophecy, indem er dazu beitrug, dass eine
falsche Definition der Situation reale Konsequenzen zeitigte. Die Zuschreibung der
Krisenursachen auf das politische Versagen der nationalen Regierungen und Eliten,
die oft auf kulturellen Vorurteilen basiert, trägt in den Mitgliedstaaten, die dem
›Troika‹-Regime der europäischen Geldgeber unterworfen sind, zusätzlich dazu bei,
das Vertrauen der Bürger in die eigene Regierung zu untergraben und die politischen
Systeme damit weiter zu gefährden. Denn wenn als real angenommen wird, die
5 Darauf hat besonders Wolfgang Streeck (2013) aufmerksam gemacht.
Bach: Paradoxes Europa
9
Politik hätte versagt, finden sich die nationalen Institutionen insgesamt diskreditiert.
Extreme, vor allem anti-institutionelle politische Parteien und populistische
Bewegungen gewinnen dann zunehmend an Einfluss (beispielsweise das Linksbündnis SYRIZA in Griechenland oder der Movimento 5 Stelle in Italien). Angesichts der
verbreiteten Unübersichtlichkeit und Ausweglosigkeit der ökonomischen und politischen Situation bleiben denunziatorische »Gegenstigmatisierungen« (N. Elias) der zu
Außenseitern gestempelten Gesellschaften freilich nicht aus. Diese Reaktionen richten sich dann oft pauschal gegen die Europäische Union, der der Status einer ›Besatzungsmacht‹ zugeschrieben wird, besonders aber auch gegen Deutschland als dem
vermeintlich neuen ökonomischen und politischen Hegemon in Europa. Darin
drückt sich eine neue Qualität der Politisierung der Europafrage aus: nationale Machtfragen überlagern wieder die Integrationsprogrammatik.6
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Die Krise der Währungsunion
zeichnet sich durch eine Reihe nicht-intendierter und paradoxer Konsequenzen aus.
Die großen Leitideen der europäischen Integration, welche dem Binnenmarktprojekt
und der Währungsunion zugrunde liegen  ökonomisches Wachstum, Wohlstand,
Konvergenz und Kohäsion  wurden durch die Krisendynamik, aber auch durch das
europäische Krisenmanagement teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Am offensichtlichsten wird dies an der Vertiefung der sozialen Ungleichheit und der Spaltung Europas. Darüber hinaus weist die bisherige Krisenpolitik des europäischen Verbandes
keinen erfolgversprechenden Weg aus diesen fundamentalen, durch die Konsolidierungsstrategie der Europäischen Union und führender Mitgliedstaaten noch verschärften Dilemmata.
3. Strukturdynamiken des europäischen Konfliktregimes
Eigendynamische soziale Prozesse sind einer doppelten Kausalitätskette zurechenbar:
Einerseits den Verursachungsmechanismen, die sie selbst generieren, vor allem also
einer ›zirkulären Kausalität‹, andererseits aber auch den strukturellen Eigenschaften
der Akteurskonstellationen oder Interdependenzsysteme. Zum Kernverständnis der
Soziologie zählt die Erkenntnis, dass komplexe soziale Gebilde, wie sie typischerweise in modernen Gesellschaften vorkommen, für vielfältige nichtbeabsichtigte
Wirkungen und unerwünschte Nebenfolgen von zielgerichteten Handlungen verantwortlich sind (vgl. Boudon 1979: 117ff.; Schimank 2010: 197). Häufig kommt es –
sowohl bei face-to-face-Interaktionen wie auf der gesellschaftlichen Makroebene  zu
6 Seltsame Blüten treibt das von wiedererwachten nationalen Ressentiments geprägte Klima bei
manchen europäischen Intellektuellen. So etwa bei dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben,
wenn dieser Alexandre Kojèves nicht minder skurrile Ordnungsidee eines »lateinischen Imperiums«
wieder aufwärmt und als Gegenmodell zum vermeintlich durch das protestantisch geprägte
Deutschland beherrschte Europa vorschlägt (vgl. Agamben 2013; dazu kritisch Kaube 2013).
10
SERIE EUROPA No. 3/2014
Verselbständigungen, Eskalationsprozessen, Zielverschiebungen und dergleichen
›transintentionalen‹ Effekten. Systemzwänge können das Handeln und die sozialen
Vorgänge in Bahnen lenken, welche die Motive der Akteure ebenso wie die Leitideen
von Institutionen in ihr Gegenteil verkehren. Für die Erzeugung emergenter Prozesse sind spezifische strukturelle – situationale, institutionelle oder makrogesellschaftliche – Merkmale entscheidend. Dazu gehören: ein hoher Grad an funktionaler
bzw. institutioneller Differenzierung, dichte wechselseitige Abhängigkeiten der Akteure bei gleichzeitiger systemischer Geschlossenheit, widersprüchliche Interessenorientierung und ambivalente Handlungsziele, Werte und Normen (zusammenfassend: Mayntz, Nedelmann 1987: 661). Empirisch sind eigendynamische Struktureffekte somit erst durch die strukturellen Merkmale spezifischer Interdependenzsysteme bzw. Akteurskonstellationen kausal zu erklären. Es ist »geradezu das zentrale
Element des Ansatzes«, bemerken Mayntz und Nedelmann, »dynamische Vorgänge
auf Systemebene als Ergebnis des Zusammenwirkens bestimmter struktureller Konfigurationen mit bestimmten Handlungsorientierungen zu erklären« (Mayntz, Nedelmann 1987: 666). Oder anders formuliert: Sein herausragendes soziologisches Erklärungspotential gewinnt das Konzept der sozialen Eigendynamik durch die systematische Verknüpfung von Mechanismen einerseits und Strukturvariablen andererseits.
Welchen spezifischen institutionellen Merkmalen der Europäischen Union bzw. der
Währungsunion lassen sich nun die in der Eurokrise manifest gewordenen paradoxen Eigendynamiken des Krisenverlaufs zuschreiben? Wie bei den meisten politischen Arrangements handelt es sich auch bei der Europäischen Union um eine spezifische Form der Institutionalisierung von Konflikten,7 allerdings weist sie im Vergleich zu nationalen Systemen eine Reihe von strukturellen Spezifika auf. Um hier
nur die wichtigsten anzuführen: Sie basiert erstens auf der institutionellen Ausdifferenzierung eines dualen Systems der politischen Interessenvermittlung; es weist
zugleich intergouvernementale und supranationale Merkmale auf. ›Supranationalität‹
als politisches Organisationsprinzip findet sich nur im europäischen Verband institutionalisiert. Es wird von der Europäischen Kommission  institutionengeschichtlich
ebenfalls ein Institutionennovum  verkörpert, der im Policy-Prozess der Europäischen Union die entscheidende Funktion der Prozessführerschaft wie die eines
tertium supra partes, also des Konfliktmediators sowie der Überwachungsinstanz zukommt. Aufgrund der Institutionalisierung von heterogenen Organisationsprinzipien8
ist das System permanent von innerinstitutionellen Spannungen, Zielkonflikten und
Machtverschiebungen bedroht (vgl. Hofmann, Wessels 2013). Diese stehen rationalen
und kohärenten Problemlösungen im Wege und fördern suboptimale Ergebnisse.
Die relativ niedrige Problemlösungsfähigkeit der Europäischen Union ist somit auf die
spezifische Interdependenzstruktur des europäischen Mehrebenensystems zurück7 Strukturen von Konfliktinstitutionalisierungen analysiert Fehmel (2014).
8 Zur Stellung des Europäischen Parlaments aus institutionensoziologischer Perspektive siehe Bach
2014.
Bach: Paradoxes Europa
11
zuführen. Hinzu kommt die so genannte »Politikverflechtungsfalle« (Fritz W. Scharpf):
Solange in den entscheidenden Politikfeldern  Haushalt, Vertragsänderungen, Beitritte, Sozialpolitik  jederzeit ein Veto seitens einzelner Mitgliedsstaaten eingelegt
werden kann, man zugleich aber auf die Zustimmung aller Entscheidungsebenen,
also auch jener der Staaten angewiesen ist, um kollektiv bindende Beschlüsse zu fassen,
solange sind weder optimale Problemlösungen noch mehr als eine inkrementelle Systementwicklung zu erwarten. Die Entwicklung der europäischen Integration seit den
Verträgen von Maastricht bis zur gegenwärtigen Krisenpolitik bestätigt im Wesentlichen diese Einsicht: Die Erfolge der Konfliktinstitutionalisierung im Rahmen der europäischen Institutionen sind großteils um den Preis suboptimaler policy-outcomes,
eigendynamischer Prozesse und des Verlustes ihrer Strategiefähigkeit erkauft.
Ein zweites grundlegendes Strukturmoment des europäischen Regimes, das nichtintendierte Wirkungsverkettungen fördert, ist in der funktionalistischen Integrationsmethode begründet. Demzufolge erwachsen die paktierten Integrationsziele aus
der Verdichtung von funktionalen Interdependenzen des anonymen Europäischen
Binnenmarktes. Das entspricht dem klassischen Modell der ›unsichtbaren Hand‹.
»[U]nder the Community method«, bemerkt dazu Giandomenico Majone, »policy is
largely epiphenomenal – the by-product of actions undertaken to advance the integration process, of efforts to maintain ›institutional balance‹, of institutional conflicts
and intergouvernemental bargaining« (Majone 2005: 107). Angesichts der in der Europäischen Union unterinstitutionalisierten demokratischen Rechenschaftspflichten
(›Demokratiedefizit‹) und in Anbetracht der prohibitiv hohen Verhandlungskosten
(›Politikverflechtungsfalle‹) gibt es im System nur sehr wenig Anreize für effiziente,
langfristig ausgerichtete und die Risiken abwägende Entscheidungen. Stattdessen
wurde gerade bei Großprojekten, wie zuletzt der so genannten Osterweiterung, deren
Wirkungen weit in die Zukunft reichen und hohe Risiken bergen, oft nur nach aktuellen Interessenlagen und ohne ausreichende Folgenabschätzung entschieden. Eine
unmittelbare Konsequenz der ›funktionalistischen‹ Integrationsmethode ist somit die
Vertauschung von Zweck und Mittel: Fortschritte resultieren nicht aus rationalen
Problemlösungen, sondern sind ein Ergebnis verborgener, den politischen Akteuren
wie der Öffentlichkeit unbekannter Mechanismen. Dadurch verselbständigt sich
leicht eine an Zwischenzielen und der Vordringlichkeit des Befristeten orientierte
Pragmatik; auf eine politische Gesamtkonzeption wird verzichtet und die zukünftigen Risiken finden sich systematisch ausgeblendet bzw. rhetorisch verschleiert
(Majone 2005: 107, 143ff.). Folglich setzt sich eine Politik der kleinen Schritte durch,
die Kettenreaktionen von unbeabsichtigten, erwünschten oder auch unerwünschten
Nebenfolgen hervorruft. Die Reproduktionsmechanismen dieser Prozesse entziehen
sich einem politischen Gesamtgestaltungsanspruch; sie lassen Raum nur noch für
institutionellen Aktivismus ohne Anspruch auf Strukturreformen. Ein solches
Grundmuster zeigen auch die Reaktionen der Europäischen Union auf die Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise: Sie haben zwar zu einer Vervielfältigung der Institu-
12
SERIE EUROPA No. 3/2014
tionen – EFSM, ESM, ›Sixpack‹, ›Fiskalpakt‹  und zu einer schleichenden Übernahme der faktischen Prozessführerschaft beim europäischen Krisenmanagement
durch die Europäische Zentralbank geführt, grundlegende Kompetenzänderungen
und Strukturreformen wurden auf europäischer Ebene aber nicht eingeleitet (vgl.
Salines et al. 2012; Preunkert 2012).
Ein drittes Strukturmerkmal des europäischen Systems der Konfliktinstitutionalisierung tritt besonders bei der Währungsunion hervor: ihre Geschlossenheit. Mit dem
Schritt in den einheitlichen Währungsraum, der mit dem Maastrichter Vertrag beschlossen und zur Jahrtausendwende umgesetzt wurde, erreichte die europäische
Vergesellschaftung ein zuvor nicht gekanntes Integrationsniveau. Damit nahmen
nicht nur der Grad an wirtschaftlicher und politischer Interdependenz sowie die
wechselseitige Abhängigkeit der Mitgliedstaaten in der Union zu, es wurden auch
hohe Exit-Hürden errichtet. Letztere sind vor allem funktional begründet: Der
einheitliche Währungsraum kann ohne unübersehbare volkswirtschaftliche Folgekosten (Kapitalflucht, Austrittswettlauf; Desintegrationsinflation, Vermögensverluste,
destabilisierende Währungsspekulation, Investitionseinbrüche etc.) und politische
Risiken weder von einzelnen Mitgliedstaaten verlassen noch insgesamt aufgelöst
werden. Eine Rückholung der nationalen Währungen würde sich nicht nur technisch
äußerst schwierig bewerkstelligen lassen, sie würde darüber hinaus auf unbestimmte
Zeit zu immensen Wohlstandsverlusten führen. Eine Auflösung des Euros wäre
zudem mit dem Risiko eines chaotischen Zusammenbruchs der Europäischen Union
insgesamt verbunden (vgl. Meyer 2012). Wie bei Systemen mit hohen Austrittshürden typisch, sind auch die Eurozonen-Länder bei Funktionseinbußen oder Fehlentwicklungen des Währungssystems oder einzelner Mitgliedstaaten, in der Begrifflichkeit Albert O. Hirschmans formuliert, zu permanentem ›Voice‹, mithin zu einer Fortsetzung der Kooperation und damit zur Aufrechterhaltung des Regimes gezwungen
(vgl. Hirschman 1970). Sie lassen meist keine Alternativen zu und zwingen die Akteure zur Fortsetzung der Interaktion auf den gegebenen engen Handlungspfaden.
Ist eine solche soziale Struktur mit hohen Exit-Hürden erst einmal geschaffen, dann
sind deren unvorhergesehene, nicht-intendierte Nebenfolgen von den Handelnden,
den Politikern und Technokraten nur noch schwer kontrollierbar. Sie entwickeln sich
zu Selbstläufern und die politische Steuerung versagt. Stattdessen kommt es zu einer
›Voice‹-Spirale: eine Art institutioneller Aktivismus, der zum Selbstzweck wird und in
der Konsequenz die Handlungsblockaden verschärft.
Das Dilemma entwickelt sich umso mehr zu einer Falle, je länger man die Exit-Lösung hinausschiebt. »[T]he decision to exit«, bemerkt Hischman, »will become ever
more difficult the longer one fails to exit. The conviction that one has to stay on to
prevent the worst grows stronger all the time« (Hirschman 1970: 103). Mit anderen
Worten: Rationale Krisenlösungen werden immer unwahrscheinlicher, je länger die
Akteure dem System gegenüber Loyalität zeigen. Loyalität erweist sich unter solchen
Bedingungen als kontraproduktiv. So wird auch die Krise der Währungsunion zu
Bach: Paradoxes Europa
13
einem politisch nicht mehr kontrollierbaren Kreislauf, der die Legitimationsressourcen
des europäischen Projektes aufzuzehren droht. Institutionelle Exit-Hürden führen
letztlich dazu, dass sich die Wahrnehmungen der Institutionen und Akteure verengen
und sich die Handlungsoptionen wechselseitig blockieren. Unauflösbare Dilemmata
und eine zuvor nicht gekannte Radikalisierung sozialer Konflikte sind die Folge.
Zusammengefasst: In der systemischen Geschlossenheit des europäischen Währungssystems ist eine der wichtigsten strukturellen Ursachen der gegenwärtigen Krise
Europas zu sehen. Die Dysfunktionen der Währungsunion führten zu einer Konfliktverschärfung im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten sowie innerhalb des
Institutionengefüges der Europäischen Union. Insofern brachte die Eurokrise lediglich die strukturellen Dysfunktionen und Paradoxien der Währungsunion an den Tag.
Das wäre früher oder später zweifellos auch ohne den Anstoß durch die globale
Wirtschafts- und Finanzkrise geschehen. Die Probleme Griechenlands konnten sich
deshalb zu Katalysatoren einer tiefgreifenden Strukturkrise der Europäischen Union
entwickelt, weil deren Verursachung primär in den Strukturdefekten der Währungsunion sowie der Europäischen Union zu suchen sind. Zugespitzt formuliert: Die
Euro-Krise ist letztlich ein Produkt der europäischen Integration. Es sind im Wesentlichen die nicht-intendierten Konsequenzen der Einführung der gemeinsamen
Währung in Europa, welche ihre Peripetien bestimmen.
4. Fazit
Vieles spricht dafür, dass die Euro-Krise weiterhin endogen selbstverstärkende
Mechanismen freisetzen wird, die ihrerseits paradoxe gesellschaftliche Folgen haben
und fatale Teufelskreise in Gang setzen: Systemische Entscheidungslasten erzeugen
Handlungsblockaden, die Politik der Rettungsschirme verfestigt europaweit soziale
Ungleichheit, die Stützungs- und Transferleistungen untergraben die demokratische
Legitimation der Empfänger- als auch der Geberländer sowie der Europäischen
Union insgesamt. Mehr Integration scheint mithin die Desintegrationsrisiken deutlich
zu erhöhen.
Gewiss hat die aktuelle Krise der Europäischen Union viele Ursachen: politische
Fehlsteuerung, das Legat struktureller Modernisierungsdefizite in den peripheren
Gesellschaften sowie Markt- und Institutionenversagen gehören dazu. Die
Problemstellung in diesem Beitrag zielte jedoch auf ein spezifisch soziologisches Zuschreibungsproblem: Nicht die vermeintlich defizitäre Steuer- und Planbarkeit von
politischen Systemen wurde hervorgehoben. Vielmehr standen jene gesellschaftlichen
Prozesse, Mechanismen und Strukturen im Vordergrund, die sich der Kontrolle
durch die politischen Akteure entziehen, sich spontan dynamisieren und dadurch
einen sozialen Wandel einleiten, der dem Institutionendesign entgegenwirkt und
unerwartet neue Problem- und Konfliktkonstellationen hervorbringt.
14
SERIE EUROPA No. 3/2014
Literatur
Agamben, G. 2013: Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa. La
Repubblica, 15.03.2013.
Bach, M. 2014: Demokratisierung der Europäischen Union – Ideal oder Irrweg?
GWP  Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 63 (1), 65–77.
Blumann, C., Fabrice, P. (Hg.) 2010: L’Union européenne et les Crises. Bruxelles:
Bruylant.
Boudon, R. 1979: La logique du social. Introduction á l’analyse sociologique. Paris:
Hachette.
Brenke, K. 2012: Nötige Modernisierung der griechischen Wirtschaft: eine Herkulesaufgabe. Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (3537), 1623.
Fehmel, T. 2014: Konflikte erster und zweiter Ordnung in Europa. Leviathan 42 (1),
115–136.
Friedrichs, J. 2007: Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse. In H.
Scholten (Hg.), Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der
Antike bis in die Neuzeit. Köln: Böhlau, 1326.
Grossmann, V. 2011: Wirkungen und Nebenwirkungen des EU/IWF-Rettungsschirms für verschuldete Euroländer. Wirtschaftsdienst 91 (3): 179185.
Hirschman, A. O. 1970: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms,
Organizations, and States. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Hofmann, A., Wessels, W. 2013: Tektonische Machtverschiebungen  Die Krise als
Auslöser und Verstärker des institutionellen Wandels. Zeitschrift für Politik 60 (2):
220241.
Illing, F. 2013: Die Euro-Krise: Analyse der europäischen Strukturkrise. Wiesbaden:
VS.
Kaube, J. 2013: Bald Lateineuropa? Berlusconis Philosoph liebt krude Thesen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2013.
Lepsius, R. M. 2013: In welchen Krisen befindet sich die Europäische Union? Zeitschrift für Politik 60 (2), 182193.
Majone, G. 2005: Dilemmas of European Integration: The Ambiguities and Pitfalls
of Integration by Stealth. Oxford: Oxford University Press.
Mau, S., Verwiebe, R. 2009: Die Sozialstruktur Europas. Konstanz: UVK.
Maurer, A., Schmid, M. 2010: Erklärende Soziologie: Grundlagen, Vertreter und
Anwendungsfelder eines soziologischen Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS.
Mayntz, R., Nedelmann, B. 1987: Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen
zu einem analytischen Paradigma. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (4), 648668.
Meyer, D., 2012: Euro-Krise: Austritt als Lösung? Münster: Lit.
Offe, C. 2013: Europa in der Falle. Blätter für deutsche und internationale Politik 58
(1), 6780.
Pareto, V. 1966: Manuel d’économie politique. Genf: Droz.
Preunkert, J. 2012: Die Europäische Antwort auf die Finanzmarktkrise. Zeitschrift
für Politikwissenschaft 22 (1), 6994.
Bach: Paradoxes Europa
15
Preunkert, J., Vobruba, G. 2012: Die Eurokrise  Konsequenzen der defizitären Institutionalisierung der gemeinsamen Währung. In K. Kraemer, S. Nessel (Hg.),
Entfesselte Finanzmärkte. Soziologische Analysen des modernen Kapitalismus.
Frankfurt am Main: Campus, 201223.
Salines, M., Glöckler, G., Truchlewski, Z. 2012: Existential Crisis, Incremental Response: The Eurozone’s Dual Institutional Evolution 2007–2011. Journal of European Public Policy 19 (5): 665681.
Scharpf, F. W. 2011: Monetary Union, Fiscal Crisis and the Pre-Emption of Democracy. Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 9 (2), 163198.
Scharpf, F. W. 2012: Die Eurokrise: Ursachen und Folgerungen. Zeitschrift für
Staats- und Europawissenschaften 10 (3), 324337.
Schimank, U. 2010: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurstheoretische
Soziologie. Weinheim: Juventa.
Spiethoff, A. 1955: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Tübingen: Mohr (Siebeck).
Streeck, W. 2013: Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt am Main: Campus.
Tsoulakis, L. 2013: International Bubbles, European Currency Union, and National
Failures: The Case of Greek and the Euro Crisis. In A. Triandafyllidou, R. Gropas,
H. Kouki (Hg.), The Greek Crisis and European Modernity. New York, London:
Palgrave Macmillan, 2543.
Vobruba, G. 2012: Kein Gleichgewicht. Die Ökonomie in der Krise. Weinheim:
Beltz Juventa.
Serie Europa – Europe Series
No. 2/2014
Vobruba, Georg
Währung und Konflikt.
Ambivalenzen der Eurokrise
No. 1/2014
Fehmel, Thilo
Konflikttheorie und Gesellschaftsbildung.
Europäische Integration durch soziale Konflikte
No. 5/2013
Kiess, Johannes
European integration, interest groups, and
institutional sets of conflict
No. 4/2013
Ganßmann, Heiner
Financial Markets, Welfare States and
the Grand Recession
No. 3/2013
Vobruba, Georg
Gesellschaftsbildung in der Eurokrise
No. 2/2013
Fehmel, Thilo
Globalisierung und europäische Sozialpolitik.
Implikationen der Strategie „Europa 2020“
No. 1/2013
Preunkert, Jenny
Der Euro in der Vertrauenskrise
No. 5/2012
Keutel, Anja
Die Europäische Union zwischen einheitlicher
Integration und Abstufung
No. 4/2012
Nissen, Sylke
Beobachtung oder Intervention. Das Eurobarometer im Prozess der Europäischen Integration
No. 3/2012
Vobruba, Georg
Die Transformation der Souveränität. Politische
Leistungsfähigkeit und Legitimationsprobleme
der Europäischen Union
No. 2/2012
Fehmel, Thilo
Unintendierte Annäherung? Theorie und Empirie
sozialpolitischer Konvergenz in Europa
No.1/2012
Preunkert, Jenny;
Vobruba, Georg
Die Eurokrise. Konsequenzen der defizitären
Institutionalisierung der gemeinsamen Währung
auch online unter http://www.uni-leipzig.de/~leus/
Die SERIE EUROPA wendet sich an alle sozialwissenschaftlichen
Disziplinen. Gegenstand der Reihe sind langfristige wie auch aktuelle
Probleme der EU und Europas und die Rolle Europas im globalen Kontext. Beiträge der SERIE EUROPA sind Vorab-Publikationen, die später
in Fachzeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht werden sollen. 
Herunterladen