Begutachtung nach Flucht und Migration

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ORIGINALBEITRÄGE
E. Richartz-Salzburger
Begutachtung nach Flucht und
­Migration – Posttraumatische
­Belastungsstörung bei Asylbewerbern
– aus medizinischer Sicht
Flucht und Trauma
Die Mehrzahl der hiesigen Asylsuchenden stammt aus aktuellen Kriegs- und
Konfliktgebieten, wo viele von ihnen
lebensbedrohliche Situationen erlebt
haben. Darüber hinaus geht die Flucht
selbst häufig mit Lebensgefahr, der
Angst vor Entdeckung oder auch sexuellen Gewalterfahrungen einher. Traumatisiert werden viele zudem durch
die Zeugenschaft von Gewalt und Tod.
Zahlen zur Prävalenz von Traumafolgestörungen bei Flüchtlingen variieren
in der Literatur, zumal von einer hohen
Dunkelziffer auszugehen ist. Nach
­Gaebel [6] leiden 40 % unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, wobei
diese lediglich eine von einer Vielzahl
möglicher Traumafolgestörungen darstellt.
Der Begriff „Trauma“ wird ebenso vielfältig wie inflationär verwendet. Unter den eigentlichen traumati-
schen Ereignissen können verschiedene
Traumaformen voneinander abgegrenzt
werden (Tab. 1), die mit unterschiedlichen Prognosen einhergehen. So haben
sequentielle, sich wiederholende traumatische Ereignisse und interpersonelle, sog. „man made“ Traumata ein besonders hohes Risiko, Traumafolgestörungen nach sich zu ziehen.
Neben diesen objektiven Situationsmerkmalen hat das subjektive Erleben
eine zentrale Bedeutung für die Art und
Ausprägung der Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Prä-, peri- und posttraumatische Faktoren beeinflussen die
individuelle Vulnerabilität. So haben
sich junges sowie hohes Alter als prognostisch ungünstig erwiesen, desgleichen
psychische Erkrankungen oder traumatische Erfahrungen in der Vorgeschichte. Protektiv wirkt ein stabiles soziales
Umfeld mit unterstützender, akzeptierender Haltung gegenüber dem Opfer. Großen Einfluss haben zudem die individu-
Interpersonelle Traumata
Akzidentelle Traumata
Typ I
Kurzdauernd
Vergewaltigung
Kriminelle Gewalttaten
Naturkatastrophen
Verkehrs-/Arbeits-Unfälle
Typ II
Längerdauernd oder
wiederholt
Sexueller Kindesmissbrauch
Kriegserlebnisse
Politische Inhaftierung
Folter
Erdbeben
Tab. 1: Typen traumatischer Ereignisse (nach Maercker [14])
Anschrift der Verfasserin
Priv. Doz. Dr. med. Elke Richartz-­
Salzburger
Winlandstr. 9
81549 München
ellen Abwehrmechanismen und Bewältigungsstrategien, von denen insbesondere aktive zur konstruktiven Integration
von traumatischen Erlebnissen beitragen.
Mit den individuellen persönlichkeitsbedingten Schutzfaktoren befasst sich die
Zusammenfassung
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine der am häufigsten
genannten psychiatrischen Diagnosen
bei Asylsuchenden, wenn es um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder aber um Feststellung
inlandsbezogener Abschiebehindernisse geht. Mit Einführung des DSM-5
haben sich einige Änderungen der
Diagnosekriterien der PTBS ergeben,
unter anderem wird nun auf die Definition subjektiver Traumakriterien
verzichtet. Neben der Diagnose einer
PTBS dürfen andere häufige Traumafolgestörungen sowie komorbide
Erkrankungen nicht übersehen werden. Die Relevanz jedweder Diagnose
ergibt sich dabei aus den konkreten
funktionellen Auswirkungen des gesamten psychischen Störungsbildes auf
Alltagsgestaltung und Partizipation des
Betroffenen.
Bei der Untersuchung traumatisierter Asylsuchender sind formale,
kulturelle sowie krankheitsimmanente
Besonderheiten zu beachten, die die
Anamnese- und Befunderhebung erschweren können. Dolmetscher sollten
geschult, der Untersucher mit kulturspezifischen Symptombildungen und
symbolhafter Benennung traumatischer
Erfahrungen vertraut sein.
Von zentraler diagnostischer Bedeutung bleibt unter Berücksichtigung
fremd- und eigenanamnestischer Angaben der konkrete, detaillierte psychische Befund, ergänzt durch eine Persönlichkeits- und Verhaltensbeobachtung zur Identifizierung unbewusster
und bewusster Motive. Schlussendlich
erweisen sich für die Exploration, die
Diagnostik sowie für gegebenenfalls
notwendige Interventionen psychotherapeutische Erfahrungen für den psychiatrischen Gutachter als unabdingbar.
Schlüsselwörter Asylverfahren –
psychisches Trauma – posttraumatische
Belastungsstörung – Diagnose­k riterien
– psychiatrische Begutachtung
Forschung zu Resilienz und Salutogenese [2]. Positive Bindungserfahrungen in
der frühen Kindheit, aber auch religiösspirituelle Grundhaltungen haben sich
dabei als protektive Faktoren erwiesen
[13, 15].
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Bei asylsuchenden Migranten finden sich meist mehrere prä-, peri- und
posttraumatische Risikofaktoren, was
die Ausbildung einer Traumafolgestörung begünstigt. Häufig wurden Typ-IITraumata erlebt, viele Betroffene wurden zusätzlich Zeuge von Traumatisierungen Dritter. Schließlich mangelt es in
der Regel an psychosozialer Unterstützung und Sicherheit vermittelnder
Umgebung.
PTBS und weitere
Traumafolgestörungen
Trotz variierender Angaben zu den Prävalenzen ist davon auszugehen, dass sich
bei 35–45 % der Flüchtlinge eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS),
bei ca. 30 % depressive Störungen, bei
25–30 % Angststörungen und bei weiteren 30 % somatoforme Störungen mit
jeweils erheblichen Komorbiditätsraten
finden [6, 10].
Die PTBS stellt eine Besonderheit
der psychiatrischen Nomenklatur dar.
Die modernen Klassifikationskriterien nach ICD-10 [9] und DSM [1] gehen
syndromal und nicht – im Gegensatz z.B.
zur ICD-9 – ätiologisch vor. Diagnosen
werden prinzipiell unabhängig von ihrer
Ursache gestellt. Im Gegensatz dazu
setzt die Diagnose einer PTBS ein Trauma als objektive und spezifische Ursache
voraus. Dieser ursächliche Traumabegriff war immer wieder und ist mit Einführung des DSM-5 erneut Gegenstand
der klinischen und wissenschaftlichen
Diskussion.
Im ICD-10 wird das geforderte Trauma als Erleben, Zeugenschaft oder Kenntniserlangung (bei betroffenen Personen
mit emotionaler Sonderbeziehung) eines
kurz- oder langandauernden Ereignisses
außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes beschrieben,
das bei fast jedem eine tiefe Verstörung
hervorrufen würde.
Das DSM-IV fügte diesem objektiven „A1“-Traumakriterium noch ein
subjektives („A2“-) Kriterium hinzu:
Ein traumatisches Ereignis führt hier
nur dann zu einem psychischen Trauma,
wenn es zu einer entsprechenden psychischen Erstreaktion kommt, und zwar in
Form intensiver Furcht, Hilflosigkeit und
Entsetzen.
Die Berücksichtigung eines subjektiven Traumakriteriums hatte zur Folge,
dass bei Vorgehen nach ICD-10 häufiger eine PTBS diagnostiziert wurde als
bei Rückgriff auf die DSM-IV-Kriterien.
Gerade in gutachterlichen Fragen, nicht
zuletzt im Rahmen der Unfallversicherung, hatte sich die explizite Berücksichtigung des „A2“-Kriteriums bewährt.
Mit Einführung des DSM-5 im Jahr
2013 [1] wurden einige wesentliche Veränderungen vorgenommen. Traumafolgestörungen werden nicht mehr im
Kapitel der Angststörungen subsumiert,
sondern in einem eigenen Kapitel der
„Trauma- und stressbedingten Störungen“ zusammengefasst. Von besonderer
gutachterlicher Relevanz ist der Wegfall
des im DSM-IV herausragenden subjektiven „A2“-Traumakriteriums. Dies
erfolgte in Berücksichtigung der aktuellen Studienlage, gemäß derer sich das
Vorliegen von intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen nicht als abgrenzbarer Prädiktor für das spätere Auftreten
einer PTBS erwiesen hat. Als unmittelbare emotionale Reaktion können diverse Symptome auftreten, von denen manche gar nicht sichtbar oder auch nicht
erinnerbar sind, wie z.B. emotionale
Taubheit („numbness“) oder dissoziatives Erleben. Ein spezifisches, abgrenzbares „A2“-Kriterium konnte somit für
die Diagnose einer PTBS nicht mehr
gefordert werden.
Hinsichtlich der klinischen Symptomatik fügt das DSM-5 der „klassischen“ Symptomtrias von Wiedererleben, Vermeidung und Hyperreagibilität
ein weiteres („D“-) Kriterium hinzu, in
dem emotionale und kognitive Veränderungen berücksichtigt werden. Darunter
fällt z.B. die Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte des traumatischen Ereignisses zu erinnern bis hin zur Amnesie, die
anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden und Gefühle der Abgetrenntheit oder Entfremdung von anderen. Aus klinischer Sicht handelt es sich
hier um häufige und diagnostisch außerordentlich relevante Symptome.
Zudem unterscheidet das DSM-5
zwei Subklassen: Abgegrenzt wird zum
einen die PTBS bei Kindern unter sechs
Jahren, bei denen die Symptomatik mit
häufigen Auftreten von Dissoziationen
und/oder einer Reinszenierung im Spiel
einhergeht. Zum andern wird eine PTBS
mit dissoziativen Symptomen unterschieden, bei der zusätzlich zu den oben
genannten Symptomen Depersonalisations- und Derealisationssymptome zu
beobachten sind.
Schwere, insbesondere Typ-II-Traumata können schließlich zu chronifizierten Störungsbildern führen, die mit
einer Veränderung der grundlegenden
Wesenszüge des Betroffenen und schweren Beeinträchtigungen von Lebensqualität und sozialen Kompetenzen einher-
A
Traumatisches Erlebnis ( Tod, Todesdrohung und -androhung,
schwerwiegende ­Verletzungen, sexuelle Gewalt):
Erleben, Zeugenschaft oder Kenntniserlangung im Fall nahestehender
­Angehöriger
BWiedererleben des traumatischen Ereignisses:
Intrusionen: – wiederholte, sich aufdrängende Erinnerungen
– wiederkehrende belastende Träume
– plötzliche, lebhafte Flashbacks
Canhaltende Vermeidung von mit dem traumatischen Erlebnis
verbundenen Reizen
DNegative Veränderung von Affekten und Kognitionen
E
Anhaltende Symptome erhöhter Erregung
F
Dauer > 1 Monat
GStörungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
­Beeinträchtigung
Tab. 2: PTBS-Kriterien nach DSM-5
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ORIGINALBEITRÄGE
gehen. Im ICD-10 findet sich hierfür der
Begriff der andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (ICD-10
F 62.0), die durch sozialen Rückzug und
eine generell feindliche, misstrauische
Grundhaltung gekennzeichnet ist sowie
durch Gefühle der Leere, Hoffnungsund Sinnlosigkeit. Die Störung ist chronisch und – im Unterschied zur „einfachen“ PTBS – therapeutisch schwer zu
beeinflussen.
Eine klassische PTBS kann, muss
aber nicht der andauernden Persönlichkeitsänderung vorangehen. Konzeptuell
verwandt ist der Begriff der „komplexen
posttraumatischen Belastungsstörung“
[8]. Obgleich dieser bis heute keinen
Eingang in die internationalen Diagnosemanuale fand, wird er in klinischem wie
gutachterlichem Zusammenhang durchaus verwendet. Im DSM-IV entsprachen
die sog. DESNOS-Kriterien („Disorder
of Extreme Stress Not Otherwise Specified“) am ehesten der Symptomvielfalt chronifizierter Belastungsstörungen
im Sinn andauernder Persönlichkeitsveränderungen. Im DSM-5 können solche
komplexen, chronischen Symptomcluster dem dissoziativen Subtyp der PTSD
oder ggf. einer Sonderform der Anpassungsstörung zugeordnet werden.
Die Erfahrung zeigt, dass bei den
meisten Betroffenen selten nur eine
abgrenzbare Störung vorliegt. In den
meisten Fällen finden sich komplexe Störungsbilder mit komorbid auftretenden
Anpassungsstörungen,
Depressionen,
Angsterkrankungen und Somatisierungsstörungen [12]. Häufig finden sich zudem
anhaltende somatoforme Schmerzstörungen als Traumafolge sowie Suchterkrankungen.
Begutachtung traumatisierter
Asylsuchender
Im gutachterlichen Kontext werden traumatisierte Menschen im Rahmen des
Asylverfahrens gesehen, wenn es um
Leistungen nach dem Asylbewerber­
leistungsgesetz geht, so z.B. bei der
Frage nach Notwendigkeit einer spezifischen Therapiemaßnahme oder einer
Unterbringung in einem Einzelzimmer.
Zudem ist im Rahmen der sogenannten „Reisefähigkeits-Begutachtung“ das
Vorliegen einer posttraumatischen Be-
lastungsstörung oder anderer Trauma­
folgestörungen zu prüfen, wenn ein
abgelehnter Asylbewerber aufgrund
einer entsprechenden Erkrankung ein
inlandsbezogenes Abschiebehindernis
geltend macht.
Ablauf und Aufbau der Untersuchung folgen den „Allgemeinen Standards der Gutachtenerstellung“ gemäß
der AWMF-Leitlinien [3]. Bei der Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge sind
darüber hinaus störungs- und kulturspezifische Besonderheiten zu beachten.
Hierfür hat sich die Kenntnis der „Standards der Begutachtung psychotraumatisierter Menschen“ (SPBM) [7] bewährt,
wie sie die Landesärztekammern in entsprechenden Seminaren anbieten.
In der Regel erfordert die psychiatrische Begutachtung der Asylsuchenden
die Hinzuziehung eines Dolmetschers.
Dieser dient nicht nur als Sprach-, sondern auch als Kulturmittler. Er sollte in
der Begutachtung traumatisierter Menschen erfahren und mit seiner spezifischen Rolle vertraut sein. Auch der Gutachter selbst sollte Vorstellungen von
der kulturspezifischen, häufig bild- und
symbolhaften Ausdrucksweise traumatisierter Ausländer haben.
Traumatisierte Menschen sind ängstlich, nervös und misstrauisch. Sie reagieren empfindlich auf Störungen von
außen. Erfahrungsbedingte Vorbehalte gegenüber hiesigen Behörden führen u.U. zu weiteren Verunsicherungen.
Der Gutachter wird dem Untersuchten
die gebotene ärztliche Empathie entgegenbringen, einen sicheren Rahmen
in­stallieren und eine möglichst angstfreie
Atmosphäre schaffen, um ein konstruktives Arbeitsbündnis zu ermöglichen.
Die ausführliche Anamnese schließt
die Traumaanamnese ein. Hier sind
gutachterliche Erfahrung und Feingefühl notwendig, um Reinszenierungen
von früher erlebten traumatischen Situationen zu vermeiden. Der zu Untersuchende ist selbstredend nicht zu einem
bestimmten geltend gemachten Trauma zu „verhören“. Ebenso wenig ist
die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu
­prüfen. Glaubhaftigkeitsuntersuchungen
erfolgen nach definierten aussagepsychologischen Kriterien, den sogenannten
Realkennzeichen [16], und sind für das
deutsche Strafverfahren entwickelt wor-
den. Sie sind gänzlich ungeeignet für die
Anwendung bei traumatisierten Ausländern.
Die Exploration dient neben der
Erfassung der Vorgeschichte auch der
Beurteilung, welche objektiven Symptome aktuell zu beobachten sind und welche Auswirkungen das Erlebte auf den
Gesundheitszustand hat. Von Bedeutung
hierfür sind auch Informationen über
Ressourcen des Betroffenen und protektive Faktoren. Erkenntnisreich kann die
Schilderung der aktuellen Alltagsgestaltung sein, was einen Einblick in verlorengegangene oder noch vorhandene alltagsrelevante Fähigkeiten erlaubt.
Neben der Anamnese ist die Erhebung des psychischen Befundes gemäß
des AMDP-Systems [4] Kern der psychiatrischen Diagnostik. In die Beurteilung fließt auch eine Persönlichkeits- und ­
Verhaltensbeobachtung ein,
die Aufschluss über die nonverbale und
unbewusste Kommunikation des Gegenübers und seine Beziehungsgestaltung
gibt. Hierbei finden psychotherapeutische Methoden Anwendung, die im
gutachterlichen Kontext nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern als diagnostische Mittel eingesetzt werden:
Dazu gehören unter anderem die Identifizierung der vorherrschenden bewussten Copingstrategien und unbewusster
Abwehrmechanismen sowie die Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungs-Phänomenen. Diese Beobachtungen sind für die Diagnostik neurotischer
Entwicklungen oder auch Persönlichkeitsstörungen von zentraler Bedeutung,
aber auch zur Beurteilung von Simulations- oder Bagatellisierungstendenzen
bzw. Dissimulation.
Die Gesamtwürdigung von Vorbefunden, fremd- und eigenanamnestischen
Angaben sowie der Untersuchungsbefunde führt schließlich zur Diagnose.
Neben der klassifikatorischen diagnostischen Zuordnung gemäß der internationalen Diagnosekriterien ICD-10 bzw.
DSM-5 sind die resultierenden Funktionseinschränkungen zu benennen. Im
psychiatrischen Bereich hat sich hierfür das „MINI-ICF-Rating“ von Linden
bewährt [11], das mögliche Fähigkeitsstörungen als Folge einer psychopathologischen Symptomatik anschaulich
zusammenfasst.
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ORIGINALBEITRÄGE
Besonderheiten der Begutachtung
von Betroffenen mit posttrauma­
tischer Belastungsstörung
Posttraumatische Störungen weisen
krankheitsimmanente
Besonderheiten
auf, die einen spezifischen Einfluss auf
die Untersuchungssituation allgemein
und die Befunderhebung im Besonderen
haben.
Unsere anamnestischen Erkenntnisse basieren auf den von dem Patienten wiedergegebenen Erinnerungen an
das Erlebte. Es handelt sich um Inhalte
des expliziten Gedächtnisses, das episodisch-biographische Erlebnisse speichert. Diese bewussten Erinnerungen
sind symbolisierbar und können sprachlich wiedergegeben werden. Demgegenüber beinhaltet das implizite Gedächtnis prozedural Erlerntes wie automatisierte Bewegungsabläufe sowie Emotionen. Diese Inhalte werden ohne bewusste
Reflexion, sondern spontan auf spezifische emotionale, mitunter sensorische
Reize wie Brandgeruch erinnert. Traumatische Erinnerungen sind zunächst
Teil des impliziten Gedächtnisses. Sie
sind emotional, verhaltensbezogen und
sensorisch gespeichert. Sie bestehen losgelöst von Zeit und Raum, sie sind nonverbal und nicht symbolisierbar. Sie können daher zunächst häufig nicht in Worte
gefasst werden.
Ein gezieltes Abfragen solcher Erinnerungsinhalte wird kaum erkenntnisreich sein, so lange diese Erinnerungen
(z.B. im Rahmen einer Traumatherapie)
nicht weiter verarbeitet worden sind.
Schwerste Traumen sind oft nicht kommunikationsfähig, bei manchen Patienten liegt eine Amnesie vor. Zudem leiden Menschen mit Traumafolgestörungen häufig an Schuld- und Schamgefühlen, weswegen viele zur Bagatellisierung
neigen. Ängste vor unerträglichen und
unkontrollierbaren Affekten können die
Betroffenen davon abhalten, über das
Erlebte zu sprechen.
Bei Thematisierung traumatisierender Erlebnisse kann es zu Zeichen
der vegetativen Erregung kommen in
Ver­
bindung mit Konzentrations- und
Gedächtnisstörungen. Es können Intrusionen auftreten mit „Flashbacks“,
d.h. dem szenischen Wiedererleben des
traumatischen Ereignisses. Diese sind
zu unterscheiden von wiedergegebenen Erinnerungsinhalten als explizite
Gedächtnisinhalte, die einem Betroffenen einfallen, wenn er mit traumatischen
Themen konfrontiert wird. Traumatisierende Situationen können auch durch
unbewusste Reinszenierungen zum Ausdruck kommen. Bei Thematisierung
schwerer Traumata werden bisweilen
Dissoziationen ausgelöst.
Ist der psychisch traumatisierte Patient nicht in der Lage, über seine Erfahrungen zu sprechen oder zeitliche Abläufe logisch wiederzugeben, kann der
Untersucher wesentliche Informationen durch Einschätzung des Verhaltens,
der Stimmung und durch Beobachten
bestimmter Abwehrmechanismen des
Gegenübers gewinnen. Klassische psychotherapeutische Mittel dienen dabei
dem Verständnis unbewusster Kommunikation mit dem Ziel, nicht-sprachliche Inszenierungen aufzunehmen, sie
gegebenenfalls auf die Symbolebene zu
heben und zu versprachlichen.
Im eigentlichen Sinn therapeutisch
muss der Gutachter arbeiten, wenn es im
Laufe der Untersuchung zu Ausnahmezuständen wie Dissoziationen kommt. Er
sollte dann in der Lage sein, den Untersuchten wieder zu stabilisieren und ihn
guten Gewissens nach der Untersuchung
wieder entlassen zu können.
Schließlich entsteht nicht nur im therapeutischen Setting, sondern auch zwischen Gutachter und Untersuchtem eine
Beziehung mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. Das Vorliegen
schwerer Traumatisierungen führt unter
Umständen zu heftigen und oft gegensätzlichen
Übertragungsphänomenen.
So kann es auf Seiten des Gutachters zur
Abwehr mit übermäßiger Distanz und
Bagatellisierungsneigung kommen, oder
es gelingt ihm aufgrund projektiver Identifikation mit dem Untersuchten kaum,
sich vom Geschehen zu distanzieren. Heftige Gegenübertragungsreaktionen mit
Gefühlen von Überforderung, Abneigung
und Erschöpfung können auftreten. Derlei
Übertragungsphänomene sind zu reflektieren und zu verstehen, um sich nicht von
ihnen gefangen nehmen zu lassen.
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Dem Gutachter obliegt hierbei die
genuin psychotherapeutische Aufgabe, im Sinne des „containments“ [5] das
kaum Erträgliche auszuhalten und sich
selbst als nicht zerstörbares Gegenüber
zu Verfügung zu stellen.
Fazit
Eine Begutachtung erfordert eine psychotherapeutische Grundhaltung und
entsprechende
Erfahrungen.
Dies
schließt die Einsicht in die eigene emotionale Belastung selbst ein. Nicht selten bleibt der Gutachter nach der Untersuchung tatsächlich wie ein „Container“
zurück, angefüllt mit destruktiven Bildern und schwer erträglichen Emotionen,
zu denen sich eigene Phantasien, Erinnerungen oder Vorstellungen über Erlebnisse der hiesigen Kriegsgeneration hinzugesellen. Auch der erfahrene Gutachter benötigt immer wieder einen Raum,
beispielsweise in Form von Inter- oder
Supervision, wo er selbst Entlastung
erfahren kann.
Literatur
1 American Psychiatric Association APA:
­Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders. DSM-V, 5th Edition.
American Psychiatric Association,
­Washington DC, 2013
2 Antonovsky A: Salutogenese. Zur
­Entmystifizierung der Gesundheit.
­Tübingen: dgvt-Verlag, 1997
3 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft­
lichen Medizinischen Fachgesellschaften:
Leitlinien zur Begutachtung psychischer
und psychosomatischer Störungen,
Stand: 31.03.2012 http://www.awmf.
org/leitlinien/detail/11/051-029
4 Arbeitsgemeinschaft für Methodik
und Dokumentation in der Psychiatrie:
Das AMDP-System. Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde.
Göttingen: Hogrefe. 8. Auflage, 2006
5 Bion WR: Learning from Experience,
­London: W. Heinemann, 1962 6 Gäbel U et al: Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)
und Möglichkeiten der Ermittlung in
der Asylverfahrenspraxis. Z Klin Psychol
­Psychother (2006), 35: 12–20
MED SACH 113 3/2017
7 Gierlichs HW et al: Standards zur Be­
gutachtung psychisch traumatisierter
Menschen (SBPM). In: Haenel F, WenkAnsohn M (Hrsg.): Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Weinheim:
Beltz, 2004
8 Herman J: Complex PTSD: A syndrome
in survivors of prolonged and repeated
trauma. J Trauma Stress (1992), 5:
377–391
9 ICD-10: International Statistical Classification of Diseases and Health Related
Problems, Tenth Revision (ICD-10),
­Volume III Alphabetical Index. World
Health Organisation, 1994
10 Jakobsen M et al: The Validity of Screening for Posttraumatic Stress Disorder
and Other Mental Health Problems
among Asylum Seekers from Different
Countries. J Refug Stud (2001), 24:
171–186
11 Linden M, Baron S: Das Mini-ICF-Rating
für psychische Störungen (Mini-ICF-P).
Ein Kurzinstrument zur Beurteilung von
Fähigkeitsstörungen bei psychischen
Erkrankungen. Rehabilitation (2005), 44:
144–151
12 Leonhardt M: Psychiatrische Begutachtung bei asyl- und ausländerrechtlichen
Verfahren. In: Venzlaff U, Foerster K:
Psychiatrische Begutachtung. 4. Auflage. München: Urban und Fischer, 2004:
748–756
13 Lorenz R: Salutogenese – Grundwissen
für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflegewissenschaftler.
­München: Reinhardt, 2004
14 Maercker A (Hrsg.): Posttraumatische
Belastungsstörungen. 3. Auflage, Berlin:
Springer, 2009
15 Pfeiffer S: Traumaverarbeitung und
­Spiritualität. In: Utsch M, Bonelli RM,
Pfeiffer S: Psychotherapie und Spiri­
tualität. Heidelberg: Springer, 2014:
165–172
16 Steller M, Köhnken G : Criteria-based
statement analysis. In: Raskin DC (Ed.):
Psychological methods for investigation
and evidence. New York: Springer, 1989:
217–245
Interessenkonflikt: Kein Interessenkonflikt angegeben.
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