© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 5 Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat Die Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche und die Asymmetrie der Gesellschaftstheorie Bourdieu and Luhmann on the Welfare State The Autonomy of Social Spheres and the Asymmetry of Theory Barbara Kuchler* Institut für Soziologie, Colonel-Kleinmann-Weg 2, D-55099 Mainz E-mail: [email protected] Zusammenfassung: Bourdieu vertritt die „linke“ Auffassung des Wohlfahrtsstaats als Verteidigung der Autonomie der Politik gegenüber der neoliberal expandierenden Wirtschaft, Luhmann die „rechte“ Auffassung des Wohlfahrtsstaats als Überdehnung der Zuständigkeit der Politik und Eingriff in die Autonomie anderer Bereiche. Dieser Unterschied soll nicht auf die politische Meinung des Theoretikers, sondern auf Strukturen der jeweiligen Theorie zurückgeführt werden. Bei Bourdieu macht sich hier die grundsätzlich asymmetrische Anlage seiner Theorie bemerkbar, die der Wirtschaft sowohl analytisch als auch real einen Primat zuweist. Die anderen Bereiche der Gesellschaft können dann eine relative Autonomie gewinnen durch Absetzung von der dominierenden Logik der Wirtschaft; jedoch blockiert diese Theorieanlage den Blick auf die Autonomie der Wirtschaft selbst und ermöglicht so eine einseitig linke Auffassung des Wohlfahrtsstaats. Bei Luhmann ist nicht etwa eine umgekehrte Asymmetrie, sondern vielmehr die besondere Betonung der Symmetrie der Teilbereiche involviert. Da jede andere, „linkere“ Auffassung des Wohlfahrtsstaates, etwa als Sicherung der Autonomie anderer Teilbereiche vor zu enger Kopplung an Wirtschaft, eine tendenzielle Zentralstellung der Politik im Gefüge gesellschaftlicher Differenzierung bedeuten würde und Luhmann dies aufgrund seines Symmetriepostulats strikt ablehnt, bleibt er alternativlos auf die einseitig „rechte“ Sicht des Wohlfahrtsstaats verwiesen. Summary: While Bourdieu’s analysis of the welfare state follows a “leftist” course, regarding the welfare state as a manifestation of the autonomy of the political sphere as opposed to the neoliberal economy, Luhmann adopts the opposite “rightist” view and regards the welfare state as an over-extension of politics and interference in the autonomy of other spheres. Although it would be easy to attribute this to the political opinions of the two authors, this article tries to attribute it to structures inherent in their respective theories. For Bourdieu, the decisive factor is the fundamental asymmetry in his theory, which takes the economic sphere as primary both analytically and empirically. Other social spheres can then achieve relative autonomy by maintaining their distance from the dominant logic of economics; however, the autonomy of the economy cannot be deduced from this, and this opens the road to Bourdieu’s one-sided leftist view of the welfare state. Luhmann’s opposing view, on the other hand, cannot be explained by a reversed asymmetry (e.g. by a primacy of the political sphere), but, on the contrary, by Luhmann’s emphasis on the symmetry of all social spheres. Since analyzing the welfare state in a more leftist way would involve conceding the political sphere a key position in the overall structure of social differentiation and since this is incompatible with Luhmann’s postulate of symmetry, the only remaining choice is the conventional rightist view. Einleitung Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann werden oft als zwei Theoretiker mit bemerkenswerten Ähnlichkeiten und bemerkenswerten Unterschieden be* Eine frühere Fassung dieses Textes habe ich auf dem Soziologentag 2004 in München vorgetragen. Ich danke den Teilnehmern der dortigen Diskussion, den Mitgliedern der regelmäßig zusammenkommenden Theoriegruppe: André Kieserling, Stefan Kühl, Boris Holzer, Adrian Itschert, sowie einem anonymen Gutachter der Zeitschrift für Soziologie für hilfreiche Kommentare und Kritik. trachtet (siehe z. B. Nassehi/Nollmann 2004). Die Liste der Ähnlichkeiten ist lang: Beide Autoren begreifen die Gesellschaft als differenziert in Felder (Bourdieu) bzw. Funktionssysteme (Luhmann). Beide betonen die Autonomie der Felder/Systeme und den Umstand, dass sie nur auf feld-/systeminterne Reize reagieren und Externes abweisen bzw. „brechen“. Beide sprechen von der Schließung der Felder/Systeme gegenüber dem Rest der Gesellschaft und der darin begründeten Tendenz zur Tautologie des feld-/systeminternen Geschehens. Beide beschreiben die feld-/systemspezifischen Unsicherheiten, die durch die Schließung entstehen, und die 6 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 Strategien, mit denen auf diese Unsicherheit reagiert wird. Beide beschreiben den Vorgang des Überschreitens der Feld-/Systemgrenze von außen nach innen und die charakteristischen Transformationen, die damit einhergehen. Beide gehen davon aus, dass ein Feld/System sich selbst reflektiert und in sich einen Begriff von sich selbst bildet, der dann seine Entwicklung mit steuert. Und beide empfehlen eine Selbstreflexion des Soziologen, der seine soziologischen und speziell gesellschaftstheoretischen Erkenntnisse auch auf sich selbst anwenden sollte. Die grundlegenden Denkfiguren sind also auffallend ähnlich, vor allem wenn man bedenkt, dass die basalen Einheiten, auf die diese Figuren: Schließung, Tautologie, Strategien der Unsicherheitsbearbeitung, Grenzüberschreitung, Reflexion, bezogen werden, in beiden Fällen sehr unterschiedlich sind: Bei Bourdieu sind es Individuen, bei Luhmann sind es Systemoperationen bzw. Kommunikationen. Bourdieu meint mit Schließung eines Feldes die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit von Individuen zum Feld, so dass im politischen Feld nur Politiker, im wissenschaftlichen Feld nur Wissenschaftler usw. mitreden können, während alle anderen ausgeschlossen sind. Als tautologisch bezeichnet er entsprechend die im Feld geltende Annahme, „daß nur Politiker Politik machen können“ (Bourdieu 2001: 45) usw. Die feldspezifische Unsicherheit ist für Bourdieu die Unsicherheit des zum Feld gehörenden Individuums über seine relative Position im Feld und seinen Auf- oder Abstieg; die Strategien, mit denen darauf reagiert wird, sind dementsprechend Karriere- und Konkurrenzunterdrückungsstrategien. Den Vorgang der Grenzüberschreitung begreift Bourdieu als Sozialisationsprozess, in dessen Verlauf ein Individuum die Spielregeln des Feldes lernt und die feldspezifische „illusio“ akzeptiert, um anschließend seine „Weihe“ als zugehörig zu erhalten. Die Reflexion eines Feldes begreift er als Fixierung eines mehr oder weniger verbindlichen Begriffs des Feldes von sich, der zwar nicht ein Begriff eines einzelnen Individuums sein kann, wohl aber ein Begriff, der von bestimmten Gruppen von Individuen (nämlich den Herrschenden, Etablierten, Orthodoxen) gegen andere Gruppen von Individuen (die Beherrschten, Newcomer, Häretiker) durchgesetzt wird. Schließlich ist auch die Selbstreflexion des Soziologen für Bourdieu Reflexion auf soziale Merkmale des Individuums: auf seine relative Position im Feld der Wissenschaft und auf seine Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen oder Gruppen (z. B. Bourdieu 1985: 49ff., 1988: 31ff.). Luhmann dagegen meint mit Schließung den rekursiven Zusammenhang system- oder codespezifischer Kommunikationen, die nur aneinander anschließen können (während aus dem System keine Personen ausgeschlossen sind, soweit sie den Formzwang des Codes akzeptieren). Mit Tautologie meint Luhmann die inhaltsleere Verweisung der zwei Seiten eines Code aufeinander, nach dem Muster, dass Recht ist, was nicht Unrecht ist, wahr ist, was nicht unwahr usw. Systemspezifische Unbestimmtheiten und Unsicherheiten entstehen für Luhmann daraus, dass der Code seine eigene Anwendung, die Verteilung der Codewerte auf Weltsachverhalte nicht regelt; darauf wird mit der Einführung von Programmen reagiert, die die richtige Zuordnung der Codewerte ermöglichen. Den Vorgang der Grenzüberschreitung aus der Umwelt ins System denkt Luhmann als Transformation systemexterner Irritationen, die vom System nur als Rauschen wahrgenommen werden, in systemintern anschlussfähige, codebezogene Informationen. Die Reflexion eines Systems begreift er als Bearbeitung der codeeigenen Paradoxien und letzten Sinnprobleme des Systems, die nur von der logischen Struktur des Code abhängen (und von der Position von Individuen unabhängig sind). Schließlich denkt Luhmann auch die Selbstreflexion des Soziologen als Reflexion des verwendeten Codes bzw. der verwendeten Unterscheidungen und als Relativierung ihres Geltungsbereichs im Vergleich zu anderen, anderswo in der Gesellschaft verwendeten Unterscheidungen (z. B. Luhmann 1990a: 616ff.; vgl. auch Kieserling 2004: 46ff.). Obwohl man die Analyse von Grundbegriffen beider Theorien mit Blick auf die zugrunde liegende Einheit: Individuum oder Kommunikation, noch weiter verfeinern könnte, wird die grundbegriffliche Diskussion hier abgebrochen. Hingewiesen werden soll nur noch auf den Umstand, dass die Spaltung in individuumsbezogene vs. kommunikationsbezogene Begriffe nicht für den Begriff der Autonomie der Felder/Systeme gilt: Sowohl Bourdieu als auch Luhmann denken Autonomie als Eigenschaft des Felds/Systems selbst und weder als Eigenschaft von Individuen noch von Einzelkommunikationen. Autonomie heißt für beide Autoren, dass ein Feld/System nur nach eigenen Regeln oder Strukturen operieren kann, dass es Einflüsse von außen nur in gebrochener Form aufnehmen kann und nicht für Direktdurchgriffe von außen zur Verfügung steht. Die „größere Welt“, der gesellschaftliche Makrokosmos (Bourdieu) bzw. die Gesamtgesellschaft (Luhmann) verliert ihren Zugriff auf das Feld/System und kann höchstens auf indirektem Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat Weg in es hineinwirken. Der Begriff der Autonomie wird in den folgenden Analysen eine zentrale Rolle spielen. Die Fragestellung des weiteren Textes ist jedoch sehr viel enger gefasst als der bisher angedeutete fundamentale Theorievergleich. Es wird ein konkreter Problemkomplex – der Wohlfahrtsstaat – herausgegriffen, um Bourdieus und Luhmanns Auffassungen davon zu vergleichen. Gelegentlich wird auch in den folgenden Analysen auf grundlegende Theorieentscheidungen Bezug genommen, allerdings auf solche, die weniger die Konzeption der Felder/Systeme als solche denn ihre relative Stellung in der Gesamtgesellschaft betreffen. Anlass für die Wahl des Wohlfahrtsstaates als Vergleichspunkt ist eine Irritation über eine weitere – vielleicht marginale – Ähnlichkeit zwischen Bourdieu und Luhmann, nämlich die Beobachtung, dass beide Autoren an diesem Punkt von einem ihrer ansonsten geheiligten Grundsätze der Theoriebildung abweichen. Sowohl Bourdieu als auch Luhmann legen normalerweise Wert darauf, in ihrer Beschreibung sozialer Sachverhalte nicht einfach die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die von Teilnehmern abgegebenen Erzählungen über soziale Situationen zu reproduzieren, sondern sich von diesen zu unterscheiden, inkongruente Perspektiven anzulegen, zu desillusionieren (siehe etwa Bourdieu 1985: 49ff., Luhmann 1975, 1997: 879ff.). In Bezug auf den Wohlfahrtsstaat aber vertreten beide Autoren Positionen, die sehr nah am außersoziologischen common sense der Massenmedien und des politischen Tagesgeschäfts liegen – nur dass Bourdieu den common sense von links vertritt und Luhmann den common sense von rechts. Für Bourdieu ist der Wohlfahrtsstaat eine Errungenschaft, die die Gesellschaft vor dem Wüten des losgelassenen Kapitalismus schützt und deshalb gerettet werden muss. Für Luhmann ist der Wohlfahrtsstaat eine Überdehnung der Zuständigkeit der Politik, ein Ausgreifen der Politik in Bereiche, in denen sie nichts verloren hat und aus denen sie sich besser heraushalten sollte. All dies wird natürlich etwas komplizierter gesagt und mit theoretischen Begriffen „aufgepeppt“, aber die Kernaussage lässt sich doch ohne großen Verzerrungseffekt auf das eben Gesagte reduzieren. Es stellt sich somit die Frage, warum beide Autoren an diesem Punkt so anfällig für common-sense-Auffassungen sind und warum sie dabei der linken bzw. der rechten Seite zuneigen. Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre natürlich, die Nähe zum politischen common sense auf die politische Meinung des jeweiligen Autors zuzurechnen, die an diesem 7 Punkt in die Theorie durchschlägt. Bourdieu und Luhmann bestimmte politische Grundhaltungen zuzuschreiben, ist vermutlich nicht falsch, es ist aber auch nicht sehr informativ und hilft dem am Theorievergleich Interessierten nicht weiter. Vor allem müssen Präferenzen, die sich aus der bloßen persönlichen Meinung des Theoretikers ergeben, auch mit der jeweiligen Theorie kompatibel sein, wenn sie nicht als erkennbare und störende Fremdkörper in der Theorie stehen bleiben sollen. In diesem Text wird daher versucht, die Anfälligkeit Bourdieus und Luhmanns für die linke bzw. rechte commonsense-Auffassung des Wohlfahrtsstaates auf Strukturmerkmale der jeweiligen Theorie zurückzuführen, somit nicht auf die politische Meinung des Theoretikers, sondern auf die Theorie selbst. Begonnen wird mit Bourdieus Auffassung des Wohlfahrtsstaates. Es wird sich zeigen, dass hier die grundsätzlich asymmetrische Anlage von Bourdieus Theorie eine Rolle spielt, die der Wirtschaft sowohl analytisch als auch real einen Primat zuweist und die daher nur die Autonomie anderer Felder, nicht aber die Autonomie der Wirtschaft in den Blick bekommen kann (2.). Luhmanns Auffassung des Wohlfahrtsstaates wird etwas ausführlicher in den nächsten drei Abschnitten behandelt. Zunächst wird Luhmanns Position referiert (3.). Dann wird erwogen, ob eine alternative Beschreibung des Wohlfahrtsstaates mit systemtheoretischen Mitteln möglich wäre; hierzu wird untersucht, was der Wohlfahrtsstaat für die Sicherung der Autonomie anderer gesellschaftlicher Teilsysteme leistet, indem er eine allzu punktuelle Kopplung dieser Systeme an das Wirtschaftssystem verhindert (4.). Im Anschluss daran wird gefragt, warum Luhmann gleichwohl die konventionelle rechte Sichtweise wählt und andere Möglichkeiten gar nicht erst in Betracht zieht; der Grund dafür wird in Luhmanns Betonung der Symmetrie aller gesellschaftlichen Teilbereiche gesehen, die eine allgemeine Autonomiesicherungsfunktion und damit eine gewisse Zentralstellung der Politik in der Gesellschaft nicht zulässt (5.). Abschließend werden einige offen bleibende Probleme angesprochen (6.). 2. Bourdieus Auffassung des Wohlfahrtsstaates Als Einstieg in die Analyse eignet sich die Feststellung, dass sowohl Bourdieu als auch Luhmann den Wohlfahrtsstaat vor dem Hintergrund einer Theorie gesellschaftlicher Differenzierung begreifen, insbesondere vor dem Hintergrund der Annahme, dass 8 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 verschiedene Felder bzw. Funktionssysteme mit je eigener Autonomie existieren. Dies ist insofern erwähnenswert, als der Wohlfahrtsstaat in der soziologischen Diskussion meist im Kontext des Problems Schichtung/Klassenbildung bzw. Inklusion/ Exklusion wahrgenommen wird. Es gibt zwar auch Deutungen des Wohlfahrtsstaates, die mit Blick auf Autonomie argumentieren (Vobruba 1997, 2003), aber damit ist dann die Autonomie des Individuums gemeint. Bei Bourdieu und Luhmann hingegen wird, obwohl ein Bezug auf Klassen (Bourdieu) bzw. Inklusion (Luhmann) weiterhin erhalten bleibt, eine deutliche Verschiebung des Problemkontextes in Richtung auf gesellschaftliche Differenzierung und Autonomie von Feldern/Funktionssystemen vorgenommen. Eine weitere Ähnlichkeit beider Autoren neben den bisher genannten liegt also darin, dass beide ihre Analyse des Wohlfahrtsstaates an Annahmen über gesellschaftliche Differenzierung und Felder-/Funktionssystemautonomie orientieren. Der Unterschied liegt jedoch darin, welche Felder/Funktionssysteme mit ihrer Autonomie dabei im Mittelpunkt stehen. Bourdieu denkt hier vor allem an die Autonomie der Politik bzw. des Staates. Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Globalisierung der 1990er Jahre und der damit einhergehende, unter Namen wie „Neoliberalismus“ und „Standortkonkurrenz“ bekannte Trend zum Abbau des Wohlfahrtsstaates (siehe z. B. Bourdieu 1997, 1998). Von dort aus gesehen liegt das Problem in der Beschneidung der Autonomie des politischen Feldes: Dieses gerät unter das Diktat der global operierenden Wirtschaft, muss sich den Forderungen des global fluktuierenden Kapitals beugen und verliert seine eigene, den Gesetzen des Kapitalismus entzogene Handlungsfähigkeit. Was dabei gelähmt wird, ist insbesondere die „linke Hand“ des Staates. Bourdieu unterscheidet am Staat eine rechte und eine linke Hand (1997: 18f.): Mit der rechten Hand ist der Staat Repressionsapparat (Polizei, Gefängnisse usw.) und sorgt für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, mit der linken Hand unterhält er öffentliche Einrichtungen (Bildungssystem, Gesundheitssystem usw.) und betreibt Umverteilung und Daseinsvorsorge für seine Bürger. Die Autonomie des Staates ist – obwohl Bourdieu die Unverzichtbarkeit auch der rechten Hand nicht bestreiten würde – vorzugsweise in seiner linken Hand zu suchen. Denn die Autonomie eines Feldes bemisst sich für Bourdieu daran, wie stark es sich von den Gesetzmäßigkeiten der restlichen Gesellschaft unterscheidet. „Ein Feld ist ein autonomer Mikrokosmos innerhalb des sozialen Makrokos- mos. Etymologisch gesehen heißt autonom sein, sein eigenes Gesetz zu haben, sein eigenes nomos, nach seinen eigenen Regeln zu funktionieren. Das Feld ist ein Universum mit eigenen Bewertungskriterien, die in einem anderen Mikrokosmos keine Gültigkeit haben. Ein Universum, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die sich von den Gesetzen der gewöhnlichen sozialen Welt unterscheiden“ (Bourdieu 2001: 41f.). Eine solche Distanzierung von der Reproduktion der sozialen Welt im Übrigen sieht Bourdieu im Falle des Staates aber vor allem in dessen „linkshändigen“ Aktivitäten, weil nur diese sich der ohnehin laufenden Dynamik der Akkumulation von Kapital dort, wo es schon vorhanden ist, entgegensetzen (insofern sie Umverteilung, Beförderung der Interessen der beherrschten Klassen usw. zum Ziel haben). Die rechte Hand des Staates dagegen ist, insofern sie der Aufrechterhaltung des Status quo dient, verlängerter Arm und Instrument der herrschenden Klassen, so dass der Staat hierin gerade nicht autonom und nur seinem eigenen nomos gehorchend ist, sondern größere, auch außerhalb seiner Grenzen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt und reproduziert. Insofern die Politik sich den Gesetzen der „gewöhnlichen sozialen Welt“, den Gesetzen der Klassenreproduktion und Kapitalakkumulation entzieht und sich als autonomer Mikrokosmos etabliert, ist sie somit tendenziell „Linkshänder“. Und insofern die Politik „Rechtshänder“ und mit der Reproduktion der herrschenden Ordnung verbündet ist, hat sie kein eigenes, vom Rest der Welt sich unterscheidendes Gesetz und ist nicht autonom. Rechte und linke Bourdieu und Luhmann über den WohlfahrtsstaatHand der Politik sind mit Bezug auf Autonomiechancen nicht gleichgestellt. Noch einmal Bourdieu: „Der Staat erringt im Laufe seiner Entwicklung eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mächten. […] Es wäre zu einfach, ihn allein als Werkzeug im Dienste der Herrschenden zu begreifen. Sicher ist der Staat nie ganz neutral, völlig unabhängig von den Herrschenden, aber er besitzt doch eine gewisse Autonomie, die umso größer wird, je älter, je mächtiger er ist, je mehr seine Institutionen gesellschaftliche Eroberungen [lies: sozialstaatliche Errungenschaften] beherbergen“ (Bourdieu 1998: 42). Bourdieu kommt also zu dem – als solchem keineswegs originellen – Schluss, dass in Verteidigung der Autonomie der Politik und zur Eindämmung des globalisierten Kapitalismus dem Rückbau des Wohlfahrtsstaates entgegengewirkt werden muss. Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat Wichtig ist jedoch, auf die asymmetrische Struktur von Bourdieus Interesse für Autonomie und Autonomieverlust hinzuweisen. Bourdieu interessiert sich in seinen Stellungnahmen zum Wohlfahrtsstaat ausschließlich für die Autonomie des politischen Feldes, nicht etwa auch für die Autonomie des wirtschaftlichen Feldes, an die man beim Thema Globalisierung/Neoliberalismus ja auch leicht denken könnte und die in der tagespolitischen Diskussion oft genug genannt wird. Bourdieu analysiert die Lage nicht als einen Zusammenstoß zweier entgegengesetzter, einander ausschließender Autonomien – des politischen und des wirtschaftlichen Feldes –, sondern ausschließlich als eine Bedrohung der einen Autonomie durch etwas, das zwar irgendwie groß, übermächtig und rücksichtslos ist, aber auf das der Autonomiebegriff offensichtlich nicht anwendbar ist. Bourdieu geht in seinen Äußerungen zum Wohlfahrtsstaat an keiner Stelle auf die Autonomie der Wirtschaft ein. Er spricht zwar manchmal von der „Freiheit“ des Marktes, der „Freiheit“ des Kapitals, der „Freiheit“ der internationalen Finanzmärkte usw., aber stets nur in ironischem oder denunziatorischem Ton (Bourdieu 1997: passim). Die „Freiheit“ des Marktes und andere Zauberworte wie „Deregulierung“, „Flexibilisierung“ usw. führen Bundesbankpräsidenten und vergleichbare Amtsträger im Munde, und zwar dann, wenn sie in Wirklichkeit die Interessen der herrschenden Klassen meinen (Bourdieu 1998: 53ff.). „Freiheit“ ist eine Chiffre dafür, dass die Profite der Kapitalanleger wichtiger sind als die Daseinsbedingungen der beherrschten Klasse, des Fußvolks des Kapitalismus. Die „Freiheit“ des Marktes ist also ein Mythos, ein politischer Kampfbegriff, der der Ideologiekritik unterzogen werden sollte, nicht aber ein Begriff, den der Theoretiker selbst verwenden sollte. Festzuhalten ist somit, dass Bourdieu keinerlei Empathie oder Verständnis für die doch auch möglicherweise involvierte Autonomie des wirtschaftlichen Feldes hat und deshalb eine einigermaßen einseitige, „linke“ Sichtweise des Wohlfahrtsstaates produziert. Eine solchermaßen einseitige Sichtweise ist zwar im politischen und massenmedialen Diskurs auch durchaus verbreitet, aber dort ist sie gewissermaßen dadurch gerechtfertigt oder jedenfalls erklärt, dass keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie als begriffliche Grundlage zur Verfügung steht. Aber bei einem Gesellschaftstheoretiker, dessen Theorie an zentraler Stelle den Begriff der Autonomie enthält, sollte man eigentlich erwarten, dass gegenüber solchen einseitigen Begriffsverwendun- 9 gen gewisse Sperren greifen oder automatische ReSymmetrisierungsversuche unternommen werden. Davon ist jedoch bei Bourdieu nichts zu finden; vielmehr schwimmt er reflexions- und distanzlos im Strom der üblichen Globalisierungskritik mit. Damit ein solcher Distanzverlust gegenüber dem nichtsoziologischen, politisch-massenmedialen Diskurs stattfinden kann, müssen entweder sehr starke politische Motive und Loyalitäten im Spiel sein, oder es muss einen theorieimmanenten Grund geben, der die normalerweise an dieser Stelle einsetzenden Kontrollen außer Kraft setzt. Ein solcher theorieimmanenter Grund ist meiner Ansicht nach tatsächlich vorhanden. Er liegt in der grundsätzlich asymmetrischen Anlage von Bourdieus Theorie, nämlich im grundsätzlichen Primat der Wirtschaft in der Theorie bzw. in der Gesellschaft. Die Wirtschaft hat für Bourdieu erstens einen analytischen Primat, insofern er alle gesellschaftlichen Felder nach dem Modell der Wirtschaft und mit der Wirtschaft entnommenen Begriffen analysiert (Kapital, Investition, Akkumulation, Konvertibilität usw.).1 Sie hat aber zweitens auch einen realen Primat, insofern die Wirtschaft dasjenige Feld ist, das im Gesamtgefüge der Gesellschaft tendenziell dominiert (Bourdieu 1985: 11), dessen Kapital in der „Rangfolge zwischen den verschiedenen Kapitalsorten“ (ebd.) den ersten Platz einnimmt und das deshalb auch enger mit der Reproduktion der gesamtgesellschaftlich herrschenden Klassen verbunden ist als irgendein anderes Feld. Bourdieu streicht zwar die explizite These vom Primat der Wirtschaft und das Basis-Überbau-Theorem, die der klassische Marxismus verfochten hatte (Bourdieu 1985: 31f.). Aber insofern seine Theorie eine Klassentheorie und eine Theorie der Kapitalakkumulation bleibt und insofern das wirtschaftliche Feld die Logik der Kapitalakkumulation direkter und offener betreibt als jedes andere Feld (vgl. Kieserling 2004: 136ff.), kann Bourdieu den Primat der Wirtschaft auch nicht vollständig abschütteln. Dieser bleibt beim Umbau vom Marxismus zu einer mehrdimensionalen Klassentheorie irgendwo im Prozess des Abrisses eines Theoriegebäudes und der Errichtung eines anderen als mehr oder weniger verlassene und vernachlässigte Ruine stehen. In theorietechnisch unsauberer und bei Bourdieu selbst 1 Daneben verwendet Bourdieu auch Begriffe, die dem Feld der Religion entnommen sind, so wenn er in allen Feldern „Orthodoxe“ und „Häretiker“, „Kleriker“ und „Laien“, „Ordinationen“ und „Exkommunikationen“ ausmacht. Jedoch dominiert in der Theoriestruktur insgesamt die Verwendung ökonomischer Begriffe; vgl. Kieserling 2004: 128ff. 10 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 nicht geklärter Weise kommt es deshalb zu einer – wenn nicht Identität, so doch – Wahlverwandtschaft zwischen (gesamt)gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen.2 Aus dem Primat der Wirtschaft folgt aber im Umkehrschluss, dass es Autonomie nur für die anderen Felder geben kann. Denn Autonomie heißt für Bourdieu – wie oben gezeigt – die Abkopplung vom gesellschaftlichen Makrokosmos, von den in der Gesellschaft insgesamt geltenden Gesetzen. Eine solche Abkopplung ist jedoch für die Wirtschaft nicht möglich, da sie zu einem zu großen Anteil der gesellschaftliche Makrokosmos ist, da ihre feldeigenen Strukturen zu sehr mit den gesamtgesellschaftlichen Strukturen der Klassendifferenz und der Kapitalakkumulation zusammenfallen. Für die anderer Felder heißt Autonomie Abkopplung von der Klassenstruktur, Abkopplung von den Zwängen des ökonomischen Feldes und vom dominierenden ökonomischen Kapital und Geltung nur des jeweils feldspezifischen Kapitals: des politischen, wissenschaftlichen, literarischen Kapitals usw. (vgl. zu diesem Bourdieu’schen Autonomiebegriff Kieserling 1998: 135ff.). Für die Wirtschaft selbst gibt es unter diesen Umständen strukturell keine Möglichkeit zur Autonomie.3 Hier liegt der Nachteil eines Autonomiebegriffs, der Autonomie grundsätzlich als Abkopplung von etwas, als Selbstbehauptung gegen etwas begreift: Dieses Etwas selbst kann dann, wie 2 Man beachte dazu die zwanglose Einheit der Begriffe „gesellschaftlich“ und „wirtschaftlich“ im oben bereits zitierten Satz: „Der Staat erringt im Laufe seiner Entwicklung eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mächten“ (Bourdieu 1998: 42, Hervorh. hinzugefügt). 3 In Bourdieus Text über das ökonomische Feld (Bourdieu 2002) kommt denn auch das Wort „Autonomie“ nicht vor (bzw. wo es vorkommt, bezieht es sich auf die relative Autonomie des Unternehmens im ökonomischen Feld und nicht auf dieses selbst; ebd.: 209f.). Ansonsten fällt auf, dass Bourdieu zwar den Versuch macht, die Wirtschaft mit seinen üblichen Begriffen der Feldanalyse zu beschreiben, dass diese Beschreibung aber im Vergleich zur Beschreibung anderer Felder sehr überraschungsarm bleibt. Es ist kaum ein Unterschied zu dem feststellbar, was man immer schon über Wirtschaft wusste und was auch Wirtschaftswissenschaftler über diese sagen: dass die Großen den Markt beherrschen und nicht die Kleinen, dass die Position im Feld umso besser ist, je mehr Kapital man hat, usw. Auch Kieserling (2004: 145ff.) stellt fest, dass Bourdieu, da er immer schon mit aus der Wirtschaft entnommenen Begriffen arbeitet und damit seine Verfremdungseffekte erzielt, sich nur von der Selbstbeschreibung anderer Felder, nicht aber von der Selbstbeschreibung der Wirtschaft distanzieren kann bzw. beim Versuch dazu interne Inkonsistenzen erzeugt. immer es bestimmt wird, niemals als autonom begriffen werden.4 An diesem Punkt ist Bourdieu wider Willen ein Erbe des Marxismus und teilt die asymmetrische Anwendbarkeit des Autonomiebegriffs mit klassischen Marxisten sowie mit anderen Post-Marxisten (vgl. zu Adorno als weiterem Fall desselben Typs Kuchler 2005: 61). Die oben beobachtete Tatsache, dass Bourdieus Beschreibung des Wohlfahrtsstaates mit dem linken common sense zusammenfällt, ist demnach eine Konsequenz der grundsätzlichen Asymmetrie in seiner Theorieanlage, die ihn daran hindert, den Autonomiebegriff gleichmäßig und symmetrisch auf alle involvierten Felder anzuwenden. Wenn das wirtschaftliche Feld aus theoriestrukturellen Gründen nicht als autonom gedacht werden kann, gibt es praktisch keine andere Möglichkeit, als die Frage nach Autonomie einseitig und ausschließlich mit Blick auf das politische Feld zu stellen und dann folgerichtig den Abbau des Wohlfahrtsstaat nur zu verurteilen (unter Gesichtspunkten der Autonomieeinschränkung) und nicht etwa auch zu begrüßen (unter Gesichtspunkten der Autonomiebehauptung). Das Ergebnis ist eine Auffassung, die dem linken common sense wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Mit dieser Analyse von Theoriestrukturen soll nicht bestritten sein, dass in der aufgedeckten Kette: marxistische Gesellschaftstheorie – Bourdieu’sche Gesellschaftstheorie – Verteidigung des Wohlfahrtsstaates auch politische Kontinuitäten und Loyalitäten stecken. Mindestens ebenso wichtig sind aber meinem Eindruck nach die teils unbeabsichtigten und unreflektierten theoretischen Kontinuitäten in Bezug auf gesellschaftliche Primatstellungen und Grenzen des Autonomiebegriffs. 4 Dass Autonomie als Entgegensetzung gegen bzw. Abkopplung von irgendetwas gedacht werden muss, ist natürlich in gewisser Weise unausweichlich und Moment jedes Autonomiebegriffs; das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass Autonomie immer eine Grenzziehung und eine andere Seite voraussetzt. Die Frage ist aber, wie konkret dieses Etwas bestimmt wird. Wenn man, wie Luhmann, Autonomie als Abkopplung von der Umwelt definiert, bleibt die andere Seite, die Umwelt, so vage und sozusagen so un-ontologisch bestimmt, dass die Nicht-Anwendbarkeit des Autonomiebegriffs darauf nicht nur kein Problem, sondern geradezu ein Implikat des Umweltbegriffs ist. Problematisch wird es nur, wenn man das Etwas zu konkret bestimmt, so dass man in die Lage geraten kann, auch in Bezug auf dieses Etwas noch einmal nach seiner Autonomie gefragt zu werden. Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat 3. Luhmanns Auffassung des Wohlfahrtsstaates Der Fall Luhmanns ist in vielen Hinsichten genau umgekehrt gelagert. Denn erstens steht Luhmann für die umgekehrte politische Ausrichtung: rechts statt links. Zweitens stammen Luhmanns Äußerungen zum Wohlfahrtsstaat aus einer Periode wachsender und nicht schrumpfender wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit (nämlich aus den frühen 1980er Jahren). Drittens kommt Luhmann interessanterweise zu einer genau umgekehrten und umgekehrt einseitigen Verwendung des Autonomiebegriffs: Bei ihm geht es, wenn vom Wohlfahrtsstaat die Rede ist, nicht um die Autonomie der Politik, sondern um die Autonomie derjenigen gesellschaftlichen Teilsysteme, in die die Politik eingreift: Wirtschaft, aber auch Bildung, Gesundheit, Familie und einige mehr. In der Autonomie dieser Systeme steckt für Luhmann das Problem des Wohlfahrtsstaates, und aus ihr leitet er seine skeptische Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat ab: Der Wohlfahrtsstaat ist der Versuch, durch zentralen politischen Durchgriff in andere Teilsysteme intervenieren, ihre internen Selektionsprozesse zu steuern, politisch für notwendig gehaltene Kompensationsprogramme in ihnen einzuführen usw.; aber ein solcher Versuch muss notwendig an der Autonomie der anderen Systeme scheitern (siehe v.a. Luhmann 1981b). Autonomie ist also für Luhmann nicht das Ziel und der Daseinsgrund, sondern der „Stolperstein“ des Wohlfahrtsstaates. Die Autonomie seiner „Zielsysteme“ bekommt der Wohlfahrtsstaat vor allem in der Form zu spüren, dass ihm kein gesichertes Kausalwissen zur Erzielung bestimmter Wirkungen zur Verfügung steht. Die Kausalzusammenhänge in anderen Systemen sind komplex und unberechenbar, es gibt in diesen Systemen meist keine zentrale Steuerungsinstanz, an der politische Eingriffe ansetzen könnten, und es ist ungewiss, welche Wirkungen sich mit den der Politik zur Verfügung stehenden Mitteln: Recht und Geld, dort überhaupt erzielen lassen (ebd.: 94ff.). Dass die Autonomie der anderen Systeme und damit ihre Unzugänglichkeit für direkte Steuerung von außen5 für die Politik nicht brechen sind, zeigt Luhmann etwa für das Wirtschaftssystem und das Erziehungssystem: „Die Wirtschaft verfügt über 5 Zur weiteren systemtheoretischen Diskussion über die Unmöglichkeit der Steuerung von Systemen von außen und den möglichen Lösungsansatz der„dezentralen Kontextsteuerung“ siehe etwa Teubner/Willke 1984, Glagow/ Willke 1987. 11 das Kommunikationsmedium Geld, das alle kausal gerichteten Intentionen diffus auseinanderbricht, da Geld höchst vielseitig verwendbar ist . . . [und] mit dem Geld schon in der zweiten, dritten, vierten Hand etwas [geschieht], was über Zwecke der ursprünglichen Geldgabe nicht gesteuert, nicht gebunden werden kann. Die Erziehung verfügt über das von außen uneinsichtige Unterrichtsgeschehen im Klassenzimmer, also über hochkomplexe Interaktionen, deren ‚Technologie‘ unsicher ist und deren Resultate politisch-administrativ nicht beeinflusst, geschweige denn verbessert werden können. Es gibt, anders gesagt, ‚natürliche‘ Autonomiesicherungen in den Systemen, die das politische System durch bindende Entscheidungen zu beeinflussen sucht“ (ebd.: 84). Der Wohlfahrtsstaat ist demnach der organisierte und auf Dauer gestellte Versuch, die natürlichen „Wirkungsgrenzen“ innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft zu ignorieren und die spezifische Funktions- und Wirkungsweise der Politik, nämlich das Treffen kollektiv bindender Entscheidungen, über den Bereich ihrer sinnvollen Anwendung hinaus auszudehnen.6 Das führt unvermeidlich zu unerwünschten Folgeerscheinungen: zum Nicht-Eintreten der beabsichtigen Wirkungen, zum Eintreten unbeabsichtigter Nebenfolgen, zum Wachstum der Bürokratie an den Grenzen der betroffenen Systeme und zu einem krassen Missverhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und den in den entsprechenden Systemen real erzielten Effekten. Dies ist eine notwendige Konsequenz der multiplen Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme. Der Wohlfahrtsstaat ignoriert diese Autonomie und damit letztlich den Tatbestand der funktionalen Differenzierung; er versucht, in aussichtslosem Widerstand gegen die Grundprinzipien der modernen Gesellschaft, „einen Zentralplatz und damit eine Gesamtverantwortung für die Gesellschaft zu okkupieren“ (ebd.: 121). Ein solcher Versuch muss zwar nicht 6 Allerdings scheint es innerhalb des systemtheoretischen Denkrahmens uneindeutig zu sein, ob der Wohlfahrtsstaat als Überdehnung der spezifischen Funktionsorientierung der Politik gesehen werden muss (was Luhmann tut) oder aber als normaler und erwartbarer Universalismus der Politik, nämlich als Interesse für alle im Suchscheinwerfer der Politik auftauchenden Probleme (was andere systemtheoretisch orientierte Autoren vorschlagen). Ausgehend vom Begriff des spezifischen Universalismus als Merkmal von Funktionssystemen kann man diese Kontroverse scharf auf den Punkt bringen: Unklar ist, ob der Wohlfahrtsstaat eine Verletzung des spezifischen Universalismus der Politik oder ein Ausdruck ihres spezifischen Universalismusist. 12 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 notwendig empirisch instabil sein; er muss aber, gemessen an seinen Ansprüchen, prinzipiell erfolglos bleiben. An diesem Punkt ist es, in Parallele zu Bourdieu, wichtig festzustellen, dass auch Luhmann den Autonomiebegriff bei der Beschreibung des Wohlfahrtsstaates einseitig einsetzt: Er wendet ihn nur auf die „Zielsysteme“ politischen Handelns an, nicht aber auf das Politiksystem selbst.7 Den Wohlfahrtsstaat selbst sieht Luhmann – ganz im Gegensatz zu Bourdieu – nicht als Ausdruck der Autonomie der Politik, sondern eher als Pathologie, als „Selbstüberforderung“ (ebd.: 140) der Politik, die ohne Schaden für ihre Autonomie auch wegfallen könnte. Zwar betrachtet er den Wohlfahrtsstaat in gewisser Weise als Folge politiksysteminterner Strukturen, insbesondere der zunehmenden Inklusion der Gesamtbevölkerung in Verbindung mit demokratischen Wahlen, womit die Ansprüche nahezu unabweisbar und staatliche Leistungen nahezu unsenkbar werden (ebd.: 25ff.). Jedoch scheint Luhmann den Staat hier mehr als wehrloses Opfer seiner eigenen Strukturen zu sehen denn als autonomes „Subjekt“ von Strukturentscheidungen. Er empfiehlt denn auch als Gegenprogramm zum wohlfahrtsstaatlichen Expansionismus ein „restriktives Politikverständnis“ (ebd.: 122), das den Staat auf seine Kernfunktion des Herstellens kollektiv bindender Entscheidungen (im Einzugsbereich des eigenen Systems, nicht anderer Systeme) zurückschrauben will. Ein solches restriktives Politikverständnis muss demnach mindestens ebenso gut (und nach Luhmanns Auffassung: besser) mit einem autonomen Politiksystem kompatibel sein wie die herrschende Praxis wohlfahrtsstaatlicher Expansion. Luhmann wendet den Autonomiebegriff somit nicht weniger einseitig an als Bourdieu, nur in umgekehrter Richtung einseitig. Während Bourdieu diesen Begriff für die Politik reserviert und die Wirtschaft aus seinem Anwendungsbereich ausnimmt, nimmt Luhmann die Politik daraus aus und beschreibt nur die anderen, im Wirkungsbereich des Wohlfahrtsstaates liegenden Systeme damit. Und ebenso wie bei Bourdieu ist auch bei Luhmann die einseitige Verwendung des Autonomiebegriffs der Grund dafür, dass seine Auffassung des Wohlfahrtsstaates sich so gut mit einer common-sense-Auffassung deckt: in diesem Fall mit der des „rechten“ common sense, der seit jeher für eine enge Begren7 Zur Klarstellung: Grundsätzlich wendet Luhmann den Autonomiebegriff natürlich auch auf die Politik an, aber nicht im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat. zung der Staatsfunktionen eingetreten ist. Und ebenso wie Bourdieu scheinen auch Luhmann die theoretischen Kontrolllampen zu fehlen, die ihn auf seine asymmetrische Anwendung des Autonomiebegriffs aufmerksam machen. Wenn es zutrifft, dass Luhmann den Wohlfahrtsstaat nicht nur mit umgekehrten politischen Vorzeichen, sondern auch mit umgekehrter theoretischer Einseitigkeit beschreibt wie Bourdieu, stellt sich wiederum die Frage nach theoriestrukturellen Gründen dafür. An diesem Punkt enden jedoch die Parallelen zwischen Bourdieu und Luhmann. Die neuerliche Einseitigkeit in der Verwendung des Autonomiebegriffs kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass Luhmann eine umgekehrte Asymmetrie in seine Theorie eingebaut hätte wie Bourdieu – dass bei ihm etwa die Politik einen Primat in der Gesellschaft hätte. Das ist bekanntlich nicht der Fall. Vielmehr legt Luhmann Wert auf eine streng symmetrische Behandlung aller Teilsysteme: Er beschreibt sie so weit wie möglich mit denselben Begriffen, die keinem von ihnen entnommen sind (Code, Programm, Inklusion, Medium usw.), und er wird nicht müde zu betonen, dass die moderne Gesellschaft kein Zentrum und keine Spitze, kein ausgezeichnetes und in irgendeiner Weise zentrales Teilsystem hat, sondern alle Teilsysteme gleichrangig nebeneinander stehen (z. B. Luhmann 1981b: 121). Der Unterschied zwischen Bourdieu und Luhmann liegt also nicht in einer anders ansetzenden Asymmetrie, sondern im Unterschied zwischen Asymmetrie und Symmetrie. Wenn Luhmann aber keine umgekehrte Asymmetrie in seine Theorie eingebaut hat, dann wird es erst recht erklärungsbedürftig, warum er den Autonomiebegriff einseitig einsetzt und zu der rechten common-sense-Auffassung des Wohlfahrtsstaates gelangt. Ein Grund dafür ist nicht unmittelbar ersichtlich. Von seiner Symmetrie betonenden Theorie aus müsste Luhmann eigentlich Zugang zu mehr, nicht notwendig auf eine politische Richtung fixierten Aspekten des Wohlfahrtsstaates gewinnen können; die Festlegung auf die „rechte“ Interpretation unter Ausschluss der „linken“ scheint nicht zwingend aus Theoriestrukturen zu folgen. Oder doch? Um auch diese Entscheidung noch als Theorieentscheidung (statt als politische Entscheidung) entschlüsseln zu können, muss man sich zunächst fragen, wie eine „linke“ systemtheoretische Auffassung des Wohlfahrtsstaates aussehen könnte, um dann in einem zweiten Schritt zu fragen, warum Luhmann auf diese nicht eingeht und statt dessen einseitig die „rechte“ Auffassung vertritt. In folgenden Abschnitt wird eine solche Erweiterung des sys- Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat temtheoretischen Denkhorizonts vorgenommen, um möglicherweise der Einseitigkeit in Luhmanns Auffassung des Wohlfahrtsstaates steuern zu können oder jedenfalls die Gründe für diese Einseitigkeit aufklären zu können. 4. Eine alternative systemtheoretische Auffassung des Wohlfahrtsstaates 4.1 Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat Die Systemtheorie verfügt durchaus über denkerische Mittel, um dem Wohlfahrtsstaat einen positiven Sinn abzugewinnen, und zwar einen Sinn, der sich – sonst würde der Bezug auf die leitende Fragestellung verloren gehen – auf die Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche bezieht. Diese Mittel müssen nur an der passenden Stelle gesucht und auf den Problemkontext Wohlfahrtsstaat übertragen werden. Da der Wohlfahrtsstaat offensichtlich mit Zwischen-System-Beziehungen zu tun hat, mag es sinnvoll sein, besonders an denjenigen – raren – Stellen zu suchen, an denen Luhmann systematisch Zwischen-System-Beziehungen (statt Systeme für sich) beschreibt. Eine prominente Stelle dieser Art ist Luhmanns frühes Buch über den Rechtsstaat Grundrechte als Institution (1965). Luhmann analysiert dort die in der Verfassung kodifizierten Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Forschungsfreiheit, Sicherheit des Eigentums, Unverletzlichkeit der Privatsphäre usw. und bezieht sie auf die funktional differenzierte Gesellschaft. Seine These ist, dass die Grundrechte nicht den Menschen und seine angeborenen, unveräußerlichen Rechte schützen, sondern die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme: die Massenmedien, die Religion, die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Familie usw.8 Die Liste der Grundrechte entspricht erstaunlich gut (wenn auch natürlich nicht hundertprozentig) der Liste der Funktionssysteme, während man von den angeborenen Eigenschaften des Menschen aus auf eine solche Dekomposition nie kommen würde.9 8 Ich passe meine Darstellung von Grundrechte als Institution hier an das erst später entwickelte Theorem der funktionalen Differenzierung und die dazu gehörige Liste der Funktionssysteme an. 1965 verfügte Luhmann über dieses Theorem noch nicht, und seine Darstellung gesellschaftlicher Differenzierung folgt daher eher einem Parsionianischen Vier-Felder-Schema. Sie lässt sich jedoch unschwer in die spätere Theoriekonzeption übersetzen. 9 Eine ähnliche Korrespondenz zwischen rechtlichen Schutzbestimmungen und gesellschaftlichen Funktionssys- 13 Genauer lautet Luhmanns These so: Der Rechtsstaat schützt die Autonomie der anderen Teilsysteme, indem er allzu punktuelle Eingriffe des politischen Systems verbietet. Zugrunde liegt die allgemeine systemtheoretische Überlegung, dass Systemautonomie es erfordert, dass Punkt-zu-Punkt-Beziehungen zwischen System und Umwelt unterbrochen werden (siehe z. B. Luhmann 1970b: 157f., 1984: 242ff.).10 Systeme dürfen nicht eins zu eins an Vorgänge in ihrer Umwelt gekoppelt sein, weil sonst im Extremfall gar keine Grenzziehung und Interdependenzunterbrechung (mithin Systembildung) erkennbar wäre. Punktuelle Kopplungen zwischen System und Umwelt müssen aufgelöst und durch stärker generalisierte, strukturelle, nicht unmittelbar operationswirksame Kopplungen ersetzt werden. Die Umweltbeziehungen des Systems werden so gewissermaßen von der operativen Ebene entfernt und dadurch autonomiekompatibel. Behauptet wird also nicht – wie zur Vermeidung von Missverständnissen betont werden muss – das Abschneiden jedes Zusammenhangs zwischen System und Umwelt. Systeme sind keine schlechthinnigen Inseln in der Welt; aber sie sind relativ abgekoppelte, über Metemen findet sich in der„Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (United Nations 1948) sowie im „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ (Confoederatio Helvetica 1949). 10 Ursprünglich stammt der Gedanke der höheren Freiheitsgrade in Zwischen-System-Beziehungen durch Generalisierung von Tauschbeziehungen und Ablösung von Punkt-zu-Punkt-Tausch (barter) von Parsons; siehe z. B. Parsons/Smelser 1956: 70ff. Der frühe Luhmann greift diesen Gedanken auf und inkorporiert ihn in seinen Autonomiebegriff, wenn auch nur als eine von drei Dimensionen: In der Sachdimension heißt Autonomie, dass SystemUmwelt-Beziehungen „auf (mindestens) zwei verschiedenen Ebenen der Generalisierung stabilisiert werden“ und die generalisierte, pauschale Anerkennung des Systems durch die Umwelt nicht in Frage gestellt wird; in der Zeitdimension heißt Autonomie, dass das System „Zeit hat“ und nicht auf alle Umweltereignisse sofort reagieren muss; in der Sozialdimension heißt Autonomie, dass das System zwischen mehreren Kommunikationspartnern in der Umwelt wählen kann und „sich nicht nur einer geschlossenen Umweltmacht […] gegenübersieht“ (Luhmann 1970b: 156f.). Der späte Luhmann entwickelt allerdings einen hiervon völlig verschiedenen Autonomiebegriff, der fast in eins fällt mit dem Autopoiesisbegriff: „Ein System, das aufgrund von selbstreferentieller Geschlossenheit operiert, operiert autonom. Autonomie ist […] nichts anderes als die Herstellung der eigenen Einheit durch die eigenen Operationen des Systems“ (Luhmann 1990: 289; vgl. als Zwischenstufe auch Luhmann 1984: 279ff.). Mit diesem neueren Autonomiebegriff wird im vorliegenden Text nicht gearbeitet. 14 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 chanismen der Interdependenzunterbrechung verfügende Zusammenhänge, die nur darum als Systeme erkennbar sind, weil Vorgänge in der Umwelt nicht unmittelbar und eins zu eins ins System durchschlagen, sondern nur über bestimmte, höher generalisierte Einflussbahnen aufs System einwirken können. Die Grundrechte stehen an genau dieser Funktionsstelle der Entkopplung oder Ent-Punktualisierung, was die Beziehungen zwischen dem politischen System und anderen Teilsystemen der Gesellschaft betrifft. Die Grundrechte verbieten punktuelle Eingriffe der Politik in andere Systeme und erlauben politische Einflussnahmen nur auf höheren Generalisierungsebenen. Damit sind sie der (oder ein) Garant der Autonomie der anderen Teilsysteme gegenüber dem Politiksystem. Hierfür seien einige Beispiele gegeben: – Die Massenmedien dürfen nicht der Gefahr punktueller Eingriffe durch die Politik ausgesetzt sein, wenn sie autonom sollen operieren können. Deshalb gibt es das Grundrecht auf Pressefreiheit, das politische Zensur oder die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen untersagt und die Massenmedien unabhängig macht von der punktuellen Zustimmung des politischen Systems zu ihren Druckbzw. Sendeerzeugnissen. Politische Einflussnahmen auf die Massenmedien sind dann nur noch auf höheren Generalisierungsebenen möglich, etwa in Form der Vorgabe hoch generalisierter Richtlinien (wie Verfassungstreue) oder in Form des Betreibens öffentlich-rechtlicher Rundfunksender mit politisch eingesetztem Führungspersonal. – Die Wissenschaft darf nicht von der Unterdrückung einzelner, politisch missliebiger Forschungsergebnisse oder der Verfolgung der daran beteiligten Forscher bedroht sein, wenn autonome Forschung möglich sein soll. Deshalb gibt es das Grundrecht auf Forschungsfreiheit, das die Wissenschaft vor punktuellen Eingriffen der Politik in ihre Forschungsprozesse schützt. Einflussnahmen auf höheren Generalisierungsebenen bleiben auch hier möglich, z. B. in Form von Struktur- oder Besetzungsentscheidungen an Universitäten und Forschungseinrichtungen oder in Form der gezielten Vergabe von Geldern an bestimmte Forschungsrichtungen (Luhmann 1997: 759). – Die Wirtschaft darf nicht bedroht sein von punktuellen Enteignungen durch die Politik, weil sonst kein wirtschaftlich rationales, langfristiges Kalkulieren, mithin kein autonomes wirtschaftliches Operieren möglich wäre. Deshalb gibt es das Grundrecht auf Sicherheit des Eigentums, das Enteignungen verbietet (bzw. in Ausnahmefällen zu- lässt, aber unter Entschädigungszwang stellt) (Luhmann 1965: 108ff.). Wiederum sind Kopplungen zwischen beiden Systemen auf höheren Generalisierungsebenen dadurch nicht ausgeschlossen, z. B. in Form der Erhebung von Steuern als hoch generalisierten und damit kalkulierbaren Geldabschöpfungsmechanismen (Luhmann 1997: 781) oder in Form des Drehens an hoch generalisierten Stellschrauben wie Zinssätzen oder Staatsausgaben, das nicht umsonst „Globalsteuerung“ heißt. – Das Recht darf nicht punktuellen politischen Eingriffen in einzelne Gerichtsverfahren ausgesetzt sein, wenn es autonomes Recht sprechen und sich von bloßer Staats- oder Parteijustiz unterscheiden soll. Deshalb gibt es die Garantie der Unabhängigkeit der Richter und den Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz, der die politisch motivierte Sonderbehandlung einzelner Fälle ausschließt. Auch hier bleiben erhebliche politische Einflussnahmen auf das Recht möglich und normal, am deutlichsten natürlich in Form der Gesetzgebung, die dem Recht seine Entscheidungsgrundlagen liefert, aber in stark generalisierter und punktuell dann nicht mehr zugriffsfähiger Form (Luhmann 1981a: 154ff.). Autonomes Operieren der Massenmedien, der Wissenschaft, der Wirtschaft und des Rechts ist also nur möglich, wenn diese Systeme auf relativ hohen Generalisierungsebenen ans Politiksystem gekoppelt sind und die operative Ebene von Kopplungen freigehalten wird. Aus Platzgründen und um ermüdende Wiederholung zu vermeiden, seien einige weitere Fälle desselben Typs nur summarisch aufgeführt: Ähnliche Autonomiesicherungsgrundrechte existieren mit Bezug auf Religion (Religionsfreiheit des Einzelnen, aber generalisierte Maßnahmen wie Förderung von Religionsgemeinschaften, Religionsunterricht in staatlichen Schulen usw.), Familie (Schutz von Ehe und Familie, Schutz der Privatsphäre, aber generalisierte Maßnahmen wie Familienförderung, Kindergeld usw.) und Kunst (Freiheit der Kunst). Eine Ausnahme ist das Bildungssystem, dem nicht Freiheit von staatlichen Eingriffen garantiert, sondern das vielmehr grundgesetzlich unter staatliche Aufsicht gestellt wird (jedenfalls das Schul-, wenn auch nicht das Hochschulsystem, dem wiederum Freiheit der Lehre garantiert wird). Eine weitere Ausnahme ist das Gesundheitssystem, das anscheinend keine Gefährdung durch politische Eingriffe kennt und in der Grundrechtsdogmatik nicht vorkommt.11 Aber die11 Ähnliches gilt laut Luhmann für den Startpunkt von Familien, nämlich für Eheschließungen: „Nur weil das poli- Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat se Fälle können als Ausnahmen betrachtet werden, die die Regel bestätigen. Der Rechtsstaat liefert mithin eine Illustration des allgemeinen Grundsatzes, dass die Autonomie von Systemen die Entpunktualisierung und stärkere Generalisierung von System-Umwelt-Kopplungen erfordert, und zeigt, dass die moderne Gesellschaft Einrichtungen mit genau dieser Funktion hervorgebracht hat. Da es sich hierbei um einen allgemeinen (generalisierten!) Grundsatz handelt, kann er jedoch auch auf andere Fälle von Zwischen-SystemBeziehungen angewandt werden, nicht nur auf die Beziehungen zwischen dem Politiksystem und anderen Teilsystemen.12 Ein nahe liegender zweiter Fall könnten die Beziehungen zwischen dem Wirtschaftssystem und anderen Teilsystemen sein. Die Frage wäre dann, wie die Entpunktualisierung und höhere Generalisierung der Kopplungen zwischen dem Wirtschaftssystem und anderen Teilsystemen sichergestellt werden kann, so dass die einzelnen Operationen der anderen Systeme nicht unmittelbar und eins zu eins an Wirtschaftsoperationen, d. h. an Zahlungen, geknüpft sind. Die Antwort auf diese Frage ist (für viele, nicht für alle Funktionssysteme): der Wohlfahrtsstaat. Viele Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates im weitesten Sinn (öffentlich finanziertes Bildungs- und Wissenschaftssystem, staatliche Gesundheitsvorsorge usw.) sind genaue Verkörperungen der Figur der Entpunktualisierung und stärkeren Generalisierung von Zwischen-System-Beziehungen.13 Der Wohlfahrtsstaat unterbricht Punkt-zu-Punkt-Kopplungen zwischen der Wirtschaft und anderen Teilsystemen, indem er das Operieren dieser Systeme von der Notwendigkeit punktueller Geldzahlungen entlastet und ihre Geldversorgung, mithin ihre Kopptische Eingriffsinteresse bei Eheschließungen geringer ist als bei wirtschaftlichen Verfügungen, kennen unsere Verfassungen kein Recht auf Liebesheirat“ (Luhmann 1965: 90). 12 Luhmann selbst gibt dazu das Stichwort, wenn er schreibt: Die Funktion der Grundrechte sei der Schutz der Systemdifferenzierung „gegen Tendenzen zu simplifizierender Verschmelzung, die vom politischen System (wie natürlich auch von anderen Teilsystemen der Gesellschaft) zu erwarten sind“ (Luhmann 1965: 117, Hervorh. hinzugefügt). 13 Die folgende Analyse hat vor allem den deutschen Wohlfahrtsstaat im Blick und geht auf internationale Unterschiede in der Ausprägung des Wohlfahrtsstaates nur sehr sporadisch ein. Dies begrenzt die Gültigkeit der getroffenen Aussagen bzw. stellt ihre Gültigkeit über Deutschland hinaus unter den Vorbehalt genauerer vergleichender Untersuchungen. 15 lung an Wirtschaft (Luhmann 1997: 762), auf höheren Generalisierungsebenen sicherstellt. Der Wohlfahrtsstaat schützt damit, ebenso wie der Rechtsstaat, die Autonomie anderer gesellschaftlicher Teilsysteme vor zu enger, d. h. zu punktueller Kopplung an Umweltsysteme, nur mit Bezug auf einen anderen Umweltausschnitt, nämlich auf Wirtschaft und nicht auf Politik.14 Auch hierfür einige Beispiele: – Das Bildungssystem darf nicht in der Weise an Wirtschaft gekoppelt sein, dass die Teilnahme an einzelnen Bildungseinheiten (wie Schulstunden oder auch Schuljahren) punktuell an die Zahlung der dafür nötigen Geldsumme durch den Zögling bzw. seine Eltern geknüpft ist. Wenn dem so wäre, wäre das Bildungssystem einfach ein Markt für Bildungsleistungen, mithin ein Subsystem15 des Wirtschaftssystems, und es wäre kein autonomes Operieren des Bildungssystems, etwa keine autonome Verfügung über die in ihm stattfindenden Laufbahnen und Erfolge möglich. Deshalb gibt es ein öffentlich finanziertes Bildungssystem (mit relativ geringen Einsprengseln privater Schulen und Universitäten), das ein autonomes Disponieren über Bildungslaufbahnen unabhängig von der Zahlungsfähigkeit der Zöglinge ermöglicht. – Die Wissenschaft darf nicht vor der Notwendigkeit stehen, für jedes einzelne Forschungsvorhaben das dafür nötige Geld auftreiben zu müssen. Andernfalls wäre nur Auftragsforschung, d. h. nur 14 Ein Unterschied zwischen der Kopplung an Wirtschaft und der Kopplung an Politik liegt darin, dass im Fall der Politik die bloße Gefahr punktueller politischer Eingriffe (Zensur, Verfolgung, Enteignung usw.), die faktisch selten sein mögen, genügt, um die Autonomie anderer Systeme zu beeinträchtigen, während es im Fall der Wirtschaft die bei jeder Operation tatsächlich erfolgende und erfolgen müssende Zahlung ist, die die Autonomiebedrohung konstituiert. Dieser Unterschied geht auf den medientheoretisch formulierbaren Unterschied zurück, dass das Medium der Politik – Macht – auf negativen, das Medium der Wirtschaft – Geld – dagegen auf positiven Sanktionen beruht, wobei negative Sanktionen auch und am besten in ihrer bloßen Potentialität wirken, positive Sanktionen dagegen nur in ihrer kontinuierlichen und verlässlichen Faktizität; vgl. Parsons 1967: 311ff. 15 Der Systembegriff ist hier eigentlich unangebracht, da Märkte systemtheoretisch gesehen keine Systeme, sondern Umwelten sind (Luhmann 1988: 91ff.). Aber auch in der korrekten Formulierung handelt es sich eindeutig um wirtschaftssysteminterne Umwelten, mithin um Teilaspekte des Wirtschaftssystems, die nur selbst keinen Systemcharakter haben. Die obige Formulierung ist hier wie an einigen weiteren Stellen als Abkürzung für diesen komplizierten Ausdruck zu lesen. 16 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 punktuell auf einem „Forschungsmarkt“ durchsetzungsfähige Forschung möglich, nicht aber das hohe Maß an Grundlagenforschung oder Forschung in „nutzlosen“ Fächern, das eine autonome Wissenschaft für nötig hält. Deshalb gibt es eine generalisierte staatliche Grundfinanzierung von Universitäten und Forschungseinrichtungen (wiederum bei einer gewissen Durchmischung mit privaten Einrichtungen) sowie staatliche Geldverteilungseinrichtungen wie in Deutschland die DFG, die nicht nach Verwendungsgesichtspunkten, sondern nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten und nach dem Urteil von Wissenschaftlern über die Geldvergabe entscheiden. – Das Gesundheitssystem darf die Durchführung medizinischer Behandlungen nicht von der punktuellen Bezahlung der dabei anfallenden Kosten, mithin von der Zahlungsfähigkeit des Patienten abhängig machen. Deshalb gibt es staatlich finanzierte Gesundheitssysteme bzw. (länderabhängig) Krankenversicherungen und eine gesetzliche Pflicht zum Krankenversichertsein, die den Punkt-zu-Punkt-Zusammenhang zwischen Zahlung und Gesundheitsleistung unterbrechen und die Bezahlung medizinisch notwendig werdender Gesundheitsleistungen in generalisierter Weise, ohne Rücksicht auf die aktuelle Zahlungsfähigkeit des Patienten sicherstellen. – Im Recht darf einerseits der Ausgang von Prozessen, andererseits aber auch – was schwieriger zu erreichen ist – der Zugang zu Prozessen nicht an die Zahlungsfähigkeit der (potentiellen) Prozessparteien gekoppelt sein. Deshalb müssen Richter und Gerichtsorganisationen staatlich bezahlt, damit (mehr oder weniger) korruptionsresistent gemacht werden und müssen Entkopplungseinrichtungen wie Rechtsbeihilfen, einkommensabhängige Prozessgebühren, kostenlose Pflichtverteidiger usw. entwickelt werden (Marshall 1950: 29ff.), die den Zusammenhang zwischen der Verfügung über Geld und dem Zugang zu Recht entkoppeln und auch wenig zahlungskräftigen Rechtssuchenden die Möglichkeit einer Klage bzw. wenig zahlungskräftigen Angeklagten die Möglichkeit einer rechtskundigen Verteidigung eröffnen. Die Autonomie von Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Recht ist mithin nur dann gewährleistet, wenn ihr unaufhebbarer Geldbedarf nicht in der Weise der Punkt-zu-Punkt-Kopplung (ein Bildungselement – eine Zahlung, eine Forschung – eine Zahlung usw.), sondern in stärker generalisierter Weise gedeckt wird. Der Wohlfahrtsstaat stellt genau solche Mechanismen der Entkopplung und Zahlungsgeneralisierung zur Verfügung. Er etabliert „Schwellen der legitimen Indifferenz“ (Tyrell 1978: 183), die dafür sorgen, dass nicht jede Operation dieser Teilsysteme mit einem Seitenblick auf ihre Finanzierbarkeit durchgeführt werden muss. Für einige andere Teilsysteme gilt dasselbe in schwächerem Maß, etwa für die Politik (staatliche Bezahlung von Politikern und teils staatliche Parteienfinanzierung, die politisches Agieren ohne Rücksicht auf Geldquellen ermöglichen) und in gewissen Hinsichten für die Familie (z. B. Unterstützung von Arbeitslosen, die deren Familien vor der Eins-zu-eins-Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit schützt, etwa mit Blick auf Wohnung, Schule und Freunde der Kinder, Verfügbarkeit des Partners als Mutter/Vater usw.; finanzielle Leistungen für Familien wie Kindergeld, die die Entscheidung über Kinder von Einkommens-/Vermögensverhältnissen entkoppeln sollen16). Daneben gibt es auch Teilsysteme, die weitgehend ohne Entpunktualisierung auszukommen und eine marktförmige Kopplung an Wirtschaft, d. h. eine unmittelbare, punktuelle Zahlung für ihre Leistungen, recht gut zu vertragen scheinen. Dazu gehören vor allem die Massenmedien (Kauf von Zeitungen, Fernsehempfangsberechtigungen, Werberaum und -zeit, mit nur geringen Beimischungen von öffentlichen Rundfunksendern und Rundfunkempfangsgebühren) und möglicherweise auch die Religion (Spenden für immaterielle Gegenleistungen wie Seelenheil oder gutes Gewissen; teils jedoch auch staatliche Eintreibung von Kirchensteuern). Ein interessanter Mischfall ist das Kunstsystem, das je nach Kunstsparte sehr verschiedene Formen der Kopplung realisiert: Bildende Kunst und Literatur sind vor allem marktförmig ans Wirtschaftssystem gekoppelt, über den Kauf von Bildern, Skulpturen, Büchern (aber auch hier treten staatliche Museen als wichtige Käufer auf, und diese vermitteln die Zugänglichkeit der Kunst für ein breites Publikum); Musik und Theater scheinen dagegen Zahlungsgeneralisierungseinrichtungen, hier meist Subventionierung durch den Staat, zu benötigen, und wären auf einem freien Markt der Theater- und Konzertaufführungen kaum lebensfähig. Es hat den Anschein, dass insbesondere diejenigen Teilsysteme gut mit einer marktförmigen Kopplung an Wirtschaft zurechtkommen, in denen die punktuell zu zahlenden Geldbeträge klein sind (wie Massenmedien, Religion, Kunst: Literatur), während diejeni16 Aber auch die staatlich geregelte Alters- und Pflegevorsorge schützt die Autonomie der Familie, nämlich der Angehörigen der Alten, die sich andernfalls genötigt sehen könnten, diese in ihren Haushalt aufzunehmen und aus ökonomischen Gründen die Zusammensetzung ihrer Familie zu ändern. Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat gen Systeme, in denen die zu zahlenden Summen groß sein können (wie Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Recht), Zahlungsgeneralisierungseinrichtungen benötigen. Mechanismen der Entpunktualisierung von Kopplungen ans Wirtschaftssystem müssen im Übrigen nicht zwingend staatlicher Art sein. Es gibt funktionale Äquivalente außerhalb des Staates,17 etwa privates Stiftungs- und Mäzenatentum, vor allem in den Bereichen Wissenschaft und Kunst (Alter 1982, Schapiro 1964), oder professionelle Standards der kostenlosen oder preisreduzierten Behandlung von bedürftigen Klienten, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Recht (Marshall 1950: 24, 29ff.).18 Solche Einrichtungen sorgen ebenfalls für eine Unterbrechung von Punkt-zu-Punkt-Kopplungen zur Wirtschaft und bieten auch nicht-marktgängigen Projekten bzw. nicht-zahlungsfähigen Personen eine Chance. Sie sind insofern funktional äquivalent zu staatlichen Zahlungsgeneralisierungseinrichtungen. Langfristig scheint es jedoch einen gewissen Trend in Richtung auf Dominanz oder jedenfalls Unverzichtbarkeit staatlicher Einrichtungen an dieser Stelle zu geben (für Wissenschaft siehe z. B. Alter 1982), während umgekehrt die privaten bzw. professionellen Formen historisch älter sind und schon vor der Etablierung der modernen Gesellschaft existierten.19 Durch die Dominanz staatlicher Entpunktualisierungseinrichtungen werden andere, private oder professionelle Formen der Entpunk17 Helmut Willke (1989: 93) fragt ebenfalls nach funktionalen Äquivalenten für Wohlfahrtsstaat bzw. Sozialpolitik, aber da er deren Funktion anders bestimmt, nämlich als Lösung des Problems „der wechselseitigen Riskiertheit von Politik und Ökonomie“, stößt er auch auf andere Ersetzungsmöglichkeiten, nämlich„eine gesellschaftsweit verbindliche Ideologie oder Moral, . . . präzeptoriale Systeme . . . [oder] die Abschaffung von Armut“. 18 Den Hinweis auf diese beiden funktionalen Äquivalente verdanke ich André Kieserling. 19 Historisch ersetzen staatliche Generalisierungseinrichtungen auch sonst oft nicht punktuelle, marktförmige Kopplungen, sondern eine andere Form generalisierter Kopplung, nämlich die Kopplung über Oberschicht. Viele Funktionsbereiche wie etwa Wissenschaft und Politik konnten lange Zeit nur von Angehörigen der Oberschicht betrieben werden, da es keine bezahlten Stellen, aber auch keinen funktionierenden „Markt“ für Wissenschaftler und Politiker gab und diese Tätigkeiten daher nur von Personen ausgeübt werden konnten, die über „auskömmliche Einkünfte“ verfügten (Weber 1921: 829). Diese Form der Kopplung an Wirtschaft, obwohl auch stark generalisiert, hat jedoch auf die Dauer nicht befriedigt. Offensichtlich war die Generalisierungsrichtung falsch: Schicht statt Staat! 17 tualisierung zwar nicht ausgeschaltet, aber ihr Anteil an der gesamten Entpunktualisierungsleistung nimmt ab. Die Schattenseite der staatlich vermittelten Entkopplung von Wirtschaft liegt offensichtlich darin, dass die betreffenden Systeme dadurch offen für politische Eingriffe und Steuerungsabsichten werden und damit gewissermaßen der Teufel gegen den Beelzebub ausgetauscht wird. Gegen diese Gefahr können jedoch mindestens bis zu einem gewissen Grad die Grundrechte helfen (womit sich der Kreis der Analyse schließt). Jedenfalls scheint mindestens für manche Systeme der Beelzebub Politik dem Teufel Wirtschaft vorzuziehen zu sein. Für welches System welcher „Anlehnungskontext“20 günstiger ist, hängt wiederum von seinen spezifischen Eigenschaften ab: So scheint für Systeme wie die Massenmedien, bei denen unterstellbar große Interesse an inhaltlichen Einflussnahmen durch die Politik besteht, eine Abhängigkeit von der Wirtschaft bzw. vom Markt günstiger zu sein als eine Abhängigkeit von der Politik, während für Systeme wie das Gesundheits- oder Bildungssystem, bei denen das politische Interesse an inhaltlichen Eingriffen eher gering ist, die Abhängigkeit von der Politik günstiger ist als die vom Markt. Bemerkenswert ist schließlich, dass wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen nicht nur die Autonomie anderer Systeme gegenüber der Wirtschaft, sondern auch die Autonomie mindestens eines Subsystems der Wirtschaft selbst: des Arbeitsmarktes, gegenüber sonstigen Systemen sichern. Das wohlfahrtsstaatliche Sicherungsnetz aus Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe usw. entkoppelt das Angebot an Arbeitskraft von der Rücksicht auf persönliche – familiäre oder sonstige – Bedarfslagen und ermöglicht so eine spezifisch wirtschaftliche Orientierung der Arbeitskraftanbieter. Ein autonomes, nur von wirtschaftlichen Bedingungen abhängiges Fluktuieren des Arbeitskraftangebots wäre sonst nicht möglich (Huf 1998a, 1998b: 92ff.). Die Richtung der Autonomiesicherung ist hier umgekehrt wie in den anderen Fällen, doch die Technik der Autonomiesicherung ist dieselbe: Auch hier geht es um das Ausschalten punktueller Abhängigkeiten und das Bestehenlassen von Abhängigkeiten höchstens auf höheren Generalisierungsniveaus. Wenn man diesen, leicht abweichenden Fall mit einbezieht, erweist sich der Wohlfahrtsstaat nicht nur als Mittel der Unterbrechung von Punkt-zu-Punkt-Kopplungen ans Wirtschaftssystem, sondern – richtungs20 Der Begriff des Anlehnungskontextes stammt von Rudolf Stichweh (1991). 18 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 unabhängig – als Mittel der Unterbrechung von Punkt-zu-Punkt-Kopplungen zwischen Wirtschaftssystem und anderen Teilsystemen. Festzuhalten ist, dass der Wohlfahrtsstaat ebenso wie der Rechtsstaat als Mechanismus der Entpunktualisierung von System-Umwelt-Kopplungen und damit als Mechanismus der Sicherung von Systemautonomie gesehen werden kann. Damit ist die gesuchte „linke“ Interpretation des Wohlfahrtsstaates durch die Systemtheorie gefunden: Der Wohlfahrtsstaat kann, auch und gerade im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft, als notwendige Instanz der Sicherung der Autonomie anderer Teilsysteme gegenüber der Wirtschaft und umgekehrt angesehen werden. Theorievergleichend angesehen handelt es sich um die systemtheoretische Variante der (post-)marxistischen Dekommodifizierungsthese (siehe z. B. Offe 1972: 27ff., Western 1989, Esping-Andersen 1990: 35ff.). Der Begriff der (zu) punktuellen Kopplung an Wirtschaft ist für viele Zwecke das systemtheoretische Äquivalent zum marxistischen Begriff der Ware bzw. der Kommodifizierung. Der Unterschied besteht nur darin, dass die systemtheoretische Version breitere Vergleichshorizonte eröffnet: Systemtheoretisch kann die Gefahr der zu punktuellen Kopplung an Wirtschaft mit der Gefahr der zu punktuellen Kopplung an Politik (und möglicherweise an noch weitere Funktionssysteme) verglichen werden, während der Marxismus durch die Wahl seiner Grundbegriffe auf den Fall Wirtschaft bzw. Kapitalismus festgelegt ist. Dass die beiden Theorien an diesem Punkt so gut und nahezu verlustfrei ineinander übersetzbar sind, ist jedoch bereits für sich ein überraschendes Ergebnis und könnte vielleicht dazu beitragen, Marxismus und Systemtheorie miteinander gesprächsfähig zu machen. 4.2 Autonomie und Autopoiesis Während die hier vorgeschlagene Lesart des Wohlfahrtsstaates recht gut zu marxistischen Lesarten passt, passt sie möglicherweise überraschend schlecht zu einigen Theoriefiguren der späteren Luhmann’schen Systemtheorie, insbesondere zum Begriff der Autopoiesis bzw. operativen Geschlossenheit von Systemen (Luhmann 1984). Da dies für die Einschätzung eines als systemtheoretisch vorgetragenen Arguments nicht unwichtig ist, muss es in den folgenden Absätzen etwas ausführlicher diskutiert werden. Alle bisherigen Überlegungen zur Kopplung zwischen Funktionssystemen sind so geschrieben, als seien Organisationen (Schulen, Universitäten, Krankenhäuser usw.) unmittelbar Teil des jeweiligen Funktionssystems (Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitssystem usw.). Vom späten Luhmann aus kann man hiergegen den Einwand bringen, dass Organisation und Funktionssystem zwei verschiedene Systemebenen mit je eigener Autopoiesis sind:21 Funktionssysteme bestehen ausschließlich aus codierten Kommunikationen (orientiert am Code wahr/unwahr, krank/gesund usw.), Organisationen dagegen bestehen ausschließlich aus Entscheidungen (über Einstellungen, Geldvergabe, Genehmigung von Anträgen usw.), und beide Typen von Kommunikation bilden je für sich geschlossene Ketten von Ereignissen, die nicht aneinander anschlussfähig sind und nicht miteinander ein System bilden. So gesehen betreffen fast alle der hier diskutierten Kopplungen zwischen Politik/ Staat bzw. Wirtschaft einerseits und anderen Systemen andererseits nur die Ebene der Organisation, nicht die Ebene des Funktionssystems. Die Ebene des Funktionssystems, seine „reine“ Autopoiesis, wird durch die diskutierten organisationellen Kopplungen (seien sie nun stärker oder weniger stark generalisiert) gar nicht berührt; so kann z. B. durch die Vergabe oder Verweigerung von Forschungsgeldern nicht über die Zuerkennung der Prädikate wahr/unwahr befunden werden, durch die Ersatzleistung einer Krankenkasse nicht über die Heilungschancen eines Patienten usw. Löst sich damit das ganze oben diskutierte Problem in Luft auf? Ich denke nicht, aus verschiedenen Gründen. Zunächst kann man grundsätzlich bezweifeln, ob der Begriff der Autopoiesis ausreicht, um sich zu den oben diskutierten Sachverhalten ein Urteil zu bilden. Denn die obigen Überlegungen waren auf den Begriff der Autonomie fokussiert, und dieser Begriff kann und sollte vom Begriff der Autopoiesis unterschieden werden. Der Begriff der Autopoiesis bezieht sich auf den Modus des internen Operierens des Systems, während der Begriff der Autonomie (nach alter Tradition und auch beim früher Luhmann, siehe z. B. 1970b: 156ff., 1984: 296) sich auf das Verhältnis des Systems zu seiner Umwelt bezieht. Der späte Luhmann tendiert zwar dahin, beide Begriffe zu fusionieren und auch Autonomie nur noch als „Herstellung der eigenen Einheit durch die eigenen Operationen des Systems“ (1990a: 289) zu verstehen. Aber wenn der Autonomiebegriff mit dem Autopoiesisbegriff deckungsgleich ist, dann kann und sollte einer der beiden Begriffe aus theorieökonomischen Gründen eingespart werden. Ich halte es daher für die sinnvollere 21 Diesen Einwand hat ein anonym gebliebener Gutachter der Zeitschrift für Soziologie formuliert. Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat Option, Autonomie weiterhin von Autopoiesis zu unterscheiden; und mit dem Augenmerk auf Autonomie können dann all die behandelten Sachverhalte (als Aspekte des Umweltverhältnisses des jeweiligen Systems) wieder behandelt werden. Im Übrigen benötigt auch Luhmann einen Nachfolgebegriff für den alten (umweltbezogenen) Begriff der Autonomie und greift an dieser Stelle auf den Begriff der Ausdifferenzierung zurück, um das Unterbrechen des „Kontinuieren[s] von Prozessen, die das System mit seiner Umwelt verbinden“, zu bezeichnen (Luhmann 1984: 54). Die Problematik dieses Textes könnte also, statt mit dem Begriff der Autonomie, auch mit dem Begriff der Ausdifferenzierung formuliert werden; es ginge dann um die stärkere oder schwächere Ausdifferenzierung verschiedener Funktionssysteme (Bildung, Wissenschaft, Gesundheitssystem usw.) gegenüber ihrer politischen bzw. wirtschaftlichen Umwelt. Der bloße Verweis auf Autopoiesis würde in keinem Fall ausreichen, um die angesprochene Problematik zu klären. Ein weiterer Begriff, mit dem die Problematik von Zwischen-Funktionssystem-Beziehungen beim späten Luhmann bearbeitet werden kann, ist der Begriff der strukturellen Kopplung. Dieser beschreibt, wie Systeme, obwohl sie autopoietisch bzw. operativ gegeneinander geschlossen sind, gleichwohl miteinander zusammenhängen und co-evoluieren können. Und hier fällt ein weiterer Punkt auf, der die angesprochene Unterscheidung der Systemebenen Organisation und Funktionssystem betrifft: Vom Begriff der strukturellen Kopplung aus sieht man nämlich, dass Organisationen, statt mit der Umstellung auf das Autopoiesis-Konzept vollständig aus dem Blickfeld und auf eine andere Systemebene zu verschwinden, vielmehr ein wichtiger Mechanismus der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen sind (hierzu explizit Luhmann 1990a: 396ff.). So nennt Luhmann etwa Schulen als Form der strukturellen Kopplung von Politik und Erziehung (1990a: 396f.) und Universitäten als solche der Kopplung von Wissenschaft und Erziehung (1997: 784f.), Krankenhäuser als Form der strukturellen Kopplung von Politik und Gesundheitssystem (1990a: 396f.), Zentralbanken als solche der Kopplung von Politik und Wirtschaft (1993: 451), Galerien als Form der strukturellen Kopplung von Wirtschaft und Kunst (1997: 787) und allgemein Organisationen als Form der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft mit (nahezu) allen anderen Funktionssystemen (1990a: 398). Die Annahme, dass Organisationen für das Verhältnis von Funktionssystemen zueinander wichtig sind, geht also mit der Umstellung auf das Autopoiesis-Konzept keines- 19 wegs verloren, sondern muss nur etwas komplizierter und umwegiger formuliert werden, insofern Organisationen nicht mehr einfach Teil „ihres“ jeweiligen Funktionssystems, sondern ein Mechanismus ihrer strukturellen Kopplung sind. In der Theorie der autopoietischen Systeme gibt es dann zugegebenermaßen keine operativen Kopplungen zwischen Systemen mehr, sondern nur noch strukturelle Kopplungen (zu dieser Unterscheidung siehe Luhmann 1990b: 102f.). Insofern ist der oben verwendete Begriff der Punkt-zu-Punkt-Kopplung unglücklich, da er eine unmittelbare Kopplung von Operationen verschiedener Funktionssysteme aneinander suggeriert. Jedoch behauptet auch dieser Begriff bei näherem Hinsehen nicht den operativen Anschluss zweier Kommunikationen verschiedener Funktionssysteme aneinander (z. B. den Anschluss einer Operation im Gesundheitssystem an eine Zahlung), sondern die Konditionierung der Operationen eines Systems durch das Vorliegen von Operationen eines anderen Systems, und das fällt in den Bereich der Struktur bzw. der strukturellen Kopplung. – Insgesamt denke ich, dass die Sachlage durch die Einbeziehung des Gedankens der Autopoiesis zwar komplizierter wird und mehr Genauigkeit in der Formulierung aufgebracht werden müsste, dass die Problematik jedoch nicht einfach verschwindet und sich in Wohlgefallen auflöst. – Nach diesem begriffstechnischen Exkurs soll nun der Argumentationsfaden des Aufsatzes wieder aufgenommen werden. Festzuhalten ist, dass die von Luhmann gewählte Beschreibung des Wohlfahrtstaates als einer autonomiegefährdenden bzw. an Autonomie scheiternden Einrichtung im systemtheoretischen Denkrahmen keineswegs alternativlos ist. Die entgegengesetzte, „linke“ (statt „rechte“) Beschreibung ist im Prinzip ebenso möglich, und es scheint also bis jetzt durchaus nicht zwingend, dass Luhmann in punkto Wohlfahrtsstaat den Antipoden zu Bourdieu darstellt. Er könnte ebenso gut auf derselben Seite zu finden sein wie dieser und die Autonomiegefährdung anderer Teilsysteme durch die Wirtschaft problematisieren. Mindestens aber könnte er eine ambivalente, weniger einseitige und insofern auch common-sensefernere Position vertreten, indem er die „linke“ und die „rechte“ Sicht auf den Wohlfahrtsstaat gleichzeitig im Blick behält. Denn es ist nicht notwendigerweise unsinnig anzunehmen, dass der Wohlfahrtsstaat die Autonomie verschiedener Teilsysteme im Verhältnis zur Wirtschaft sichert, aber an der Autonomie dieser Systeme im Verhältnis zu sich (der Politik) selbst scheitert oder jedenfalls an Grenzen stößt. Die „linke“ und die „rechte“ sys- 20 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 temtheoretische Beschreibung des Wohlfahrtsstaates müssen sich also theoretisch nicht zwingend ausschließen, auch wenn sie sich politisch ausschließen. 5. Luhmanns Symmetriepostulat Nachdem die Analyse bis zu diesem Punkt vorangetrieben ist, kann nun gefragt werden, warum Luhmann die „linke“ systemtheoretische Deutung in seiner Beschreibung des Wohlfahrtsstaates nicht berücksichtigt und nicht einmal in Erwägung zieht, sondern sich einseitig auf die „rechte“ Lesart festlegt. Diese Frage soll wiederum mit Blick auf Theoriestrukturen, nicht mit Blick auf persönliche politische Präferenzen so gestellt werden. Als verschärfender Umstand tritt hier nun hinzu, dass die „linke“ Auffassung gegenüber der „rechten“ einen klaren Vorteil hat: Sie erlaubt es, die Komplexe Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat zusammen und als Anwendungsfälle desselben Prinzips der Entpunktualisierung von Zwischen-System-Beziehungen zu behandeln und sie damit nicht, wie Luhmann es tut, auseinanderzudividieren. Luhmann behandelt die Phänomene Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat praktisch konträr: den Rechtsstaat als Korrelat funktionaler Differenzierung, den Wohlfahrtsstaat als Fremdkörper in der funktionalen Differenzierung. Dies leuchtet jedoch empirisch gar nicht ein, denn empirisch gehören Rechtsstaatlichkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit mehr oder weniger eng zusammen: Sie treten historisch ungefähr zur gleichen Zeit auf,22 und sie treten ungefähr in den gleichen Ländern auf und in den gleichen Ländern nicht.23 22 Dieser Satz ist mit ausreichender historischer Großzügigkeit zu verstehen, vor allem angesichts der bekannten Marshall-Datierung, die Rechtsstaatlichkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit (civil rights und social rights) auf verschiedene Jahrhunderte (18. und 20. Jhd.) verteilt (Marshall 1950). Aber erstens weiß man inzwischen, dass diese Datierung hauptsächlich für Großbritannien gilt und dass für andere Länder andere zeitliche Ordnungen gelten (siehe z. B. Mann 1987). Zweitens, und wichtiger, kommt es für Zwecke der vorliegenden Argumentation ohnehin nur darauf an, dass beide zum selben groben Gesellschaftstyp, nämlich zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, gehören, und hierfür machen dann ein oder zwei Jahrhunderte keinen prinzipiellen Unterschied mehr. 23 Nämlich: Sie treten auf in entwickelten, reichen Zentrumsländern und fehlen in unterentwickelten, armen Peripherieländern. In Ländern der letzteren Kategorie existiert zwar meist eine formale Fassade des Rechts- und/ oder Wohlfahrtsstaats, die jedoch kaum in die Realität umgesetzt wird und im Stadium der „Entkopplung“ ste- Die eben skizzierte Deutung des Wohlfahrtsstaates trägt diesem empirisch-historischen Zusammenhang24 Rechnung und kann ihn vielleicht sogar „erklären“. Umso dringender muss jetzt die Frage beantwortet werden, warum Luhmann diese Deutungsmöglichkeit nicht beachtet und sich statt dessen auf die „rechte“ Deutung beschränkt. Oben war das Problem so formuliert worden, dass Luhmann der Symmetrie in seiner Theorieanlage zum Trotz eine einseitige Verwendung des Autonomiebegriffs und damit eine einseitige Beschreibung des Wohlfahrtsstaates anbietet. An diesem Punkt und in Kenntnis der Alternative kann diese Feststellung folgendermaßen modifiziert werden: Nicht trotz, sondern wegen seines Bemühens um Symmetrie kann Luhmann die „linke“ Deutung des Wohlfahrtsstaates als Entpunktualisierungsinstanz nicht in Betracht ziehen und bleibt folglich auf die „rechte“ Deutung, auf die des ungebührlichen Eingreifens in andere Systeme fixiert. Denn die auf Unterbrechung von Punkt-zu-PunktBeziehungen abstellende Auffassung des Wohlfahrtsstaates weist der Politik in gewisser Weise eine Zentralstellung in der Gesellschaft zu, indem die Politik für die Autonomiesicherung aller möglichen anderen Systeme zuständig sein soll. Der Staat wird zum Garanten der funktionalen Differenzierung, nicht nur mit Blick auf Gefährdungen durch sich selbst (Rechtsstaat), sondern auch mit Blick auf Gefährdungen durch die Wirtschaft (Wohlfahrtsstaat).25 Eine solche Zentralstellung der Politik im Gefüge funktionaler Differenzierung aber kann Luhmann genau wegen seines Bemühens um Symhen bleibt; vgl. zum Rechtsstaat Boli 1987, zum Wohlfahrtsstaat Strang/Chang 1993. 24 Zum juristischen Zusammenhang von Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat, d. h. zu der Frage, ob die Anerkennung eines Systems (hier: Massenmedien, Wissenschaft) als Grundrechtsträger auch einen Rechtsanspruch auf angemessene staatliche Finanzierung bedeutet, siehe Schmoll 2004. 25 Hier wird zugleich deutlich, warum sich das Problem der Zentralstellung der Politik nicht auch mit Bezug auf den Rechtsstaat stellt. Der Rechtsstaat schützt die anderen Systeme nur vor punktuellen Eingriffen durch die Politik selbst; die Politik ist hier Quelle der Gefährdung und deshalb auch Quelle des Schutzes davor. Dies kann man behaupten, ohne dass der Politik dadurch eine Zentralstellung in der Gesellschaft zuwachsen würde. Im Falle des Wohlfahrtsstaats aber muss man behaupten, dass die Politik die anderen Systeme vor zu engen Kopplungen an ein Dritt-System, die Wirtschaft, schützt, und erst dadurch würde das Symmetriepostulat gesprengt. Barbara Kuchler: Bourdieu und Luhmann über den Wohlfahrtsstaat metrie nicht akzeptieren. Gerade mit Bezug auf Politik – die, neben der Wirtschaft, einer der Kandidaten für Zentralstellung ist – legt Luhmann Wert darauf, dass ihr, entgegen aristotelischen und neoaristotelischen Annahmen, keinerlei Zentralität und Sonderstellung in der Gesellschaft zukommt, sondern dass sie auch nur ein Funktionssystem unter anderen ist (etwa Luhmann 1970a; vgl. auch Kieserling 2003). Für Sonderstellungen einzelner Funktionssysteme ist in Luhmanns Theorie kein Platz – auch dann nicht, wenn sie für die Interpretation einzelner Phänomene (hier des Wohlfahrtsstaates) nützlich wären, und auch dann nicht, wenn sie keine vorausgesetzte, sozusagen wesensmäßige Sonderstellung der Politik behaupten, sondern eine aus Strukturproblemen funktionaler Differenzierung (hier aus dem Problem der Vermeidung punktueller und der Herstellung generalisierter Zwischen-System-Beziehungen) abgeleitete Sonderstellung. Das Beharren auf Symmetrie prädestiniert Luhmann somit zu einer einseitigen – überspitzt könnte man sagen: asymmetrischen – Sicht des Wohlfahrtsstaates oder macht jedenfalls seine Theorie an diesem Punkt anfällig für das Eindringen privater politischer Meinungen. Wie oben bei Bourdieu kann sich die Theorie nicht mehr gegen die Suggestionskraft politischer Überzeugungen wehren, wenn sie in sich selbst Strukturen vorfindet, die eine entsprechende Selektion von Argumenten und Blickrichtungen unterstützen. Hinsichtlich der „Zentralstellung der Politik“ gibt es deutliche Parallelen zwischen der hier vorgeschlagenen Deutung des Wohlfahrtsstaates als Entpunktualisierungs- und Autonomiesicherungsinstanz und der in der systemtheoretischen Diskussion ebenfalls zu findenden Deutung des Wohlfahrtsstaates als Inklusionsvermittler für alle Funktionssysteme (Bommes/ Halfmann 1994, Halfmann 2002: 269f.). Diese Deutungsvariante geht davon aus, dass die für funktionale Differenzierung wesentliche Inklusion prinzipiell aller Personen in die einzelnen Funktionssysteme nur mit Hilfe des Staates erreicht werden kann, der in Fällen von naturwüchsigem Inklusionsversagen einspringt. Auch hier wird somit dem Staat bzw. der Politik eine Zentralstellung für die Vollrealisierung funktionaler Differenzierung zugesprochen, und auch diese Variante muss eben deshalb von der „orthodoxen“ Systemtheorie abgelehnt werden. Ganz im Gegensatz zu Bourdieu ist es bei Luhmann also nicht die Asymmetrie, sondern die Symmetrie der Theorieanlage, die seine Sicht des Wohlfahrtsstaates präformiert und ihn zu einer einseitigen, dem common sense verwandten Auffassung des 21 Wohlfahrtsstaates treibt. Die theoriestrukturellen Ursachen für die einseitigen politischen Parteinahmen sind insofern recht unterschiedlich: Der links/ rechts-Gegensatz, der bei einer „politischen“ Betrachtungsweise auffällt, verschiebt sich bei einer theorieimmanenten Betrachtungsweise zu einem Asymmetrie/Symmetrie-Gegensatz. 6. Offene Fragen Bemerkenswert bleibt, dass es offensichtlich in keinem Fall gelingt, den Wohlfahrtsstaat soziologisch so zu beschreiben, dass er sich mühelos in das links/ rechts-Schema der politischen Frontstellungen einordnen ließe. Dies gilt ja nicht nur für die Auffassungen Bourdieus und Luhmanns, sondern auch für die erwähnten alternativen Deutungsmöglichkeiten und, wenn ich es recht sehe, auch für alle sonstigen Beschreibungen des Wohlfahrtsstaates, die die Soziologie hervorgebracht hat. Die Alternative von „linken“ und „rechten“ Beschreibungen des Wohlfahrtsstaates durchzieht auch den soziologischen Möglichkeitshorizont. Das Maximum der Distanzierung vom common sense scheint in der – bei Luhmann im Prinzip vorhandenen, aber nicht ausgeschöpften – Möglichkeit zu liegen, eine simultan „linke“ und „rechte“, insofern ambivalente Beschreibung des Wohlfahrtsstaates zu erzeugen. Eine tatsächlich quer zu den politischen Frontstellungen liegende, ganz andere, nur wissenschaftliche Beschreibung des Wohlfahrtsstaates ist nicht in Sicht. Weiter fällt auf, dass es in keinem Fall gelingt, den Wohlfahrtsstaat gleichmäßig und symmetrisch mit Blick auf die Autonomie aller gesellschaftlichen Felder bzw. Funktionssysteme zu beschreiben. Aus dem Befund, dass sowohl Bourdieu als auch Luhmann den Autonomiebegriff einseitig anwenden (Bourdieu auf die Politik, Luhmann auf die anderen Teilsysteme), scheint sich zunächst logisch und unproblematisch das Desiderat zu ergeben, solche Einseitigkeiten zu vermeiden und den Autonomiebegriff statt dessen allseitig auf alle beteiligten Felder/Funktionssysteme anzuwenden. Dies scheint jedoch auf dem gegenwärtigen Stand soziologischer Theoriebildung nicht möglich zu sein. In Bourdieus Theoriehorizont ist eine Erweiterung auf die Wirtschaft nicht vorstellbar, in Luhmanns Horizont eine Erweiterung auf die Politik. Bei Luhmann lässt sich durch die Inkorporierung der „linken“ Auffassung des Wohlfahrtsstaates zwar die inhaltliche Ausrichtung des Autonomiebezugs ändern (von Autonomiegefährdung zu Autonomiesicherung), aber nicht der Anwendungsbereich des Autonomie- 22 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 1, Februar 2006, S. 5–23 begriffs: die Politik bleibt weiterhin draußen. Was ein – so oder so, „links“ oder „rechts“ begriffener – Wohlfahrtsstaat für die Autonomie der Politik bedeuten würde, bleibt im Dunklen. Alvin Gouldner hat – ebenfalls in einem Text über den Wohlfahrtsstaat – die These vertreten, dass die Soziologie angesichts konträrer Einseitigkeiten und Standpunkte den Anspruch nicht aufgeben dürfe, eine allseitige, umfassende, „objektive“ Beschreibung der Sachlage zu geben (Gouldner 1968: 111f.). Diesem Anspruch gerecht zu werden, würde im diskutierten Problemkontext jedoch offensichtlich einen Autonomiebegriff mit größerem Fassungsvermögen für Komplexität voraussetzen, als die Soziologie ihn derzeit zur Verfügung hat. Ein solcher Autonomiebegriff müsste vermutlich mehrdimensional konstruiert sein und es erlauben, Autonomieansprüche und Autonomiegefährdungen in mehreren Richtungen und gegenüber mehreren möglichen Gefährdungsquellen zu erfassen und deren Verhältnis zueinander zu bestimmen. Ein solcher Autonomiebegriff ist aber derzeit nicht in Sicht. So weit ist die Soziologie mit der theoretischen Verarbeitung des „Zustands der Moderne“: der Existenz multipler Autonomiezentren mit teils quer zueinander liegenden, teils konfligierenden Autonomieansprüchen, noch nicht gediehen. Literatur Alter, P., 1982: Wissenschaft, Staat, Mäzene. Anfänge moderner Wissenschaftspolitik in Großbritannien 1850 – 1920. Stuttgart: Klett-Cotta. Boli, J., 1987: Human Rights or State Expansion? 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