Grundlagen der Psychologischen Schmerztherapie

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Grundlagen der Psychologischen Schmerztherapie
1. Einführung und Begriffsdefinition ........................................................................................................ 1
2. Akuter und Chronischer Schmerz ....................................................................................................... 2
3. Störungstheorien und Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen 5
3.1 Neurophysiologisches Modell: Die Gate-Control-Theorie ............................................................. 5
3.2 Operantes Lernen .......................................................................................................................... 6
3.3 Kognitiv-behavioraler Ansatz ......................................................................................................... 7
3.4 Schmerz und Depression............................................................................................................... 7
4. Prozesse der Chronifizierung von Schmerzen .................................................................................... 8
5. Diagnostik und Therapie...................................................................................................................... 9
6. Literatur.............................................................................................................................................. 10
7. Zur Vertiefung .................................................................................................................................... 11
8. Für Klienten ....................................................................................................................................... 11
1. Einführung und Begriffsdefinition
Schmerz ist nach der Definition der
„International Association for the Study of Pain“ ein:
„...unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlichen oder potentiellen
Gewebeschädigungen assoziiert ist oder mit Begriffen solcher Schädigungen beschrieben wird...“
(IASP, 2003). Anhand dieser knappen Definition von Schmerz können folgende Aspekte
herausgestellt werden:
1. Akute Schmerzen treten auf, wenn Körpergewebe so stark gereizt wird, das eine Schädigung
droht oder auftritt
2. Schmerzen können individuell so erlebt werden, als ob eine Gewebeschädigung droht oder
eintritt, auch wenn keine reale Schädigung zu Grunde liegt (z.B. Im Rahmen von chronischen
Schmerzen)
3. Schmerz ist eine (mehr als eine) Sinnensempfindung oder reine Reizwahrnehmung [→ s.
Punkt Nr. 4]
4. Schmerz ist ein komplexes Reismuster auf folgenden 3 Verhaltensebenen (Nach Birbaumer
1986):
Reaktionsebene
subjektiv-psychologisch
Reaktionsanteil
Offene Reaktionen (z.B. Klagen, Stöhnen,
Weinen, Schreien)
Verdeckte Reaktionen:
Gedanken/
Bewertungen
(z.B.
„Die
Schmerzen sind unerträglich), „Das Leben
ist hoffnungslos“, ...)
Vorstellungen (z.B. bewegungsunfähig zu
sein, im Bett liegen zu müssen, im Rollstuhl
zu landen, ...)
Gefühle
(z.B.
Angst,
Verzweiflung,
Depression)
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motorisch-verhaltensmäßig
Muskuläre Reaktionen (Z.B. reflektorische
zurückziehen der Hand, Veränderung der
Ausdruckmotorik, Verspannungen, ...)
physiologisch-organisch
Erregungen des nozizeptiven Systems im
ZNS oder im autonomen Nervensystems,
dadurch
Freisetzung
von
(chemisch
bestimmbaren) Schmerzstoffen wie βEndorphin, Substanz P, Serotonin u.a.
Änderung der
Blutdruckes
Herzfrequenz
und
des
Hier ist zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen diesen oben genannten Reaktionsebenen
häufig nicht sehr groß ist, was auf die Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Schmerzdiagnostik
hinweist.
Des weiteren läst sich nach dem Entstehungsort ein somatischer von einem viszeralen Schmerz
unterscheiden (Birbaumer & Schmidt 1996). Der somatische Schmerz wiederum kann weiter in einen
Oberflächenschmerz (→ von der Haut ausgehend) und in einen Tiefenschmerz (→ ausgehend von
Muskeln, Knochen, Gelenken oder dem Bindegewebe) differenziert werden. Der viszerale
(„Eingeweide„-) Schmerz tritt bei rascher/ starker Dehnung, bei Spasmen oder Mangeldurchblutung
der Hohlorgane (Beispiel: Gallen- oder Nierenkoliken, Blinddarmreizung) auf.
2. Akuter und Chronischer Schmerz
Nach der Dauer unterscheidet man zwischen einem akuten (< 3 Monate) und einem chronischen (> 3
bzw. 6 Monate) Schmerz. Da man aktuell davon ausgeht, dass es sich bei akuten und chronischen
Schmerzen um voneinander eigenständige klinische Entitäten handelt, die (wahrscheinlich) auf
unterschiedliche psychophysiologische Mechanismen beruhen, sind in der nachfolgenden Tabelle
kurz die wesentliche Unterscheidungsmerkmale aufgelistet (nach Ernst 1998):
Allgemeine Unterschiede zwischen akutem und chronischem Schmerz
Akuter Schmerz
Chronischer Schmerz
•
Verlauf Tage bis 1 Woche
•
Verlauf > 3 (6) Monate
•
Kurzfristiges Auftreten
•
Dauerhaft bestehend oder wiederkehrend
•
Warn- und Schutzfunktion
•
Verschiedene
•
Aus der Schmerzlokalisation kann unter
Berücksichtigung der Schmerzqualität auf
die zugrunde liegende Schmerz-ursache
geschlossen werden
•
Zumeist als Begleitsymptom einer akuten
Erkrankung oder als Folge einer darauf
Ursachen
(bio-psycho-
sozial)
•
Keine Warn- oder Schutzfunktion
•
Fehlen
(aktueller)
hinreichender
organischer Ursachen oder Auslöser
•
Eigenständiges Krankheitsbild
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gerichteten Behandlungsmaßnahme (z.B.
•
eines chirurgischen Eingriffes)
•
Behandlung
der
Symptome
und
der
psychosozialen Auswirkungen
Ausmaß der Schmerzes steht in direkter
•
Beziehung zur Intensität des Schmerz
Modifikation des Schmerzerlebens i. S
einer subjektiven Schmerzlinderung
auslösenden Reizes
•
Behandlung der Ursache
Im akuten Zustand ist Schmerz in der Regel ein Signal für eine drohende bzw. eingetretene
Gewebsschädigung oder Krankheit (→ ‚Schutzschmerz’). Dabei gelangt die über Nozirezeptoren
vermittelte Information über sensible Afferenzen zum Hinterhorn des Rückenmarks und dann weiter
über die spino-thalamische Bahn zur kortikalen Projektion (Mülle-Schwefe 2003).
Im chronischen Fall ist Schmerz jedoch eine komplexe Systemstörung, die sowohl biologische (→
neuroplastische Veränderungen), wie auch psychosoziale Einflussfaktoren aufweist. Neben der Dauer
des Schmerzes werden in der Literatur zusätzlich folgende Merkmale und Dimensionen der
Chronifizierung von Schmerzen aufgelistet (vgl. Kröner-Herwig 1999):
Anzahl der Behandlungsversuche
Anzahl der konsultierende Ärzte
Anzahl
verschiedener
Therapien
und
Operationen
Krankheitsverhalten
Psychische Beeinträchtigungen
Soziale Beeinträchtigungen
Anzahl von Rehabilitationsmaßnahmen
Schon- und Vermeidungsverhalten
Missbrauch von Medikamenten
Verstärktes Grübeln
Katastrophisieren
Selbstwertverlust
Hilf- und Hoffnungslosigkeit
Depression
Angst, Verzweiflung
Veränderung sozialer Rollen
Einschränkung
sozialer
Interaktionen
und
Kontakte
Berufliche Folgen
Soziale Isolation
Fehltage wegen Arbeitsunfähigkeit
Arbeitsplatzverlust
Umschulung
Berentung
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Das chronische Schmerzerleben muss als eigenständiges Krankheitssyndrom betrachtet werden,
dass sich von der ursprünglich zugrunde liegenden somatischen Störung abgekoppelt hat. Nach
Gerbershagen (1995) kann nur dann von einem chronischen Schmerzsyndrom gesprochen werden,
wenn der Schmerz den Patienten in seinem Erleben und Verhalten bedeutsam beeinträchtigt und
wiederholt zum größten Teil erfolglos behandelt wurde.
Nach aktuellen Angaben der IASP (→ http://www.iasp-pain.org) haben etwa ein Fünftel der
Erwachsenen in den Industrienationen chronische Schmerzen, wobei etwa zwei Dritteln der
Schmerzpatienten diese am Bewegungsapparat angegeben. Chronische Kopfschmerzen und Migräne
haben weniger als zehn Prozent, und ein bis zwei Prozent leiden an Tumorschmerzen. Um die
Häufigkeit und Lokalisation (s. folgende Abbildung) chronischer Schmerzen in der Bevölkerung zu
ermitteln, wurden zwischen Oktober 2002 und Juni 2003 in 16 europäischen Staaten insgesamt
46.394 Erwachsene telefonisch befragt. Außerdem wurden insgesamt 4839 Interviews mit chronisch
Schmerzkranken gemacht.
Wo Patienten ihre Schmerzen lokalisieren
Ermittelt wurde, dass durchschnittlich jeder fünfte Erwachsene in Europa (= 19 Prozent, in
Deutschland sind es 17 Prozent) chronische Schmerzen angibt. Im Durchschnitt leiden die Patienten
seit sieben Jahren an chronisch persistierenden oder rekurrierenden Schmerzen, 21 Prozent sogar
seit mehr als 20 Jahren. Ein Drittel der Betroffenen hat berichtet, ständig - also rund um die Uhr und
an 365 Tagen pro Jahr - Schmerzen zu haben. Die chronische Schmerzen haben einen deutlichen
negativen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Betroffenen. So ist es für viele
der befragten Patienten bspw. nur mit Einschränkungen oder gar nicht mehr möglich: Gegenstände zu
heben (72 Prozent), Sport zu treiben (73 Prozent), die Hausarbeit zu erledigen (54 Prozent) oder an
sozialen Aktivitäten teilzunehmen (48 Prozent). 30 Prozent sind auf die Hilfe anderer angewiesen. 67
Prozent können aufgrund der Schmerzen nicht mehr richtig schlafen. Auswirkungen haben die
Schmerzen auch auf die Beschäftigung: Jeder fünfte Patient hat angegeben, aufgrund seiner
Erkrankung bereits einmal den Arbeitsplatz verloren zu haben. Als Folge chronischer Schmerzen hat
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sich bei jedem Fünften eine Depression entwickelt. Und etwa jeder Sechste empfindet seine
Schmerzen als so schlimm, dass er nicht mehr leben möchte. Die Studie hat außerdem gezeigt, dass
die primären Ansprechpartner für chronisch Schmerzkranke in Europa zu 70 Prozent die Hausärzte
und Allgemeinmediziner sind. Nur 23 Prozent der Befragten haben einen Schmerztherapeuten oder
spezialisierten Psychotherapeuten konsultiert. Alleine in Deutschland entstehen jährliche Kosten von
über 40 Milliarden Euro für die Behandlung und Folgekosten chronischer Schmerzen (Müller-Schwefe
2003).
3. Störungstheorien und Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen
Schmerzen
3.1 Neurophysiologisches Modell: Die Gate-Control-Theorie
Die „gate-control-Theorie“ wurde erstmalig 1965 von Melzack und Wall vorgestellt. Sie besteht aus
einem Modellteil zur Beschreibung peripherer Mechanismen der Schmerzentstehung und Weiterleitung, sowie einem Modellteil zur Beschreibung des Aufbaus und des Zusammenwirkens
verschiedener Schmerzkomponenten auf zentraler Ebene.
Bezüglich der peripheren Mechanismen gehen Melzack & Wall von der Annahme aus, dass ein
besonderer Nervenmechanismus in der substantia gelatinosa des Hinterhorn des Rückenmarks
vorhanden ist, der wie ein Tor (= gate) funktioniert und die Weiterleitung von peripheren
Schmerzreizen zum Wahrnehmungszentrum im ZNS moduliert (→ verstärkt oder abschwächt). Das
Tor wird „geschlossen“, in dem die Hinterhornneurone durch die Erregung dicker nicht nozizeptiver
Afferenzen
(→
A-beta-Fasern)
gehemmt
werden.
Das
Tor
wird
„geöffnet“,
in
dem
die
Hinterhornneurone durch die Erregung dünner nozizeptiver Afferenzen (→ A-delta- und C-Fasern)
aktiviert werden.
Des Weiteren wird die Impulsübertragung durch absteigende Signale aus höheren Hirnzentren
beeinflusst. Diese können nun wiederum über schnell leitende absteigende Bahnen Einfluss auf das
„Tor“ ausüben und es gegebenenfalls „schließen“. Auf der Ebene der zentralen Verarbeitung werden
von Melzack und Wall drei Schmerzkomponenten (= Systeme der Reizrepräsentation) angenommen.
Es wird unterschieden zwischen sensorisch-unterscheidendem System, motivierend-affektivem
System und der zentralen Kontrolle. Diese drei Systeme sollen die aus dem Tor ankommenden
schädigenden Reize in der Weise verarbeiten, dass Informationen über den Wirkort, das Ausmaß und
die räumlich-zeitlichen Besonderheiten des Schmerzreizes geliefert werden. Außerdem werden
motivationale Prozesse über Flucht- oder Angriffverhalten angeregt und kognitive Mechanismen auf
der Grundlage früherer Verhaltensmuster und Erfahrungen von Schmerz angestoßen. Alle drei
Systeme sind in der Lage, auf motorische Mechanismen Einfluss zu nehmen, die das
schmerzspezifische Verhalten auslösen. Zentrale Kontrollprozesse wiederum, die z.B. den
Schmerzreiz im Bezug auf vergangene Erfahrungen bewerten, kontrollieren die Aktivitäten des
unterscheidenden
und
des
motivierenden
Systems.
Negative
emotionale
Reaktionen
und
Kontrollverlust begünstigen eine „Öffnung des Tores“ (aus: Franetzki 2003).
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Kritisch anzumerken ist, dass zahlreiche neuere neurophysiologische Befunde nicht mit der „gatecontrol-Theorie“ übereinstimmen. Trotzdem kann die „gate-control-Theorie“ (als Metapher) im
Gespräch mit dem Patienten verwendet werden um anschaulich darzustellen, wie höhere ZNSZentren (→ Bewertung, Emotionen) modulierend auf den peripheren Schmerz einwirken.
3.2 Operantes Lernen
Schmerzverhalten kann durch positive Verstärkung (z.B. in Form von Zuwendung durch
Sozialpartner), durch negative Verstärkung (z.B. durch den Wegfall ungeliebter Tätigkeiten oder das
Vermeiden
von
unangenehmen
Situationen)
oder
auch
durch
mangelnde
Verstärkung
(Nichtbeachtung, Löschung) von funktionalem, nicht-schmerzbezogenem-Verhaltens aufrechterhalten
werden. Bei persistierender Schmerzsymptomatik kann es schließlich zu einem ausgeprägtem Schonund Vermeidungsverhalten, in Verbindung mit einem psychosozialem Rückzug kommen (↔Verlust
positiver Verstärker, Mangel an Ablenkung bzw. sinnvoller Beschäftigung). Dies wiederum bedingt die
Ausprägung einer depressiven Symptomatik (↔ „Erlernte Hilflosigkeit“, nach Seligman 1999;
Serotonin↓), was sich wiederum negativ auf die Schmerzempfindlichkeit auswirkt. Im Rahmen des
„fear-avoidance-beliefs“-Modell (Philipps 1987, s. folgende Abbildung) wird der Einfluss von
krankheitsbezogener Überzeugungen und Bewertungen auf das Verhalten und Erleben des Patienten
herausgestellt: insbesondere Patienten die ihre Schmerzen überbewerten und deshalb erhebliche
Angst vor ihnen entwickeln, halten über Schon- und Vermeidungsverhalten (→ Angstreduktion,
negative Verstärkung) das Schmerzerleben aufrecht. Aber auch die Nicht-Beachtung oder das
„Bagatellisieren“ von Schmerzempfindungen, oder der dysfunktionale Umgang mit Schmerzzuständen
i. S. von „Durchhalteparolen“ (bspw. „Jetzt erst recht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Was
mich nicht tötet, macht mich härter“, ...), kann die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms
begünstigen (s. folgende Abbildung).
P s y c h i s c h e R is ik o f a k t o r e n f ü r d i e
C h r o n i f iz i e r u n g v o n S c h m e r z e n
C h r o n if iz ie r u n g
Der Aspekt des Einflusses von allgemeinen und schmerzspezifischen Einstellungen und Bewertungen
auf Schmerz-Erleben und -Verhalten wird im kognitiv-behavioralen Ansatz betont, der im folgenden
Abschnitt erläutert werden soll.
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3.3 Kognitiv-behavioraler Ansatz
Dieser Ansatz betont den Einfluss von kognitiv-emotionalen Bewertungsprozessen auf das SchmerzErleben und –Verhalten: insbesondere die negativen Erwartungen bezüglich der eigenen Einflussund Kontrollmöglichkeiten des Schmerzgeschehen (z.B. Flor & Turk 1988), lösen Gefühle der
Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit aus, verbunden mit einem reduziertem Selbstwert (↔ bspw. „Ich
bin unfähig“), externaler Kontrollattribution (bspw. „niemand kann mir helfen“), „Erlernter Hilflosigkeit“
(Seligman 1999, bspw. „ich kann nichts tun; es wird nie besser“ und nachfolgender Depressivität.
Auch das Konzept der „self-efficancy“ (Bandura 1977) kann auf Patienten mit chronischen
Schmerzzuständen angewendet werden: Patienten mit hoher Belastung durch chronische Schmerzen
schätzen ihre eigene Möglichkeiten, etwas wirksames zur Linderung ihrer Schmerzen zu
unternehmen, als äußerst gering ein. Dies wiederum bedingt Passivität, Hoffnungslosigkeit,
Verspannung und Depressivität, was sich wiederum schmerzverstärkend auswirkt.
Insofern zielen Interventionsprogramme die auf Basis kognitiver Störungsmodelle entwickelt wurden
darauf ab, die Bewertung und Bedeutung von Schmerzen zu modulieren (↔ kognitive
Umstrukturierung
dysfunktionaler
schmerzbezogener
und
allgemeiner
Glaubenssätze
und
Überzeugungen). Als weitere Variablen kognitiver Schmerztherapien werden folgende Bereiche
genannt (Kröner-Herwig 1999):
Vermittlung
eines
Patientenschulung),
adäquaten
Störungs-
Aufmerksamkeitslenkung,
und
Bewältigungsmodell
Stressmanagement,
(Psychoedukation,
Entspannungsverfahren/
Imagination, Aktivitätsaufbau und Vermittlung von allgemeinen Problemlöse-Techniken
Letztendlich kann das Wirkungsprinzip jeglicher erfolgreich durchgeführten (Schmerz- Psycho-)
Therapie als Steigerung von Selbsteffizienz (Bandura 1977) interpretiert werden.
3.4 Schmerz und Depression
Der Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und Depression scheint sehr eindeutig, da sich
im Alltag und Erleben der Betroffene einschneidende Veränderungen (z.B. Verminderung sozialer
Aktivitäten, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust von Autonomie, Hilflosigkeit bis Verzweiflung über
Nicht-Besserung der Beschwerden) einstellen.
In einer Metaanalyse stellten Banks und Kerns (1996) fest, dass die Prävalenzrate von Depression bei
chronischem Schmerz in verschiedenen Studien eine Variationsbreite von 10% bis 100% erreicht.
Dafür ist zum einen die unterschiedliche methodische Erfassung der Prävalenzrate von Depression
verantwortlich. So besteht beispielsweise im DSM-III eine Überlappung der Kriterien für eine
Depression (MDE) mit denjenigen für chronischen Schmerz. Gemeinsame Symptome beziehen sich
auf den somatisch-vegetativen Bereich, das sind z.B. Gewichtszunahme, Schlafstörungen,
psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung. Beim Einsatz von Depressionsfragebögen (z.B.
Becks-Depressions-Inventar, BDI) ist kritisch anzumerken, dass sie bisher nicht an chronischen
Schmerzpatienten und -patientinnen standardisiert wurden und somit die Depressionsrate
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überschätzen (Egle & Philipp, 1993). Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass die meisten
Studien mit einer hohen Depressionsquote aus Untersuchungen mit Patienten aus psychiatrischen
Kliniken stammen (Egle & Philipp, 1993). Hier lässt sich die Frage stellen, ob bei diesen Patienten
nicht eine Doppeldiagnose bzw. eine Co-Morbidität vorliegt. Außerdem hängt die Depressivitätsrate
bei Schmerzpatienten und -patientinnen davon ab, mit welcher Population sie verglichen wird.
Üblicherweise werden Prävalenzraten für Depression von chronischen Schmerzerkrankungen mit der
Normalbevölkerung verglichen. Bei Vergleich mit anderen chronischen körperlichen Erkrankungen
zeigten sich dagegen keine erhöhten Depressionswerte (Jacobs & Bosse-Dürer 2005).
Immer wieder der zeitliche Zusammenhang der beiden Störungsbilder Depression und Chronisches
Schmerzsyndrom diskutiert, wobei sich hier 2 verschiedene Modellvorstellungen gegenüber stehen:
depressive Störung als Folge einer chronischen Schmerzerkrankung vs. Depression als Antezedens
einer chronischen Schmerzerkrankung und damit auch die Interpretation der chronischen
Schmererkrankung als Symptom einer „larvierten“ oder „maskierten“ Depression Blumer & Heilbronn
1982). In diesem Zusammenhang sei auch das Konzept der „Schmerzpersönlichkeit“ (= „pain- prone
personality“), i.S. des Vorliegens einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur als Prädisposition zur
Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung, erwähnt (Engel 1959). Engel hat für diesen Typ
von Mensch die Bezeichnung „pain-prone-patient“ (etwa „Schmerzanfälligkeits-Patient“) geprägt, mit
den Merkmalen: vorwiegend depressiv, pessimistisch, schwermütig, voller Schuldgefühle und ohne
Lebensfreude. Außerdem wird postuliert, dass der „typische Schmerzanfälligkeits-Patient“ seine
unterdrückte Feindseligkeit gegen den eigenen Körper wendet. Bislang gibt es keine validen Daten,
die dieses - psychodynamisch geprägte - Konzept, dass bestimmte Persönlichkeitsvariablen eine
Schmerzstörung vorhersagbar machen, bestätigen. Auch das Verständnis dass chronischer Schmerz
als ein primärer Ausdruck einer „larvierten“ oder „maskierten“ Depression anzusehen ist, konnte nicht
bestätigt werden.
Zusammenfassend kann folgende Aussagen getroffen werden: viele empirische Befunde darauf hin,
dass eine depressive Störung als eine häufige Folge einer chronischen Erkrankung anzusehen ist.
Des Weiteren lässt sich sagen, dass eine Schmerzpersönlichkeit empirisch nicht belegbar ist, da die
Persönlichkeitsunterschiede
zwischen
Schmerzkranken
und
Gesunden
zumeist
durch
die
Auswirkungen der chronischen Erkrankung allgemein und nicht durch das spezifische Schmerzleiden
bedingt wird (Kröner-Herwig 1999b).
4. Prozesse der Chronifizierung von Schmerzen
Chronifizierung kennzeichnet die Phase des Überganges von einem akuten zu einem chronisch
persistierenden oder rezidivierenden Schmerz. An diesem Prozess sind in unterschiedlicher
Gewichtung komplexe Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen
Faktoren beteiligt (↔ biopsychosoziale Krankheitsmodell). Aus kognitiv-verhaltenstheoretischer Sicht
können folgende Faktoren einen (negativen) Einfluss ausüben:
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biographische Einflüsse:
→ häufige Schmerz-Episoden (Sensibilisierung) und dysfunktionaler Umgang mit Schmerzzuständen
in Kindheit und Jugend
→ häufige Episoden und dysfunktionaler Umgang mit Schmerzzuständen in der Herkunftsfamilie
Primärpersönlichkeit
→ Ängstlich; Lebensunzufriedenheit; externale Kontrollattribution
Psychiatrische Komorbidität:
→Depressivität
Kognitive Stile und Verhaltenstendenzen:
→ Bagatellisieren, Überfordern, Katastrophisieren
Operante Faktoren:
→ Negative Verstärkung (Schonung, Rückzugsverhalten); Positive Verstärkung (Zuwendung,
Aufmerksamkeit) bei Schmerzen
Neuere kognitionspsychologische Ansätze fokussieren auf dysfunktionale Informationsprozesse bei
der Entstehung chronischer Schmerzzustände (Hoppe 1986). Ein Schmerzempfinden wird als Produkt
von sensorischen Input und gespeichertem Schmerzwissen und –Erfahrung, dem gespeicherten
Schmerzschema oder Schmerz-Engramm definiert. Schmerzschemata oder Schmerz-Engramme sind
zu
verstehen
als
„Informationspakete“
über
sensorische,
emotionale
und
evaluative
Schmerzeigenschaften, sowie über Verhaltensoptionen wie auch Konsequenzen. Auch ein minimaler
sensorischer Input (↔ „bottom-up“) kann das ganze Schmerz-Engramm aktivieren, so dass eine
aktuelle Schmerzäußerung und –Bewertung des Patienten, als Konglomerat des aktuell vorliegenden
und des vergangenen Schmerzempfinden gewertet werden muss. Gleichzeitig kann auch die
Aktivierung eines Schmerzengramms dazu führen, dass ein beliebige Information als „schmerzvoll“
verarbeitet wird (↔ „top-down“).
5. Diagnostik und Therapie
Im diagnostischen Teil einer Psychologischen Schmerztherapie werden die biologischen, psychischen
und sozialen Merkmale des aktuellen Schmerzverhaltens und -erlebens erhoben und zu einem biopsycho-sozialen Schmerzmodell zusammengefasst. In diesem, auf den einzelnen Patienten
zugeschnittenen
Schmerzmodell
werden
die
aktuellen
Erlebens-
und
Empfindungsstile
zusammengestellt, auf ihre Schmerzrelevanz geprüft und gegebenenfalls in Veränderungspläne
überführt.
In den anschließenden Behandlungssitzungen werden spezifische Verfahren zur Veränderung
ungünstiger Verhaltens- und Empfindungsgewohnheiten vermittelt und in den Alltag des Patienten
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transferiert. Je nachdem, ob ungünstige (dysfunktionale) Verhaltens- und Erlebensstile schon lange
vor dem ersten Auftreten des Schmerzproblems erworben wurden oder erst danach, kommen
anfänglich eher aufarbeitende (Konflikt-, Gedanken- und Beziehungsanalyse) oder vorwiegend
modifikatorische (Aktivitätsänderung, Verhaltenslenkung, Biofeedback) Therapieprinzipien zum
Einsatz.
Im weiteren Behandlungsverlauf werden funktionale Erlebens- und Verhaltensmuster soweit eingeübt,
bis spürbare Verringerungen der chronischen Schmerzempfindung und der damit verbundenen
Beschränkungen in der individuellen Lebensgestaltung erfolgen. Erfahrungsgemäß gelingt es häufig
zuerst, die schmerzbedingten Einschränkungen im alltäglichen Leben zu verringern, während sich die
Abnahme der Schmerzempfindung erst mit einiger Verzögerung einstellt.
6. Literatur
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Birnbaumer
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Franetzki E (2003) Evaluation eines strukturierten verhaltensmedizinischen Selbsthilfeprogramms
bei Fibromyalgie: Veränderung der psychischen Befindlichkeit. Diplomarbeit Psychologisches
Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Klinische Psychologie
Gerbershagen HU (1995) Die Stadienzuordnung chronischer Schmerzen – Das Mainzer Stadien
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Jacobs & Bosse-Dürer (2005) Verhaltenstherapeutische Hypnose bei chronischem Schmerz.
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Seligman EP (1999) Erlernte Hilflosigkeit. Weinheim: Beltz Verlag
7. Zur Vertiefung
Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch D (2004) Psychologische Schmerztherapie.
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Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Schmerzpsychotherapie. Berlin: Springer
Jacobs & Bosse-Dürer (2005) Verhaltenstherapeutische Hypnose bei chronischem Schmerz.
-
Göttingen: Hogrefe
-
Deutsche Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und Forschung (http://www.dgpsf.de)
-
International Association for the Study of Pain (http://www.iasp-pain.org)
-
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (http://www.dgss.org)
-
Deutsche Schmerzliga e.V. (http://www.schmerzliga.de)
®
8. Für Klienten
⇓ Sehr selektive Auswahl), beziehbar bzw. download über: www.TK-online.de)
Broschüren:
-
Kopfschmerzen. Techniker-Krankenkasse, 2000, ISBN 3-933779-07-03
-
Kreuzschmerzen. Techniker-Krankenkasse, 2002, ISBN 3-933779-11-01
-
Tumorschmerz. Techniker-Krankenkasse, 2001, ISBN 3-933779-12-x
-
Der Stress. Techniker-Krankenkasse, 2001, ISBN 0723-1717
CD:
-
Progressive Muskelentspannung. Techniker-Krankenkasse
-
Atementspannung. Techniker-Krankenkasse
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