Das Spontane Pferd Verstehen, ein Pferd erwartungsfrei zu beobachten Francesco De Giorgio | José De Giorgio-Schoorl Learning Animals, Study centre for Ethology and Zooanthropology [email protected] www.learning-animals.org Zuerst veröffentlicht in“Relations“ June 2014 www.ledonline.it/Relations The Spontaneous Horse Pferde werden oft als ängstliche und unberechenbare Tiere betrachtet. Dies begründet unsere Angst davor, Pferde in unbekannten Situationen ihr eigenes Wesen ausleben zu lassen, basiert auf der Überzeugung, dass dies gefährlich sei und mit Verletzungen von Tier und Mensch einher gehen könnte. Tatsächlich ist es jedoch gerade diese Einschränkung des Wesens des Pferdes, die ihn zu einem ängstlichen und unberechenbaren Tier macht. Ein seltsamer Teufelskreis entsteht. So führt zum Beispiel unsere Angst davor, vom Pferd gebissen zu werden, dazu, dass wir seinen Kopf jedes Mal wegstoßen, wenn er versucht, uns besser zu verstehen, indem er uns beschnüffelt oder mit seinen Lippen erforscht. Das Wegstossen des Kopfes oder andere, möglicherweise sogar heftigere Gesten, verwandeln die Intension des Pferdes, uns kennenzulernen, in ein für das Pferd unverständliches, angespanntes Missverständnis. Aus ähnlichen Gründen verweigern wir unseren Pferden oft auch ihr ureigenes Sozialverhalten. In unserer Gesellschaft leben Pferde allzu oft in sozialer Isolation, wodurch sie ihr eigenes Wesen nicht mittels sozialer Verhaltensweisen zum Ausdruck bringen können. Obwohl wir uns dessen heutzutage weitestgehend bewusst sind, lebt die Mehrheit der Pferde weiterhin in solchen Verhältnissen. Unseren Pferden wird ein Leben anerzogen, in dem sie auf menschliche Anweisungen warten und dabei vollkommen vergessen, dass sie selbst echte eigene Intentionen und einzigartige Interessen haben. Selbst wenn sie mit anderen Pferden zusammenleben, sind die Herden oft nicht beständig und nicht familiär oder familienähnlich. Aufgrund ständiger Veränderungen in der Gruppendynamik konzentrieren sich die Interaktionen zwischen Pferden vermehrt auf ein defensives und nicht echt soziales Verhalten, anstatt Vertrauen in die Mitglieder der Herde aufzubauen und sich so auf natürliche kognitive Weise ausdrücken zu können. Dies ist wichtig für affiliative Verhaltensweisen wie die Bewegung der Herde als eine Einheit oder die gegenseitige, proaktive Achtung innerhalb der Herde. Was der Mensch in solchen Situation oft zu sehen bekommt, sind rein reaktive Verhaltensweisen innerhalb der Dynamik wie z.B. Dominanzverhalten, die in familiären oder familienähnlichen Herden nur selten und normalerweise nicht in der Alltagsroutine auftreten. 1 Soziale Verhaltensweisen zeigen sich in kleinen und subtile Gesten, die oft kaum wahrnehmbar sind, aber eine verbindende Funktion innerhalb der Herde erfüllen. Dazu gehört wesentlich mehr als das gegenseitige Beknabbern, das unter anderem dazu beitragen kann, Spannungen abzubauen. Da ist beispielweise die Beobachtung der Dynamik innerhalb der Herde und der Herdenmitglieder untereinander, aus der Distanz, während des Grasens, um lange vor einem möglichen Konflikt Spannungen zu vermeiden. Auch das gegenseitige Beschnuppern hilft dabei, bestimmte Situationen gemeinsam besser zu verstehen. Erforschung und Lernen sind weitere wichtige Anteile des spontanen Verhaltens, die fundamental für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten sind. Tatsächlich wenden wir Menschen oft Techniken, Methoden oder Werkzeuge an, die das Pferd darin behindern, seine Umgebung, andere Pferde, Menschen und sich selbst zu verstehen. Wenn wir beispielsweise vom Pferd verlangen, seine Aufmerksamkeit auf uns zu fokussieren, lenken wir ihn in Wirklichkeit von der Situation ab, auf die er sich selbst gerade konzentriert. Dazu gehören auch bestimmte Arten der sogenannten Schönheitspflege, wie z.B. das unsinnige Kürzen der Tasthaare, wodurch dem Pferd die Möglichkeit genommen wird, seine Umgebung naturgemäß zu erforschen. Durch die Beeinträchtigung dieser wichtigen Sinnesrezeptoren wird das spontane Verhalten des Pferdes eingeschränkt und Stressfaktoren werden ausgelöst, die zur Verminderung des Wohlbefindens führen. Spontanes Verhalten ist für das Pferd wichtig, um einen kognitiven Dialog zu entwickeln. Pferde, die sich ein reaktives und defensives Verhalten angewöhnt haben (oft durch Unterdrückung von spontanen Verhaltensweisen), zeigen in ihrem Verhalten selbst in kleinen Gesten gewisse Spannungen und vermitteln uns Menschen einen Eindruck von Angespanntheit, den wir nicht immer bewusst wahrnehmen. Die Einschränkung des spontanen Verhaltens findet oft schon während des frühsten Trainings des jungen Pferdes statt. In diesen Momenten erfährt das Pferd eine ausgeprägte Reduktion seiner natürlichen spontanen Verhaltensweisen, begründet in dem Versuch, die Verhaltensreaktionen des Pferdes entsprechend den anthropozentrischen Ansprüchen des Menschen zu optimieren. Die Konditionierung mittels positiver oder negativer Verstärkung, die in diesem Training angewandt wird, reduziert das spontanem Verhalten und mindert damit das Wohlbefinden des Pferdes drastisch. Das reaktive Verhalten, das hier stattdessen antrainiert wird, wird oft mit einer freien Verhaltenswahl in der Interaktion mit dem Menschen verwechselt. Beispielsweise handelt 2 es sich nicht um freie Wahl, wenn ein Pferd aufgrund von Futtererwartung im Paddock auf eine Person zugeht. Auch dem Menschen im “Join Up” zu folgen und andere durch Kommandos ausgelöste Verhaltensweisen sind keine freien Entscheidungen. Das Pferd zeigt Makroverhaltensweisen, die uns von einem anthropozentrischen Gesichtspunkt aus befriedigen, aber gleichzeitig auch Mikro-Anzeichen eines inneren Konflikts auslösen. In der Arbeit als Vermittler ist es ausserordentlich wichtig, an einer authentischen Beziehung zu arbeiten und sich dieser bewusst zu sein. Nur so können Beziehungen vertieft und unverfälschte und gesunde Interaktionen ermöglicht werden. Im zooanthropologischen Ansatz und vor allem in der Arbeit als Vermittler der Interaktion zwischen Pferd und Mensch, ist es von grundlegender Wichtigkeit, dem Pferd die Möglichkeit zu geben, seine eigene Welt und sein spontanes Verhalten auszudrücken. Nur wenn wir, als Mensch, dem Pferd Aufmerksamkeit schenken und seiner Ausdruckskraft Raum geben, stehen wir am Anfange einer echt artübergreifende Beziehung. In einer Gesellschaft, in der mehr Wert auf Leistung als auf gegenseitige Beziehungen gelegt wird, ist die soziale und emotionale Erfahrung, neugierig zu sein und sich dem Ausdruck des anderen zu öffnen, fundamental. Eine solche Offenheit ermöglicht es, mit der Welt und sich selbst in Verbindung treten, ohne sich selbst zu verlieren. Sowohl Mensch als auch Pferd müssen den Raum haben, ihre eigenen inneren Beweggründe zu verstehen, anstatt durch ein erwünschtes Verhaltensmuster auf dem Kontext, in dem wir leben, zu reagieren. Als alternativer Weg gibt der zooanthropologische Ansatz dem Pferd die Gelegenheit, ohne Konditionierung seinen eigenen kognitive Plan für sozialen Interaktionen, Erfahrungen und die Beziehung zwischen Mensch und Pferd zu entwickeln. Dabei wird dem Pferd die Möglichkeit gegeben, seine eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu nutzen, um sein Verhalten als Ausdruck des eigenen Bewusstseins zu entwickeln, anstatt automatisiert auf äußere oder innere Reize zu reagieren. Aufmerksamkeit, Bewusstheit, Entspannung, Kontakt und soziale Interaktion sind Schlüsselwörter in einer solchen spontanen Interaktion. More about Learning Animals: www.learning-animals.org From the same authors: The Cognitive Horse We would like to thank the following persons for their collaboration in translating the original article: The Spontaneous Horse Astrid Doellfelder, Sandra Hutter and Susanne Weis. 3