Mitschrift der Vorlesung Theoretische Mechanik (T1p) für Bachelor plus, Lehramt Gymnasium und Nebenfach Theoretische Physik (3 SWS) Prof. G. Buchalla, LMU München, Sommersemester 2016 verfasst von Markus Reinert Inhaltsverzeichnis 1 Grundbegriffe der Mechanik 3 2 Lagrangeformalismus und das Prinzip der kleinsten Wirkung 2.1 Einführung in die Variationsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Prinzip der kleinsten Wirkung (Hamilton-Prinzip) . . . . . . . . . . 8 8 11 3 Symmetrien und Erhaltungssätze 3.1 Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Skalenverhalten der Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 16 17 19 21 4 Bewegung im Zentralfeld 4.1 Zweikörperproblem . . . . . . . 4.2 Lösung der Bewegungsgleichung 4.3 Kepler-Problem . . . . . . . . . 4.4 Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 24 25 29 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kleine Schwingungen 43 5.1 Eindimensionale Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.2 Gedämpfte Schwingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5.3 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6 Bewegung des starren Körpers 61 6.1 Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 6.2 Bewegung im beschleunigten Bezugssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 7 Kanonischer Formalismus und Hamilton-Gleichungen 68 8 Relativistische Mechanik 70 8.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 8.2 Lagrangefunktion eines freien Teilchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Verwendete Literatur Landau, Lew D. und Lifschitz, Ewgeni M.: Lehrbuch der theoretischen Physik in zehn Bänden, Band 1: Mechanik. Fließbach, Torsten: Mechanik: Lehrbuch zur Theoretischen Physik I. Kuypers, Friedhelm: Klassische Mechanik. 2 1 Grundbegriffe der Mechanik Um in der Mechanik physikalische Phänomene zu beschreiben, modellieren wir sie in der vierdimensionalen Raumzeit, das heißt wir betrachten drei Raumdimensionen und eine zeitliche Dimension. Dabei bezeichnen wir den Parameter der Zeit üblicherweise mit t ∈ R.1 Für die Beschreibung des Raumes, in dem ein Vorgang stattfindet, wählen wir ein Bezugssystem, bezüglich dessen wir Koordinaten angeben. Verwenden wir beispielsweise kartesische Koordinaten, so bezeichnen wir diese mit x, y, z. Sie werden jeweils in Richtung der Standardbasisvektoren angegeben: 1 e#»x = 0 , 0 0 e#»y = 1 , 0 0 e#»z = 0 . 1 Diese drei Vektoren bilden eine Orthonormalbasis des R3 . Orthonormalität wird durch folgende Relation ausgedrückt: e#»i · e#»j = δij := 1, 0, für i = j, sonst, i, j ∈ {x, y, z} = ˆ {1, 2, 3} Basis bedeutet, dass sich jeder Vektor #» v ∈ R durch eine Linearkombination dieser Vektoren darstellen lässt: 3 X #» v = λi e#»i mit λi ∈ R. i=1 Ein wichtiges Objekt unserer Beschreibung ist der Massepunkt. Damit meinen wir einen Körper mit vernachlässigbarer Ausdehnung. Wir beschreiben seine Lage im Raum durch den Ortsvektor r1 x #» #» #» #» r = x · ex + y · ey + z · ez = y = r2 . r3 z Die zeitliche Änderung seines Ortes wird als Geschwindigkeit bezeichnet: d #» v (t) := #» r (t) = #» r˙ (t). dt Die zeitliche Änderung seiner Geschwindigkeit wird als Beschleunigung bezeichnet: d2 #» d #» v (t) = 2 r (t) = #¨r»(t). dt dt 1 Wenn Sie sich fragen, warum in der Physik eine eindimensionale Zeitstruktur notwendig ist, empfehle ich Ihnen, eine Philosophievorlesung für Physiker zu hören. 3 Betrachten wir ein System von N ∈ N Massenpunkten, so beschreiben wir ihre jeweilige Lage im Raum durch die N Ortsvektoren r#»1 , r#»2 , . . . , r#N», xn rn1 r#»n = yn = rn2 , zn rn3 n = 1, . . . , N. Sind die Abstände der Massenpunkte fest, das heißt | r#»i − r#»j | = const. für alle i, j = 1, . . . , N , so sprechen wir von einem starren Körper. Newtonsche Axiome 1. Es gibt Bezugssysteme, in denen für einen kräftefreien Massepunkt gilt: d #» r (t) = const. v (t) = #» dt 2. Für die Beschreibung in solchen Systemen gilt: d d #» F = #» p = (m #» v ), dt dt #» mit der Kraft F , dem Impuls #» p = m #» v und der Masse m. #» Falls m konstant ist, gilt F = m #¨r». 3. Jede Kraft erzeugt eine Gegenkraft, die mit gleicher Stärke in entgegengesetzte Richtung wirkt: #» #» F actio = − F reactio . Bemerkungen: zu 1. Bezugssysteme, in denen für einen kräftefreien Körper #» v (t) = const. gilt, bezeichnen wir als Inertialsysteme (IS). zu 2. Man betrachte zwei Probekörper (Massepunkte), auf die gleiche Kräfte wirken: m1 r#¨»1 = m2 r#¨»2 . Durch messen der Beschleunigungen r#¨»1 und r#¨»2 , kann das Massen1 bestimmt werden. Damit wird die Masse m im Bezug auf einen verhältnis m m2 Referenzkörper definiert. zu 3. Achtung, dieses Axiom ist nicht für alle Kräfte in der Physik gültig, beispielsweise nicht für die magnetische Kraft in der Elektrodynamik. Allerdings stimmt die 4 Aussage in der klassischen Mechanik. Das werden wir mithilfe des Lagrangeformalismuses in Kapitel 3.2 sehen. Die nun eingeführten Größen messen wir in den folgenden Einheiten: [m] = kg (Kilogramm) [t] = s (Sekunde) #» [ r ] = m (Meter) m #» [ F ] = kg 2 =: N (Newton) s #» In der Mechanik möchten wir für ein gegebenes Kraftfeld F die Bewegung, das heißt die Bahn #» r (t), eines Körpers der Masse m bestimmen. Deshalb ist ein mechanisches Problem üblicherweise von folgender Form: #» F #» r (t), #» r˙ (t), t = m #¨r»(t) . Es handelt sich dabei um eine Differentialgleichung zweiter Ordnung für #» r (t). Folglich #» hat die allgemeine Lösung zwei Integrationskonstanten, beispielsweise r (0) und #» r˙ (0). Beispiel: Freier Fall. Wir betrachten eine eindimensionale Bewegung entlang x-Richtung in einem homogenen Schwerefeld F = −m · g mit (konstanter) Fallbeschleunigung g. Dann ist mẍ = F = −m · g ⇒ ẍ = g . Die allgemeine Lösung finden wir durch zweifaches aufleiten: 1 1 x(t) = − gt2 + c1 t + c2 = − gt2 + ẋ(0)t + x(0) . 2 2 So einfach wie in diesem Beispiel wird es allerdings nicht immer sein, die Differentialgleichung zu lösen. Deshalb überlegen wir uns in Kapitel 2 einen eleganteren Weg, um die Bahn zu bestimmen. Galilei-Transformation Für die Beschreibung von Phänomenen gibt es kein ausgezeichnetes Bezugssystem. Vielmehr kann es interessant und hilfreich sein, einen Vorgang in verschiedenen Koordinatensystemen zu betrachten. Um zwischen unterschiedlichen Inertialsystemen zu wechseln, verwendet man eine Galilei-Transformation mit zehn freien Parametern: #» #» r 0 = D #» r − V t − #» a, t0 = t − t0 : • D ist eine Drehung (Drehwinkel um x, y, z-Achse sind drei freie Parameter), 5 #» • V ist eine Relativbewegung, • #» a ist eine Verschiebung im Raum, • t0 ist eine zeitliche Verschiebung. In Koordinaten schreiben wir ri0 = 3 X Dij rj − Vi t − ai = Dij rj − Vi t − ai j=1 unter Berücksichtigung der Einstein’schen Summenkonvention beim zweiten Gleichheitszeichen. Eine Drehung wird durch eine Drehmatrix dargestellt. Diese besitzt die Eigenschaft DT · D = 1, wobei DT die zu D transponierte Matrix und 1 die Einheitsmatrix ist. Man beachte, dass auch Spiegelungen diese Eigenschaft haben. Die Menge aller Matrizen A, für die AT · A = 1 gilt, wird als orthogonale Gruppe bezeichnet. Davon sind die Matrizen mit Determinante +1 genau die Drehungen. Sie bilden die spezielle orthogonale Gruppe. Ein Beispiel für eine Drehmatrix ist cos ϕ − sin ϕ 0 D = sin ϕ cos ϕ 0 0 0 1 Sie bewirkt bei Multiplikation mit einem Vektor #» r eine Drehung mit dem Winkel ϕ um #» #» 0 die z-Achse: setze r := D · r , dann ist der Winkel zwischen #» r und dem gedrehten #» r 0: ( #» r , #» r 0 ) = ϕ ; die z-Koordinate ist unverändert: rz0 = rz . Kovarianz der newtonschen Mechanik Wir berechnen, wie sich Geschwindigkeit, Beschleunigung und Kraft unter einer GalileiTransformation verändern: dri0 dri0 = = Dij · ṙj − Vi , dt0 dt r̈i0 (t0 ) = Dij · r̈j (t) , m · r¨j (t) = Fj ( #» r , #» r˙ , t) , ṙi0 (t0 ) = 0 ⇒ m · r̈i0 (t0 ) = m · Dij · r̈j (t) = Dij · Fj ( #» r , #» r˙ , t) = Fi0 ( #» r 0 , #» r˙ , t0 ) . In vektorieller Form ausgedrückt: #» #» 0 m · #¨r» = m · D · #¨r» = D · F = F 0 . #» Wir stellen fest, dass sich die Form der Grundgleichung F = m · #¨r» unter einer GalileiTransformation nicht ändert. Das ist die Kovarianz der newtonschen Mechanik. 6 Beispiel: Newtons Gravitationsgesetz Man betrachte zwei Körper mit den jeweiligen Massen m1 und m2 an den Positionen #» r 1 und #» r 2 im Raum. Nach dem newtonschen Gravitationsgesetz ziehen sich Massen an. Dabei ist die Kraft, welche vom zweiten auf den ersten Körper ausgeübt wird #» r 1 − #» r2 #» F 12 = −G m1 m2 #» #» | r 1 − r 2 |3 3 m mit der Gravitationskonstante G = 6,674 · 10−11 kg·s 2 . Durch vertauschen von 1 und 2 in #» #» der Formel erhält man F 21 = − F 12 im Einklang mit dem dritten newtonschen Axiom. #» #» Nach dem zweiten newtonschen Axiom gilt außerdem F 12 = m1 #¨r»1 und F 21 = m2 #¨r»2 . Wir wollen zeigen, dass diese beiden Gleichungen invariant unter Galilei-Transformation sind. Das sieht man daran, dass die Kraft nur vom Verbindungsvektor #» r 1 − #» r 2 und nicht #» von den Ortsvektoren alleine abhängt. Denn es gilt für ein mit der Geschwindigkeit V relativ zum ursprünglichen System bewegtes und um #» a verschobenes Inertialsystem: #» #» #» #» #» #» #» #» 0 0 0 r 1|2 = r 1|2 − V t + a . Daraus folgt r 1 − r 2 = r 1 − r 2 und somit #» r 1 − #» r2 m1 r#¨»1 = −G m1 m2 #» #» | r 1 − r 2 |3 #» r0 r 0 − #» 0 m1 r#¨»1 = −G m1 m2 #»01 #»02 3 , | r 1 − r 2| ⇐⇒ das heißt #» r 1|2 (t) löst die Gleichung genau dann, wenn #» r 01|2 (t) eine Lösung der Gleichung ist. Dies gilt analog für relativ zueinander gedrehte Bezugssysteme: Man beachte, dass sich die Länge eines Vektors unter Drehung nicht ändert, das heißt für eine Drehmatrix D und einen Vektor #» r gilt: | #» r | = |D · #» r |. Deshalb entspricht der Wechsel in ein gedrehtes Koordinatensystem der Multiplikation beider Seiten der Gleichung mit einer Drehmatrix, wodurch die Lösungen unverändert bleiben. Somit sind Bezugssysteme äquivalent, wenn sie durch Galilei-Transformation ineinander überführt werden können, sprich gleichermaßen zur Beschreibung von Phänomenen in der Mechanik geeignet. 7 2 Lagrangeformalismus und das Prinzip der kleinsten Wirkung 2.1 Einführung in die Variationsrechnung Aus der Schule sind mathematische Funktionen bekannt. Bei einer Funktion y handelt es sich um eine „Vorschrift“, die jeder reellen Zahl x ∈ Df in ihrem Definitionsbereich einen Funktionswert y(x) zuordnet. Eine einfache Verallgemeinerung davon sind Funktionen mehrerer Variablen, in bestimmen Zusammenhängen als Felder bezeichnet, die jedem Vektor #» x ∈ Rn einen Funktionswert f ( #» x ) = f (x1 , . . . , xn ) zuordnen. Ein Beispiel wäre + #» die Länge | x | ∈ R0 eines Vektors. Nun können allerdings auch Funktionen betrachtet werden, die jeder Funktion einen Wert zuordnen. Das heißt, auf einem reellen Intervall, z. B. [a, b] ⊂ R, sei eine Funktion y : [a, b] → R, x 7→ y(x), definiert. Dann betrachten wir den Funktionsparameter x ∈ [a, b] als kontinuierlichen Index eines unendlichdimensionalen Vektors y und verstehen F [y] = F [y(x)] als Verallgemeinerung von Funktionen mehrerer Variablen. Diese „Funktionen von Funktionen“ werden als Funktionale R bezeichnet. Ein Beispiel für ein Funktional ist das Integral F [y] = ab y(x) dx . Beispiel: das Problem der Brachistochrone2 Wir betrachten eine Masse m, die sich im Schwerefeld der Erde in der x-y-Ebene vom Punkt (a, 0) zum Punkt (b, h) bewegt, mit a < b und 0 ≤ h (die y-Achse zeigt in Richtung der Erdbeschleunigung, also nach unten). Gesucht ist die Bahn y(x), welche die Zeit für das Zurücklegen dieser Strecke minimiert, unter Vernachlässigung von Reibungseffekten. Für die Lösung dieses Problems betrachten wir die benötigte q Zeit als Funktional q in AbR 1 2 2 hängigkeit von der Bahn: T = F [y] = v ds . Dabei ist ds = dx + dy = dx 1 + y 0 2 dy mit y 0 = dx der infinitesimale (euklidische) Abstand zwischen zwei Punkten in der Ebe2 = m g y = Epot . Daraus erhalten ne. Aufgrund der Energieerhaltung gilt Ekin = m2 vq wir für die Geschwindigkeit den Ausdruck v(x) = 2 g y(x). Somit ist die Lösung der Brachistochrone das Minimum von F als Funktional von y(x) mit 1 F [y] = √ 2g v Z bu u 1 + y 0 (x)2 t a y(x) dx . Als Lösung ergibt sich eine Zykloide: y = r(1 − cos ϕ), 2 x = r(1 − sin ϕ) . gr. brachystos kürzeste, chronos Zeit; nach Johann Bernoulli (1696) 8 Die Euler-Lagrange-Gleichung Mit Fragen dieser Art beschäftigt sich die Funktionalanalysis. Wir werden uns im Folgenden damit beschäftigen, die Extremstellen von Funktionalen F der Art F [y] = Z b 0 f (y(x), y (x), x) dx = a Z b f (y, y 0 , x) dx a zu ermitteln, wobei die Randwerte y(a) und y(b) fest sind. Wäre F eine „normale“ Funktion, so könnten wir sie ableiten und würden als Kandidaten für die Extremstellen die Nullstellen der Ableitung dF erhalten. Analog gehen wir auch bei Funktionalen vor und fordern, dass die erste Variation δF verschwindet. Wir berechnen für sehr kleine Abweichungen δy(x) von einer Extremstelle y(x): ! 0 = δF = F [y(x) + δy(x)] − F [y(x)] = = Z b f (y + δy, y 0 + δy 0 , x) − f (y, y 0 , x) dx = a Z b (1) = a Z b (2) = a Z b (3) = a ! ∂f ∂f δy + 0 δy 0 dx = ∂y ∂y ! ∂f d ∂f δy + 0 δy dx = ∂y ∂y dx ! d ∂f ∂f − δy(x) dx . ∂y dx ∂y 0 Erklärung: (1) Taylorentwicklung erster Ordnung. (2) Die Ableitung von δy nach x ist δy 0 = d δy . dx (3) Partielle Integration des zweiten Summanden mit δy(a) = δy(b) = 0. Diese Bedingung entspricht festen Randwerten der Funktion y(x). Damit das Integral in der unteren Zeile wie gefordert für alle Variationen δy verschwindet, muss die Differenz in der Klammer gleich Null sein. Das ist die Aussage der Euler-Lagrange-Gleichung: d ∂f ∂f − =0 0 dx ∂y ∂y Es handelt sich dabei um eine Differentialgleichung zweiter Ordnung in y(x), die linear in y 00 ist. Sie stellt eine notwendige Bedingung für ein Extremum von F [y] dar. Für mehrere Funktionen lässt sich die Gleichung leicht verallgemeinern. Sei F ein Funktional, welches von Funktionen y1 (x), . . . , yn (x) abhängt, der Form: F [y1 (x), . . . , yn (x)] = Z b a f (y1 , . . . , yn , y10 , . . . , yn0 , x) dx. 9 Dann geben die Euler-Lagrange-Gleichungen d ∂f ∂f − = 0, 0 dx ∂yi ∂yi (i = 1, . . . , n) notwendige Bedingungen an die Extremstellen von F . Variation mit Nebenbedingungen Gesucht ist das Minimum einer Funktion f (x, y) unter der Bedingung, dass g(x, y) = 0 ist. Für die Lösung dieses Problems gibt es die Methode der Lagrange-Multiplikatoren: man minimiere die Funktion Φ(x, y, λ) := f (x, y) − λg(x, y) , das heißt man sucht die gemeinsamen Nullstellen der partiellen Ableitungen nach x, y, λ: ∂f ∂g ∂Φ ! ! = −λ =0 ∂f /∂x ∂g/∂x ∂x ∂x ∂x ⇐⇒ =λ ⇐⇒ ∇f = λ∇g ∂Φ ∂f ∂g ∂f /∂y ∂g/∂y = −λ =0 ∂y ∂y ∂y ∂Φ = g(x, y) = 0 (entspricht der Nebenbedingung) ∂λ Folglich müssen die Gradienten von f und g parallel, somit müssen die Höhenlinien von f tangential an den Linien g(x, y) = 0 liegen. In der Variationsrechnung unterscheidet man nun zwei Arten von Nebenbedingungen: 1. isoperimetrische Nebenbedingung: F [y] = Z b f (y, y 0 , x) dx a G[y] = Z b g(y, y 0 , x) dx = c (eine Bedingung). a 2. holonome Nebenbedingung: F [yi ] = Z b a f (yi , yi 0 , x) dx g(yi (x), x) = 0 für alle x (unendliche viele Bedingungen). Beide Fälle können wir mithilfe der Euler-Lagrange-Gleichungen behandeln: zu 1. Suche das Extremum von F [y] − λ(G[y] − c) . zu 2. Suche das Extremum von ∗ F [yi , λ] = Z b a 0 f (yi , yi , x) − λ(x)g(yi , x) dx . 10 2.2 Das Prinzip der kleinsten Wirkung (Hamilton-Prinzip) Wir betrachten eine eindimensionale Bewegung x(t) in einem Potential U (x). Die kinetische Energie eines Körpers der Masse m ist T = m2 ẋ2 . Definition 1: Lagrangefunktion und Wirkung Langragefunktion: L := L(x, ẋ, t) := T − U Wirkung: S := S[x(t)] := Z t2 L(x, ẋ, t) dt t1 Nun besagt das Prinzip der kleinsten Wirkung, dass die tatsächliche Bewegung x(t) zwischen dem Startpunkt x(t1 ) und dem Endpunkt x(t2 ) so verläuft, dass die Wirkung S minimal wird, das heißt die erste Variation von S verschwindet. Eine Lösung für die Gleichung δS = 0 finden wir mithilfe der Euler-Lagrange-Gleichung: ∂L d ∂L = dt ∂ ẋ ∂x Setzen wir die obige Lagrangefunktion ein, erhalten wir mẍ = − ∂U = F und stellen fest: ∂x Das Variationsprinzip δS = 0 ist äquivalent zu Newtons 2. Axiom F = mẍ . Für die Lösung der Euler-Lagrange-Gleichung ist die Angabe zweier Randbedingungen notwendig. Eine Möglichkeit ist, den Start- und Endpunkt der Kurve x(t1 ), x(t2 ) anzugeben. Damit nimmt man eine globale Beschreibung der gesamten Kurve vor. Mathematisch äquivalent dazu ist die punktweise, lokale Beschreibung, indem man zu einem Zeitpunkt t0 Ort x(t0 ) und Geschwindigkeit ẋ(t0 ) des Körpers angibt. Die allgemeine Lagrangefunktion für ein System von N Massepunkten im Potential U beschrieben in kartesischen Koordinaten ist L= N X mi #» 2 r˙i − U (r#»1 , . . . , r#N», t) . i=1 2 Die N Euler-Lagrange-Gleichungen für i = 1, . . . , N d ∂L ∂L = #» dt ∂ r˙i ∂ r#»i ergeben wiederum in Übereinstimmung mit dem zweiten newtonschen Axiom: ∂U mi r#¨»i = − #» . ∂ ri 11 Allerdings müssen wir nicht kartesische Koordinaten für die Beschreibung eines Systems verwenden. Wir können beliebige unabhängige Größen wählen, welche die Lage des Systems vollständig beschreiben. Diese bezeichnen wir dann als generalisierte Koordinaten q1 , q2 , . . . , qs . Sie stehen in einer bestimmten Beziehung zu den kartesischen Koordinaten: rij = rij (q1 , . . . , qs , t) , mit i = 1, . . . , N, j = 1, 2, 3 . In diesen Koordinaten sind die Lagrangefunktion und die Wirkung genauso definiert wie in kartesischen Koordinaten. Wiederum fordern wir δS = 0 . Die Koordinatenfunktionen qi (t), welche diese Forderung erfüllen, finden wir als die Lösungen der Euler-Lagrange-Gleichungen: d ∂L ∂L = dt ∂ q̇i ∂qi Es handelt sich dabei um Bewegungsgleichungen in beliebigen Koordinaten. Vorteile einer Formulierung der Mechanik durch ein Variationsprinzip sind: • Das System ist vollständig durch eine skalare Größe L = T − U beschrieben. • Dabei ist die Beschreibung unabhängig von der Wahl der (generalisierten) Koordinaten. • Eine transparente Diskussion von Symmetrien und Erhaltungssätze ist möglich, siehe Kapitel 3. • Dieses Vorgehen kann auf andere Systeme verallgemeinert werden, zum Beispiel in der Feldtheorie. Beispiel: ein Pendel mit beweglicher Aufhängung Wir betrachten eine Masse m1 , die sich frei entlang der x-Achse bewegen kann. Ihre Koordinaten sind somit x1 = x, y1 = 0. Die Geschwindigkeit des Massepunkts ist ẋ1 = ẋ. An diesem Körper ist ein Seil fester Länge l befestigt, an dessen Ende eine zweite Masse m2 im Schwerefeld hängt. Mit ϕ bezeichnen wir den Winkel zwischen dem Seil und der yAchse, entlang derer die Schwerkraft mit konstanter Beschleunigung g wirkt. Dann sind die Koordinaten des zweiten Körpers gegeben durch x2 = x + l sin ϕ und y2 = l cos ϕ. Die Geschwindigkeit ist ẋ2 = ẋ + l cos ϕ ϕ̇ und ẏ2 = −l sin ϕ ϕ̇. Wir treffen also die naheliegende Wahl von (q1 , q2 ) = (x, ϕ) als verallgemeinerte Koordinaten. In diesen müssen wir nun die Lagrangefunktion L = T − U mit T = m21 (ẋ21 + ẏ12 ) + m22 (ẋ22 + ẏ22 ) und U = −m2 g y2 ausdrücken: L= m1 + m2 2 m2 2 2 ẋ + (l ϕ̇ + 2lẋϕ̇ cos ϕ) + m2 gl cos ϕ . 2 2 Nun liefern uns die Euler-Lagrange-Gleichungen in x und ϕ die Bewegung des Systems. 12 Allgemeine Eigenschaften der Lagrangefunktion d • Eichinvarianz, das heißt L(q, q̇, t) ist äquivalent zu L0 (q, q̇, t) = L(q, q̇, t)+ dt f (q, t) . • Additivität: betrachten wir zwei Teilsysteme ohne Wechselwirkung, so ist ihre gemeinsame Lagrangefunktion die Summe der einzelnen Lagrangefunktionen. 2 • Ein freies Teilchen hat in einem Inertialsystem die Lagrangefunktion L = m2 #» r˙ , wobei m > 0 gelten muss, sonst entsteht ein Widerspruch zum Prinzip der kleinsten Wirkung. Die Eichinvarianz hat zur Folge, dass die Beschreibung wie zuvor invariant unter Galilei-Transformation ist. • Ein System von N freien Teilchen besitzt somit aufgrund der Additivität die LaP mi #» ˙2 grangefunktion L = N i=1 2 r . Die Multiplikation mit einem beliebigen Faktor lässt die Euler-Lagrange-Gleichung invariant, deshalb sind nur Massenverhältnisse relevant (vergleiche Kapitel 1). • Besteht eine Wechselwirkung zwischen den N Teilchen, so beschreiben wir diese durch ein Potential U (r#»1 , . . . , r#N», t), das heißt die Lagrangefunktion ist L=T −U = N X mi #» 2 r˙ − U (r#»1 , . . . , r#N», t) . i=1 2 Dabei legt die Form von U die Klasse der betrachteten Systeme fest. Wir bezeichnen ein System als abgeschlossen, wenn U keine explizite Zeitabhängigkeit hat, = 0. Das ist physikalisch äquivalent zu einer unendlich hohen Ausdas heißt ∂U ∂t breitungsgeschwindigkeit der Wechselwirkung. Gleichbedeutend ist außerdem, dass das System invariant unter Zeitumkehr t → −t ist. Das heißt, jede Bewegung läuft reversibel ab. Wenn also r#»i (t) eine mögliche Bewegung ist, so auch r#»i (−t). Diese Bemerkung führt uns direkt zum nächsten Kapitel über Symmetrien in der Physik. 13 3 Symmetrien und Erhaltungssätze Definition 2: Symmetrie Symmetrie bezeichnet die Invarianz unter bestimmten Transformationen. Beispiele: Diskrete Symmetrie: Die Normalparabel y = x2 ist invariant unter Spiegelung an der y-Achse: x 7→ x0 = −x y 7→ y 0 = (−x)2 = x2 = y Kontinuierliche Symmetrie: Ein Kreis um den Ursprung mit Radius R (x2 + y 2 = R2 ) ist invariant unter Drehungen um einen beliebigen Winkel ϕ, da die gedrehten Koordinaten x 7→ x0 = x cos ϕ − y sin ϕ y 7→ y 0 = x sin ϕ + y cos ϕ die Kreisgleichung x02 + y 02 = R2 erfüllen. Symmetrien spielen eine zentrale Rolle in der Physik: Satz 1: Noether-Theorem Eine (kontinuierliche) Symmetrie impliziert eine Erhaltungsgröße. Bevor wir Symmetrien genauer studieren, betrachten wir allgemein ein abgeschlossenes System (d. h. L und U sind nicht zeitabhängig) der folgenden Form: N X ma #» 2 ˙a ) := T − U = L = L(r#»a , r#» r˙a − U (ra ) . a=1 2 Nun wechseln wir zu generalisierten Koordinaten q1 , ..., qs . Jede der drei Koordinaten j des ursprünglichen Vektors r#»a stellen wir als Funktion der neuen Koordinaten qi dar: raj = raj (q1 , ..., qs ), (a = 1, ..., N, j = 1, 2, 3) . 14 Ableiten nach der Kettenregel ergibt die Geschwindigkeit: ṙaj = s X ∂raj q̇k ≡ f1 (qi )q̇1 + ... + fs (qi )q̇s . k=1 ∂qk Somit nimmt die Lagrange-Funktion diese Form an: s 1 X aik (q)q̇i q̇k −U (q) . 2 i,k=1 L= {z | =T (1) } Ohne Einschränkung können wir aik = aki voraussetzen, da alle Terme in der Summe von der Form (a12 + a21 )q̇1 q̇2 sind. Wir wollen die Summe für die kinetische Energie anders schreiben. Dafür benötigen wir Eulers Theorem über homogene Funktionen (unten) und folgende Definition: Definition 3: Homogene Funktion f (xk ) heißt homogene Funktion vom Grad n genau dann, wenn f (αxk ) = αn f (xk ) . (2) Beispiele: • homogen vom Grad 2: f = x21 + x22 + x23 , f = x21 + x1 x2 + x22 • nicht homogen: f = x21 + x2 Wir leiten beide Seiten der Gleichung (2) nach α ab df (αxk ) X ∂f (αxk ) (2) n−1 = xi = nα f (xk ) , dα ∂αxi i multiplizieren mit α X αxi i ∂f (αxk ) (2) = nαn f (xk ) = nf (αxk ) ∂αxi und ersetzen αxj durch xj : Satz 2: Eulers Theorem über homogene Funktionen Für eine homogene Funktion f (xk ) vom Grad n gilt: X i xi ∂f (xk ) = nf (xk ) . ∂xi (3) 15 Beispiel aus der Mechanik: P In Gleichung (1) haben wir für die kinetische Energie T den Ausdruck 12 sj,k=1 ajk (q)q̇j q̇k erhalten. Dabei handelt es sich um eine homogene Funktion zweiten Grades in q̇i , weshalb mit dem Theorem von Euler folgt: s X i=1 q̇i ∂T = 2T . ∂ q̇i (4) 3.1 Energie Symmetrie: Homogenität der Zeit, Invarianz der Bewegungsgesetze unter t 7→ t + t0 . Wir betrachten ein abgeschlossenes System L = L(qi (t), q˙i (t)) = T (qi , q̇i ) − U (qi ) , d. h. es liegt keine explizite Zeitabhängigkeit vor (∂t L = 0). ! X d dL X ∂L ∂L ELG3 X d ∂L ∂L ⇒ = q̇i + q̈i = q̇i + q̈i = dt ∂ q̇i dt ∂ q̇i ∂ q̇i i ∂qi i i dt ∂L q̇i ∂ q̇i ! ! d X ∂L ⇒ q̇i − L = 0. dt i ∂ q̇i Definition 4: Energie Die Erhaltungsgröße ist die Energie: E := X i q̇i X ∂T ∂L −L= q̇i −(T − U ) = ∂ q̇i ∂ q̇i i | 3 {z 2T } Euler-Lagrange-Gleichung 16 T |{z} kin. Energie + U |{z} pot. Energie . (5) 3.2 Impuls #» Symmetrie: Homogenität des Raumes, Invarianz unter Verschiebung r#»a → 7 r#»a + b . Wir betrachten erneut ein abgeschlossenes System in kartesischen Koordinaten r#»a : » − r# ») ˙a ) = T (r#» ˙a ) − U (r#»a ) ≡ T (r#» ˙a ) − U (r#a1 L(r#»a , r#» a2 4 X ∂L wg. Invarianz #» ˙ #» #» ˙ • #» ⇒ L(r#»a + b , r#» = 0 a ) − L(ra , ra ) = b · #» a ∂ ra X ∂L ELG d X ∂L ⇒ = 0 ⇒ #» ˙a = 0 . dt a ∂ r#» a ∂ ra Definition 5: Impuls Die Erhaltungsgröße ist der Gesamtimpuls: X X X ∂L #» #» ˙a = = m r p#»a P := a #» ˙ a a a ∂ ra (6) ˙a . mit dem einzelnen Impuls p#»a := ma r#» Bemerkungen: 1. Aus der Defintion ist ersichtlich, dass ich die einzelnen Impulse additiv verhalten (auch bei Wechselwirkung). P P ∂U P #» 2. 0 = a ∂∂L = − #» = a a Fa , d. h. die Summe aller Kräfte ist Null. Für zwei r#» ∂ r a a #» #» Teilchen ergibt sich das 3. Newton’sche Axiom F1 + F2 = 0 (actio = reactio). 3. In generalisierten Koordinaten L(qi , q̇i , t) (auch mit äußerem Feld) definiere: Generalisierter Impuls: pi = ∂∂L . q̇i ∂L Generalisierte Kraft: Fi = ∂qi . ∂L Falls L unabhängig von qk ist, d. h. ∂q = 0, so ist L invariant unter qk 7→ qk + b . k 4 • Das Symbol „=“ bedeutet „in erster Näherung“. 17 d ∂L Man sagt, qk ist zyklisch. Aus der Euler-Lagrange-Gleichung folgt dt = 0. ∂ q̇k Der Impuls pk ist genau dann erhalten, wenn eine Symmetrie im System vorliegt. Beispiel: Ein Pendel mit beweglichem Aufhängepunkt ist invariant unter Verschiebung in x-Richtung, deshalb ist der Impuls erhalten. 4. Wir wollen den Schwerpunkt eines abgeschlossenen Systems mit U = U (r#»1 − r#»2 ) in kartesischen Koordinaten definieren: Bewegt sich ein Inertialsystem IS’ mit kon#» stanter Relativgeschwindigkeit V gegenüber IS, so gilt: #» v#»a = v#»a 0 + V X #» X #» #» #» X ⇒P = ma v#»a = ma (v#»a 0 + V ) = P 0 + V ma . a a a P #» ma r#»a d #» #» #» a ma va R, mit R = Pa Durch die Wahl von IS’, sodass V = P = , gilt dt a ma a ma #» P 0 = 0. Wir bezeichnen IS’ als das Schwerpunktsystem. Im ursprünglichen #» #» System heißen V Geschwindigkeit des Schwerpunkts und R Koordinaten P #» #» #» des Schwerpunkts. Der Impuls P = ( a ma ) V = M V , mit der Gesamtmasse P M := a ma , ist analog zu p#»a = ma v#»a . Es ergibt sich die Gesamtenergie: P 1X ma v#»a 2 + U = 2 a 1X #» = ma (v#»a 0 + V )2 + U = 2 a 1X #» #» = ma (v#»a 02 + 2v#»a 0 V + V 2 ) + U = 2 a #» #» M #» = E0 + P 0 · V + V 2 . 2 E= Wir definieren die innere Energie im Schwerpunktsystem als Ein := E 0 . #» Somit gilt E = Ein + M2 V . 18 3.3 Drehimpuls Symmetrie: Isotropie des Raumes, • d. h. Invarianz unter räumlichen Drehungen r#»a → 7 Dr#»a = r#»a + δ r#»a . #» parallel zur Drehachse Definiere den Vektor δ ϕ #» = δϕ. Aus der Forderung (Rechtsschraube) mit |δ ϕ| • ! ( #» r + δ #» r )2 = #» r 2 + 2 #» r · δ #» r = #» r2 #» . Aus geometrifolgt #» r · δ #» r = 0 , d. h. δ #» r ⊥ #» r , δϕ schen Überlegungen (siehe nebenstehende Skizze) er#» × #» gibt sich |δ #» r | = r sin ϑ · δϕ und somit δ #» r = δϕ r bzw. δri = ijk δϕj rk . Da δϕ konstant ist, folgt direkt δvi = ijk δϕj vk . Wir betrachten ein abgeschlossenes System, L invariant: ∂L a ∂L a δr + a δvi = 0 ∂ria i ∂vi ! d a d pi ijk δϕj rka + pai ijk δϕj vka = δϕj jki (rka pai ) . dt dt δL = L(ria + δria , via + δvia ) − L(ria , via ) = ⇒0= Definition 6: Drehimpuls Die Erhaltungsgröße ist der (Gesamt-)Drehimpuls: Li := X ijk rja pak bzw. (7) a X X #» #» L := r#»a × p#»a = la a (8) a #» mit dem einzelnen Drehimpuls la := r#»a × p#»a (additiv, auch bei Wechselwirkung). Bemerkungen: #» 1. Verschiebung des Koordinatenursprungs: r#»a = r#»a 0 + b , p#»a = p#»a 0 #» X #»0 #» #» #»0 #» #» ⇒L= ra + b ×pa = L + b × P . a r#» a | {z } #» #» #» Im Schwerpunktsystem gilt P = 0 ⇒ L = L 0 , unabhängig vom Koordinatenursprung. 19 #» #» 2. Wechsel des Inertialsystems IS → IS’: r#»a = r#»a 0 + V t, v#»a = v#»a 0 + V #» X ⇒L= ma r#»a × v#»a = a = X X #» #» X ma V × v#»a 0 t = ma r#»a 0 × v#»a 0 + ma r#»a 0 × V + a a #» r#» a ×V | {z } a #» #» #» #» #» = L 0 + M R × V + V × P 0t . #» #» #» Vom Impuls P = P 0 + M V wissen wir: falls IS’ das Schwerpunktsystem ist, ver#» #» #» schwindet der Gesamtimpuls, d. h. P 0 = 0, also P = M V . #» #» #» #» Für den Drehimpuls gilt L = L0 + R × P , siehe Abbildung: |{z} Energiedrehimpuls Rotierendes IS’ in IS betrachtet. 3. Zylindersymmetrie: Invarianz bezüglich Drehung um die z-Achse: ϕ 7→ ϕ + δϕ d ∂L ELG ∂L ϕ zyklisch ∂L = = 0 =⇒ ist erhalten. dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ ∂ ϕ̇ 1 ∂L L = m(ṙ2 + r2 ϕ̇2 + ż 2 ) − U ⇒ = mr2 ϕ̇ = Lz . 2 ∂ ϕ̇ 4. Noether-Theorem (allgemein): Für eine System, das durch die Lagrange-Funktion L beschrieben wird, gelte unter einer gewissen Transformation von qi und t: Trafo von q , t i L(qi , q̇i , t) −−−−−−−−→ L0 = L + d f (qi , t) . dt d Bei dt f (qi , t) handelt es sich um einen Eichterm. Eine Lagrange-Funktion ist stets nur bis auf einen solchen Summanden eindeutig bestimmt. Deshalb sind L und L0 äquivalent, das heißt das System ist invariant unter der verwendeten Koordinatentransformation. Nun besagt das Noether-Theorem, dass es in einem solchen d System eine Erhaltungssgröße Q gibt, für die gilt: dt Q=0 5. Unabhängige Bewegungskonstanten (= Erhaltungsgrößen): Für die Lagrange-Funktion L(qi , q̇i ) mit i = 1, ..., s liefert die ELG 20 d ∂L dt ∂ q̇i − ∂L ∂qi =0 s Differentialgleichungen 2. Ordnung in t, d. h. es gibt 2s Integrationskonstanten: qi (t) = qi (t − t0 , c1 , ..., c2s−1 ) . In einem abgeschlossenen System ist der Zeitnullpunkt to beliebig. Dies entspricht einer Konstanten, somit bleiben noch 2s − 1 unabhängige Konstanten. Beispiel: Kräftefreie Bewegung entlang der x-Achse. L= m 2 ELG ẋ ⇒ ẍ = 0 ⇒ ẋ(t) = c1 ⇒ x(t) = c1 t + c2 (mit c2 = −c1 t0 ) 2 ⇔ x(t) = c1 (t − t0 ) . Da s = 1 , gibt es (2s−1 = 1) eine Konstante: c1 = ẋ = v . Aus der TransformationsInvarianz unter t folgt E = m2 v 2 , die Invarianz unter x impliziert p = mv . Das heißt, beide sind erhalten, aber nicht unabhängig voneinander. 3.4 Skalenverhalten der Bewegungsgleichungen Definition 7: Skalentransformation Eine Skalentransformation ist eine Koordinatentransformation der Form: r#»a 7→ r#»a 0 = αr#»a und t 7→ t0 = βt . (9) Beispiel: Freier Fall. g g g x = − t2 7→ x0 = − t02 ⇔ αx = β 2 − t2 . 2 2 2 Für α = β 2 erhalten wir eine reskalierte Lösung der Bewegungsgleichung. Aus (9) folgt: dr#»a α #» va = 7→ v#»a 0 = v#»a dt β ⇒ kinetische Energie T 7→ T 0 = α2 T. β2 Unter der Annahme, U ist homogen vom Grad k, d. h. U (r#»a ) 7→ U (αr#»a ) = αk U (r#»a ) gilt: L = T − U 7→ L0 = T 0 − U 0 = falls α2 T − αk U = αk L , β2 α2 = αk bzw. β = α1−k/2 . β2 Es folgt, dass die Euler-Lagrange-Gleichungen unverändert bleiben, somit sind die Bahnen geometrisch ähnlich, siehe Abbildung 1. 21 Abbildung 1: Ähnliche Bahnkurven sind bis auf die Skalierung identisch. Transformation verschiedener Größen: l0 =α l l0 l k t0 = β = αβ− 2 = t !k v0 α l0 2 = = v β l #» ! k +1 0 L l0 2 = #» l L E0 = E l0 l !1− k 2 !k Beispiele: t0 1. k = 1 (freier Fall) ⇒ = t l0 l !1 2 . 2. k = 2 (harmonischer Oszillator) ⇒ t0 = 1. t t0 3. k = 3 (Gravitation, 3. Keplersches Gesetz) ⇒ = t l0 l !3 2 . Nun wollen wir für diese mechanischen Systeme Aussagen über das Verhältnis von kinetischer zu potentieller Energie treffen. Da die betrachteten Systeme abgeschlossen sind, ist die Summe dieser beiden Größen konstant. Deshalb ist es sinnvoll, den mittleren statt des momentanen Werts zu untersuchen. Wir definieren: Definition 8: Arithmetisches Mittel einer Funktion Der zeitliche Mittelwert einer Größe f ist 1Zτ f := τlim f (t)dt . →∞ τ 0 (10) Daraus lässt sich direkt schließen, dass falls f (t) = f = τlim →∞ F (τ ) − F (0) = 0. τ d F (t) dt und ∀t F (t) beschränkt ist: (11) 22 Wir wissen bereits, dass die kinetische Energie homogen vom Grad 2 ist, also (4) 2T = X a X ˙a ∂T (6) ˙a p#»a r#» = r#» #» ˙ ∂ ra a part. Integr. = ! X d X #» #» ˙a . ra pa − r#»a p#» dt a a d P #» #» P ( a ra pa ) = 0. Wenn a r#»a p#»a beschränkt ist, gilt analog zu Gleichung (11): dt Daraus folgt der Virialsatz. Satz 3: Virialsatz (lat. „vis“: Kraft) In einem abgeschlossenen mechanischen System gilt folgende Beziehung zwischen dem zeitlichen Mittelwert der kinetischen (T ) und potentiellen Energie (U ): 2T = − X a ELG X #» ∂U r#»a p#»a = ra #» ∂ ra a (12) Für ein Potential U , welches homogen vom Grad k ist (U (αr#»a ) = αk U (r#»a )) folgt aus P dem Euler-Theorem a r#»a ∂∂U = kU , also 2T = kU . Da die Gesamtenergie eine Err#» a haltungsgröße ist, gilt E = T + U = E. Damit erhält man die vereinfachte Form des Theorems: Satz 4: Virialsatz für ein homogenes Potential In einem abgeschlossenen mechanischen System mit Potential U homogen vom Grad k gelten 2T = kU , U = 2 k E und T = E. k+2 k+2 (13) Beispiele: 1. Harmonischer Oszillator: k = 2: 1 T =U = E. 2 (14) 2. Gravitation: k = −1: 2T = −U , E = T + U = −T < 0 ⇔ gebundenes System. 23 4 Bewegung im Zentralfeld 4.1 Zweikörperproblem Abbildung 2: Zwei Körper üben gegenseitig eine (anziehende) Kraft aufeinander aus. Für ein Zweikörperproblem wie in Abbildung 2 ist die Lagrange-Funktion L=T −U = m1 #» m2 #» 2 2 r˙1 + r˙2 − U (|r#»1 − r#»2 |) . 2 2 m1 r#»1 + m2 r#»2 #» Wir definieren die Schwerpunktskoordinaten R := m1 + m2 und die Relativkoordinaten #» r := r#» − r#» , r := | #» r | . Somit gilt: 1 #» r#»1 = R + 2 m2 #» m1 #» #» r und r#»2 = R − r. m1 + m2 m1 + m2 Dadurch lässt sich die Lagrange-Funktion folgendermaßen ausdrücken: L= m1 + m2 #» 2 ˙ 2 1 m1 m2 #» R + r˙ − U (r) . 2 2 m1 + m2 #» #» Es folgt, dass R zyklisch sowie R(t) gleichförmig ist. Wir können die Euler-Lagrange#» Gleichungen für R und #» r entkoppeln und getrennt voneinander lösen. Daraus folgt #¨» unmittelbar R = 0 , d. h. der Gesamtimpuls ist erhalten. Nun betrachten wir nur noch die Euler-Lagrange-Gleichung für #» r . Zur weiteren Vereinfachung definieren wir: Definition 9: Reduzierte Masse Als reduzierte Masse zweier Massen m1 und m2 bezeichnet man m := m1 m2 1 1 1 ⇔ = + . m1 + m2 m m1 m2 Sie ist symmetrisch (in m1 und m2 ) und m = m1 (15) m2 < m1 (deshalb „reduziert“). m1 + m {z 2} | <1 Es ergibt sich die Lagrange-Funktion in den Relativkoordinaten #» r: L= m #» 2 r˙ − U (r) . 2 Dadurch haben wir das Zweikörperproblem zurückgeführt auf die Bewegung eines Teilchens #» r mit reduzierter Masse m im äußeren Potential U (r) . 24 4.2 Lösung der Bewegungsgleichung Definition 10: Zentralkraftfeld U (r) heißt Zentralfeld oder Zentralpotential, wenn es nur vom Abstand r abhängt. √ Der (euklidische) Abstand ist r = x2 + y 2 + z 2 . ∂r Ableiten nach der x-Koordinate liefert ∂x = xr . Dies #» gilt analog auch für y und z. Es folgt ∂∂r#»r = rr . Damit ist in einem Zentralfeld die Kraft als negativer #» #» r Gradient des Potentials F = − ∂U∂ #»(r) = − dU zum r dr r Abstand r invers proportional. Die Isotropie des Raumes impliziert die Drehimpulserhaltung, was wir durch die Lagrangefunktion #» überprüfen können (siehe unten). Aus l = #» r × #» p = #» #» #» const. und r ⊥ l folgt, dass die Bahn r (t), auf der sich das Teilchen bewegt, in einer Ebene ver#» läuft. (Den Spezialfall, dass l = 0, somit #» r k #» p, d. h. die Bewegung geradlinig durchs Zentrum verläuft, betrachten wir hier nicht.) Durch die Verwendung von Polarkoordinaten (x = r cos ϕ, y = r sin ϕ, z = 0) erhält die Lagrange-Funktion diese Form: L= m m #» 2 r˙ − U (| #» r |) = (ṙ2 + r2 ϕ̇2 ) − U (r) . 2 2 Diese Funktion ist nicht explizit von ϕ abhängig, d. h. ϕ ist zyklisch. Also folgt aus der Euler-Lagrange-Gleichung direkt ∂L = mr2 ϕ̇ = lz =: l = const. ∂ ϕ̇ Wir haben erneut gezeigt, dass der Drehimpuls erhalten ist. 25 Bemerkungen: • Fläche unter dem Fahrstrahl (siehe Abbildung 3): 1 dA 1 l dA = (r · r)dϕ =⇒ Ȧ = = r2 ϕ̇ = = const. 2 dt 2 2m Dieses Ergebnis, dass #» r (t) in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht, wird als Flächensatz bezeichnet und ist die Aussage des 2. Keplerschen Gesetzes. Abbildung 3: Die vom Fahrstrahl eingeschlossene Fläche dA zwischen den Zeitpunkten t und t + dt. #» = 0 sind erhalten, d. h. • Die (ersten) Bewegungsintegrale l , l, und E ⇔ ∂L ∂t ihre Werte bleiben konstant und hängen nur von den Anfangsbedingungen ab. Wir fassen diese Erhaltungsgrößen zusammen: m E = (ṙ2 + r2 ϕ̇2 ) + U (r) m l2 2 ⇒ E = ṙ2 + + U (r) 2 2mr2 l = mr2 ϕ̇ m ⇒ E = ṙ2 + Ueff (r) . 2 (16) (17) Definition 11: Effektives Potential Das effektive Potential ist die Summe von Zentral- und Zentrifugalpotential: Ueff (r) := U (r) + l2 . 2mr2 (18) Damit erhalten wir eine eindimensionale Bewegung. 26 Abbildung 4: Schematische Darstellung des effektiven Potentials eines 1r -Potentials Wir betrachten nun ein attraktives 1r -Potential, z. B. ein Gravitationspotential. Dann hat das effektive Potential die in Abbildung 4 dargestellte Form. An den Schnittpunkten der Äquipotentiallinien E1/2/3/4 mit dem Potential Ueff , den Umkehrpunkten, gilt E = Ueff (r) ⇒ ṙ = 0 (aber i. A. ϕ̇ 6= 0). Gibt es genau einen Schnittpunkt wie in E1 , so ist die Bewegung infinit und die Bahn ungebunden. Das bedeutet, ein Körper „fliegt“ am anderen Körper vorbei und entfernt sich anschließend von diesem (Abb. 5). Der Fall E2 = 0 beschreibt einen Sonderfall davon. Gibt es hingegen zwei Umkehrpunkte wie in E3 , so umkreisen sich die Körper gegenseitig (Abb. 6). Man spricht von einer finiten Bewegung, wenn alle Bahnen für beliebige E und l geschlossen sind. Dies ist nur im Fall U ∝ r−1 oder U ∝ r−2 möglich. Außerdem muss ∆ϕ (siehe Gleichung 22 unten) ein rationales Vielfaches von 2π sein. Der Fall E4 mit r = const. entspricht dem Spezialfall einer Kreisbahn. Abbildung 5: Die infinite Bewegung zum Niveau E1 . Abbildung 6: Die finite, rosettenförmige Bewegung zum Niveau E3 . 27 Um die Lösung der Bewegungsgleichung eines Teilchens im Zentralfeld zu erhalten, formen wir die beiden Gleichungen aus (16) um: dt = ± q dϕ = dr 2 (E m − U (r)) − l2 m2 r 2 (19) , l dt . mr2 (20) Daraus ergibt sich r(t) und ϕ(t) (monoton steigend). Durch Auflösen nach dt und Gleichsetzen erhält man die Bahn r = r(ϕ) aus ϕ=± l dr r2 Z q 2m(E − U (r)) − l2 r2 + const. (21) Dies ist die allgemeine Lösung. Damit haben wir das Problem auf Quadraturen reduziert, also praktisch gelöst. Der Vorzeichenwechsel findet in den Umkehrpunkten statt, siehe Abbildung 7. Aus Gleichung 21 berechnen wir die Winkeländerung bei einer finiten Bewegung von rmax nach rmin und zurück. Dafür verwenden wir, dass die Bahnabschnitte symmetrisch sind unter ϕ ↔ −ϕ, d. h. wir können von einem Bahnabschnitt zwischen rmin und rmax bereits auf die komplette Bahn schließen: ∆ϕ = 2 Z rmax rmin f (r) dr , mit f (r) = l/r2 q 2m(E − U (r)) − l2 r2 Abbildung 7: Der Vorzeichenwechsel in ϕ beim Durchlaufen der Bahn. 28 (22) 4.3 Kepler-Problem Das Potential hat, wie in Abbildung 4, die Form α U (r) = − , α > 0 , (23) r l2 α Ueff (r) = − + . (24) r 2mr2 Das Integral in Gleichung 21 bezeichnen wir mit I. Um es zu berechnen, verwenden wir die Substitution u = 1r ⇒ du = − dr : r2 I=− l du Z =− du Z = 2 2m(E − U (1/u)) − l2 u2 + 2mα − u 2 l Z 2mE du 2mα , mit c1 = 2 , c2 = 2 , c3 = −1 . =− √ l l c1 + c2 u + c3 u2 q Aus der Mathematik ist bekannt: c2 + 2c3 u 1 = arccos − q −c3 c22 − 4c1 c3 = arccos l2 mαr q −1 1+ 2El2 mα2 2mE l2 1 d arccos x = −√ . Daraus folgt die Lösung: dx 1 − x2 I=√ q = arccos p r 2mα l2 q arccos − 4m2 α2 l4 −1 e − 2 r + 4 2mE l2 ! . Im letzten Schritt verwenden wir die Exzentrizität der Bahn s e := 1+ 2El2 mα2 (25) und den Parameter der Bahn l2 . mα Dadurch ergibt sich die Bahngleichung: (26) p := p = 1 + e cos ϕ r (27) Das bedeutet, die möglichen Bahnen entsprechen Kegelschnitten mit dem Brennpunkt im Ursprung: E e >0 >1 Hyperbel =0 =1 Parabel <0 = (Ueff )min <1 =0 Ellipse Kreis Der Punkt des kürzesten Abstands rmin zum Ursprung ist das Perihel. Aufgrund der Wahl der Integrationskonstante wird r = rmin genau bei ϕ = 0 erreicht. 29 Nun wollen wir die vier möglichen Bahnen einzeln studieren. Fall e = 0: Das effektive Potential Ueff = − α l2 α dUeff l2 ! + = ist minimal, d. h. − = 0. r 2mr2 dr r2 mr3 l2 = p = const. (siehe die Definition von p in (26)), d. h. Auflösen nach r liefert r = mα der Radius ist konstant: es handelt sich um eine Kreisbahn. Wegen ṙ = 0 impliziert mα2 Gleichung 17: Ueff (p) = − 2 = E. Einsetzen in die Definition der Exzentrizität (25) 2l ergibt e = 0 . Fall e < 1: Wir wollen nachweisen, dass die Bahn eine Ellipse beschreibt, wie es das 1. Keplersche Gesetz vorhersagt. Die Bahn hat nach Gleichung 27 in Polarkoordinaten die Form r(ϕ) = p . 1 + e cos ϕ Den Punkt der kürzesten Entfernung vom Zentralgestirn r(0) = p = a(1 − e) = rmin 1+e bezeichnen wir als Perihel, den Punkt der größten Entfernung r(π) = p = a(1 + e) = rmax 1−e als Aphel. Mit der Beobachtung r( π2 ) = p können wir die große und kleine Halbachse berechnen: α p = , 2 1−e 2|E| p l b= √ =q . 2 1−e 2m|E| (28) a= (29) Man beachte, dass der Wert der großen Halbachse a unabhängig vom Drehimpuls l ist. Wir erhalten die Darstellung einer Ellipse in kartesischen Koordinaten (Abb. 8). 30 Abbildung 8: Eine ellipsenförmige Bahn in kartesischen Koordinaten. Für e 1 gilt a = b = p (bis auf Terme der Ordnung e2 ), aber der Abstand vom Kraftzentrum zum Kreismittelpunkt ist gegeben durch ae, hängt also von e nur in erster Ordnung ab. Damit ergibt sich eine Perihelverschiebung wie in Abbildung 9. Wir berechnen mit Gleichung 22 den Winkel eines kompletten Bahndurchlaufs ∆ϕ = 2 Z rmax f (r)dr = rmin " p r !#r max −1 = = 2 arccos e rmin −e e = 2 arccos − arccos = Abbildung 9: Der Mittelpunkt ist vere e schoben, aber die Bahn ist = 2π . kreisförmig. Demnach ist die Bahn trotzdem geschlossen. l = const. Integration Sei nun die Umlaufzeit T . Die Flächengeschwindigkeit ist Ȧ = 2m l liefert A = 2m T . Aus der Geometrie ist für den Flächeninhalt einer Ellipse die Formel A = πab bekannt. Daraus folgt: s 2mπab 2mπ α l m m 3/2 q T = = = πα = 2π a 3 l l 2|E| 2m|E| 2|E| α r ⇒ T 2 ∝ a3 . Dies entspricht dem 3. Keplerschen Gesetz. Außerdem ist die Umlaufzeit T (E) unabhängig vom Drehimpuls l. Betrachten wir das System nochmal als 2-Körper-Bewegung im Schwerpunktsystem #» #» #» 2 1 ( R = 0), dann beschreiben die Bahnen r#»1 = m1m+m r und r#»2 = − m1m+m r ebenfalls 2 2 Ellipsen. Falls m2 deutlich größer als m1 ist, folgt näherungsweise r#»1 = #» r und r#»2 = 0. Diese Näherung ist für das Sonnensystem zweckmäßig, aber nicht für z. B. Doppelsternsysteme, bei denen die beiden Massen von der gleichen Größenordnung sind. 31 Fall e = 1: Wir wollen nachweisen, dass es sich um eine Parabel handelt. Die Bahn ist r= p . 1 + cos ϕ Dann ist der minimale Abstand rmin = p/2, allerdings ist der Abstand nach oben unbeschränkt. Wir transformieren die Polarkoordinaten in kartesische Koordinaten durch x = r sin ϕ und y = p2 − r cos ϕ. Dadurch ergibt sich eine Parabelform: cos ϕ = 1 + cos ϕ 1 − cos ϕ = p2 = 1 + cos ϕ sin2 ϕ = p2 = (1 + cos ϕ)2 = x2 2py = p2 − 2p2 ⇒ y= x2 2p Abbildung 10: Der Spezialfall einer ungebundenen Bahn: die Parabel. Fall e > 1: Die Bahn ist eine Hyperbel mit dem minimalen Brennpunktabstand rmin = p ≡ a(e − 1) , 1+e wobei gilt a= e2 p α = . −1 2E Abbildung 11: Die allgemeine ungebundene Bahn: die Hyperbel. 32 Spezialfälle: • Im Fall der Ellipsenbahn (E < 0), wollen wir die Zeitabhängigkeit betrachten: s r = a(1 − e cos ξ), t = 1 e (27) ⇒ cos ϕ = ma3 (ξ − e sin ξ) für 0 < ξ < 2π bzw. 0 < t < T α ! p −1 a(1 − e cos ξ) Wir zeigen, dass das stimmt: dr = ae sin ξ dξ dt = dξ s ma3 r r ⇒ dt = rdr ma q , α a2 e2 − (r − a)2 α a analog zu (19) mit der Exzentrizität e (25) und der großen Halbachse a (28). • Im Fall eines abstoßenden Potential U = − αr mit α < 0 gilt: p = −1 + e cos ϕ r l2 p= , m|α| das heißt, es ist nur E > 0 bzw. e > 1, erlaubt. Wie erwartet, sind nur ungebundene Bahnen, d. h. Hyperbeln, möglich. Dies erkennt man auch daran, dass das effektive Potential Ueff kein Minimum annimmt, siehe nebenstehende Grafik. • Im Fall des 1/r-Potentials definieren wir den Lenz-Runge-Vektor: #» r #» #» Q := #» p × l − mα , r #» ( l = #» r × #» p). d #» Dies ist eine Erhaltungsgröße, d. h. dt Q = 0. Der Vektor beschreibt die PerihelRichtung. Das bedeutet, (nur) beim 1/r-Potential ist das Perihel konstant. Außerdem erfüllt der Vektor die Bedingungen #» #» #» l · Q = 0 und Q2 = m2 α2 + 2mEl2 = m2 α2 e2 . (30) Wir wissen, es gibt 2s − 1 unabhängige Erhaltungsgrößen. Mit den drei Freiheits#» #» graden rx , ry , rz gilt s = 3, also 2s − 1 = 5. Allerdings entsprechen E, l , Q schon 7 Erhaltungsgrößen. Abzüglich der beiden Bedingungen in (30) ergeben sich die vorhergesagten 5 unabhängigen Größen. 33 4.4 Streuung In diesem Kapitel studieren wir die Streuung von zwei Teilchen unter der Annahme, dass der Stoß elastisch verläuft. Definition 12: Elastischer Stoß Ein Stoß heißt elastisch, wenn sich die inneren Energien der Stoßpartner nicht ändern. Wir betrachten die Situationen zunächst im Schwerpunkt#» system, d. h. R = 0, mit #» r = r#»1 − r#»2 , m2 #» r, r#»1 = m1 + m2 r#»2 = −m1 #» r m1 + m2 und den Geschwindigkeiten #» » − v# » = #» v = v#10 r˙ , 20 m2 #» »= v#10 v, m1 + m2 Dabei zeigt der Index tem befinden. 0 »= v#20 −m1 #» v. m1 + m2 an, dass wir uns im Schwerpunktsys- » + p# » = 0 gilt, so impliziert dies Es gilt die Impulserhaltung, d. h. wenn „vorher“ p# 10 20 »0 + p# »0 = 0 „nachher“. Größen nach dem Stoß bezeichnen wir mit einem Strich 0 . p# 10 20 Wir nehmen an, dass für t = ±∞ keine Wechselwirkung zwischen den Teilchen vorliegt. Das bedeutet, in großer zeitlicher Entfernung vor und nach dem Stoß verfügen die Stoßpartner nur über kinetische Energie und nicht über potentielle Energie. Deshalb folgt aus der Energieerhaltung: »| = |p# »| = |p# »0 | = |p# »0 | . |p# 10 20 20 10 Bei einem elastischen Stoß ändern sich die Massen nicht, also gilt auch: 0 0 v10 = v10 , v20 = v20 . Wir führen einen Einheitsvektor n#»0 (kn#»0 k = 1) ein, sodass gelten: »0 = v#10 m2 v n#»0 , m1 + m2 »0 = v#20 −m1 v n#»0 . m1 + m2 Wir wollen nun ein Laborsystem wählen, welches die weiteren Rechnungen vereinfacht. Dafür erinnern wir uns zunächst, dass allgemein die Schwerpunktgeschwindigkeit gegem2 #» m1 v#»1 + m2 v#»2 #» ben ist durch V = . Dann gilt nach dem Stoß v#»1 0 = v n#»0 + V und m1 + m2 m1 + m2 −m1 #» #» #» 0 v n0 + V . v2 = m1 + m2 34 Multiplizieren wir die Geschwindigkeiten mit den Massen m1 bzw. m2 , so erhalten wir die Impulse: p#»1 0 = +mv n#»0 + #» 0C | {z } m1 (p#»1 + p#»2 ) , m 1 + m2 | {z } #» A0 m2 (p#» + p#»2 ) p#»2 0 = −mv n#» + | {z 0} m1 + m2 1 #» C0 Skizze | #» 0B {z } m1 m2 . mit der reduzierten Masse m = m1 + m2 # » Außerdem ist AB = p#»1 + p#»2 = p#»1 0 + p#»2 0 . Das Laborsystem wählen wir so, dass p#»2 = 0 , d. h. die Masse 2 ruht vor dem Stoß. m2 #» #» m1 v#»1 = m #» v sowie 0C = mv n#»0 , also Dann gilt v#»1 = #» v und damit 0B = m1 + m2 #» |A0| m1 #» #» |0B| = |0C| und # » = . m2 |0B| Für m1 > m2 ergibt sich nach dem Stoß die links dargestellte Situation im Laborsystem des leichteren Teilchens. Die Ablenkwinkel in der Grafik beschreiben: χ: Teilchen 1 im Schwerpunktsystem ϑ1 : Teilchen 1 im Laborsystem ϑ2 : Teilchen 2 im Laborsystem Aufgrund der Wahl des Laborsystems, befindet sich das System nach dem Stoß in der links abgebildeten Situation. 35 Wir betrachten die nebenstehend dargestellten geometrischen Überlegungen. Es handelt sich bei 40BC #» #» um ein gleichseitiges Dreieck (|0B| = |0C|) mit ]0BC = ]BC0 = ϑ2 . Daraus folgt einerseits #» # » |0C| sin χ |CP | = tan ϑ1 = # » #» = #» #» |A0| + |0P | |A0| + |0C| cos χ = 1 Die Geometrie des elastischen Stoßes. #» |0B| # » sin χ |A0| #» # » cos χ + ||0B| A0| = m2 sin χ m1 + m2 cos χ (31) und außerdem ϑ2 = π−χ . 2 Wir unterscheiden drei Fälle: • m1 > m2 : ϑ1 + ϑ2 < 2 sin ϑmax = m . m1 • m1 < m2 : ϑ1 + ϑ2 > π 2 π 2 ; ϑ1 ≤ ϑmax ; ; ϑ1 beliebig. • m1 = m2 : ϑ1 + ϑ2 = π2 , also ein rechtwinkliger Stoß. Aus ϑ2 = π−χ 2 folgt ϑ1 = χ2 . Mit Hilfe der Abbildung 12 erkennt man: v10 = v cos χ2 und #» #» v20 = v sin χ2 . Es gilt |A0| = |0B|, d. h. alle drei Punkte A, B, C liegen auf einem Kreis um den Ursprung 0. Abbildung 12: Elastischer Stoß gleichen Massen. mit Wir betrachten zwei Grenzfälle für χ mit beliebigen Massen: • χ = 0 : p#»1 0 = p#»1 , p#»2 0 = p#»2 = 0, d. h. es findet kein Stoß statt. • χ = π: zentraler Stoß, Rückwärtsstreuung im Schwerpunktsystem. m1 v#»1 0 = p#»1 0 = −m #» v + m1 m1 − m2 v = v m1 #» m1 #» m1 + m2 m1 + m2 m1 − m2 #» ⇒ v#»1 0 = v m1 + m2 2m1 #» v. v#»2 0 = m1 + m2 Im Fall m1 = m2 folgt v10 = 0 und v2 = v, d. h. das erste Teilchen hat seinen Impuls komplett auf den Stoßpartner übertragen. 36 Berechnung des Ablenkwinkels χ Zur Berechnung des Winkels χ im Schwerpunktsystem (vgl. Abb. 13) beobachten wir zunächst, dass er dem Ablenkwinkel χ im reduzierten Einkörperproblem (vgl. Abb. 14) entspricht. Der Verbindungsvektor #» r zwischen den beiden Stoßpartnern rotiert um χ0 = π − χ . Diesen Winkel χ0 bezeichnen wir als Streuung um χ. Zunächst betrachten wir den Stoß als reduziertes Einkörperproblem. In den Abbildungen wirkt das Potential abstoßend, deshalb gilt χ = π − 2ϕ0 . Bei einem anziehenden Potential würde χ = 2ϕ0 − π gelten. Den Abstand b nennen wir Stoßparameter. Nun berechnen wir mit Gleichung 22 den Winkel ϕ0 = l dr r2 Z ∞ rmin q 2m(E − U (r)) − l2 r2 . 2 und Aufgrund des Zusammenhangs E = m2 v∞ l = mv∞ b können wir die Energie E sowie den Drehimpuls l durch die Geschwindigkeit im Unendlichen v∞ und den Stoßparameter b ersetzen. Damit ergibt sich: ϕ0 = Z ∞ rmin q 1 b dr r2 2 − rb2 − UE(r) Abbildung 13: Ablenkwinkel χ im Schwerpunktsystem. . Abbildung 14: Einkörperproblem zur Beschreibung der Ablenkung. Das bedeutet, χ = |π − 2ϕ0 | = χ(b) hängt nur vom Stoßparameter b ab. Wir nehmen an, dass es auch einen umgekehrten Zusammenhang b = b(χ) gibt. Der Wirkungsquerschnitt σ Um den Stoß nun auch im Dreidimensionalen betrachten zu können, führen wir zunächst Polarkoordinaten ein (Abb. 15). Das Problem ist rotationssymmetrisch entlang der horizontalen Achse (Abb. 16). In diesen Koordinaten entspricht der Raumwinkel dem Flächenelement auf der Einheitskugel: d2 Ω = sin ϑ dϑ dϕ . Aufgrund der Isotropie können wir ϕ einfach über den kompletten Kreisumfang von 0 bis 2π integrieren und erhalten dΩ = 2π sin ϑ dϑ . (32) 37 Abbildung 15: Stoß in der Ebene. Abbildung 16: Stoß in drei Dimensionen. Eine weitere Integration nach ϑ liefert den vollen Raumwinkel: Ω= Z π 0 2π sin ϑ dϑ = −2π cos ϑ|π0 = 4π . (33) Wir definieren den (differentiellen) Wirkungsquerschnitt dσ := dN . j Dabei bezeichnet j die Intensität, d. h. die Anzahl der einlaufenden Teilchen pro Zeit und Fläche (senkrecht zur Bewegungsrichtung). dN ist die Zahl in dΩ gestreuter Teilchen pro Zeit. Abbildung 17: Fliegt ein Teilchen durch den linken Ring, wird es unter dem angedeuteten Winkel rechts gestreut. Nehmen wir nun an, dass b(χ) monoton ist. Das bedeutet, nur Teilchen mit einem Stoßparameter im Intervall [b, b + db] werden unter einem Winkel im Intervall [χ, χ + dχ] gestreut. Daraus folgt dN = 2π b db j (Anzahl der Teilchen, die durch eine Kreisscheibe der Dicke db fliegen) und somit db(χ) dN (32) b(χ) db(χ) dσ = = 2π b db = 2π b(χ) dχ = dΩ , j dχ sin χ dχ 38 (34) wobei wir im letzten Schritt Gleichung 32 verwenden, mit χ statt ϑ und nach dϑ bzw. dχ umgestellt. Das geht, da im Schwerpunktsystem ϑ = χ gilt. Abbildung 18: Teilchen mit kleinerem Stoßparameter werden stärker abgelenkt. Abbildung 19: Es gilt ϑ ∈ [0, π]. 39 Beispiel: Streuung an einer harten Kugel mit Radius a. ( Das Zentralpotential ist in diesem Fall sehr einfach: U (r) = ∞, r < a, 0, r > a. Der Stoßparameter lässt sich geometrisch berechnen (siehe Abbildung rechts): b = a sin ϕ0 = a sin π−χ = a cos χ2 , 2 db a = − sin χ2 . dχ 2 Dies setzen wir in (34) ein: b(χ) db(χ) dΩ = dσ = sin χ dχ a cos χ2 a a2 = sin χ2 dΩ = dΩ . sin χ 2 4 Damit ist der differentielle Wirkungsquerschnitt dσ a2 = , dΩ 4 (35) d. h. die Streuung im Schwerpunktsystem ist isotrop. Durch Integration erhalten wir den totalen Wirkungsquerschnitt σ= Z dσ dΩ . dΩ (36) Er entspricht der Größe der effektiven Fläche, auf die ein Teilchen treffen muss, damit eine Ablenkung stattfindet. Für dieses Beispiel berechnen wir: σ= Z 2 dσ (33,35) a dΩ = · 4π = πa2 , dΩ 4 also die Fläche des Kugelquerschnitts. Um den Wirkungsquerschnitt im Laborsystem herauszufinden, rechnen wir mit der Formel aus Gleichung 31 den Winkel χ in ϑ1 um. Dann folgt das Ergebnis aus dσ dσ dΩ = dΩ1 dΩ dΩ1 mit dΩ = 2π sin χ dχ und dΩ1 = 2π sin ϑ1 dϑ1 . 40 Rutherford-Streuung Eine wichtige Anwendung der in diesem Kapitel erarbeiteten Theorie ist das Experiment von Rutherford. Dabei werden (zweifach positiv geladene) Helium-4-Kerne auf eine Goldfolie geschossen. Die Wechselwirkung findet zwischen den Helium-Kernen und (ebenfalls positiv geladenen) Atomkernen der Goldfolie statt. Aufgrund des Coulomb-Felds besteht ein Potential U = − αr mit α < 0 . Anstelle der Betrachtung im Schwerpunktsystem, fassen wir diesen Stoßprozess (äquivalent) als reduziertes Ein-Körper-Problem wie in Abbildung 14 auf. Dafür kennen wir bereits die Bahngleichung 27: p = −1 + e cos ϕ r q 2 mit Exzentrizität e = 1 + 2El > 1 (25). Die Stoßpartner haben den kürzesten Abstand mα2 r = rmin für ϕ = 0. Um den Stoßparameter b herauszufinden, berechnen wir den Winkel ϕ0 , der sich ergeben würde, wenn die Entfernung der Teilchen unendlich groß wäre (Limes r → ∞). Im Grenzfall verschwindet der Quotient pr → 0 und aus der Bahngleichung wird 1 = e cos ϕ0 . Wir berechnen |α| 2 b 1 1 mv∞ cos ϕ0 = = q =r 2 . 2 e α 1 + 2El 1 + mv2 b mα2 ∞ 2 und l = mv∞ b . Mit den mathematischen Im letzten Schritt verwenden wir E = m2 v∞ sin 2 2 Identitäten tan = cos und sin + cos = 1 folgt tan2 ϕ0 = 4 1 − cos2 ϕ0 m2 v∞ sin2 ϕ0 = = b2 . cos2 ϕ0 cos2 ϕ0 α2 Unter Verwendung von ϕ0 = π−χ und tan π−χ = cot χ2 finden wir den zentralen Zusam2 2 menhang zwischen Stoßparameter und Ablenkwinkel: b= |α| χ cot 2 mv∞ 2 Wir beobachten: χ → 0 =⇒ b → ∞ , χ → π =⇒ b → 0 . Um ins Schwerpunktsystem zu wechseln, verwenden wir Gleichung 34: dσ b(χ) db(χ) = . dΩ sin χ dχ 41 d cot χ2 1 1 =− dχ 2 sin2 χ 2 cos χ2 cot χ2 1 1 = χ χ χ = sin χ sin 2 · 2 sin 2 cos 2 2 sin2 χ 2 Mit der Ableitungsregel (hier wurde cot = cos sin sowie der Umformung , und die trigonometrische Identität (43, unten) verwendet) folgt dσ α2 1 = 4 sin4 dΩ 4 m2 v∞ χ 2 . Bei dem Rutherford-Experiment ist das Target (Goldatome, m2 ) deutlich schwerer als das Projektil (Heliumkerne, m1 ). Deshalb entspricht die reduzierte Masse m näherungsweise der Projektilmasse (m = m1 ), die Stoßwirkung auf das Target kann vernachlässigt werden. Damit entspricht der Ablenkwinkel des leichteren Teilchens dem Ablenkwinkel im Schwerpunktsystem: χ = ϑ1 . Aus dieser Beobachtung folgt mit der kinetische Energie 2 die Rutherford-Formel: des Projektils E1 = m21 v∞ dσ α2 1 = 2 dΩ1 16 E1 sin4 ϑ21 (37) Diese Formel gilt sowohl für ein anziehendes (α > 0), als auch ein abstoßendes CoulombFeld (α < 0). Wenn wir den totalen Wirkungsquerschnitt nach Gleichung 36 berechnen: σ= Z dσ dΩ1 , dΩ1 so stellen wir fest, dass das Integral aufgrund des Terms sin4 ϑ21 im Nenner divergiert. Das lässt sich mit der unendlichen Ausbreitung des Coulomb-Felds U (r) ∝ 1r erklären. Für die Praxis stellt die Unbestimmtheit des Integrals allerdings kein Problem dar, da es sich um eine Idealisierung handelt, die lediglich „nah“ am Atomkern gültig ist. Durch die Elektronen in der Hülle wird das elektrische Feld der Goldkerne abgeschirmt, also besteht außerhalb der Goldfolie kein Potential. In der Nähe des Kerns ist die Wirkung der Elektronen bei diesem Experiment vernachlässigbar. Ein zentrales Ergebnis aus dem Rutherford-Versuch ist die Beobachtung, dass Rückwärtsstreuung auftritt. Bei einer homogenen Massenverteilung im Atom wäre das nicht (oder weniger stark) der Fall. Deshalb muss der positiv-geladene Atomkern „sehr schwer“ sein. Durch die Variation von ϑ1 lässt sich die Rückstreuung unter verschiedenen Winkeln konkret messen. So ergibt sich bspw. für ϑ1 = π der endliche Wirkungsquerschnitt α2 dσ = . dΩ 16 E12 Aus diesen Berechnungen kann, zusammen mit den Informationen über die einlaufenden und auslaufenden Teilchen, das Potential im Atom untersucht werden. Deshalb handelt es sich um ein Schlüsselexperiment bei der Erforschung des Aufbaus von Atomen. 42 5 Kleine Schwingungen 5.1 Eindimensionale Schwingungen Zunächst betrachten wir ein abgeschlossenes System mit einer generalisierten Koordinate q. Die Lagrangefunktion für dieses System ist L = 12 a(q)q̇ 2 − U (q) . Wir nehmen an, es gibt eine Gleichgewichtslage bei q0 , d. h. ∂U (q0 ) = 0. Also ist ei∂q ne mögliche Lösung der Bewegungsgleichung q(t) = q0 = const. Die konstante Lösung ist allerdings nicht sonderlich interessant, deshalb betrachten wir im Folgenden „kleine“ Auslenkungen um dieses Minimum. Diese Auslenkung beschreiben wir durch die neue Koordinate x := q−q0 . Die Geschwindigkeit ist ẋ = q̇ . Schematische Darstellung eines Potentials Nun entwickeln wir das Potential um die Gleichgewichtslage: U (q) = U (q0 ) + | {z } irrelevant ∂U 1 ∂ 2U (q0 )x + (q0 )x2 +O(x3 ) , ∂q 2 ∂q 2 | {z =0 } | {z } =: k2 x2 wobei x so klein sein soll, dass wir die Terme der Ordnung x3 vernachlässigen können. Wir betrachten den verbleibenden kinetischen Term: 1 1 1 a(q)q̇ 2 = a(q)ẋ2 = a(q0 )ẋ2 + O(xẋ2 ) . | {z } 2 2 |2 {z } vernachlässigbar =: m x˙2 2 Daraus ergibt sich die allgemeine Lagrangefunktion des harmonischen Oszillators für kleine Auslenkungen in einer Koordinate: L= m 2 k 2 ẋ − x 2 2 (38) Bemerkungen: • Falls x kartesisch ist, so handelt es sich bei m um die Masse, andernfalls um einen analogen Parameter. = • Durch Ableiten des Potentials U (x) = k2 x2 erhalten wir die Kraft F = − ∂U ∂x −kx . Dieser lineare Zusammenhang zwischen Kraft F und Auslenkung x wird als Hooke’sches Gesetz bezeichnet. Das negative Vorzeichen kommt daher, dass die Gleichgewichtslage stabil ist, somit wirkt die Kraft zurückstellend. 43 • Die Konstante k bezeichnet man als Federkonstante. 2 Sie ist notwendigerweise positiv, da sie definiert ist als k = ∂∂qU2 und dieser Ausdruck ist bei einem stabilem Gleichgewicht größer als null. Ansonsten wäre es ein Widerspruch zur Annahme, dass x eine kleine Auslenkung ist. Aus der Euler-Lagrange-Gleichung erhalten wir die Bewegungsgleichung: s mẍ + kx = 0 ⇔ 2 ẍ + ω x = 0 Kreisfrequenz ω := k . m Es handelt sich um eine lineare, homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung in x mit konstanten Koeffizienten. Zur Lösung verwenden wir den Exponentialansatz x ∝ eλt . Es folgt: eλt (λ2 + ω 2 ) = 0 ⇔ λ2 = −ω 2 ⇔ λ = ±iω . Daraus ergibt sich die allgemeine Lösung: x(t) = c1 eiωt + c2 e−iωt (39) Wir erhalten andere, reelle Basisfunktionen durch die eulerschen Formeln 1 iωt 1 iωt e + e−iωt = cos ωt und e − e−iωt = sin ωt . 2 2i In dieser Basis ist die allgemeine Lösung: x(t) = a1 cos ωt + a2 sin ωt ⇔ x(t) = a cos(ωt + α) = a sin α} sin ωt , {z α} cos ωt |−a {z | cos a1 (40) (41) a2 q mit der Amplitude a = a21 + a22 und der Phase α, tan α = − aa12 . Oft ist es sinnvoll, dies durch die komplexe Exponentialfunktion auszudrücken: x(t) = Re(A eiωt ) = a cos(ωt + α) . 44 Dabei wird A = a eiα ∈ C als komplexe Amplitude bezeichnet, da |A| = a gilt. In jeder Lösung für x(t) kommen zwei unabhängige Konstanten vor, welche durch die Anfangsbedingungen festgelegt werden. — Beispiel: Sei x(t) wie in (39) mit den Anfangsbedingungen ) ( x 0 = c1 + c2 x0 =⇒ c1 = c2 = x(0) = x0 , ẋ(0) = 0 ⇔ 2 0 = iω(c1 − c2 ) ⇒ x(t) = x0 cos ωt Wir stellen fest: obwohl wir einen komplexen Ansatz wählten, ist die Lösung reell. — Im Folgenden können diese mathematischen Identitäten nützlich sein: Trigonometrische Relationen: cos(α + β) = Re(ei(α+β) ) = Re [(cos α + i sin α)(cos β + i sin β)] = = cos α cos β − sin α sin β (42) sin(α + β) = Im(ei(α+β) ) = = sin α cos β + cos α sin β (43) Der zu Beginn definierte Parameter ω wird als (Kreis-)Frequenz bezeichnet und in der Einheit [ω] = rad angegeben. Die Periode ist definiert als T := 2π ⇔ ω = 2π . Beide s ω T Größen sind unabhängig von den Anfangsbedingungen und allein durch die mechanischen Eigenschaften des Systems bestimmt. — Da wir uns in unserer Betrachtung zunächst auf abgeschlossene Systeme beschränken, gilt ∂t L = 0 und damit die Energieerhaltung. Wir berechnen: E =T +U = m 2 k 2 m 2 ẋ + x = (ẋ + ω 2 x2 ) . 2 2 2 Wir setzen a := xmax und verwenden die reelle Lösung aus (41): x = a cos(ωt + α), ẋ = −aω sin(ωt + α) . Damit ergibt sich: E= m 2 2 ω a = U (x = a) = T (x = 0) = const. 2 Mit diesem Ergebnis wollen wir den Virialsatz überprüfen: Aus x = a cos ωt folgt x2 = a2 cos2 ωt = a2 12 (1 + cos 2ωt) . Der Mittelwert davon ist x2 1ZT 2 1 a2 Z T a2 = x (t)dt = (1 + cos | {z2ωt})dt = 2 . T 0 T 2 0 →0 45 (44) Das setzen wir in das Potential U = U= m 2 2 w x 2 ein: m 2 2 (44) E ω a = 4 2 und erhalten für die kinetische Energie T =E−U = E =U, 2 wie vom Virialsatz (Satz 4) mit k = 2 vorhergesagt (vgl. Gleichung 14). — Beispiel: Ein (mathematisches) Pendel schwingt im Schwerefeld der Erde, d. h. im Potential U = −mgl cos ϕ . Dafür ist die Lagrangefunktion L= m 2 2 l ϕ̇ + mgl cos ϕ . 2 Es handelt sich nicht um einen harmonischen Oszillator wie in (38). 2 Allerdings können wir für kleine ϕ die Taylor-Entwicklung cos ϕ = 1 − ϕ2 + O(ϕ4 ) bis zur 2. Ordnung verwenden und erhalten mit dieser Näherung die Lagrangefunktion eines harmonischen Oszialltors in ϕ mgl 2 m 2 2 g 2 g m ϕ = l (ϕ̇ − ϕ ) , mit ω 2 = ⇔ L = l2 ϕ̇2 − 2 2 2 l l r ω= g l Erzwungene Schwingungen Nun betrachten wir ein allgemeines Potential in einem nicht abgeschlossenen System: U (x, t) = U (x) + Ue (x, t) . | {z } äußeres Feld Das bedeutet, es wird dem System von außen Energie zugeführt, wie bei einer Schaukel, die man (periodisch) anschubst. Weiterhin sei U (x) = k2 x2 . Das externe Potential nähern wir für kleine Änderungen bis zur 2. Ordnung in x durch eine Taylor-Entwicklung: ∂Ue Ue (x, t) = Ue (0, t) + x . | {z } ∂x x=0 irrelevant | {z −xF (t) } Wir beschreiben das äußere Feld durch eine Kraft. Aus F = O(x) folgt xF = O(x2 ) . Da x als „klein“ angenommen wurde, ist diese Abhängigkeit zu vernachlässigen. Somit 46 genügt es, sich auf die Zeitabhängigkeit von F (t) zu beschränken. Mit dieser Näherung ist die Lagrangefunktion L= m 2 k 2 ẋ − x + xF (t) . 2 2 Die Euler-Lagrange-Gleichung liefert die Bewegungsgleichung: mẍ = −kx + F (t) ⇐⇒ ẍ + ω 2 x = 1 F (t) m (45) Dabei handelt es sich um eine inhomogene Differentialgleichung. Aus der Mathematik ist bekannt, dass sich diese Gleichungen folgendermaßen lösen lassen: Allgemeine Lösung einer inhomogenen Differentialgleichung = allgemeine Lösung der homogenen DGL + eine partikuläre Lösung der inhomogenen DGL Spezialfälle: • periodische Kraft: F (t) = f cos(ω1 t + β) . Wir wollen eine spezielle Lösung des getriebenen harmonischen Oszillators finden. Ansatz: x1 (t) = b cos(ω1 t + β) , ⇒ ẍ1 = −ω12 x1 Es folgt aus (45) für ω 6= ω1 : (ω 2 − ω12 ) b cos(ω1 t + β) = ⇒b= f cos(ω1 t + β) m f . − ω12 ) m(ω 2 Zusammen mit der allgemeinen reellen Lösung (41) der homogenen Differentialgleichung ergibt sich x(t) = a cos(ωt + α) + f cos(ω1 t + β) . − ω12 ) m(ω 2 Dies ist die Überlagerungen zweier Schwingungen mit den Kreisfrequenzen ω und ω1 . Eine äquivalente Schreibweise der allgemeinen Lösung erhält man durch Addition von c cos(ωt + γ) . Deshalb können wir, um die weitere Betrachtung zu vereinfachen, die folgende Lösung verwenden: x(t) = a cos(ωt + α) + f · [cos(ω1 t + β) − cos(ωt + β)] − ω12 ) m(ω 2 47 Nun betrachten wir den Limes ω1 → ω . Dafür nutzen wir den Satz von L’Hospital. Durch Ableiten von Zähler und Nenner folgt x(t) = a cos(ωt + α) + f t sin(ωt + β) . 2mω Man sieht, dass die Amplitude mit der Zeit linear anwächst. Dies bezeichnet man als Resonanz. Da wir allerdings Näherungen verwendet haben, gilt dies nur, solange x(t) genügend klein bleibt. • beliebige Kraft: F (t). Trick: wir führen den komplexen Parameter ξ := ẋ + iωx ein: ẍ + ω 2 x ≡ d d (ẋ + iωx) − iω(ẋ + iωx) = ξ − iωξ . dt dt Es folgt aus (45): d 1 ξ − iωξ = F (t) . dt m Die allgemeine Lösung der zugehörigen homogenen Gleichung ist bekannt: ξ = Aeiωt , wobei A = a eiα eine komplexe Konstante der Schwingung ist. Für die spezielle Lösung der inhomogenen Gleichung verwenden wir die Methode der Variation der Konstanten. Mit dem Ansatz ξ = A(t)eiωt und der Ableitung ξ˙ = Ȧ(t)eiωt + iωAeiωt folgt: 1 d ξ − iωξ = Ȧeiωt = F (t) . dt m Integration liefert: A(t) = Z t t0 1 0 F (t0 )e−iωt dt0 + ξ0 . m Damit ist ξ(t) = eiωt Z t t0 1 0 F (t0 )e−iωt dt0 + ξ0 . m Die spezielle Lösung der inhomogenen Gleichung folgt daraus direkt, aufgrund des Zusammenhangs x(t) = 1 Im ξ(t) . ω Man beachte, dass x, ẋ und F reell sein. — Wir berechnen den Energiezuwachs für den Oszillator durch F (t) : E= m 2 m (ẋ + ω 2 x2 ) = |ξ|2 . 2 2 48 Für frühe Zeiten (idealisiert t0 = −∞) sei E(t0 ) = 0 , und damit |ξ0 | = |ξ(t0 )| = 0 . Der Energiezuwachs ist m 1 |ξ(+∞)|2 = 2 2m ∆E = E(+∞) = 2 Z +∞ 0 F (t0 )e−iωt dt0 −∞ | {z } e(ω) =:F (46) Es handelt sich bei Fe (ω) um die Fourier-Transformierte von F (t) . — Nun betrachten wir eine kurze Einwirkung der Kraft. Dabei bedeutet kurz, dass der Oszillator noch keine Zeit hat, mit dem Schwingen anzufangen, also ∆t 2π =T. ω −iωt Da ∆t fast Null ist, ist e ≈ 1 . Damit berechnen wir aus Gleichung 46: 2 ∆E = 1 2m Z +∞ F (t)dt −∞ | {z } = p2 . 2m =:p Bei p handelt es sich um einen Impuls, den wir als Kraftstoß bezeichnen. Allgemein wissen wir ṗ = F , also gilt ∆p = Z t2 F (t)dt . t1 49 Beispiel: Der Oszillator sei gegeben durch F = const. t > 0 1 ẍ + ω 2 x = F (t) , F (t) = 0 m t<0 mit den Anfangsbedingungen x(0) = ẋ(0) = 0 zum Startzeitpunkt t0 = 0, demnach auch ξ0 = 0 . Es folgt für t ≥ 0 : iωt ξ(t) = e Z t 0 0 1 −iωt0 0 F iωt e−iωt Fe dt = e m m −iω t 0 =i F (1 − eiωt ) . mω Daraus ergibt sich x(t) = 1 F F Im ξ(t) = sin ωt = Re ξ X (1 − cos ωt) =⇒ ẋ(t) = ω mω 2 mω Abbildung 20: Der getriebene Oszillator im x-t-Diagramm. Dabei handelt es sich um eine Schwingung F F F um x = mω 2 mit der Amplitude mω 2 = k , 2 k := mω . Somit gilt für t > 0 : U (x) = k 2 x 2 | {z } ungestörter Oszi. 2 = k F x− 2 k −xF = − F2 . 2k Das bedeutet, durch das Anschalten der Kraft wird das Potential verschoben, siehe Abbildung rechts. 50 5.2 Gedämpfte Schwingung Die Anwesenheit von Reibung führt zu einer gedämpften Schwingung. Reibung kommt immer dann zustande, wenn es eine Bewegung in einem Medium gibt, z. B. ein Pendel, das in der Luft schwingt. Dabei wird mechanische (kinetische) Energie in Wärme umgewandelt. Diese Umwandlung bezeichnet man als Dissipation. Wärme kann als Bewegung der Moleküle eines Stoffs verstanden werden. Damit wird die Energie auf eine sehr große Zahl von Freiheitsgraden verteilt. Um die Bewegung vieler Teilchen beschreiben zu können, benötigt man statistische Physik (Thermodynamik/Wärmelehre). Damit ist Reibung kein Problem aus dem Bereich der klassischen Mechanik. Deshalb wollen wir eine näherungsweise Beschreibung verwenden, indem wir die Reibung durch eine Reibungskraft ausdrücken: fR = −αẋ (47) Wir wählen α > 0 sodass die Reibung der Bewegung entgegen wirkt. Außerdem ist die Reibung proportional zur Geschwindigkeit. Da wir ein homogenes Medium betrachten, ist die Reibungskraft unabhängig vom Ort: ∂x fr = 0 . Man kann die Reibung auch durch eine Taylor-Entwicklung für kleine Geschwindigkeiten nähern: fR = fR (ẋ) = fR (0) + fR0 (0)ẋ + | {z } | {z } =−αẋ =0 1 00 fR (0)ẋ2 + . . . 2 | {z } vernachlässigbar Mit dieser physikalischen Herleitung findet man ebenfalls eine Beschreibung der Reibung wie in Gleichung 47. Mit der Definition der Dissipationsfunktion 1 W := αẋ2 2 ∂W gilt fR = − = −αẋ. ∂ ẋ Für das System mit Reibung müssen wir bei der Euler-Lagrange-Gleichung ∂L d ∂L = dt ∂ ẋ ∂x zusätzlich zur Kraft die Reibungskraft berücksichtigen und erhalten die „Vorschrift“: d ∂L ∂L = − dt ∂ ẋ ∂x |{z} Kraft ∂W |∂{zẋ} . Reibungskraft Wir betrachten die Lagrangefunktion L = L(x, ẋ) eines abgeschlossenen Systems und berechnen die zeitliche Änderung der Energie aufgrund der Reibung: ! dE d ∂L ∂L d ∂L ∂L ∂L d ∂L ∂L = ẋ − L = ẍ + ẋ − ẋ − ẍ = ẋ − dt dt ∂ ẋ ∂ ẋ dt ∂ ẋ ∂x ∂ ẋ dt ∂ ẋ ∂x ∂W = −ẋ = −αẋ2 = −2W . ∂ ẋ 51 ! = Wir stellen fest, dass die Rate des Energieverlusts allein durch die Dissipationsfunktion W angegeben wird. Da durch die Reibung dem System Energie entzogen wird, muss dE < 0 gelten, entsprechend W > 0. Das ist genau dann der Fall, wenn α > 0 ist, wie dt wir es zu Beginn festgelegt haben. Nun können wir die Bewegungsgleichung für den Oszillator mit Reibung aufstellen: mẍ = −kx − αẋ q Die Frequenz des ungestörten Oszillators bezeichnen wir mit ω0 = k/m. Zusätzlich führen wir die Frequenz γ = α/m ein. Somit lautet die Bewegungsgleichung: ẍ + γ ẋ + ω02 x = 0 Es handelt sich um eine lineare, homogene Differentialgleichung. Zur Lösung verwenden wir den Ansatz x(t) ∝ eλt : λ2 + γλ + ω02 = 0 Die Lösung dieser algebraischen Gleichung erhalten wir z. B. mit der Mitternachtsformel: λ1,2 = −γ ± q γ 2 − 4ωo2 2 γ =− ± 2 s 2 γ 2 − ωo2 . Daraus folgt die allgemeine Lösung: x(t) = c1 eλ1 t + c2 eλ2 t , wobei die Konstanten c1 , c2 durch die Anfangsbedingungen bestimmt werden müssen. Wir betrachten verschieden Fälle für die möglichen Werte der Frequenzen ω und γ: γ a) < ω0 : 2 s γ γ 2 =⇒ x(t) = λ1,2 = − ± i ω02 − 2 2 | {z } reell s 2 γ − γ2 t 2 a e cos ω − t + β 0 | {z } 2 | {z } Amplitude ω Die Schwingungsamplitude wird exponentiell abgeschwächt, d. h. die Lösung ist eine gedämpfte Schwingung. γ b) > ω0 : 2 √ √ − γ/2+ (γ/2)2 −ω02 t − γ/2− (γ/2)2 −ω02 t + c2 e x(t) = c1 e Es handelt sich um eine aperiodische Bewegung, bei der keine Schwingung stattfindet. Die Auslenkung x(t) fällt monoton gegen 0. 52 c) γ = ω0 : aperiodischer Grenzfall mit λ1 = λ2 = − γ2 . In diesem Fall lässt sich 2 γ die Lösung zusammenfassen zu x(t) = c1 e− 2 t , allerdings fehlt dabei eine Integraγ tionskonstante. Deshalb müssen wir den Grenzübergang eλ1 t → e− 2 t ausführen. Wir betrachten den Limes λ1 → λ2 unter Verwendung der Regel von l’Hospital: γ d λ1 t eλ1 t − eλ2 t λ1 →λ2 −−−−→ e = teλ1 t = te− 2 t . λ1 − λ2 dλ1 Das ist unsere zweite Basisfunktion. Nach dem Superpositionsprinzip erhalten wir die allgemeine Lösung als Summe der beiden Lösungen: γ x(t) = (c1 + c2 t)e− 2 t . Erzwungene Schwingung mit Reibung Wir beschränken uns auf den Spezialfall einer periodisch antreibenden Kraft. Dafür ist die Bewegungsgleichung (γ, ω0 , Ω, b ∈ R): ẍ + γ ẋ + ω02 x = b cos Ωt . Das können wir auch folgendermaßen schreiben, wodurch die Rechnung vereinfacht wird: ẍ + γ ẋ + ω02 x = b eiΩt . Am Ende werden wir den Realteil der Lösung x(t) zur Beschreibung des Systems wählen. Wir suchen eine spezielle Lösung mit dem Ansatz: x(t) = CeiΩt , C ∈ C. Diese Funktion, eingesetzt in die Bewegungsgleichung, liefert: (−Ω2 + iγΩ + ω02 )C eiΩt = bẍ + γ ẋ + ω02 x = b eiΩt ω02 − Ω2 − iγΩ (∗∗) iδ b (∗) = b = ce , ⇒C= 2 ω0 − Ω2 + iγΩ (ω02 − Ω2 )2 + γ 2 Ω2 b γΩ wobei c = |C| = q (Absolutbetrag) und tan δ = 2 (Argument). Ω − ω02 (ω02 − Ω2 )2 + γ 2 Ω2 Bei (*) erweitern wir mit dem komplex Konjugierten des Nenners, wodurch wir bei (**) die Polardarstellung von C erhalten. Damit ist die allgemeine Lösung im Fall ω0 > γ2 : γ x(t) = a e− 2 t cos(ωt + β) + c cos(Ωt + δ) . Nach dem Einschwingen des Oszillators, d. h. für t γ1 ist der erste Summand vernachlässigbar und die allgemeine Lösung ist die erzwungene Schwingung: x(t) = c cos(Ωt + δ) . Das bedeutet, der Oszillator schwingt mit der anregenden Frequenz Ω, allerdings verschoben um die Phase δ. Wir wollen bestimmte Eigenschaften dieses Oszillators näher betrachten. 53 • Amplitude c: Falls die Frequenz der Anregung gleich der Eigenfrequenz des harmonischen Oszillators ist, d. h. Ω = ω0 , so gilt c = γωb 0 < ∞ . Demnach ist die Schwingungsamplitude – im Gegensatz zum ungedämpften Oszillator – beschränkt. Schalten wir allerdings die Dämpfung ab, d. h. γ → 0, so wird die Amplitude beliebig groß, wie wir es vom getriebenen Oszillator ohne Reibung bereits kennen. Die Amplitude c erreicht q ihr Maximum bei einer Anregung durch die Resonanzfrequenz Ω = Ωres = ω02 − 12 γ 2 . • Phasenverschiebung δ: Anhand von Spezialfällen können wir das Verhalten von δ diskutieren: Ω = 0 = ω0 ω0 b C −i γωb 0 − Ωb2 ω02 −π 0 − π2 δ (siehe Abbildung 21) Zusammenhang zwischen der anregenden Frequenz Ω und der Amplitude c: der Phasenverschiebung δ: Abbildung 21: Resonanz und Phasenverschiebung • Energiezufuhr: +2W = αẋ2 = αc2 Ω2 sin2 (Ωt + δ) . Wir betrachten die Intensität: 1 1 b2 Ω 2 I = 2W = αc2 Ω2 = γm 2 , 2 2 (Ω − ω02 )2 + γ 2 Ω2 wobei wir verwendet haben, dass der Mittelwert von sin2 x gleich 1 2 ist. Im Fall γ ω0 definieren wir ∆ := Ω − ω0 und betrachten ∆ ω0 . Die Formel für die Intensität vereinfacht sich zu mb2 γ/2 I= . 2 4 ∆ + (γ/2)2 54 Dabei haben wir folgende Näherung verwendet: • Ω2 − ω02 = (Ω + ω0 )(Ω − ω0 ) = 2ω0 ∆ + O(∆2 ). Abbildung 22: Typische Resonanzkurve mit Breite γ: die Energieaufnahme ist beim Auftreten von Resonanz maximal. 5.3 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden In diesem Kapitel beschränken wir uns wieder auf Systeme ohne Reibung. Wir betrachten eine Lagrangefunktion L( #» q , #» q˙ ) = T ( #» q˙ ) − U ( #» q ) in generalisierten Ko#» ordinaten q = (qi )i=1,...,n in der Umgebung einer Potential-Gleichgewichtslage bei #» q 0. Wir berechnen die (mehrdimensionale) Taylorentwicklung des Potentials um die Stelle #» q 0 , wobei Terme höherer Ordnung vernachlässigt werden können, wenn die Auslenkung genügend klein ist. Zur Vereinfachung der Notation verwenden wir hier die Einsteinsche Summenkonvention5 : U (qk ) = U (qk0 ) | {z } irrelevant + ∂U ∂qi q0 ·(qi − | {z i} qi0 ) 1 ∂ 2 U ·(qi − qi0 )(qj − qj0 ) + . . . + 2 ∂qi ∂qj q0 i | =0, da Gleichgewicht {z =:Kij } • Wie im Eindimensionalen führen wir die Auslenkung #» x := #» q − #» q 0 ein. Damit lässt sich das Potential in quadratische Näherung folgendermaßen schreiben: 1 U ( #» x ) = Kij xi xj (implizite Doppelsumme). 2 • In der quadratischen Näherung wird auch der kinetische Term sehr übersichtlich: 1 1 T ( #» x˙ ) = aij (qk )q̇i q̇j = Mij ẋi ẋj . 2 2 5 Die Summenkonvention Pn Pn Einsteinsche K x x ij i j ist. i=1 j=1 besagt, 55 dass Kij xi xj eine Kurzschreibweise für • Es handelt sich bei den xi und Kij um reelle Zahlen, deshalb vertauschen die Faktoren: Kij xi xj = xi Kij xj . Mit der impliziten Doppelsumme hat dieser Ausdruck die Form einer Matrixmultiplikation: #» x T K #» x . Hier fassen wir die Parameter Kij der Schwingung zu einer n × n-Matrix zusammen und multiplizieren diese von beiden Seiten mit dem Auslenkungsvektor #» x . Zum Beispiel für n = 2 heißt das ausgeschrieben: Kij xi xj = K11 x1 x1 + K12 x1 x2 + K21 x2 x1 + K22 x2 x2 = = x1 x2 ! K11 K12 x · · 1 K21 K22 x2 ! Die Lagrangefunktion einer harmonischen Schwingung mit mehreren Freiheitsgeraden lautet: 1 1 ˙T 1 1 T L( #» x , #» x · M · #» x · K · #» x x˙ ) = Mij ẋi ẋj − Kij xi xj = #» x˙ − #» 2 2 2 2 • Ohne Einschränkung kann angenommen werden, dass M und K symmetrisch sind, d. h. Mij = Mji , Kij = Kji , da z. B. f x x +K f x x = 1 (K f +K f ) · 2x x . K 12 1 2 21 2 1 12 21 1 2 | {z } 2 | {z } =:K12 =K21 x1 x2 +x2 x1 • M ist positiv definit, d. h. für alle #» v := #» x˙ gilt: #» v T M #» v ≥ 0 und #» v T M #» v = 0 ⇔ #» v = 0. • K ist positiv semidefinit, d. h. für alle #» x gilt: #» x T K #» x ≥ 0, da es sich um ein stabiles Gleichgewicht handelt. Nun möchten wir die Bewegungsgleichungen aufstellen. Dafür beachten wir, dass für alle ∂xi i, k = 1, . . . , n gilt: = δik . Für die Euler-Lagrange-Gleichung ∂xk d ∂L ∂L − =0 dt ∂ ẋk ∂xk berechnen wir mit der Produktregel ∂ (Kij xi xj ) = Kij (δik xj + xi δjk ) = Kkj xj + Kik xi = 2Kkj xj , |{z} ∂xk =Kki 56 wie im eindimensionalen Fall. Zu einem analogen Ergebnis gelangen wir durch Differenzieren des kinetischen Terms nach ẋk . Damit lauten die Bewegungsgleichung für k = 1, . . . , n: Mkj ẍj + Kkj xj = 0 Diese n Differentialgleichungen sind linear und homogen mit konstanten Koeffizienten. Deshalb wählen wir wieder den Exponentialansatz xj = aj eiωt , leiten zweimal ab: ẍj = −ω 2 aj eiωt , und setzen ein: Kkj − ω 2 Mkj aj = 0 ⇐⇒ K − ω 2 M · #» a = 0 ⇔ M −1 K #» a = ω 2 #» a . h i Bei dieser Gleichung handelt es sich um ein Eigenwertproblem aus der Linearen Algebra. Gesucht sind die Eigenwerte ω (Eigenfrequenz) und die zugehörigen Eigenvektoren #» a 6= 0. Die Eigenwerte sind die Nullstellen des charakteristischen Polynoms, d. h. ! det K − ω 2 M = 0 Da ω positiv sein soll, erhalten wir n Lösungen ωl , l = 1, . . . , n. Damit können wir die zugehörigen Eigenvektoren #» a (l) ausrechnen. Diese fassen wir zu einer Matrix zusammen: (l) Ajl = aj = (1) a1 (2) a2 .. . (2) a1 . . . (2) a2 . . . .. . Damit ist das Problem gelöst. Die allgemeine Lösung der Euler-Lagrange-Gleichung erhalten wir aufgrund des Superpositionsprinzips durch Linearkombination der Lösungen: xj (t) = n X (l) cl aj cos (ωl t + αl ) . l=1 Folglich verfügt das System über 2n freie Parameter cl , αl . Normalkoordinaten Die Matrizen K und M sind nicht in Diagonalgestalt, das bedeutet, die Koordinaten sind gekoppelt. Durch eine Koordinatentransformation können die Matrizen diagonalisiert werden. Dafür schreiben wir zunächst das Eigenwertproblem in Indexschreibweise: (l) (l) 2 Mkj aj . Kkj aj = ω(l) Nun Vertauschen wir k und j und benennen l in i um. Aufgrund der Symmetrie der Matrizen erhalten wir: (i) (i) 2 Kkj ak = ω(i) Mkj ak . 57 (i) (l) Wir erweitern die Gleichungen mit ·ak bzw. ·aj und ziehen die beiden Gleichungen voneinander ab. Unter Beachtung der Summenkonvention folgt: (i) (l) 2 2 ω(l) − ω(i) ak Mkj aj = 0 . 2 Falls die ω(l) nicht entartet sind, gilt weiter: (i) (l) ak Mkj aj = Aki Mkj Ajl = AT ik Mkj Ajl = δil , (48) bei Verwendung einer geeigneten Normierung der Eigenvektoren. Falls zwei Eigenwerte entartet sind, z. B. wenn ω(1) = ω(2) , dann sind sowohl #» a (1) und #» a (2) Eigenvektoren zu ω(1) , also auch eine Linearkombination α #» a (1) +β #» a (2) . Wir können α und β so wählen, dass Gleichung 48 erfüllt ist. Nun betrachten wir die verallgemeinerte Orthogonalitätsrelation AT M A = 1 ⇔ AT M = A−1 . Das bedeutet, A diagonalisiert M . Dann diagonalisiert A aber auch K: AT ik Kkj Ajl = AT ik 2 ω(l) Mkj Ajl = 2 ω(l) δil = 2 ω1 ω22 .. . ωn2 Hier wird nicht über l summiert, da es auf beiden Seiten der Gleichung vorkommt. Wir definieren die Normalkoordinaten Qj durch xi ≡ Aij Qj ⇐⇒ Ql = AT lk Mki xi . Nun stellen wir die Lagragefunktion in diesen Koordinaten auf: 2L = Mij ẋi ẋj − Kij xi xj = Mij Aik Q̇k Ajl Q̇l − Kij Aik Qk Ajl Ql = 2 = δkl Q̇k Q̇l − ω(k) δkl Qk Ql = n X 2 Q̇2k − ω(k) Q2k k=1 und erhalten die Lagrangefunktion für n entkoppelte Oszillatoren. Damit haben wir das Problem auf eindimensionale Schwingungen reduziert. Dafür kennen wir die Lösung (falls die Eigenfrequenz ωl > 0 ist): Ql = cl cos (ωl t + αl ) =⇒ xl = Ajl Ql = n X (l) aj cl cos (ωl t + αl ) . l=1 Es handelt sich um eine Überlagerung harmonischer Schwingungen. Falls ωl = 0 ist, so gilt Q̈l = 0 und damit Ql = vl t + cl . 58 Beispiel: 2-atomiges Molekül (1-dimensional) Abbildung 23: Ein einfaches Modell eines Moleküls mit zwei Atomen der Masse m. Wir stellen die Lagrangefunktion zum Modell in Abbildung 23 auf: m 2 k ẋ1 + ẋ22 − (x1 − x2 )2 = 2 !2 ! ! ! m 0 k 1 ẋ1 x1 −k ẋ2 x1 x2 − . x2 0 m ẋ2 −k k 2 L=T −U = = 1 ẋ1 2 {z | M } | {z K } Damit haben wir die Situation auf das Eigenwertproblem: K − ω 2 M #» a =0 zurückgeführt. Das lösen wir: ! k − mω 2 −k 2 2 = k − mω det K − ω M = det − k2 = −k k − mω 2 2 = − 2mkω 2 + m2 ω 4 = m2 ω 2 2k ω2 − m ! ! =0 Die Lösungen (Schwingungsmoden) lassen sich direkt ablesen: 1. ω1 = 0 entspricht einer Translation, also einer Verschiebung beider Massen mit konstantem Abstand. q 2. ω2 = 2k entspricht einer Schwingung mit Federkonstante k, also einer gegenläum figen Bewegung der Atome mit effektiver (d. h. reduzierter) Masse m2 . Nun bestimmen wir die Eigenvektoren: 1. zu ω12 = 0: ! ! k −k 1 · #» a (1) = 0 =⇒ #» a (1) ∝ −k k 1 59 2. zu ω22 = 2k : m ! ! k −k 1 · #» a (2) = 0 =⇒ #» a (2) ∝ −k k −1 Daraus ergibt sich die Matrix ! 1 1 1 = AT A := √ 1 −1 2m Wir überprüfen, dass diese tatsächlich M diagonalisiert: !2 m 1 1 A M A = mA A = 2m 1 −1 T T ! 1 0 = X 0 1 Abschließend berechnen wir noch die Normalkoordinaten des Systems: m #» 1 1 x · 1 = Q = AT M #» x =√ x2 2m 1 −1 ! ! r m x1 + x2 2 x1 − x2 und stellen fest: 1. Q1 entspricht den Schwerpunktskoordinate. 2. Q2 entspricht der Relativkoordinate. 60 ! 6 Bewegung des starren Körpers 6.1 Kinematik Definition 13: Starrer Körper Ein starrer Körper ist ein System von N Massenpunkten mit festen Abständen. Freiheitsgrade eines starren Körpers: a) Die Lage des starren Körpers ist eindeutig bestimmt durch die Lage von drei nicht kollinearen Punkten des Körpers im Raum Nebenbedingung: die drei Relativabstände der Punkte sind konstant ⇒ Freiheitsgrade = 3 · 3 − 3 = 6 b) Lage des Schwerpunkts: drei Freiheitsgrade + Drehung um drei unabhängige Achsen durch den Schwerpunkt ⇒ Freiheitsgrade = 3 + 3 = 6 Bezugssysteme: 1. X, Y, Z raumfest, in Ruhe; Inertialsystem IS 2. x1 , x2 , x3 körperfest, bewegt KS (i. A. kein Inertialsystem) Ursprung von KS in festem Punkt des Körpers (z. B. Schwerpunkt) Abbildung 24: verschiedene Bezugssysteme zur Beschreibung eines Körpers. 61 #» um den Ursprung von KS (bezüglich IS ) lässt sich • Eine „sehr kleine“ Drehung d ϕ folgendermaßen beschreiben: #» · r sin ϑ |d #» r | = |d ϕ| #» × #» d #» r = dϕ r dri = ijk dϕj rk #» • Eine Verschiebung des Ursprungs von KS (bezüglich IS ) um d R bewirkt eine Gesamtverschiebung eines Punktes im Körper (bezüglich IS ) um d #» s: dsi = dRi + ijk dϕj rk Mit vi := dsi , dt vi = Vi := dRi , dt V i |{z} Translation dϕi dt ωi := (Winkelgeschwindigkeit) folgt #» #» #» + ijk ωj rk bzw. #» v =V +ω × r | {z (49) } Rotation Nun betrachten wir ein zweites körperfestes System KS’ wie in nebenstehender Abbildung. Der Abstand der beiden Systeme wird durch den Vektor #» r = #» a+ #» #» 0 0 r beschrieben. Analog zu Gl. 49 gilt für alle r : #» #» #» #» #» #»0 #» #»0 × #» v =V0+ ω r0 = V + ω ×a+ω× r . #» Das gilt insbesondere für #» r 0 = 0, damit folgt V 0 = #» #» #» #»0 = ω #» . Wir stellen fest, dass ω #» V + ω × a und somit ω unabhängig von der Wahl des körperfesten Systems ist. Das nennt man den „absoluten Charakter“ von #». ω 62 Abbildung 25: Für die Übersichtlichkeit, hier nur zwei statt drei Achsen dargestellt #» #» × #» Falls zu einem Zeitpunkt V = 0 gilt, so ist #» v = ω r , d. h. die Bewegung ist eine #». Diese Achse reine Rotation um eine Achse durch den Ursprung von KS parallel zu ω bezeichnen wir als momentane Drehachse. Kinetische Energie des starren Körpers In diesem Abschnitt betrachten wir den Körper aus einem Inertialsystem IS. Sein Schwerpunkt soll mit dem Ursprung des Körpersystems KS zusammenfallen. Der Körper besteht aus N (diskreten) Teilchen. Zur Berechnung der kinetischen Energie führen wir folgende Kurzschreibweise ein: T = N X ma #»2 X m #»2 X m 2 v , va ≡ v = 2 2 i a=1 2 wobei vi2 = vi vi = v12 + v22 + v32 das Quadrat des Geschwindigkeitsbetrags eines Teilchens in kartesischen Koordinaten ist. Mit Gleichung 49 folgt Xm X m m 2 2 T = (Vi + ijk ωj rk ) = V − mVi ijk ωj rk + ijk ωj rk ilm ωl rm . 2 2 i 2 Für alle Punkte sind Vi und ωj gleich, deshalb ist der mittlere Term proportional zu P mrk . Das ist die Definition des Schwerpunkts und verschwindet im Schwerpunktsystem KS. Mit der Identität ijk ilm = δjl δkm − δjm δkl und der Definition der Gesamtmasse P M := m folgt T = i M 2 1 hX 2 Vi + m rk δjl − rj rl ωj ωl . 2 2| {z } =:Ijl Trägheitstensor Damit ist die kinetische Energie eines starren Körpers von folgender Form: T = M 2 Vi + |2{z } Translation 1 Iij ωi ωj |2 {z } quadratische Form in ωi Bemerkungen: • Diese Formel ist gültig, wenn sich der Schwerpunkt des Körpers im Ursprung von KS befindet. Außerdem kann sie auch verwendet werden, wenn der Ursprung von KS in Ruhe bezüglich IS ist. In diesem Fall gilt Vi = 0 und deshalb T = 12 Iij ωi ωj . • In Matrixschreibweise hat der Trägheitstensor folgende Einträge: I = (Iij )1≤i,j≤3 = hX m rk2 δij − ri rj i = X 2 r2 + r32 m −r2 r1 −r3 r1 = X T m #» r 2 · 1 − #» r 0 #» r0 −r1 r2 −r1 r3 r12 + r32 −r2 r3 −r3 r2 r12 + r22 Wir sehen, dass der Trägheitstensor symmetrisch ist, d. h. Iij = Iji . Die Koordianten ri sind bezogen auf KS zu verstehen. 63 • Sind die einzelnen Teilchen des Körpers nicht mehr getrennt auflösbar, so erhält R P #» man durch den Übergang m −→ %( r )dR3 r einen kontinuierlichen Körper. Dann hat der Trägheitstensor die Einträge Iij = %( #» r ) (rk2 δij − ri rj ) d3 r. • Da wir uns einen Körper aus kleineren Körpern zusammengesetzt vorstellen können, ist I additiv. • Die Achsen des Bezugssystems KS lassen sich so wählen, dass I diagonal wird. Diese Achsen bezeichnen wir als Hauptachsen. Um sie zu finden, suchen wir eine orthogonale Matrix A, sodass ID := AIAT = diag(I1 , I2 , I3 ) ist. Die Hauptachsen erhalten wir nun durch Drehung der Koordinatenachsen mit der Matrix A: #» r 7→ #» r 0 := A #» r . Damit vereinfacht sich der Rotationsanteil der kinetischen Energie zu Trot = 21 Iij ωi ωj = 12 (I1 ω12 + I2 ω22 + I3 ω32 ). I1 , I2 , I3 sind die Hauptträgheitsmomente des starren Körpers. Bei einer Translation ist die Masse ein Maß für die Trägheit eines Körpers. Bei einer Drehung ist das Analogon der Trägheitstensor. In der Mathematik bezeichnet man als n-tes R n Moment der Verteilungsfunktion f das Integral über f (x) gewichtet mit x : f (x)xn dx. Bei Trägheitsmomenten handelt es sich demnach um quadratische Momente der Massenverteilung. Das bedeutet, wir gewichten die Dichte des Körpers mit der Entfernung von der Rotationsachse. Je weiter entfernt ein Massenpunkt liegt, desto größer ist sein Einfluss auf die Drehung. • Für jeden Körper gilt folgende Ungleichung: I1 + I2 = X m(r12 + r22 + 2r32 ) ≥ X m(r12 + r22 ) = I3 Da die Reihenfolge der Nummerierung von I1 , I2 , I3 beliebig ist, gilt allgemein: die Summe zweier Hauptträgheitsmomenten ist größer oder gleich dem dritten Hauptträgheitsmoment. • Wir unterscheiden folgende Fälle: I1 , I2 , I3 verschieden: unsymmetrischer Kreisel I1 = I2 6= I3 : symmetrischer Kreisel I1 = I2 = I3 : Kugelkreisel • Spezialfall: Bei einem starren Rotator ist die komplette Masse entlang der x1 Achse verteilt. Demnach gilt für jeden Punkt des Körpers bezüglich KS r2 = r3 = 0. Der Trägheitstensor ist: I= X 0 0 0 X m 0 r12 0 =⇒ I2 = I3 = mr12 , I1 = 0. 2 0 0 r1 Dieser Körper verfügt nur über 2 Freiheitsgrade der Drehung (um x2 , x3 ). 64 • Satz von Steiner: Sei Iij der Trägheitstensor im Schwerpunktsystem, d. h. definiert mit dem Ursprung P von KS im Schwerpunkt, demnach mri = 0. Dann betrachten wir eine konstante Verschiebung des Ursprungs ri0 = ri − ai . In diesen gestrichenen Koordinaten ist P der Trägheitstensor (per Definition) Iij0 = m(rk0 2 δij − ri0 rj0 ). Laut dem Satz von Steiner lässt sich dieser auf folgende Art und Weise einfach berechnen: Iij0 = Iij + M (a2k δij − ai aj ) Beweis: X mri0 rj0 = X m(ri − ai )(rj − aj ) = = X mri rj − ( X | ⇒ X 2 mrk0 mri ) aj − ( {z =0 = X mri rj + M ai aj = X mrk2 + M a2k . } X | mrj ) ai + {z =0 X mai aj = } • Als Beispiel betrachten wir nun die Trägheitsmomente eines ruhenden Körpers bezüglich zwei Achsen K, K 0 . Dabei fällt K mit der x3 -Achse zusammen und geht durch den Schwerpunkt. K 0 verläuft parallel dazu im Abstand a. Den Abstandsvektor von einem Punkt des Körpers zur x3 -Achse bezeichnen wir mit d. 0 #» = Die Rotation des Körpers sei gegeben durch ω 0 . Somit ist der einzige ω nicht-verschwindende Summand in der kinetischen Energie Iij ωi ωj = I33 ω 2 . Dabei ist I33 das Trägheitsmoment durch die Achse K und es gilt I33 = X m(r12 + r22 ) = X md2 = IK . Mit dem steiner’schen Satz können wir nun das Trägheitsmoment bezüglich einer Drehung um K 0 parallel zu K berechnen: 0 IK 0 = I33 = I33 + M (a21 + a22 ) = IK + M a2 . 65 6.2 Bewegung im beschleunigten Bezugssystem Bisher betrachteten wir Bewegungen bezogen auf ein Inertialsystem IS. Jetzt betrachten wir einen Massenpunkt in einem beschleunigten Bezugssystem. a) Translation #» KS bewege sich gegenüber IS mit der Geschwindigkeit V (t) = (Vi (t))i=1,...,3 . Es handelt sich dabei um eine vorgegebene, nicht-konstante Funktion. Mit dem Zusammenhang v 0i |{z} in IS = vi +Vi (t) (50) |{z} in KS können wir die Lagrangefunktion im Körpersystem aufstellen: L= m 2 (50) m 2 v0i − U = v + 2 2 i m vi Vi + | {z } d d Vi + (mri Vi ) −mri dt |dt {z } m 2 Vi −U 2 | {z } irrelevant irrelevant m ⇒ L = vi2 − m Wi (t) ri −U , {z } | 2 effektives Kraftfeld mit der Beschleunigung Wi = d Vi von KS bezüglich IS. dt b) Rotation In diesem Fall sind die Inertial- und Körperkoordinaten folgendermaßen verknüpft: v0i = vi + εijk ωj (t)rk , wobei ωi (t) wieder eine vorgegebene Funktion ist. Damit lautet die Lagrangefunktion: L= m 2 m m v0i − U = vi2 + mvi εijk ωj rk (εijk ωj rk )2 − U . 2 2 2 Wir erinnern uns an ∂vi ∂vl = δil und stellen damit die Bewegungsgleichungen auf: ∂L = mvl + εljk ωj rk , ∂vl Die Euler-Lagrange-Gleichung ∂L ∂U = mvi εijl ωj + m(εijk ωj rk )εinl ωn − . ∂rl ∂rl d ∂L dt ∂vl = ∂L ∂rl liefert mv̇l = −mεljk ω̇j rk − mεljk ωj vk + mvk εkjl ωj + mεlin (εijk ωj rk )ωn − = mεlkj rk ω̇j + 2mεlkj vk ωj + mεlin (εijk ωj rk )ωn − 66 ∂U . ∂rl ∂U = ∂rl In vektorieller Form aufgeschrieben: #» × #» #» − ∂U . #» #» + m( ω ˙ + 2m #» m #» r)× ω v˙ = m #» r ×ω v{z× ω } | | {z } ∂ #» r Corioliskraft Zentrifugalkraft #» ˙ = 0 verschwindet der erste Term. Die beiden anBei einer gleichförmigen Rotation ω deren Kräfte werden oft als Scheinkräfte bezeichnet, da man sie durch entsprechende Koordinatenwahl „wegtransformieren“ kann. #» sowie senkrecht zur GeschwindigDie Corioliskraft wirkt senkrecht zur Drehachse ω keit, deshalb führt sie zu einer Ablenkung von der geradlinigen Bewegung. #» #» × #» Um den Betrag der Zentrifugalkraft FZ = m( ω r ) × ω zu berechnen, verwenden wir #» #» #» | ω × r | = ωr sin ϑ, wobei ϑ den Winkel zwischen ω und #» r beschreibt (siehe Abbildung). #», ergibt sich Mit r⊥ := r sin ϑ, dem senkrechten Anteil von #» r bezüglich ω #» |FZ | = mω 2 r sin ϑ = mω 2 r⊥ . Zum Abschluss des Kapitels berechnen wir den Impuls und die Energie des starren Körpers in den rotierenden Koordinaten: ∂L = m(vl + εljk ωj rk ) = mv0l = p0l , ∂vl m m ∂L E = vi − L = vi2 − (εijk ωj rk )2 +U . ∂vi 2 |2 {z } pl = Zentrifugalenergie 67 7 Kanonischer Formalismus und Hamilton-Gleichungen Bisher haben wir für die Beschreibung eines Systems in den N Koordinaten q1 , . . . , qN die Lagrangefunktion L = L(qi , q̇i , t) und die Euler-Lagrange-Gleichungen d ∂L ∂L = , dt ∂ q̇i ∂qi ∂L mit dem verallgemeinerten Impuls pi = , verwendet. ∂ q̇i ∂L . Aus den ELG folgt direkt ṗi = ∂qi Nun definieren wir die Hamilton-Funktion H = H(pi , qi , t) := pi q̇i − L . (51) Diese beschreibt die Energie des Systems, analog zur Definition der Energie (Gleichung 5). Beim Übergang von der Lagrange- zur Hamiltonfunktion werden die unabhängigen Variablen qi , q̇i durch qi , pi ersetzt. Das bezeichnet man als LegendreTransformation. Wir bilden das totale Differential der Hamiltonfunktion mit der Produktregel: pi d q̇i − dH = dpi q̇i + ∂L ∂L ∂L ∂L dt = q̇i dpi − ṗi dqi − dt . dqi − dq̇i − ∂qi ∂ q̇i ∂t ∂t | {z } =pi dq̇i Für eine differenzierbare Hamilton-Funktion, ist das totale Differential gleich den partiellen Ableitungen: ∂H ∂H ∂H dt . dH(pi , qi , t) = dpi + dqi + ∂pi ∂qi ∂t Setzt man beide Ausdrücke gleich, so erhält man die kanonischen Gleichungen: q̇i = ∂H , ∂pi ṗi = − ∂H ∂qi Diese sind symmetrisch in p und q. Es handelt sich um 2N Differentialgleichungen erster Ordnung. Die kanonischen Gleichungen sind äquivalent zu den Euler-LagrangeGleichungen (N Differentialgleichungen zweiter Ordnung). Es gilt: ∂H(p, q, t) ∂L(q, q̇, t) =− . ∂t ∂t Wir wollen in diesem Formalismus die Energieerhaltung beschreiben: dH ∂H ∂H ∂H ∂H ṗi + q̇i + = = . dt ∂pi ∂qi ∂t ∂t |{z} q̇i Falls |{z} −ṗi ∂H = 0 ist, so gilt H(pi , qi ) = E = const., d. h. die Energie ist erhalten. ∂t 68 Beispiel: Ein System wird beschrieben durch die Lagrangefunktion L = die Euler-Lagrange-Gleichungen: mq̈ = − p= m 2 q̇ 2 − U (q). Dann liefern ∂U , ∂q ∂L p = mq̇ ⇐⇒ q̇ = . ∂ q̇ m Wir stellen die Hamiltonfunktion dieses Systems auf: p2 m p H(p, q) = pq̇ − L = − m 2 m 2 + U (q) = p2 2m |{z} kin. Energie + U (q) . | {z } pot. Energie Damit ergeben die kanonischen Gleichungen: p ∂H = , ∂p m ∂H ∂U ṗ = − =− , ∂q ∂q q̇ = äquivalent zu den Euler-Lagrange-Gleichungen. Mit dem Hamilton-Formalismus ist der Übergang von klassischen zu quantenmechanischen Systemen möglich („Quantisierung“). Deshalb spielt die Hamilton-Funktion eine zentrale Rolle in der Quantenmechanik. 69 8 Relativistische Mechanik 8.1 Grundbegriffe Relativitätsprinzip: Die Naturgesetze sind forminvariant unter Transformationen zwischen Inertialsystemen S und S’. — Hier betrachten wir zwei Inertialsysteme, die sich mit einer konstanten Geschwindigkeit v relativ zueinander in x-Richtung bewegen. Ihre Koordinatenachsen verlaufen parallel. Für solche Systeme haben wir bislang die Galileitransformationen verwendet: t0 = t x0 = x − vt, y 0 = y, z 0 = z (52) (53) Dabei verhalten sich die Geschwindigkeiten in den beiden Systemen sehr einfach: dx0 dx dx0 = = − v =⇒ Geschwindigkeitaddition: 0 dt dt dt ẋ = ẋ0 + v (54) Das ist die klassische Vorstellung des Relativitätsprinzip in der Mechanik. Allerdings hat man experimentell festgestellt, dass diese Beschreibung für die Elektrodynamik nicht mehr korrekt ist, da die Ausbreitungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen einen universellen Wert hat: Lichtgeschwindigkeit: c = 3 · 108 m s <∞ (55) unabhängig vom Inertialsystem (empirisch begründet). Allgemeiner hat auch die Wirkungsausbreitung eine endliche Geschwindigkeit, d. h. es gibt keine „Fernwirkung“. — Eine Konsequenz davon wird in folgendem Beispiel dargestellt: Wir betrachten einen sehr langen Stab als starren Körper. Verschieben wir das eine Ende des Stabs, so würde sich sofort auch das andere, weit entfernte Ende des Stabs gleichermaßen bewegen, da der Körper absolut starr ist. Das ist unvereinbar mit der endlich schnellen Wirkungsausbreitung. Stattdessen breitet sich die Störung wellenförmig durch den Stab aus, welcher aus Molekülen aufgebaut ist, zwischen denen elektrische Kräfte wirken. Deshalb spielt 70 diese Erkenntnis aus der Elektrodynamik auch für die klassische Mechanik eine Rolle. Üblicherweise verwenden wir für diese Probleme allerdings eine Idealisierung, da die Lichtgeschwindigkeit sehr groß im Vergleich zu den bisher besprochenen Phänomenen ist. Ohne diese Näherung gelangt man allerdings zu einem Widerspruch zwischen der Universalität der Lichtgeschwindigkeit (55) und der galileischen Geschwindigkeitsaddition (54). — Wir können diesen Widerspruch beheben, indem wir die Universalität der Zeit (52) aufgeben und die Transformation des Orts (53) modifizieren. Damit erhalten wir als neue Formulierung die spezielle Relativitätstheorie. Diese basiert auf den beiden Annahmen • Relativitätsprinzip, • Universalität sowie Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit c. Wir suchen nun eine neue Transformation, welche die Ausbreitung von Licht invariant lässt. Dafür betrachten wir ein Lichtsignal in S, das sich radial vom Ursprung ausbreitet. Diese Signalausbreitung können wir folgendermaßen beschreiben r2 = x2 + y 2 + z 2 = c2 t2 ⇐⇒ c2 t2 − x2 − y 2 = 0. Das enstpricht der Gleichung eines Kegels im 4-dimensionalen Raum(ct, x, y, z), dem Lichtkegel. Analog können wir das Signal im relativ dazu bewegten System S’ beschreiben: c2 t02 − x02 = c2 t2 − x2 , y 0 = y, z 0 = z. Wir wählen unsere Einheiten so, dass c = 1 gilt. Beispielsweise messen wir t, x, y, z in Sekunden. Eine Längeneinheit entspricht der Strecke, welche Licht in einer Sekunde zurücklegt (eine Lichtsekunde). Durch diese Konvention nimmt die Gleichung die einfache Form an: t02 − x02 = t2 − x2 . 71 Für die neue Transformation wählen wir den linearen Ansatz t0 = At+Bx, x0 = Ct+Dx: t2 − x2 = t02 − x02 = A2 t2 + 2ABtx + B 2 x2 − C 2 t2 − 2CDtx − D2 x2 Ein Koeffizientenvergleich beider Seiten liefert A2 − C 2 = 1, D2 − B 2 = 1, AB − CD = 0 und damit drei Gleichungen für vier Unbekannte. Demnach können wir einen Parameter frei wählen, welcher der (konstanten) Relativgeschwindigkeit der Inertialsysteme entspricht. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit setzen wir C = − sinh η. Es folgt A2 = 1 + sinh2 η = cosh2 η, d. h. A = cosh η. Würden wir für A das negative Vorzeichen wählen, so bedeutet das eine Spiegelung der Koordinaten. Weiter folgt ! sinh η sinh2 η D2 D und damit D2 − B 2 = D2 (1 − cosh B = CA D = − cosh = 1. Das bedeutet 2 ) = η η cosh2 η D = cosh η, B = − sinh η. Es ergibt sich die Lorentz-Transformation: ! ! t0 cosh η − sinh η t = · x0 − sinh η cosh η x ! Konkret handelt es sich hier um den Spezialfall, dass nur eine Relativbewegung mit konstanter Geschwindigkeit in x-Richtung vorliegt. Man spricht von einem Boost in x-Richtung. Um eine Interpretation des Parameters η zu bekommen, betrachten den Ursprung von S’, welcher sich mit Geschwindigkeit v relativ zu S bewegt. Für diesen Punkt gilt dx sinh η = tanh η ≡ v . dt cosh η x0 = 0 = −(sinh η) t + (cosh η) x =⇒ Oft betrachtet man statt der Geschwindigkeit v die dimensionslose Geschwindigkeit β := v . Aufgrund unserer Wahl c = 1 gilt β = v. Es folgt: c Rapidität: η = artanh v Des Weiteren gilt: cosh η = √ 1 β =: γ, sinh η = √ = γβ. 2 1−β 1 − β2 Durch die Einführung dieser Parameter, lässt sich die Lorentz-Transformation kompakter schreiben: ! ! ! t0 1 −β t =γ · , y 0 = y, z 0 = z. x0 −β 1 x • Wir vergleichen folgende Koordinatentransformationen: cosh η − sinh η Boost: Λ(η) = − sinh η cosh η ! cos ϕ sin ϕ Drehung: A(ϕ) = − sin ϕ cos ϕ 72 ! Die invariante Größe bei einer Drehung ist der euklidische Abstand x2 + y 2 . Analog dazu bezeichnen wir t2 − x2 als Minkowski-Abstand, da diese Größe invariant unter einem x-Boost ist. • Wir betrachten zwei Boosts. Aufgrund der Additionstheoreme hyperbolischer Funktionen gilt (Übung) Λ(η1 )Λ(η2 ) = Λ(η1 + η2 ), d. h. die Rapidität ist additiv. Damit können wir die relativistisch korrekte Formel für die Addition paralleler Geschwindigkeiten aufstellen: v ≡ tanh(η1 + η2 ) = tanh η1 + tanh η2 =⇒ 1 + tanh η1 tanh η2 v= v1 + v2 1 + v1 v2 Für typische Geschwindigkeiten mechanischer Systeme kann der Nenner durch 1 genähert werden. Somit ergibt sich die galileische Geschwindigkeitsaddition als Spezialfall der relativistisch korrekten. Aus dieser Transformation folgt, dass für v1 , v2 < 1 stets v < 1 gilt. Im Fall v2 = 1 gilt für beliebiges v1 nach der Formel für die Geschwindigkeitsaddition: v= v1 + 1 = 1. 1 + v1 Demnach bewegt sich nichts mit einer Geschwindigkeit v > 1. Deshalb ist die Lichtgeschwindigkeit v = c = 1 – wie gefordert – die obere Schranke für Geschwindigkeiten. Das bezeichnet man als die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen. Beispiel: Addition der Geschwindigkeiten 0.5 und 0.5 ergibt nicht 1, sondern 1 = 0.8. 1.25 0.5+0.5 1+0.5·0.5 • Im nicht-relativistischen Grenzfall v c, formal: c → ∞, erhalten wir 1 0 t =q 0 1− 1 x =q 1− v2 c2 v t − 2x c c→∞ −−−→ t = t c→∞ v2 c2 0 0 (x − vt) −−−→ x = ⇒ Galilei-Transformation. x − vt Zeitdilatation Wir betrachten eine im System S’ ruhende Uhr, die sich bezüglich eines Systems S mit der Geschwindigkeit v bewegt. Zum Zeitpunkt t = t0 = 0 setzen wir x = x0 = 0, d. h. die Uhren in S und S’ sind synchron, wenn die Uhr den Ursprung von S durchfliegt. Zu einem späteren Zeitpunkt t > 0 hat sich die bewegte Uhr um x = vt bezüglich S bewegt. Bezüglich dem Uhr-System S’ hat sich die Uhr hingegen nicht bewegt, deshalb 73 = gilt weiterhin x0 = 0. Die vergangene Zeit in diesem System ist gegeben durch t0 = √ 0 1 . Demnach ist in S’ die Zeit t = γ(t−vx) = γ(1−v 2 )t, wobei γ = √1−v 1 − v2 t < t 2 vergangen. Bildlich gesprochen: „Bewegte Uhren gehen langsamer“. Minkowski-Raum Wir betrachten zwei Ereignisse E1 = (0, 0) und E2 = (t, x). Der Abstand der beiden Ereignisse ist s2 ≡ (t2 − t1 )2 − (x2 − x1 )2 = t2 − x2 . Dieser Minkowski-Abstand ist Lorentz-invariant. Wir unterscheiden drei Fälle: a) s2 < 0: raumartiger Abstand. b) s2 = 0: lichtartiger Abstand, das Ereignis liegt „auf dem Lichtkegel“. c) s2 > 0: zeitartiger Abstand. Im Fall eines raumartigen Abstands kann folgende Situation auftreten: • Im System S sind die Ereignisse E1 = (0, 0) und E2 : t > 0, x > t. ⇒ E2 ist nach E1 . • Im bewegten System S’ ist ebenfalls E1 = (0, 0), allerdings E2 : t0 = γ(t − βx) < 0 für t/x < β < 1. (Diese Bedingung ist erfüllbar.) ⇒ E2 ist vor E1 . Deshalb ist eine Beeinflussung von E2 durch E1 (oder andersrum) unmöglich. Ansonsten wäre das ein Widerspruch zur Kausalität in einem der Inertialsysteme. Ein Signal von E1 nach E2 müsste eine Geschwindigkeit von v = x/t > 1 = c haben. Da dies nicht möglich ist, spricht man von der Unmöglichkeit von Überlichtgeschwindigkeit. Im Fall eines zeitartigen Abstands ist eine Beeinflussung von E1 durch E2 hingegen durchaus möglich, da sich dafür ein Signal nur mit einer Geschwindigkeit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit ausbreiten muss. Eigenzeit 74 √ Für den Fall konstanter Geschwindigkeit v wissen wir bereits, es gilt t0 = 1 − v 2 t. Nun betrachten wir ein System K’, dessen Geschwindigkeit v(t) relativ zu S zeitabhängig ist. Demnach handelt es sich beim Körpersystem K’ im Allgemeinen nicht um ein Inertialsystem. Wir können die Ortsänderung in einem beliebig kleinen Zeitintervall durch die Tangente an der Geschwindigkeitskurve ausdrücken. Ein System q S’, das sich 0 entlang dieser Tangente bewegt, ist ein Inertialsystem. Deshalb gilt dt = 1 − v 2 (t) dt. Integration dieses Ausdrucks liefert die Zeit auf der bewegten Uhr, ausgedrückt durch die Zeit im ruhenden System: τ2 − τ1 = Z t2 q t1 1 − v 2 (t) dt ≤ t2 − t1 . √ • Man bezeichnet dτ = 1 − v 2 dt als die Eigenzeit (oder das Eigenzeitintervall). Diese ist Lorentz-invariant. Das sieht man zum einen direkt aus der Definition. Explizit folgt es folgendermaßen: Der Minkowski-Abstand s2 = (t2 − t1 )2 − (x2 − x1 )2 − (y2 − y1 )2 − (z2 − z1 )2 ist Lorentz-invariant. Das gilt auch für einen beliebig kleinen Abstand (ds)2 = (dt)2 − (dx)2 − (dy)2 − (dz)2 . Da er invariant ist, können wir den Abstand auch in S’ ausdrücken: (ds)2 = (dt0 )2 − (dx0 )2 − (dy 0 )2 − (dz 0 )2 . Zu einem Zeitpunkt fallen S’ und K’ zusammen, dort gilt demnach dt0 = dτ und dx0 = dy 0 = dz 0 = 0, da sich die Uhr mit K’ mitbewegt. Deshalb gilt (ds)2 = (dτ )2 . Es folgt: v u u t !2 !2 dx dy − dτ = ds = dt 1 − dt dt q √ = dt 1 − #» v 2 = dt 1 − v 2 (t) . dz − dt !2 = • Nun betrachten wir zwei verschiedene Bewegungen zwischen den Ereignissen E1 = (t1 , 0) und E2 = (t2 , x). Zum einen bewegt sich das Inertialsystem (S 0 , t0 ) mit konstanter Geschwindigkeit, zum anderen bewegt sich ein beschleunigtes System (K 0 , τ ) von E1 nach E2 . Somit ist die Bewegung zwischen E1 und E2 in K’, relativ zu S’: τ2 − τ1 = Z t0 q 2 t01 1 − v 0 2 (t0 ) dt0 ≤ t02 − t01 . Folglich ist die Eigenzeit τ2 − τ1 maximal für v 0 ≡ 0. Das bedeutet, die geradlinig, gleichförmige Bewegung maximiert die Eigenzeit. 75 8.2 Lagrangefunktion eines freien Teilchens In diesem Kapitel befassen wir uns mit der relativistisch korrekten Beschreibung der gradlinig, gleichförmigen Bewegung eines Massenpunkts. Dieses freie Teilchen bewegt sich zwischen den Zeitpunkten t1 , t2 entlang eines Weges vom Raum-Zeit-Punkt a nach b. Wir möchten eine Darstellung der Wirkung S erhalten, die invariant unter LorentzTransformation ist. Die Wirkung ist definiert als S := Z t2 L( #» v ) dt . t1 Wir stellen fest, dass die Wirkung linear in der Zeit dt ist. Aus dem vorherigen Kapitel ist bekannt, dass die Eigenzeit τ Lorentz-invariant ist. Also setzen wir an: S := −α Z b dτ = −α a Z t2 √ 1 − v 2 dt . t1 Des Weiteren wissen wir, dass die gradlinig, gleichförmige Bewegung die Eigenzeit ab dτ maximiert. Aufgrund der Forderung, dass die Wirkung S minimiert werden soll, definieren wir α > 0 als Lorentz-invarianten Parameter. Somit ist die (relativistische) Lagrangefunktion eines freien Teilchens √ L = −α 1 − v 2 . R Um α zu bestimmen, betrachten wir den Grenzfall kleiner Geschwindigkeiten | #» v| 1 (relativ zur Lichtgeschwindigkeit). Wir führen eine Taylor-Entwicklung für die Lagrangefunktion durch: 1 2 v + ... L = −α 1 − #» 2 = −α + α #»2 v + ... 2 In diesem Grenzfall soll die newtonsche Mechanik gelten, deshalb fordern wir m #»2 v . Daraus folgt α = m, die Ruhemasse ist Lorentz-invariant. 2 √ v2 L = −m 1 − #» Wir berechnen den relativistischen Impuls: ∂L −2 #» v m #» v #» √ √ p = #» = −m = . #» 2 ∂v 2 1− v 1 − #» v2 76 α 2 ! #» v2 = Da die Lagrangefunktion nur von der Geschwindigkeit #» v abhängt, ist #» x zyklisch. Des#» d #» halb folgt aus der Euler-Lagrange-Gleichung dt p = 0 ⇔ v = const. Nun können wir die relativistische Energie-Impuls-Beziehung aufstellen: m #» v2 m(1 − √ E = #» p · #» v −L= √ + 1 − #» v2 1− #» q v 2) m √ = = m2 + #» p2. #» #» 2 2 v 1− v mc2 In konventionellen Einheiten ausgedrückt: E = q #»2 . 1 − vc2 Erneut führen wir eine Taylor-Entwicklung für den Fall kleiner Geschwindigkeiten | #» v| 1 durch: E =m 1+ 1 #»2 v + ... 2 =m+ m #»2 v + ... 2 Für den Fall #» v = 0 hat das Teilchen die Ruheenergie E=m (bzw. E = mc2 ). Das ist die berühmte Äquivalenz von Masse und Energie. Bildquelle: http://www.bildungsxperten.net/wissen/albert-einstein-biografie/ 77