Kleine Hernienkunde für Nichtchirurgen

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PRAXIS
Schweiz Med Forum 2006;6:389–392
389
Kleine Hernienkunde für Nichtchirurgen
Grégoire Pfander, Markus Gass, Christian Klaiber
Abteilung für Chirurgie, Spital Aarberg
Wann besteht eine Indikation
zur Operation?
Quintessenz
쎲 Wir sind der Ansicht, dass in Anbetracht der Vielfalt der Hernien zu deren
Behandlung mehr als nur ein einziges, standardisiertes Operationsverfahren
nötig ist. Durch eine individuell angepasste Wahl der Operationsmethode lassen sich die an sich schon guten Resultate noch optimieren. Welches Verfahren
zur Anwendung kommt, soll letztlich der behandelnde Chirurg entscheiden. Aus
den in der Folge aufgeführten Gründen scheint es uns sinnvoll, für die Wahl der
Operation auf ein umfassendes Behandlungskonzept zurückzugreifen.
Summary
A little hernia guide for the non-surgeon
쎲 We take the view that the wide variety of hernias cannot be treated by a single standardised surgical procedure. By selection of a surgical method adapted
to the individual case it is possible to optimise already good results still
further. The surgeon has the final decision as to the procedure he will use.
For the reasons set out in this paper we feel it is helpful if the choice of operation is made as part of an overall treatment plan.
Neues von der Hernienchirurgie?
Der vorliegende Artikel soll allgemeine Überlegungen zur Indikationsstellung einer Hernienoperation und zur Wahl der Operationsmethode
aufzeigen sowie aktuelle Empfehlungen zur
Nachsorge formulieren. Er richtet sich speziell
an zuweisende und nachbetreuende Ärzte.
Die Laparoskopie hat in der Abdominalchirurgie
vieles in Bewegung gesetzt. Es ist naheliegend,
dass der häufigste allgemeinchirurgische Eingriff überhaupt, nämlich die Operation der Leistenhernie, seit einigen Jahren ebenfalls in den
Sog dieser Entwicklung geraten ist. Etablierte
Methoden wurden in Frage gestellt, das Interesse der Allgemeinchirurgen an der Hernienchirurgie hat stark zugenommen.
In der Schweiz werden vorwiegend die folgenden Operationen durchgeführt:
– die offene Technik nach Barwell bzw. Shouldice (Fasziendoppelung);
– die offene Operation nach Lichtenstein (Implantation eines Kunststoffnetzes);
– die laparoskopisch-endoskopischen Methoden (TAPP und TEP) mit Implantation eines
Kunststoffnetzes von innen.
Neu in der Hernienchirurgie sind also die breite
Anwendung von Netzimplantaten und die laparoskopisch-endoskopischen Techniken.
CME zu diesem Artikel finden Sie auf S. 381 oder im Internet unter www.smf-cme.ch.
Symptomatische Leistenhernien werden wegen
der Beschwerden, vor allem aber wegen des Inkarzerationsrisikos operiert.
Bei asymptomatischen Hernien ist bei älteren
Patienten mit erhöhtem Operationsrisiko bei
kleinen, leicht reponierbaren Hernien eine abwartende Haltung vertretbar.
Die jährliche Inzidenz einer Inkarzeration liegt
bei nichtbehandelten Patienten mit Inguinalhernien zwischen 0,3 bis 2,9% [1].
Die höchste Inzidenz besteht zwischen dem siebten und achten Lebensjahrzehnt. Klar erhöht ist
das Risiko auch bei nicht reponierbaren Hernien
sowie bei grossen Hernien mit enger Bruchpforte. Bei direkten Hernien (Hernien medial der
epigastrischen Gefässe) ist das Inkarzerationsrisiko geringer [1].
Femoralhernien (Austritt der Hernie durch die
Lacuna vasorum) haben einen besonderen
Stellenwert. Sie machen lediglich 11% aller Hernien in der Leistenregion aus. Das Inkarzerationsrisiko liegt aber bei 50%. Femoralhernien
treten vor allem bei Frauen auf und können
leicht übersehen werden. Aufgrund des hohen
Risikos einer Inkarzeration wird empfohlen, mit
der Operation nicht länger als vier Wochen zuzuwarten [1].
In den allermeisten Fällen ist die Diagnose einer
Inguinalhernie klinisch leicht zu stellen. Die Untersuchung erfolgt im Stehen beim Pressen.
Gelegentlich gelingt es nicht, eine vermutete
Hernie festzustellen, so dass bildgebende Verfahren, eventuell sogar eine Laparoskopie in Erwägung gezogen werden müssen. Es ist wichtig, bei
jedem Ileus an das Vorliegen einer inkarzerierten Hernie zu denken.
Differentialdiagnostisch ist das Spektrum möglicher Ursachen bei Leistenbeschwerden neben
den erwähnten Hernien sehr breit. Es sind
dies die Coxarthrose, schmerzhafte Zerrungen,
Insertionstendopathien der Adduktoren, Lymphknotenvergrösserungen, Lipome, Aneurysmen,
Venektasien, Leistenhoden usw.
Auch wenn eine Hernie vorliegt, können gleichzeitig Leistenschmerzen bestehen, die durch
die obenerwähnten Pathologien hervorgerufen
werden.
Im Zweifelsfall ist es sinnvoll, den Patienten vor
der Operation darauf hinzuweisen.
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Wie wird operiert?
Die Diskussion bezüglich der «richtigen» Operationstechnik einer Leistenhernie wird zum Teil
emotional geführt. Vor- und Nachteile der verschiedenen Operationstechniken werden verschieden bewertet und führen zu gegensätzlichen Interpretationen.
Es gilt der Grundsatz, dass der Chirurg diejenigen Operationsmethoden wählen soll, die er
sicher beherrscht. Eine einzige Methode wie zum
Beispiel jene nach Bassini, welche die häufigste
Operation des letzten Jahrhunderts war, genügt
den heutigen Ansprüchen nicht mehr. Es haben
sich für die operative Versorgung der Leistenhernien die Verfahren nach Barwell-Shouldice,
Lichtenstein sowie die endoskopisch präperitonealen Netzprothesen durchgesetzt. Bei den beiden letztgenannten Methoden gilt das Prinzip
der spannungsfreien Versorgung mit Implantation einer Netzprothese.
Der ursprüngliche Widerstand gegen die Implantate (aus Furcht vor Abstossungsreaktionen, Infektionen oder gar einer Entwicklung von Tumoren) ist mittlerweile auch bei den härtesten
Gegnern dieser Methoden nicht mehr vorhanden.
Operationsverfahren nach Barwell
und Shouldice (Abb. 1 p)
Bei der Operation nach Barwell werden durch
eine quere Inzision in der Leiste der Samenstrang mobilisiert, der Bruchsack ligiert und reseziert sowie die Fascia transversalis gedoppelt
und die Bruchlücke eingeengt, das heisst, der
Austritt des Samenstranges wird in lateraler
Richtung verlagert. Fremdmaterial wird bei dieser Technik nicht implantiert.
Bei der Methode nach Shouldice wird zusätzlich
der Musculus obliquus internus am Leistenband
fixiert [2].
Operation nach Lichtenstein (Abb. 2 p)
Das Prinzip der Operation nach Lichtenstein besteht in der spannungsfreien Verstärkung der
Bauchdecke durch das Einnähen eines Kunststoffnetzes zwischen Externusaponeurose und
Musculus obliquus internus. Diese Methode ist
die am häufigsten durchgeführte Operation. Verglichen mit der Operation nach Shouldice bzw.
Barwell ist das Verfahren nach Lichtenstein technisch einfacher, das heisst, die Lernkurve ist
steil. Die postoperativen Beschwerden unmittelbar nach dem Eingriff sind gering, die Rezidivrate tief [3].
Die beiden erwähnten offenen Operationsverfahren lassen sich unter Lokal- oder Spinalanästhesie oder unter Narkose durchführen.
TAPP (laparoskopische transabdominelle
präperitoneale Prothese) (Abb. 3, 4 p)
Bei der TAPP werden auf laparoskopischem
Weg, das heisst unter Anlage eines Pneumoperi-
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toneums der Herniensack von innen ausgelöst
und die Hernienlücke mit einem Kunststoffnetz
überdeckt, welches zwischen Peritoneum und
Bauchwand (Fascia transversalis) plaziert wird.
In der Regel wird das Netz mit Klammern, Takkern oder neuerdings auch mit Klebepunkten an
der Bauchwand fixiert.
O Samenstrang
+ Fascia transversalis
* Leistenband
Kranial
Lateral
Medial
Kaudal
Abbildung 1
Offene Operation nach Barwell mit Doppelung
der Fascia transversalis.
O
Samenstrang
X Implantat
* Leistenband
Abbildung 2
Offene Operation nach Lichtenstein:
Netzimplantat fixiert am Musculus obliquus externus
und am Leistenband.
Q
Endokamera
Trokare
Abbildung 3
Position der Endokamera und der Trokare
bei den endoskopischen Hernienoperationen.
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Kommentar
X Epigastrische Gefässe
Ligamentum Cooperi
P Vas deferens
Arteria und Vena iliaca
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W
Ventral
Dorsal
Abbildung 4
Abdeckung der Inguina von innen durch ein Netzimplantat bei den endoskopischen Hernienoperationen.
TEP (endoskopische totale extraperitoneale
Prothese) oder TEEP (totale endoskopische
extraperitoneale Prothese) (Abb. 3, 4)
Bei dieser Operation wird die Netzprothese ohne
Eröffnung des Abdomens zwischen Peritoneum
und Bauchdecke eingelegt. Die Fixation des Netzes erfolgt in gleicher Weise wie bei der TAPP [4].
Diese beiden endoskopischen Methoden greifen
auf das Prinzip der offenen Technik von Stoppa
und Rieves zurück, welches erstmals 1969 bzw.
1973 beschrieben wurde.
Laparoskopisch-endoskopische Eingriffe lassen
sich nur unter Vollnarkose durchführen.
Welcher Patient wird wie operiert?
Bei der Wahl des Operationsverfahrens wird
neben der Präferenz des Chirurgen den zusätzlichen Faktoren Rechnung getragen:
Alter des Patienten, Gewebequalität, Grösse der
Hernie, Grösse der Bruchlücke, Primärhernie
vs. Rezidivhernie, bilaterale Hernien, Narkoserisiko.
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien behandeln wir seit 1994 nach dem «Aarberger-Konzept» [5]:
– Operation nach Shouldice: Männer unter 35
Jahre und Frauen im gebärfähigen Alter.
– Operation nach Lichtenstein: Patienten über
35 Jahre, welche sich für eine Narkose nicht
eignen oder keine Narkose wünschen.
– TEP: Primärhernien bei Männern über 35 Jahre, alle offen voroperierten Rezidivhernien
bei Patienten mit abgeschlossenem Wachstum, bilaterale Leistenhernien und Femoralhernien.
Diese internen Richtlinien werden unter Umständen modifiziert, zum Beispiel wenn es sich
um Schwerarbeiter oder Spitzensportler handelt
oder der Patient die eine oder andere Technik bevorzugt.
Das Konzept beruht auf folgenden Überlegungen: Junge Patienten mit primären Hernien
haben eine gute Gewebequalität und bedürfen
deshalb keiner Verstärkung der Bauchdecke mit
einem Implantat. Je älter der Patient ist, desto
notwendiger ist eine Netzverstärkung. Die Altersgrenze von 35 Jahren haben wir aufgrund
von eigenen Erfahrungswerten gesetzt.
Die laparoskopische transabdominelle Technik
(TAPP) wählen wir nur ausnahmsweise, zum
Beispiel bei sehr grossen Hernien, weil die Reposition des Bruchinhaltes unter direkter Sicht
einfacher erfolgen kann. Rezidive und Mehrfachrezidive eignen sich besonders für die endoskopischen Techniken, da der alte, vernarbte Zugang vermieden werden kann.
Rezidive offener Hernien werden endoskopisch,
Rezidive nach endoskopischer Technik werden
offen operiert [6].
Komplikationen
Im Vordergrund stehen die Rezidive. Mögliche
Ursachen einer Rezidivhernie sind eine Gewebeschwäche oder eine unzureichende primäre
Operationstechnik, oder es handelt sich um eine
primär übersehene Hernie, zum Beispiel eine
Femoralhernie.
Die Rezidivrate hängt bei allen Operationstechniken in erster Linie von der Erfahrung des
Chirurgen ab. Sie liegt bei der Barwell- bzw.
Shouldice-Technik bei 3,4%, beim LichtensteinVerfahren bei 1,3% und bei den endoskopischen
Methoden bei 1,9% [7]. Generell lässt sich sagen,
dass die spannungsfreien Verfahren mit Netzverstärkung eine geringere Rezidivrate aufweisen.
Die Inzidenz von Wundinfekten liegt bei offenen
Verfahren ohne Netz bei 1%, bei offenen Verfahren mit Netzeinlage bei 2,2% und bei den endoskopischen Techniken unter 1% [7].
Bei den offenen Methoden steht die Schädigung
der Nervi ilioinguinalis und iliohypogastricus im
Vordergrund. In 0,6% der Fälle wird eine ischämische Orchitis mit konsekutiver Hodenatrophie festgestellt [7].
Komplikationen der endoskopischen Verfahren
sind insbesondere Hämatome und Serome sowie
die Schädigung des Nervus genitofemoralis.
Als seltene, aber schwerwiegendere Komplikationen sind zugangsbedingte Verletzungen intraabdominaler Organe wie Darm oder Harnblase zu erwähnen.
Für den nachbehandelnden Arzt ist das Erkennen
sogenannter Pseudorezidive bei endoskopischen
Eingriffen wichtig. Hier handelt es sich häufig um
Serome oder ältere Hämatome in der ehemaligen
Bruchhöhle. Pseudorezidive sind klinisch selten
relevant und verschwinden im Lauf der Zeit, weshalb sie nicht reoperiert werden sollten.
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Zur Abklärung einer postoperativ wieder aufgetretenen Schwellung eignet sich besonders
die Sonographie der Leiste.
Liegt nach der Operation ein chronisches
Schmerzsyndrom vor, müssen primär als mögliche Ursache die obenerwähnten Differentialdiagnosen in Betracht gezogen werden. Meistens
handelt es sich aber um operationsbedingte
Neuralgien der Nervi iliohypogastricus, ilioinguinalis oder genitofemoralis.
Diagnostisch/therapeutisch bietet sich eine Infiltration mit einem Lokalanästhetikum, gegebenenfalls mit einem Kortikosteroid an. Bei
Persistenz der Beschwerden muss die Revision
des Operationsgebietes mit Durchtrennung des
betroffenen Nerven in Erwägung gezogen werden.
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Wiederaufnahme der Arbeit? Sport?
Hinsichtlich der postoperativen Belastung und
der Wiederaufnahme physischer Tätigkeiten liegen keine evidenzbasierten Daten vor. Generell
sollte der behandelnde Chirurg in Abhängigkeit
vom Zustand des Patienten den Zeitpunkt der
postoperativen Belastungsaufnahme festlegen.
Früher übliche Empfehlungen hinsichtlich einer
sechswöchigen Einschränkung der körperlichen
Belastbarkeit sind heute aus unserer Sicht nicht
mehr aufrechtzuerhalten. Wir empfehlen generell, dass alle Patienten mit einer Netzimplantation sofort frei nach Massgabe der Beschwerden
belasten dürfen. Patienten mit Operationen ohne
Netzverstärkung sollten sich postoperativ während zwei bis drei Wochen körperlich schonen.
Die Wiederaufnahme der Arbeit ist in jedem Fall
individuell zu verordnen, dürfte aber in den meisten Fällen ungefähr zwei Wochen postoperativ
wieder möglich sein.
Literatur
Korrespondenz:
Dr. med. Christian Klaiber
Abteilung für Chirurgie
Spital Aarberg
Lyss-Strasse 31
CH-3270 Aarberg
[email protected]
1 The Royal College of Surgeons of England. Clinical guidelines
on the management of groin hernia in adults. London: RCSENG – Professional Standards and Regulation; 1993.
2 Shouldice E. The treatment of hernia. Ont Med Rev 1953;20:
670–84.
3 Lichtenstein I, Shulman A, Amid P, Montlor M. The tensionfree hernioplasty. Am J Surg 1989;157:188.
4 Klaiber C, Metzger A, et al. Manual der laparoskopischen
Chirurgie. 2., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage. Bern: Verlag Hans Huber; 1995. p. 271–80.
5 Klaiber C, Banz M, Metzger A. Die Technik der total endoskopischen präperitonealen Netzplastik zur Behandlung
von Hernien in der Leistenregion (TEP). MIC 1999:8:139–44.
6 Chiofalo R, Holzinger F, Klaiber C. Total endoskopische präperitoneale Netzplastik bei primären und Rezidivleistenhernien – Gibt es Unterschiede? Chirurg 2001;72:1485–91.
7 CAMIC. Konsensuskonferenz Hernienchirurgie – Magdeburg, 28.–30.11.2003. Zentralbl Chir 2003;128;601–11.
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