SERIE EUROPA EUROPE SERIES Paradoxes Europa Zur (Eigen-)Dynamik der Eurokrise Maurizio Bach Georg Vobruba No.3/2014 Maurizio Bach Paradoxes Europa. Zur (Eigen-)Dynamik der Eurokrise Maurizio Bach Ordinarius für Soziologie an der Universität Passau Professor for Sociology at the University of Passau [email protected] Serie Europa – Europe Series ISSN: 2193-8318 Institut für Soziologie Universität Leipzig Beethovenstr. 15 04107 Leipzig Deutschland Institute for Sociology University of Leipzig Beethovenstr. 15 04107 Leipzig Germany Zusammenfassung Die Europäische Union steckt in einer der tiefsten Vertrauens- und Legitimationskrisen ihrer Geschichte. Kennzeichnend dafür ist eine Dynamik nicht-beabsichtigter und paradoxer Effekte des Krisenmanagements. Der Beitrag erschließt diese Effekte soziologisch mit Hilfe der Theorie eigendynamischer sozialer Prozesse. Insbesondere drei Strukturmerkmale des europäischen Konfliktregimes begünstigen die paradoxen Eigendynamiken des Krisenverlaufs und machen rationale Krisenlösungen immer unwahrscheinlicher: (1) die relativ niedrige Problemlösungsfähigkeit der EU angesichts eines dualen Systems von zugleich intergouvernementalen und supranationalen Regulierungsansprüchen, (2) der auf Kurzfristigkeit angelegte Pragmatismus politischen Entscheidens vor dem Hintergrund einer starken Dominanz der „funktionalistischen“ Integrationsmethode, und (3) die systemische Geschlossenheit der Währungsunion mit konfliktverschärfenden Wirkungen. Summary The European Union is suffering one of the deepest confidence and legitimation crises in its history. This can be recognized by dynamic unintended and paradoxical effects of crisis management. The paper examines these effects by adopting the sociological paradigm of self-perpetuating social processes. Mainly three characteristics of the European conflict regime foster the paradoxical dynamics of the crisis and weaken the prospects of rational crisis management significantly: First, the EU’s low problem-solving capacity in the light of the dual system of concurrent intergovernmental and supranational policy aspirations; second, the political short term pragmatism against the background of prevailing method of functionalist European integration, and third, the closed system of monetary union, which forecloses the exit option, with its conflict-intensifying effects. Der Beitrag erscheint in: Fehmel, Thilo; Lessenich, Stephan; Preunkert, Jenny (Hg.) (2014): Systemzwang und Akteurswissen. Theorie und Empirie von Autonomiegewinnen. Frankfurt am Main: Campus (im Druck). Inhalt 0 1. Eine untypische Krise ................................................................................................. 03 2. Teufelskreise der europäischen Krise ....................................................................... 04 3. Strukturdynamiken des europäischen Konfliktregimes ......................................... 09 4. Fazit .............................................................................................................................. 13 Literatur ................................................................................................................................ 14 Bach: Paradoxes Europa 3 1. Eine untypische Krise Wirtschaftskrisen sind meist kurz währende Phasen eines Konjunkturzyklus. Deren Ursachen liegen in einer vorausgehenden Prosperität, und die Krise wird durch einen darauf folgenden Aufschwung wieder überwunden. Danach beginnt über kurz oder lang der Kreislauf wieder von vorne (vgl. Pareto 1966: 492ff.; Spiethoff 1955). Die Krise der Europäischen Union zeigt jedoch ein gänzlich anderes Verlaufsmuster: Ausgehend von den Turbulenzen auf dem US-amerikanischen Finanzmarkt nach der Lehmann-Pleite weitete sie sich erst zur einer Weltwirtschaftskrise, dann zur Staatsschulden- und Euro-Krise aus. Auf den Finanzmärkten hat sich die Lage mittlerweile beruhigt, die Europäische Union ist aber weiterhin mit einer der tiefsten Vertrauensund Legitimationskrisen ihrer Geschichte konfrontiert (vgl. Blumann, Fabrice 2010). Alle Bemühungen seitens der Europäischen Union, führender Mitgliedstaaten sowie internationaler Wirtschaftsorganisationen, ihrer Herr zu werden, führten bisher nicht zu den erhofften Problemlösungen. Stattdessen verschärften sich die sozialen Probleme und eskalierten die Konflikte in Europa, insbesondere in der Peripherie. Einer prosperierenden Wirtschaftsentwicklung im Norden Europas stehen anhaltende wirtschaftliche Depressionen und soziale Polarisierungen im Süden Europas gegenüber. Aus der Euro-Krise hat sich eine umfassende Krise der europäischen Gesellschaft entwickelt, wobei Kosten und Lasten sehr ungleich auf die Mitgliedsländer und Regionen verteilt sind. Aus der Finanzkrise sind in wenigen Jahren neue europaweite Ungleichheits- und Verteilungskonflikte hervorgegangen. Diese überfordern die Konfliktverarbeitungsfähigkeit der supranationalen Institutionen (vgl. Preunkert, Vobruba 2012: 203). Der europäische Verband ist weitgehend handlungsunfähig. Die »Krisen Europas« (Lepsius 2013) haben sich somit nicht nur wechselseitig verstärkt, es sind auch kumulative Wirkungsverkettungen entstanden, die den Bestand der Europäischen Union existenziell gefährden können. Nichts weniger als die Zukunft des Integrationsprojektes steht auf dem Spiel. Statt von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen, wie sie für wirtschaftliche Krisen typisch sind, ist für das gegenwärtige Krisenszenario in Europa eine Dynamik nichtbeabsichtigter und paradoxer Effekte kennzeichnend. Das kommt sinnfällig in einem Wandel der Krisensemantik zum Ausdruck: ›Ansteckungsgefahr‹, die Leitmetapher der Finanzkrise (vgl. Vobruba 2012: 72ff.), wurde mittlerweile von ›Teufelskreisen‹ abgelöst. Der Begriff des Teufelskreises ist zur Chiffre für die gegenwärtige EU- und Europakrise, ihrer Selbstblockaden und Stagnation avanciert.1 Bei dieser diffizilen 1 Kaum eine wirtschafts- oder politikwissenschaftliche Krisenanalyse, in der nicht Teufelskreise identifiziert werden: Falk Illing etwa beschreibt einen »Teufelskreis des Vertrauensverlustes des Finanzmarktes« (Illing 2013: 23) und einen der staatlichen Bankenrettung (ebd.: 38); Fritz W. Scharpf zeigt einen Teufelskreis der Währungsunion auf, in dem die »Unterschiede der nationalen Inflationsund Wachstumsraten durch die einheitliche EZB-Geldpolitik verstärkt wurden« (Scharpf 2011: 328), und Claus Offe analysiert einen solchen aus Euro-Rettung und »Renationalisierung der Solidaritätshorizonte« (Offe 2013). Auch Jenny Preunkert und Georg Vobruba diagnostizieren im Zusammen- 4 SERIE EUROPA No. 3/2014 Problemlage stoßen wirtschaftswissenschaftliche Krisenanalysen an ihre Grenzen. Es liegt nahe, auf soziologische Ansätze und Konzepte zurückzugreifen. Dabei ist festzustellen, dass ›Krise‹ trotz inflationärer Verwendung kein analytisch aufschlussreicher Begriff der Soziologie ist. Soziologische Erklärungskraft gewinnt der Krisenbegriff erst, wenn er theoretisch spezifiziert und in entsprechende kausale Modelle übersetzt wird (vgl. etwa Friedrichs 2007). Zu den klassischen kausalen Mechanismen zählen: unbeabsichtigte und unerwünschte Effekte, Emergenzprodukte, Paradoxien, Rückkopplungen, Eskalationsprozesse, Zirkulärstimulationen, contagion und andere (vgl. zusammenfassend: Boudon 1979; Maurer, Schmid 2010). Sie lassen sich dem Oberbegriff ›soziale Eigendynamiken‹ subsumieren. Im folgenden Beitrag soll die gegenwärtige Europakrise mit Hilfe der Theorie eigendynamischer sozialer Prozesse soziologisch erschlossen werden. Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann definieren soziale Eigendynamik als Prozesse, »die sich einmal in Gang gekommen oder ausgelöst aus sich selbst heraus und ohne weitere externe Einwirkung weiterbewegen und dadurch ein für sie charakteristisches Muster produzieren und reproduzieren« (Mayntz, Nedelmann 1987: 648f.). Sie gewinnen dabei gleichsam ein Eigenleben, das sich von den Handlungsplänen und Steuerungsabsichten der Akteure verselbständigen kann. Eigendynamische soziale Prozesse zeichnen sich durch ein meist kompliziertes Ineinandergreifen und Umkehren von Ursache und Wirkung sowie durch verstärkende bzw. hemmende Rückschleifen aus. Es handelt sich dabei um einen analytischen Begriff für nicht-beabsichtigte soziale Prozesse, wobei »die Art ihrer Verursachung, Aufrechterhaltung und Verlaufsform« (ebd.: 651) rekonstruiert werden. In den Blick geraten dabei insbesondere »zirkuläre Verursachungsmechanismen« (ebd.: 659). Solche zirkulären Kausalitäten können auf allen sozialen Ebenen und in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen auftreten und emergente, unerwünschte, paradoxe, dysfunktionale oder auch (selbst-)zerstörerische Prozesse freisetzen. 2. Teufelskreise der europäischen Krise Eine erste Paradoxie der Währungsunion zeigt sich in einer europaweiten Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Die vor Einführung der Einheitswährung bestehenden regionalen sozio-ökonomischen Disparitäten – vor allem das Nord-Süd-Gefälle wurden nicht durch eine allmähliche Angleichung der Produktivitäts- und Lebensverhältnisse ausgeglichen. Vielmehr treten in der Krise die alten innereuropäischen cleavages wieder hervor. Die Modernisierungsverlierer von früher sind die underdogs von heute: überschuldet, mit stagnierender Wirtschaft, hohem Außenhandelsdefizit, unterentwickelter Wohlfahrtsstaatlichkeit, ausgeprägter sozialer Ungleichheit und hang der Finanzkrise eine »negative Vertrauensdynamik«, die freilich auch als circulus vitiosus interpretiert werden kann (Preunkert, Vobruba 2012: 207). Bach: Paradoxes Europa 5 überwiegend auf Unterstützung durch die EU-Rettungsschirme angewiesen. Das gilt für Griechenland, Spanien, Portugal und teilweise für Italien und Irland. Damit hat sich die programmatische Prophezeiung von Binnenmarkt und Währungsunion in ihr Gegenteil verkehrt. Statt einer zunehmenden sozio-ökonomischen Konvergenz zeigt sich eine höchst ungleiche Verteilung der Wohlstandseffekte auf die Mitgliedstaaten und Ländergruppen. Dabei kommen allerdings nicht nur historische Pfadabhängigkeiten zum Tragen; die Währungsunion selbst wirkt als eigenständiger Verursachungsmechanismus. Die Produktivitätsunterschiede zwischen den beteiligten Volkswirtschaften lassen sich seit Einführung der einheitlichen Währung nicht mehr wie zuvor durch geldpolitischen Interventionismus der nationalen Zentralbanken und variable Wechselkurse ausgleichen. Die Währungsunion versperrt den wettbewerbsschwachen Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien definitiv die Möglichkeit der Abwertung ihrer Währungen. Als funktionales Äquivalent steht ihnen nur noch das Instrument der »inneren Abwertung« zur Verfügung: Senkung der Lohnkosten, Abbau des Wohlfahrtsstaates, Reduktion der Staatsbediensteten, Steuererhöhungen, betriebliche Rationalisierung (vgl. Illing 2013; Streeck 2013: 237ff.; 246ff.). Das hat zwangsläufig eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit und daraus resultierende soziale Verwerfungen und Konflikte in den betreffenden Ländern zur Folge. Diese Probleme wirken sich wiederum negativ auf die Volkswirtschaften aus, indem sie deren Wettbewerbsfähigkeit unterminieren, zu einer Erhöhung der Staatsausgaben und damit zwangsläufig auch der Staatsschulden führen.2 Eine Destabilisierung der politischen Systeme in den Krisenländern ist die Folge (vgl. Scharpf 2011). Darin zeigt sich ein Muster zirkulärer Kausalität: Die paradoxen Effekte der europäischen Währungsintegration wirken dergestalt auf die Ursachen die nationalen Produktivitätsungleichheiten zurück, dass sie sich in einer Abwärtsspirale eigendynamisch selbst verstärken. Eine weitere unbeabsichtigte (allerdings nicht von allen Mitgliedstaaten gleichermaßen als negativ betrachtete) Nebenfolge der Währungsintegration betrifft die Zinsentwicklung im Euroraum. Diese nivellierte sich unter Mitberücksichtigung der Länder mit guter Bonität anfangs nach unten. Die niedrigen Zinsen waren direkt auf die Einführung der Währungsunion zurückzuführen, denn nun kamen Staaten mit notorisch schwacher Bonität in den Genuss einer für den Euroraum insgesamt, also unter Berücksichtigung der zahlungsfähigen Mitgliedsstaaten geltenden Zinskonvergenz.3 Die südlichen Mitgliedstaaten gelangten so überraschend in den Genuss kostengünstiger Kredite, was zu einer Erhöhung der Staatsausgaben führte. So lange, wie die wettbewerbsschwächeren Schuldenstaaten von den relativ niedrigen Zinsen auf den internationalen Finanzmärkten profitierten und dadurch problemlos ihre Staats2 vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.2013: 11. 3 So fielen die Durchschnittszinsen beispielsweise für Griechenland nach dem Beitritt zur Währungsunion von 11,9 Prozent auf 4,2 Prozent, was einen hohen Anreiz zu zusätzlicher Verschuldung schuf (vgl. Illing 2013: 48). 6 SERIE EUROPA No. 3/2014 kredite refinanzieren konnten, blieben die beschriebenen strukturellen Probleme in der Latenz. Die Euro-Euphorie, die vielfach mit der Einführung der Einheitswährung einherging, wurde also in den südlichen Ländern der EU von einer unverhofften Wohlstandsillusion genährt, die auf billigen Krediten basierte (vgl. Tsoulakis 2013; Brenke 2012). Die Illusion platzte mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008, als der Bankenhandel von Vertrauenseinbrüchen überschattet wurde und für die Kreditinstitute wieder realistischere Risikokalkulationen sowie Renditeerwartungen die Oberhand gewannen (vgl. Illing 2013: 18f.). Damit wurde offenkundig: Die ohnehin relativ ausgeprägte soziale Ungleichheit im Euroraum, die in dem ökonomischen Produktivitäts- sowie im institutionellen Modernisierungsgefälle zwischen Nord- und Südeuropa wurzelt, hatte sich nicht vermindert, sondern deutlich vertieft. Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang von einem Matthäus-Effekt zu sprechen, weil diejenigen Gesellschaften, die bereits als strukturell Benachteiligte dem Währungsverband bzw. der Europäischen Union beigetreten sind, in eine Abwärtsspirale der Ungleichheitsverschärfung geraten sind. Die programmatische Vision eines einheitlicheren und homogeneren Sozialraums Europa, die den Architekten des Binnenmarktes und der europaweiten Währung vorschwebte, hatte sich für die peripheren Mitgliedstaaten als Selbsttäuschung erwiesen. Das Nord-Süd-Gefälle der sozialen Ungleichheit in der Europäischen Union, das bereits vor der Währungsunion bestand, hat sich nicht nur linear reproduziert, die Schere ist in den vergangenen Jahrzehnten noch größer geworden trotz und/oder aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Integration in Europa (vgl. Mau, Verwiebe 2009: 264ff.; Scharpf 2012). Auch diese gesellschaftliche Dynamik entzieht sich weitgehend der politischen Steuerung. Sie folgt keinem institutionenpolitischen Design. Soziale Mechanismen wie der Matthäus-Effekt wirken als zirkuläre Verursachungsprozesse endogen und ungeplant. Soziologisch lassen sich diese Prozesse durch die gesellschaftliche Interdependenzstruktur des Systems der europäischen Arbeitsteilung und die nicht-beabsichtigten Nebenfolgen der Binnenmarkt- und Währungsintegration, die ihrerseits wieder Kaskaden von Nebenfolgen heraufbeschwören, erklären (dazu 3. Abschnitt unten). Eine weitere Kettenreaktion von nicht-beabsichtigten Folgen haben die europäischen Maßnahmen zur Abwendung des Staatsbankrotts Griechenlands und anderer insolventer und mit Refinanzierungsproblemen konfrontierter Mitgliedstaaten in Gang gesetzt. Mit den durch die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfonds ins Werk gesetzten ›Rettungsmaßnahmen‹ vergrößerten sich die nationalen sowie regionalen Disparitäten im Euroraum in den Bereichen Staatsverschuldung, Einkommensentwicklung, Arbeitslosigkeit, Armutsrisiken, Gesundheitsversorgung etc. nochmals (Illing 2013: 73ff.).4 Die Euro-Rettungsschirme können die sozialen und wirtschaftlichen Strukturprobleme der südlichen Krisenländer nicht beheben, eine Konsolidierung der Staatshaushalte in den über4 Zu den sozialen Problemen in Griechenland siehe The Economist, 25.05.2013: 32; zu Spanien ebd.: 29. Bach: Paradoxes Europa 7 schuldeten Krisenländern ist auch gar nicht zu erwarten (vgl. Lepsius 2013). Im Gegenteil: War die nationale Wirtschaftskraft von Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien – gemessen etwa am BIP-Wachstum und an den Leistungsbilanzungleichgewichten im Verhältnis zu derjenigen Deutschlands, Dänemarks oder Österreichs schon vor dem Beitritt zur Währungsunion asymmetrisch, so verminderten sich die Potenziale nochmals deutlich im Zuge der Konsolidierungspolitik (vgl. Scharpf 2011; Grossmann 2011; Illing 2013). Die Krisenländer wurden nun zudem unmittelbar von Kreditgarantien der Europäischen Union und von der Zahlungsbereitschaft der wirtschaftsstarken Geberländer abhängig, welche seither die Konditionen diktieren können. Als Gegenleistung für tiefgreifende Einspar- und Rationalisierungsmaßnahmen vor allem in der öffentlichen Verwaltung erhielten die bedürftigen Staaten frisches Geld lediglich als Kredite zur Refinanzierung bestehender Verbindlichkeiten. Hinzu kommt: Aufgrund der anhaltend hohen Zinsen für Staatsverbindlichkeiten und der Belastung der Sozialsysteme in den südlichen Krisenländern ist auch unter dem ›Rettungsschirm‹ der Europäischen Union damit zu rechnen, dass die Staatsschulden exponentiell weiter zunehmen werden. Eine Konsolidierung der Haushalte ist somit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten; der »Konsolidierungsstaat« (W. Streeck) wird weiterhin vor allem ein Schuldenstaat bleiben. Der Teufelskreis aus permanenter Zahlungsunfähigkeit, steigendem Kreditbedarf, weiteren Sparauflagen und zunehmender sozialer Verelendung wird in der Peripherie Europas somit kaum zu durchbrechen sein. Die mit den Sparauflagen der Austeritätspolitik verknüpften sozialen Härten und Verwerfungen bleiben freilich nicht folgenlos. Sie lösen weitere Rückkopplungsschleifen im Wirtschafts- und Sozialsystem, vor allen aber auch in den nationalen politischen Arenen aus. Der circulus vitiuosus der europäischen Rettungspolitik verzahnt sich mit dem paradoxen Zirkel der europäischen Ungleichheit. Ein weiterer Teufelskreis kommt auf nationaler politischer Ebene zum Vorschein: der Teufelskreis der sozialen und politischen Konflikte. Hier zeigt sich ein weiteres kaum lösbares Dilemma des von der Europäischen Union eingeschlagenen Weges der fiskalpolitischen Konsolidierung: Die Strukturreformen in den südlichen Ländern bedürfen nicht nur Zeit – Zeit für Planung, Interessenaggregation und Implementation, sie setzen vor allem stabile politische Verhältnisse mit regierungsfähigen Parteien bzw. Koalitionen und funktionierenden Institutionen, die das Vertrauen der Bürger genießen, voraus. Das Zusammenwirken von äußerem, durch die Krise erzeugtem Handlungsdruck mit verkürzten Zeithorizonten und den ebenfalls relativ kurzfristig zu erfüllenden Konsolidierungsauflagen der europäischen Geldgeber führt unvermeidlich zu negativen Synergieeffekten. Diese untergraben die Legitimation und damit die Stabilität der politischen Systeme in den Krisenländern. Dieses Dilemma zeigt ein Doppelgesicht: Einerseits das einer Krise des Krisenmanagements, wobei kurzfristige und langfristige Erfordernisse für 8 SERIE EUROPA No. 3/2014 die Lösung der Eurokrise in einen schwer auflösbaren Widerspruch geraten (Preunkert, Vobruba 2012: 220). Zum anderen wird deutlich, dass die bisherigen Problemlösungen mit der Demokratie kollidieren: Die Spar- und Reformpakete bedürfen parlamentarischer Mehrheiten und erfordern einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens. Beides ist angesichts der allgemeinen politischen Spannungen und Ungewissheiten zu einem zunehmend riskanten Unterfangen geworden (vgl. Offe 2013). Voluntaristisch lässt sich dieser Teufelskreis aus sozialer Konfliktverschärfung, politischer Destabilisierung und dramatisch zunehmendem Reformbedarf schwer aufbrechen. Dabei sind neben dem Faktor Zeit auch die strukturellen Defizite der betreffenden Gesellschaften in Rechnung zu stellen, in erster Linie die traditionell durch Patronage- und Klientelverhältnisse sowie aufgeblähte und ineffiziente Staatsbürokratien geprägten Modernisierungsdefizite. Jahrzehntelang bestand in Italien oder Griechenland eine erhebliche Reformresistenz unter den politischen Eliten und in den Verwaltungen (vgl. Tsoulakis 2013: 27ff.). Die Ära Berlusconi in Italien ist dafür symptomatisch. Kurzfristig können externe Schocks gesellschaftlichen Wandel ebenso anstoßen wie soziale Notlagen. Grundlegende gesellschaftliche Strukturreformen lassen sich jedoch nicht von außen oktroyieren. Modernisierungsprozesse setzen kollektive Lernprozesse und institutionelle Innovationen voraus. Sie sind darüber hinaus immer von gesellschaftlichen Konflikten begleitet. Die bisherige Konsolidierungsstrategie der Europäischen Union verhindert aber gerade solche innergesellschaftlichen Lernprozesse und Konfliktverarbeitungen. Stattdessen hat sie für den Erhalt des Euro einen riskanten Weg eingeschlagen, den der Externalisierung der sozialen Kosten in die schwächsten Mitgliedsländer. Das treibt nicht nur eine Konfliktspirale in den betroffenen Gesellschaften und in Europa insgesamt an. Es stellt auch das Modernisierungsprojekt der Europäischen Union und damit die Glaubwürdigkeit der europäischen Solidaritätsidee in Frage. Dazu trägt ein schiefes Deutungsmuster, das in der Krise auf breite Resonanz in der Öffentlichkeit stieß, noch bei: Die verbreitete Vorstellung, die Krisenländer hätten die Malaise selbst verschuldet, was moralisch rechtfertige, deren gesamte Bevölkerung pauschal in Haftung zu nehmen.5 Fritz W. Scharpf spricht in diesem Zusammenhang von einem »Schuld-und-Sühne-Schema« (Scharpf 2012: 336). Dieser Topos entwickelte sich zu einer self-fullfilling prophecy, indem er dazu beitrug, dass eine falsche Definition der Situation reale Konsequenzen zeitigte. Die Zuschreibung der Krisenursachen auf das politische Versagen der nationalen Regierungen und Eliten, die oft auf kulturellen Vorurteilen basiert, trägt in den Mitgliedstaaten, die dem ›Troika‹-Regime der europäischen Geldgeber unterworfen sind, zusätzlich dazu bei, das Vertrauen der Bürger in die eigene Regierung zu untergraben und die politischen Systeme damit weiter zu gefährden. Denn wenn als real angenommen wird, die 5 Darauf hat besonders Wolfgang Streeck (2013) aufmerksam gemacht. Bach: Paradoxes Europa 9 Politik hätte versagt, finden sich die nationalen Institutionen insgesamt diskreditiert. Extreme, vor allem anti-institutionelle politische Parteien und populistische Bewegungen gewinnen dann zunehmend an Einfluss (beispielsweise das Linksbündnis SYRIZA in Griechenland oder der Movimento 5 Stelle in Italien). Angesichts der verbreiteten Unübersichtlichkeit und Ausweglosigkeit der ökonomischen und politischen Situation bleiben denunziatorische »Gegenstigmatisierungen« (N. Elias) der zu Außenseitern gestempelten Gesellschaften freilich nicht aus. Diese Reaktionen richten sich dann oft pauschal gegen die Europäische Union, der der Status einer ›Besatzungsmacht‹ zugeschrieben wird, besonders aber auch gegen Deutschland als dem vermeintlich neuen ökonomischen und politischen Hegemon in Europa. Darin drückt sich eine neue Qualität der Politisierung der Europafrage aus: nationale Machtfragen überlagern wieder die Integrationsprogrammatik.6 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Die Krise der Währungsunion zeichnet sich durch eine Reihe nicht-intendierter und paradoxer Konsequenzen aus. Die großen Leitideen der europäischen Integration, welche dem Binnenmarktprojekt und der Währungsunion zugrunde liegen ökonomisches Wachstum, Wohlstand, Konvergenz und Kohäsion wurden durch die Krisendynamik, aber auch durch das europäische Krisenmanagement teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Am offensichtlichsten wird dies an der Vertiefung der sozialen Ungleichheit und der Spaltung Europas. Darüber hinaus weist die bisherige Krisenpolitik des europäischen Verbandes keinen erfolgversprechenden Weg aus diesen fundamentalen, durch die Konsolidierungsstrategie der Europäischen Union und führender Mitgliedstaaten noch verschärften Dilemmata. 3. Strukturdynamiken des europäischen Konfliktregimes Eigendynamische soziale Prozesse sind einer doppelten Kausalitätskette zurechenbar: Einerseits den Verursachungsmechanismen, die sie selbst generieren, vor allem also einer ›zirkulären Kausalität‹, andererseits aber auch den strukturellen Eigenschaften der Akteurskonstellationen oder Interdependenzsysteme. Zum Kernverständnis der Soziologie zählt die Erkenntnis, dass komplexe soziale Gebilde, wie sie typischerweise in modernen Gesellschaften vorkommen, für vielfältige nichtbeabsichtigte Wirkungen und unerwünschte Nebenfolgen von zielgerichteten Handlungen verantwortlich sind (vgl. Boudon 1979: 117ff.; Schimank 2010: 197). Häufig kommt es – sowohl bei face-to-face-Interaktionen wie auf der gesellschaftlichen Makroebene zu 6 Seltsame Blüten treibt das von wiedererwachten nationalen Ressentiments geprägte Klima bei manchen europäischen Intellektuellen. So etwa bei dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, wenn dieser Alexandre Kojèves nicht minder skurrile Ordnungsidee eines »lateinischen Imperiums« wieder aufwärmt und als Gegenmodell zum vermeintlich durch das protestantisch geprägte Deutschland beherrschte Europa vorschlägt (vgl. Agamben 2013; dazu kritisch Kaube 2013). 10 SERIE EUROPA No. 3/2014 Verselbständigungen, Eskalationsprozessen, Zielverschiebungen und dergleichen ›transintentionalen‹ Effekten. Systemzwänge können das Handeln und die sozialen Vorgänge in Bahnen lenken, welche die Motive der Akteure ebenso wie die Leitideen von Institutionen in ihr Gegenteil verkehren. Für die Erzeugung emergenter Prozesse sind spezifische strukturelle – situationale, institutionelle oder makrogesellschaftliche – Merkmale entscheidend. Dazu gehören: ein hoher Grad an funktionaler bzw. institutioneller Differenzierung, dichte wechselseitige Abhängigkeiten der Akteure bei gleichzeitiger systemischer Geschlossenheit, widersprüchliche Interessenorientierung und ambivalente Handlungsziele, Werte und Normen (zusammenfassend: Mayntz, Nedelmann 1987: 661). Empirisch sind eigendynamische Struktureffekte somit erst durch die strukturellen Merkmale spezifischer Interdependenzsysteme bzw. Akteurskonstellationen kausal zu erklären. Es ist »geradezu das zentrale Element des Ansatzes«, bemerken Mayntz und Nedelmann, »dynamische Vorgänge auf Systemebene als Ergebnis des Zusammenwirkens bestimmter struktureller Konfigurationen mit bestimmten Handlungsorientierungen zu erklären« (Mayntz, Nedelmann 1987: 666). Oder anders formuliert: Sein herausragendes soziologisches Erklärungspotential gewinnt das Konzept der sozialen Eigendynamik durch die systematische Verknüpfung von Mechanismen einerseits und Strukturvariablen andererseits. Welchen spezifischen institutionellen Merkmalen der Europäischen Union bzw. der Währungsunion lassen sich nun die in der Eurokrise manifest gewordenen paradoxen Eigendynamiken des Krisenverlaufs zuschreiben? Wie bei den meisten politischen Arrangements handelt es sich auch bei der Europäischen Union um eine spezifische Form der Institutionalisierung von Konflikten,7 allerdings weist sie im Vergleich zu nationalen Systemen eine Reihe von strukturellen Spezifika auf. Um hier nur die wichtigsten anzuführen: Sie basiert erstens auf der institutionellen Ausdifferenzierung eines dualen Systems der politischen Interessenvermittlung; es weist zugleich intergouvernementale und supranationale Merkmale auf. ›Supranationalität‹ als politisches Organisationsprinzip findet sich nur im europäischen Verband institutionalisiert. Es wird von der Europäischen Kommission institutionengeschichtlich ebenfalls ein Institutionennovum verkörpert, der im Policy-Prozess der Europäischen Union die entscheidende Funktion der Prozessführerschaft wie die eines tertium supra partes, also des Konfliktmediators sowie der Überwachungsinstanz zukommt. Aufgrund der Institutionalisierung von heterogenen Organisationsprinzipien8 ist das System permanent von innerinstitutionellen Spannungen, Zielkonflikten und Machtverschiebungen bedroht (vgl. Hofmann, Wessels 2013). Diese stehen rationalen und kohärenten Problemlösungen im Wege und fördern suboptimale Ergebnisse. Die relativ niedrige Problemlösungsfähigkeit der Europäischen Union ist somit auf die spezifische Interdependenzstruktur des europäischen Mehrebenensystems zurück7 Strukturen von Konfliktinstitutionalisierungen analysiert Fehmel (2014). 8 Zur Stellung des Europäischen Parlaments aus institutionensoziologischer Perspektive siehe Bach 2014. Bach: Paradoxes Europa 11 zuführen. Hinzu kommt die so genannte »Politikverflechtungsfalle« (Fritz W. Scharpf): Solange in den entscheidenden Politikfeldern Haushalt, Vertragsänderungen, Beitritte, Sozialpolitik jederzeit ein Veto seitens einzelner Mitgliedsstaaten eingelegt werden kann, man zugleich aber auf die Zustimmung aller Entscheidungsebenen, also auch jener der Staaten angewiesen ist, um kollektiv bindende Beschlüsse zu fassen, solange sind weder optimale Problemlösungen noch mehr als eine inkrementelle Systementwicklung zu erwarten. Die Entwicklung der europäischen Integration seit den Verträgen von Maastricht bis zur gegenwärtigen Krisenpolitik bestätigt im Wesentlichen diese Einsicht: Die Erfolge der Konfliktinstitutionalisierung im Rahmen der europäischen Institutionen sind großteils um den Preis suboptimaler policy-outcomes, eigendynamischer Prozesse und des Verlustes ihrer Strategiefähigkeit erkauft. Ein zweites grundlegendes Strukturmoment des europäischen Regimes, das nichtintendierte Wirkungsverkettungen fördert, ist in der funktionalistischen Integrationsmethode begründet. Demzufolge erwachsen die paktierten Integrationsziele aus der Verdichtung von funktionalen Interdependenzen des anonymen Europäischen Binnenmarktes. Das entspricht dem klassischen Modell der ›unsichtbaren Hand‹. »[U]nder the Community method«, bemerkt dazu Giandomenico Majone, »policy is largely epiphenomenal – the by-product of actions undertaken to advance the integration process, of efforts to maintain ›institutional balance‹, of institutional conflicts and intergouvernemental bargaining« (Majone 2005: 107). Angesichts der in der Europäischen Union unterinstitutionalisierten demokratischen Rechenschaftspflichten (›Demokratiedefizit‹) und in Anbetracht der prohibitiv hohen Verhandlungskosten (›Politikverflechtungsfalle‹) gibt es im System nur sehr wenig Anreize für effiziente, langfristig ausgerichtete und die Risiken abwägende Entscheidungen. Stattdessen wurde gerade bei Großprojekten, wie zuletzt der so genannten Osterweiterung, deren Wirkungen weit in die Zukunft reichen und hohe Risiken bergen, oft nur nach aktuellen Interessenlagen und ohne ausreichende Folgenabschätzung entschieden. Eine unmittelbare Konsequenz der ›funktionalistischen‹ Integrationsmethode ist somit die Vertauschung von Zweck und Mittel: Fortschritte resultieren nicht aus rationalen Problemlösungen, sondern sind ein Ergebnis verborgener, den politischen Akteuren wie der Öffentlichkeit unbekannter Mechanismen. Dadurch verselbständigt sich leicht eine an Zwischenzielen und der Vordringlichkeit des Befristeten orientierte Pragmatik; auf eine politische Gesamtkonzeption wird verzichtet und die zukünftigen Risiken finden sich systematisch ausgeblendet bzw. rhetorisch verschleiert (Majone 2005: 107, 143ff.). Folglich setzt sich eine Politik der kleinen Schritte durch, die Kettenreaktionen von unbeabsichtigten, erwünschten oder auch unerwünschten Nebenfolgen hervorruft. Die Reproduktionsmechanismen dieser Prozesse entziehen sich einem politischen Gesamtgestaltungsanspruch; sie lassen Raum nur noch für institutionellen Aktivismus ohne Anspruch auf Strukturreformen. Ein solches Grundmuster zeigen auch die Reaktionen der Europäischen Union auf die Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise: Sie haben zwar zu einer Vervielfältigung der Institu- 12 SERIE EUROPA No. 3/2014 tionen – EFSM, ESM, ›Sixpack‹, ›Fiskalpakt‹ und zu einer schleichenden Übernahme der faktischen Prozessführerschaft beim europäischen Krisenmanagement durch die Europäische Zentralbank geführt, grundlegende Kompetenzänderungen und Strukturreformen wurden auf europäischer Ebene aber nicht eingeleitet (vgl. Salines et al. 2012; Preunkert 2012). Ein drittes Strukturmerkmal des europäischen Systems der Konfliktinstitutionalisierung tritt besonders bei der Währungsunion hervor: ihre Geschlossenheit. Mit dem Schritt in den einheitlichen Währungsraum, der mit dem Maastrichter Vertrag beschlossen und zur Jahrtausendwende umgesetzt wurde, erreichte die europäische Vergesellschaftung ein zuvor nicht gekanntes Integrationsniveau. Damit nahmen nicht nur der Grad an wirtschaftlicher und politischer Interdependenz sowie die wechselseitige Abhängigkeit der Mitgliedstaaten in der Union zu, es wurden auch hohe Exit-Hürden errichtet. Letztere sind vor allem funktional begründet: Der einheitliche Währungsraum kann ohne unübersehbare volkswirtschaftliche Folgekosten (Kapitalflucht, Austrittswettlauf; Desintegrationsinflation, Vermögensverluste, destabilisierende Währungsspekulation, Investitionseinbrüche etc.) und politische Risiken weder von einzelnen Mitgliedstaaten verlassen noch insgesamt aufgelöst werden. Eine Rückholung der nationalen Währungen würde sich nicht nur technisch äußerst schwierig bewerkstelligen lassen, sie würde darüber hinaus auf unbestimmte Zeit zu immensen Wohlstandsverlusten führen. Eine Auflösung des Euros wäre zudem mit dem Risiko eines chaotischen Zusammenbruchs der Europäischen Union insgesamt verbunden (vgl. Meyer 2012). Wie bei Systemen mit hohen Austrittshürden typisch, sind auch die Eurozonen-Länder bei Funktionseinbußen oder Fehlentwicklungen des Währungssystems oder einzelner Mitgliedstaaten, in der Begrifflichkeit Albert O. Hirschmans formuliert, zu permanentem ›Voice‹, mithin zu einer Fortsetzung der Kooperation und damit zur Aufrechterhaltung des Regimes gezwungen (vgl. Hirschman 1970). Sie lassen meist keine Alternativen zu und zwingen die Akteure zur Fortsetzung der Interaktion auf den gegebenen engen Handlungspfaden. Ist eine solche soziale Struktur mit hohen Exit-Hürden erst einmal geschaffen, dann sind deren unvorhergesehene, nicht-intendierte Nebenfolgen von den Handelnden, den Politikern und Technokraten nur noch schwer kontrollierbar. Sie entwickeln sich zu Selbstläufern und die politische Steuerung versagt. Stattdessen kommt es zu einer ›Voice‹-Spirale: eine Art institutioneller Aktivismus, der zum Selbstzweck wird und in der Konsequenz die Handlungsblockaden verschärft. Das Dilemma entwickelt sich umso mehr zu einer Falle, je länger man die Exit-Lösung hinausschiebt. »[T]he decision to exit«, bemerkt Hischman, »will become ever more difficult the longer one fails to exit. The conviction that one has to stay on to prevent the worst grows stronger all the time« (Hirschman 1970: 103). Mit anderen Worten: Rationale Krisenlösungen werden immer unwahrscheinlicher, je länger die Akteure dem System gegenüber Loyalität zeigen. Loyalität erweist sich unter solchen Bedingungen als kontraproduktiv. So wird auch die Krise der Währungsunion zu Bach: Paradoxes Europa 13 einem politisch nicht mehr kontrollierbaren Kreislauf, der die Legitimationsressourcen des europäischen Projektes aufzuzehren droht. Institutionelle Exit-Hürden führen letztlich dazu, dass sich die Wahrnehmungen der Institutionen und Akteure verengen und sich die Handlungsoptionen wechselseitig blockieren. Unauflösbare Dilemmata und eine zuvor nicht gekannte Radikalisierung sozialer Konflikte sind die Folge. Zusammengefasst: In der systemischen Geschlossenheit des europäischen Währungssystems ist eine der wichtigsten strukturellen Ursachen der gegenwärtigen Krise Europas zu sehen. Die Dysfunktionen der Währungsunion führten zu einer Konfliktverschärfung im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten sowie innerhalb des Institutionengefüges der Europäischen Union. Insofern brachte die Eurokrise lediglich die strukturellen Dysfunktionen und Paradoxien der Währungsunion an den Tag. Das wäre früher oder später zweifellos auch ohne den Anstoß durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise geschehen. Die Probleme Griechenlands konnten sich deshalb zu Katalysatoren einer tiefgreifenden Strukturkrise der Europäischen Union entwickelt, weil deren Verursachung primär in den Strukturdefekten der Währungsunion sowie der Europäischen Union zu suchen sind. Zugespitzt formuliert: Die Euro-Krise ist letztlich ein Produkt der europäischen Integration. Es sind im Wesentlichen die nicht-intendierten Konsequenzen der Einführung der gemeinsamen Währung in Europa, welche ihre Peripetien bestimmen. 4. Fazit Vieles spricht dafür, dass die Euro-Krise weiterhin endogen selbstverstärkende Mechanismen freisetzen wird, die ihrerseits paradoxe gesellschaftliche Folgen haben und fatale Teufelskreise in Gang setzen: Systemische Entscheidungslasten erzeugen Handlungsblockaden, die Politik der Rettungsschirme verfestigt europaweit soziale Ungleichheit, die Stützungs- und Transferleistungen untergraben die demokratische Legitimation der Empfänger- als auch der Geberländer sowie der Europäischen Union insgesamt. Mehr Integration scheint mithin die Desintegrationsrisiken deutlich zu erhöhen. Gewiss hat die aktuelle Krise der Europäischen Union viele Ursachen: politische Fehlsteuerung, das Legat struktureller Modernisierungsdefizite in den peripheren Gesellschaften sowie Markt- und Institutionenversagen gehören dazu. Die Problemstellung in diesem Beitrag zielte jedoch auf ein spezifisch soziologisches Zuschreibungsproblem: Nicht die vermeintlich defizitäre Steuer- und Planbarkeit von politischen Systemen wurde hervorgehoben. Vielmehr standen jene gesellschaftlichen Prozesse, Mechanismen und Strukturen im Vordergrund, die sich der Kontrolle durch die politischen Akteure entziehen, sich spontan dynamisieren und dadurch einen sozialen Wandel einleiten, der dem Institutionendesign entgegenwirkt und unerwartet neue Problem- und Konfliktkonstellationen hervorbringt. 14 SERIE EUROPA No. 3/2014 Literatur Agamben, G. 2013: Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa. La Repubblica, 15.03.2013. Bach, M. 2014: Demokratisierung der Europäischen Union – Ideal oder Irrweg? 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