Ethik trotz knappEr zEit – das Modell „KRISe“

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Hausarzt Medizin
Ethik
Ethik trotz knapper Zeit –
das Modell „KRISE“
Besonders am Lebensende stellen sich häufig ethische Fragen,
zum Beispiel nach einer Therapiebegrenzung. Ethische Fall­
besprechungen bieten die Möglichkeit, nach der besten Lösung
unter Beteiligung der Akteure zu suchen.
Dr. med. Christoph
Gerhard
Arzt für Neurologie,
Palliativmedizin und
spezielle Schmerztherapie,
Katho­lisches Klinikum Oberhausen
und Institut für
Allgemeinmedizin der Universität Essen, E-Mail:
[email protected]
An ethischen Fallbesprechungen beteiligte Personen sind in der Regel auch emotional
involviert. Zahlreiche Modelle orientieren
sich eher an (naturwissenschaftlich beweisbaren) Fakten und berücksichtigen weniger
diese intuitiven Ebenen. Das Modell KRISE
nähert sich in einer begrenzten Zeit ethischen Problemen auch unter Mitberücksichtigung der leiblich-körpersprachlichen Willensäußerungen der Betroffenen an.
Der ethische Diskurs wird in herkömmlichen ethischen Fallbesprechungen nach
­einem detaillierten Katalog in Schritte gegliedert, z. B.
❶Problemdefinition
❷Faktensammlung
❸Bewertung
❹Beschlussfassung
Ein Nachteil der meisten Modelle ist die
starke Ausrichtung an „beweisbaren“ Fakten im naturwissenschaftlich medizinischen
oder juristischen Bereich. Emotionale Annäherungen an die Betroffenen bleiben oft
unberücksichtigt.
Auch „Menschen ohne Einwilligungsfähigkeit“ kommunizieren mit uns, aber auf eine
andere Weise. In einer suchenden Haltung
können wir uns dieser weniger beweisbaren,
aber höchst aktuellen Willensäußerungen,
die dem natürlichen Willen entsprechen, annähern (z. B. schnellere Atmung, Wegdrehen
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des Kopfes beim Nahrung Anreichen, ...). Die
andersartige Kommunika­tion bedarf Menschen, die sie zu entschlüsseln versuchen.
Diese schwierige Spurensuche ergänzt andere Willensäußerungen (z. B. Patientenverfügung, mutmaßlicher Wille). Wie in einem
Puzzlespiel werden die vorhandenen Teile
des „Patientenwillens“ zusammen­gefügt.
Modell KRISE
KRISE wurde vom Autor als Modell für Kurzfallbesprechungen entwickelt. Autonomie
ist dabei zentral und wird nacheinander aus
drei unterschiedlichen Blickwinkeln, den
realistischen Fakten, dem Erspüren und Suchen der völlig individuellen Patientensicht
und der ethischen Bewertung betrachtet.
KRISE steht als Abkürzung für folgende Arbeitsschritte:
Vorgehen im Modell KRISE
Konfliktsituation
K
R
I
S
E
Was ist Anlass für die Fall­
besprechung?
Relevante Fakten
Wie ist die (prognostische)
realistisch einschätzen Situation des Patienten?
Identifikation der
Patientensicht ­(u. a.
durch Intuition und
Rekonstruktion)
Was ist der Patientenwille?
(Was würde uns die/der Be­
troffene sagen, wenn er/sie
mit uns sprechen könnte?)
Sammlung und
Bewertung ethisch
relevanter Gesichts­
punkte
Wie ist die Situation
ethisch zu beurteilen? Wie
kann möglichst viel Auto­
nomie erreicht werden?
Entscheidungs­
vorschlag
Was ist die beste Entschei­
dung aus ethischer Sicht?
(Welche palliativen Ange­
bote können ggf. helfen?)
Der Hausarzt 05/2015
Hausarzt Medizin
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Foto: picture alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo
Fallbeispiel
Die Fallbesprechung sollte von einem in Ethikberatung ausgebildeten Moderator geleitet werden.
Vorteilhaft ist es, wenn verschiedenste Blickwinkel und Professionen vertreten sind.
Im ersten Arbeitsschritt stellen
die Beteiligten das, was ihnen ein
schlechtes Gewissen, einen Konflikt bereitet, dar. Anschließend berichten die Anwesenden von den
ihnen bekannten relevanten Fakten. Es geht auch um Kenntnisse
aus der Vergangenheit, z. B. wie der
Betroffene früher mit derartigen
Situationen umgegangen ist.
Im Schritt „Identifikation der Patientensicht durch Intuition und
Rekonstruktion“ geht es auch
um aktuelle nichtsprachliche
Willens­äußerungen. Diejenigen,
die die Betroffenen am besten bzw.
am längsten kennen, haben oft den
besten Zugang zu diesen leiblichen
Signalen.
Im Schritt „Sammlung und Bewertung ethisch relevanter Gesichtspunkte“ werden die in Schritt 2 + 3
aufgetauchten Fakten ethisch betrachtet. Es geht darum, was am
meisten der Autonomie des Betroffenen entsprechen würde. Nach
Abwägen dieser Gesichtspunkte für
eine ethisch gut begründete Entscheidung kann dann eine Entscheidung vorgeschlagen und begründet werden.
In ca. 30 Minuten können diese 5
Arbeitsschritte bearbeitet werden.
Der Hausarzt 05/2015
Frau Ritter ist 85 Jahre alt, bettlägerig und leidet an einem fortgeschrittenen Brustkrebs. Sie
hat Hirnmetastasen mit Sprachstörung und Hemiparese rechts. Wegen multipler Skelettmetastasen sind trotz hochdosierter Schmerztherapie Lagerungen für sie ausgesprochen schmerzhaft. Das Team ist ratlos, ob sie nun weiter die Lagerungsbehandlung zur Vermeidung eines
Dekubitus durchführen sollen oder nicht. Wegen der Hemiparese ist Frau R. besonders dekubitusgefährdet. Frau R. schreit laut auf, wenn sie zur Seite gedreht wird. Wenige Minuten
später meldet sie sich, da sie nicht mehr auf der Seite liegen kann. Auch die vorherige Gabe
zusätzlicher Analgetika wirkt unbefriedigend und verursacht kurze Zeit später bereits sedierende Nebenwirkungen. Sie teilte früher klar mit, auch bei fortgeschrittener Erkrankung wach
sein zu wollen. Das Team hat den Eindruck, dass Frau R. in die Sterbephase kommt (eingefallene Augenhöhlen, spitze Nase).
Die Fallbesprechung nach dem Modell KRISE ergibt Folgendes:
K
R
I
Können Lagerungsmaßnahmen zur Dekubitusprophylaxe mit dabei auftretenden, kaum
linderbaren Schmerzen bei der sterbenden Patientin unterlassen werden?
Frau R. leidet an einem fortgeschrittenen Brustkrebs mit kurzer Lebenserwartung. Sie hat
vorab mitgeteilt, dass Wachheit für sie wichtig ist.
Die vorab mitgeteilten Wünsche sprechen dafür, dass Frau R. auch jetzt wünscht, möglichst wach zu sein. Ihre aktuellen nonverbalen Äußerungen bei vorliegender Sprachstörung werden von allen Beteiligten auch dahingehend gedeutet, dass ihr Wachheit wichtig
ist und Lagerungsmaßnahmen extrem belastend sind.
Die früheren Patientenäußerungen übereinstimmend mit den aktuellen körpersprachlichen Äußerungen können als Autonomie geachtet bzw. respektiert werden (Prinzip
Autonomie). Lagerungsmaßnahmen würden der Patientin aktuell vermutlich nicht nützen, da sie wahrscheinlich im Sterbeprozess ist. Sie würden ihr dagegen eher schaden, da
sie von Schmerzen begleitet sind.
Die Teilnehmenden entscheiden gemeinsam, auch auf die Gefahr eines Dekubitus hin,
keine Lagerungsmaßnahmen mehr durchzuführen.
S
E
2 Tage später entwickelt Frau R. einen Dekubitus am Gesäß. Frau R. stirbt 3 Tage später.
Fazit
▪▪ Autonomie ist in dem Modell KRISE zentral und wird in einer suchenden
­Haltung trotz kognitiv sprachlicher Einschränkungen gefördert.
▪▪ Eine straffe Moderation ist erforderlich, um in dem sehr knappen Zeitrahmen
zielführend arbeiten zu können.
▪▪ Das Modell kann sowohl in Einzelarbeit als auch in Gesprächen mit Angehörigen, Patienten und im Team als Kurzfallbesprechungen in unterschiedlichsten Versorgungskontexten verwendet werden.
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