- 46 - 6. Zusammenfassung und Diskussion Psychischen Erkrankungen, insbesondere Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis nehmen häufig, trotz in den letzten Jahren verbesserter Diagnostik und Therapie, einen chronischen Krankheitsverlauf mit häufigen und langen Hospitalisierungszeiten. Hieraus ergab sich der Ansatz für diese wissenschaftliche Arbeit. Untersucht wurde eine Patientenkollektiv mit besonders schwerem chronischen Krankheitsverlauf hinsichtlich von Besonderheiten im Vergleich zu anderen Patientengruppen. Als Supersensitivitätspsychosen werden psychotische Erkrankungen bezeichnet, bei denen es zu einer Toleranzentwicklung gegenüber der Neuroleptikawirkung kommt und die deshalb trotz hoher neuroleptischer Dosierung eine hohe Rezidivrate aufweisen. Aus einer Gruppe von 112 Patienten mit chronischer Schizophrenie haben wir 15 Patienten, die die Chouinard-Kriterien einer Supersensitivitätspsychose erfüllten, mit parallelisierten einer nach Kontrollgruppe Alter, von Krankheitsdauer 19 Patienten und Hauptdiagnose verglichen, die keine Supersensitivitätskriterien zeigten. Dazu haben wir retrospektiv sämtliche Krankenunterlagen aller stationären Aufenthalte ausgewertet. Die Hauptfragestellung war, ob Patienten mit Supersensitivitätspsychosen gegenüber anderen chronisch schizophrenen Patienten psychopathologische Besonderheiten aufweisen. Hierfür haben wir retrospektiv die Krankenunterlagen der ersten beiden und des letzten stationären Aufenthaltes unter besonderer Berücksichtigung der psychischen Aufnahmebefunde und der Epikrisen ausgewertet. - 47 - Psychopathologie Bezüglich depressiver Symptomatik ergab unsere Untersuchung keine Gruppendifferenzen. In beiden Kollektiven imponierten in allen ausgewerteten stationären Aufenthalten etwa 50% der Patienten mit depressiven Symptomen. Hier sei noch einmal erwähnt, daß die retrospektive Erfassung der Depressivität anhand der Krankenunterlagen insofern problematisch ist, als daß rückblickend die Trennung zwischen Depressivität und schizophrener Minussymptomatik nicht immer exakt gelingt. Deshalb haben wir in unserer Auswertung nur Patienten erfaßt, bei denen explizit eine depressive Stimmung beschrieben wurde sowie Patienten, die eine antidepressive Pharmakotherapie erhielten. Insofern besteht die Möglichkeit, daß Depressivität, insbesondere bei Patienten mit deutlich im Vordergrund stehender Minussymptomatik, nicht immer erfaßt werden konnte. Die Beobachtungen von Miller und Chouinard, daß Patienten mit Supersensitivitätspsychose i.d.R. zu Krankheitsbeginn eine deutlich depressive Symptomatik zeigen (R. Miller und G. Chouinard 1993), konnten wir in unserer Untersuchung nicht bestätigen. Das von Miller und Chouinard beschriebene gehäufte Auftreten von Depressivität bei SSP-Patienten zu Beginn der Krankheitskarriere läßt sich vermutlich darauf zurückführen, daß die Studie o. g. Autoren an ambulanten weniger schwer erkrankten - Patienten durchgeführt wurde. Die SSP-Patienten dieser Studie waren Patienten mit guter Prognose. Affektive Symptome bei Krankheitsbeginn gelten als Prediktor für eine günstige Prognose bei Schizophrenien (Andreasen und Black 1995). Schizophrene Plus-Symptome traten zu allen Untersuchungszeitpunkten in beiden Patientenkollektiven ohne richtungsweisende Unterschiede auf. Somit unterscheiden sich nach unseren Ergebnissen akute Krankheitsphasen zwischen Patientengruppen mit Supersensitivitätspsychosen und anderen schizophrenen Patientengruppen hinsichtlich der Häufigkeit von Plus-Symptomen nicht. Bei der psychomotorischen Symptomatik fanden sich deutliche Gruppenunterschiede. Zeigten zu Beginn der Erkrankung Patienten beider Gruppen noch eine - 48 - ähnliche Verteilung psychomotorischer Symptome, stieg die Anzahl psychomotorischer Symptome in der SSP-Gruppe bereits zum 2. stationären Aufenthalt deutlich an. In der KG-Gruppe blieb der Anteil psychomotorischer Symptome bis zum 2. stationären Aufenthalt nahezu konstant. Zwischen dem 2. und dem letzten stationären Aufenthalt zeigten die Patienten der SSP-Gruppe eine weitere Zunahme der psychomotorischen Symptomatik. Auch in der Kontrollgruppe kommt es im Verlauf der Erkrankung tendentiell zu einer Zunahme der psychomotorischen Symptome zum letzten stationären Aufenthalt hin, dies jedoch weitaus weniger ausgeprägt, als in der SSP-Gruppe. Aufgrund der niedrigen Fallzahlen kann die Interpretation dieser Ergebnisse nur explorativ erfolgen, d. h. es können nur hypothesengenerierende Aussagen getroffen werden. Motorische Störungen im Rahmen chronischer Schizophrenien können verschiedene Ursachen haben. Neben primär morbogenen kann es sich gleichfalls um medikamentös modifizierte Krankheitssymptome als auch um ausschließlich pharmakogen bedingte Merkmale handeln. Der Begriff „Katatones Dilemma“ macht die Schwierigkeiten deutlich, neuroleptikabedingte Bewegungsstörungen von spontanen morbogenen Bewegungsstörungen zu unterscheiden (Bräunig 1995). Aus diesem Grunde haben wir bei der Erfassung der psychomotorischen Symptome den Begriff „Tardive Dyskinesien“, der immer mit einer Neuroleptikalangzeitbehandlung assoziiert wird, vermieden und die psychomotorischen Phänomene rein deskriptiv erfaßt (siehe Tabelle 1, Anhang). Psychomotorische (katatone) Störungen bei chronisch schizophrenen Erkrankungen wurden von Kraepelin bereits 1913 (fast 50 Jahre vor Beginn der Neuroleptika-Ära) in eindrucksvoller Weise beschrieben. Dies betrifft besonders die Tardiven Dyskinesien. In den letzten Jahren rediagnostizierte psychiatrische Fallbeschreibungen aus der Präneuroleptika-Ära ergaben z.B. 15 % orofaziale Dyskinesien (Fenton et al. 1994), 28 % an Bewegungsstörungen insgesamt (Turner 1989). Eine 1996 im „British Journal of Psychiatry“ veröffentlichte Studie aus Indien an neuroleptikanaiven älteren Schizophreniekranken (Durchschnittsalter 65 Jahre) ergab eine Dyskinesie-Rate von 38 %, eine Parkinsonoid-Rate von 24 % und - 49 - eine Akathisie-Rate von 21 %. Eine Kontrollgruppe gleichen Durchschnittsalters, die neuroleptisch therapiert wurde, imponierte mit Raten, die nur unwesentlich höher lagen (McCreadie et al. 1996). Die Möglichkeit, daß es sich in unserer Untersuchung bei der hohen Rate an motorischen Störungen in der SSP-Gruppe lediglich um neuroleptisch induzierte Bewegungsstörungen handelt, scheidet aus, da die neuroleptische Tagesdosis zum einen in der SSP-Gruppe in allen ausgewerteten stationären Aufenthalten im Mittel unter denen der Kontrollgruppe lagen, zum anderen, da die Raten atypischer Neuroleptika, insbesondere die Clozapin-Raten in der SSP-Gruppe stets höher waren. Vorstellbar ist, daß Supersensitivitätspsychosen krankheitsbedingt mehr psychomotorische Symptome im psychopathologischen Spektrum aufweisen, bzw. bei Supersensitivitätspsychosen Neuroleptika bei zunehmendem Wirkungsverlust zu einer Verstärkung vorhandener und Induktion latenter motorischer Symptome führen. Bei der Minus-Symptomatik zeigten beide Gruppen zu Beginn der Erkrankung noch eine vergleichbar niedrige Anzahl an Minus-Symptomen; zum letzten stationären Aufenthalt hingegen waren Minus-Symptome in der SSP-Gruppe weitaus häufiger vertreten. Auch hier kann die Interpretation dieser Ergebnisse aufgrund der niedrigen Fallzahlen nur explorativ erfolgen, d. h. es können nur hypothesengenerierende Aussagen getroffen werden. Die in unserer Untersuchung beobachtete Koexistenz von psychomotorischer und negativer Symptomatik wurde in der Literatur vereinzelt beschrieben. Fenton et al. (1993) berichteten, daß Patienten mit spontanen Dyskinesien signifikant mehr Negativ-Symptomatik und Desorganisation aufwiesen. Einen direkten Zusammenhang zwischen motorischen Störungen und Defizienzsyndromen bei schizophrenen Störungen fanden auch andere Autoren (Mohr et al. 1991; King et al. 1991). - 50 - Eine bisher unveröffentlichte Studie aus unserer Klinik zur NeuroleptikaResponse zeigte in der Gruppe der Non-Responder ein signifikant höheres Maß an Bewegungsstörungen und Minussymptomatik als bei den Respondern (Börner und Bräunig 1994). Negativsyndrome und Verhaltensdeviationen sind die eigentlichen zerstörerischen Zeichen einer schizophrenen Erkrankung und lassen sich neben den motorischen Symptomen am wenigsten beeinflussen. Beide gelten als ungünstiger Verlaufsprädiktor schizophrener Erkrankungen (Straube 1992; Schröder et al. 1992; Börner und Bräunig 1994; Fenton und Glashan 1995). Psychiatrische Komorbidität Unsere Ergebnisse bezüglich psychiatrischer Komorbidität zeigten bei den Angstsymptomen einen höheren Anteil paranoider Ängste in der Kontrollgruppe, nicht paranoide Ängste (v. a. generalisierte Ängste) fanden sich häufiger in der SSP-Gruppe. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es zahlreiche Komorbiditätsstudien zu Angststörungen und Depression (Wittchen und Zerssen 1987; Robins und Regier 1991; Lepine et al. 1993; Kessler et al. 1994) sowie zu Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen (Tyrer et al. 1983; Fiester et al. 1990; Rouillon und Chignon 1992), hingegen kaum Untersuchungen zu Angststörungen bei Schizophrenien (Wittchen und Vossen 1995). Angststörungen - die in der Regel nach Abklingen einer akuten schizophrenen Episode spontan remittieren - werden als Teil einer „bunten“ Schizophrenieproblematik interpretiert (Wittchen und Vossen 1995). Nicht paranoide Ängste, insbesondere soziale Phobien, sind offensichtlich jedoch auch gehäuft in symptomfreien Intervallen bei chronisch schizophrenen Patienten nachweisbar (Wittchen und Vossen 1995). Die höhere Rate nicht paranoider Ängste bei den SSP-Patienten könnte vermuten lassen, daß diese Patienten ein generell erhöhtes Angstniveau aufweisen, was u.a. die erhöhte Stress-Sensibilität (Chouinard-Kriterium für Supersensitivi- - 51 - tätspsychosen) und Vulnerabilität gegenüber psychotischen Exazerbationen mit erklären könnte. Hier kann sich möglicherweise auch ein valider Ansatzpunkt für rückfallprophylaktische Interventionen ergeben. Das psychovegetative Arousal - gemessen an der durchschnittlichen Herzfrequenz - ergab hingegen keine Gruppendifferenz. Beide Gruppen lagen deutlich über dem Niveau Gesunder. Hierbei spielt der Einfluß der Medikation möglicherweise in beiden Gruppen eine Rolle (Benkert und Hippius 1996). Symptome aus dem Zwangsspektrum traten deutlich häufiger in der SSPGruppe auf. Hinsichtlich der Komorbidität sind Zwangsstörungen am weitaus häufigsten mit affektiven Störungen und Angststörungen assoziiert (Pigott et al. 1994). Pathophysiologisch wurde eine Serotonin-5HT-Dysregulation sowohl bei Zwangspatienten als auch bei Patienten mit affektiven - und Angststörungen nachgewiesen (Charney et al. 1987; Murphy und Pigott 1990; Hollander et al. 1992; Bar et al. 1992). Bei schizophrenen Patienten wird die Komorbiditätsrate an Zwangsstörungen unterschiedlich hoch angegeben. Raten von 3,5% bis zu 20% werden in der Literatur beschrieben (Rosen 1957; Fenton et al. 1992). Schizophrene Patienten mit Zwangsstörungen zeigen eine geringere Therapieresponse und eine ungünstigere Entwicklung des sozialen Funktionsniveaus als schizophrene Patienten ohne Zwangsstörungen. So gilt eine vorhandene Zwangssymptomatik als ein Prediktor für eine ungünstige Prognose (Fenton et al. 1992). Störungen der Impulskontrolle wurden ebenfalls häufiger in der SSP-Gruppe beschrieben. Als pathophysiologisches Korrelat wird auch für diese Störungen insbesondere für aggressive Impulsdurchbrüche - u.a. eine SerotoninDysregulation angenommen (Brown 1982; Asberg et al. 1987). Auch phänomenologisch zeigt sich eine Überlappung von Zwangsstörungen und Impulskontrollstörungen. Millar (1983) beschrieb einen hohen „score“ von „Ärger und Aggressivität“ bei Patienten mit Zwangsstörungen. Hoehn-Saric und Barks- - 52 - dale (1983) beschrieben bei einer Subgruppe von Zwangspatienten eine Assoziierung mit gestörter Impulskontrolle. Untersuchungen zu Impulskontrollstörungen bei Schizophrenien fanden sich nicht in der Literatur. Psychosoziales Funktionsniveau Aus den Daten zum sozialen Status, insbesondere an der hohen Rate von SSPPatienten, die nach langjähriger Krankheitsdauer im geschützten Wohnheim leben oder gesetzlich betreut werden, wird deutlich, daß Patienten mit Supersensitivitätspsychosen im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich schwerer erkrankt und in ihrem sozialen Fuktionsniveau erheblich stärker beeinträchtigt sind. Die Krankenhausverweildauer ist in der SSP-Gruppe fast doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe und deutet damit auf eine geringere NeuroleptikaResponse bei diesen Patienten hin. Resümee der Ergebnisse und therapeutische Konsequenzen Aufgrund der oben diskutierten psychopathologischen Charakteristika - v. a. der hohen Rate an psychomotorischen- und Minussymptomen, aber auch der hohen Komorbiditätsrate - sowie aufgrund der sozialen Daten, läßt sich zusammenfassend feststellen, daß es sich bei den SSP-Patienten um deutlich schwerer erkrankte Patienten mit einer polymorphen Symptomatik und ungünstigem Krankheitsverlauf handelt. Exakte Subdiagnosen wurden in unserer Untersuchung absichtlich nicht berücksichtigt. Zahlreiche SSP-Patienten erhielten im Verlauf ihrer Krankheitskarriere in verschiedenen Kliniken - abhängig von der diagnostischen Ausrichtung des behandelnden Psychiaters und der aktuellen Querschnittssymptomatik - wechselnde Subdiagnosen. Es ist unklar, ob die besondere Schwere des Krankheitsverlaufes der Supersensitivitätspsychosen als Folge der Eigendynamik der Erkrankung oder als Folge einer unzureichenden Response dieser Patientengruppe gegenüber den derzeit zur Verfügung stehenden Neuroleptika zu sehen ist. In die letztere Richtung - 53 - könnte die deutlich längere stationäre Aufenthaltsdauer der SSP-Patienten bei nicht unterschiedlicher Zahl der stationären Aufenthalte hinweisen. In der SSP-Gruppe war die Verträglichkeit und Wirksamkeit klassischer Neuroleptika gegenüber der Kontrollgruppe deutlich geringer. Dies ist aus den Daten unserer Untersuchung nur indirekt aus der hohen Umstellungsrate auf atypische Neuroleptika in der SSP-Gruppe zu entnehmen. Die EPS-Raten der ausgewerteten stationären Aufenthalte waren zum letzten stationären Aufenthalt in der SSP-Gruppe deutlich höher. Das Ergebnis war jedoch nicht signifikant (siehe Anhang, Tabellen 2b und 3b, Nr. 28). Dies lag sicherlich zum einen an der geringen Fallzahl in beiden Patientenkollektiven, zum anderen wohl daran, daß nur berücksichtigt wurde, ob extrapyramidale Symptome vorhanden waren oder nicht. Die Intensität der extrapyramidalen Symptomatik blieb unberücksichtigt. Unser klinischer Eindruck war jedoch , allen Untersuchern waren die Patienten jahrelang bekannt, daß die extrapyramidalen Nebenwirkungen der klassischen Neuroleptika bei den SSP-Patienten in den weitaus meisten Fällen erheblich stärker ausgeprägt waren. Weiter zeigten die meisten SSP-Patienten im Krankheitsverlauf eine Persistenz oder gar Verschlechterung der Minussymptomatik unter der Therapie mit klassischen Neuroleptika. Klassische Neuroleptika haben keinen therapeutischen Effekt bei schizophrenen Minussymptomen. Dies wird mit der hohen Affinität zu Dopamin-D2-Rezeptoren erklärt. Selektive D2-Blockade bewirkt jedoch allein einen Rückgang schizophrener Plussymptome (Benkert / Hippius 1996). Nach Umstellung auf atypische Neuroleptika - v. a. bei Umstellung auf Clozapin - trat bei einem Teil der SSP-Patienten eine deutliche Stabilisierung mit Rückgang der Minussymptomatik ein. Diese klinische Beobachtung bei einigen SSPPatienten zeigte jedoch keine Auswirkung auf die Gesamtrate schizophrener Minussymptome im letzten stationären Aufenthalt. Das kann darauf zurückzuführen sein, daß wir im wesentlichen den psychopathologischen Befund bei akuter Exazerbation, das heißt eine aktuelle Querschnittssymptomatik untersucht haben, nicht jedoch die Entwicklung der Minussymptomatik im „symptomfreien“ Intervall. Ein Teil der Patienten wurde auch erst während der letzten stationären Behandlung auf atypische Neuroleptika umgestellt. Die systematische Auswer- - 54 - tung weiterer stationärer Aufenthalte müßte zeigen, ob es bei den „atypisch behandelten“ SSP-Patienten im weiteren Krankheitsverlauf zu einem meßbaren Rückgang der Minussymptomatik kommt. Neuroleptisch induzierte Supersensitivitätspsychosen und neuroleptische Therapie-Non-Response wurden v.a. für klassische Neuroleptika berichtet (Leon 1979; Claghorn et al. 1987; Small et al. 1987; Chouinard et al. 1993). Als pathophysiologisches Korrelat wurde zunächst angenommen, daß es unter neuroleptischer Langzeittherapie zur Supersensitivitätsentwicklung postsynaptischer Dopamin-D2-Rezeptoren in mesolimbischen Strukturen kommt, i.e. zu einer Empfindlichkeitssteigerung und Proliferation der Rezeptoren. Dopaminerge Rezeptorproliferation als Antwort auf chronische Neuroleptikaexposition konnte in Tierversuchen nachgewiesen werden (Barany und Gunne 1979; Gerlach et al. 1987; Lublin und Gerlach 1988; Marin und Chase 1993). Davis et al. wiesen 1978 eine Dopamin-Rezeptorproliferation in mesolimbischen Strukturen nach. Eine Toleranzentwicklung bei neuroleptischer Langzeitgabe hinsichtlich spezifischer Verhaltensweisen im Tierexperiment wurde ebenfalls nachgewiesen (Asper et al. 1973; Moller-Nielson et al. 1973; Diamond und Borison 1986), ebenso eine Toleranzentwicklung bei der Prolaktinsekretion (Annunziato et al. 1980; Naber et al. 1980; Brown und Laughren 1981; Arato et al. 1984; PrysorJones et al. 1985; Diamond und Borison 1986; Kirkpatrick et al. 1989). Weiter konnte tierexperimentell nachgewiesen werden, daß Neuroleptika, welche in einem äquivalenten Verhältnis Dopamin-D1- und Dopamin-D2Rezeptoren antagonisieren, deutlich weniger Supersensitivitätsphänomene auslösen als Präparate, die v.a. Dopamin-D2-Rezeptoren antagonisieren (Marin et al. 1993). Die von verschiedenen Autoren beschriebene günstige Wirkung von Clozapin bei therapierefraktären Schizophrenien (Kane et al. 1988; Perry et al. 1991) führt Markstein (1994) auf den ausgewogenen Dopamin-D1- und Dopamin-D2Antagonismus zurück. - 55 - Ein breites Wirkungsprofil, i.e. ein eben nicht wie bei klassischen Neuroleptika relativ selektiver Wirkmechanismus, der neben den dopaminergen auch antimuskarinische, antiadrenerge und besonders antiserotonerge Eigenschaften aufweist, mag den günstigen Effekt von Clozapin (und anderen atypischen Neuroleptika) bei therapierefraktären Schizophrenien und Minussymptomatik zusätzlich erklären. Chouinard et al. (1993) beschrieben eine hohe Effizienz von Clozapin und Risperidon bei Supersensitivitätspsychosen; Clozapin erwies sich als wirksamer bei männlichen Patienten, Risperidon eher bei weiblichen Patienten (Chouinard et al. 1993). Obwohl in der Literatur auch in Einzelfällen Supersensitivitätssyndrome nach Absetzen von Clozapin (Ekblom et al. 1984; Perenyi et al. 1985), Thioridazin (Sovner 1995) und kürzlich auch Olanzapin (Llorca et al. 2001) beschrieben wurden, erwies sich die Umstellung unserer Patienten mit Supersensitivitätspsychosen auf atypische Neuroleptika in den weitaus meisten Fällen als günstig. Dieser klinische Eindruck wird in den Ergebnissen unserer Studie in den erheblich unter dem Gruppendurchschnitt liegenden neuroleptischen Dosen (in Chlorpromazin-Äquivalenten), die „atypisch behandelte“ SSP-Patienten erhalten, bestätigt. Daß Clozapin keine Supersensitivität postsynaptischer Dopamin-D2-Rezeptoren in nigostriären Strukturen auslösen soll (Rupniak et al. 1985, Jenner und Marsden 1987), erklärt den günstigen Effekt gerade bei motorisch akzentuierten Verlaufsformen chronischer Schizophrenien. Die Tatsache, daß Patienten mit latenten und manifesten morbogenen motorischen Störungen gegenüber extrapyramidalen Neuroleptikawirkungen ungünstiger reagieren als andere Patientengruppen (Börner und Bräunig 1994), sollte bei der Auswahl des Neuroleptikums der ersten Wahl therapeutisch schon zu einem möglichst frühen Krankheitszeitpunkt berücksichtigt werden. Nach unseren Ergebnissen zeigen die SSP-Patienten bereits im 2. stationären Aufenthalt (d.h. schon zu Beginn der Krankheitskarriere) einen deutlichen Anstieg motori- - 56 - scher Symptome im Gegensatz zur Kontrollgruppe. Eventuell kann durch frühzeitigen Einsatz eines atypischen Neuroleptikums auch das Risiko einer Supersensitivitätsentwicklung reduziert werden. Kritik am Konzept der Supersensitivitätspsychose Das Konzept der Supersensitivitätspsychose nach Chouinard ist in der Literatur nicht unumstritten. Singh et al. (1990) führten einen Neuroleptikaentzug in einer Doppelblind-Studie an fünf Patienten, die die Supersensitivitätskriterien erfüllten und einer Kontrollgruppe von fünf Personen durch. Innerhalb von zwei Wochen nach Absetzen des Neuroleptikums kam es zu keiner Differenz zwischen beiden Gruppen hinsichtlich symptomatischer Veränderungen. Einzuwenden ist, daß die Patientenzahl sehr klein war und die Zeitspanne von sechs Wochen (Kriterium nach Chouinard) nicht eingehalten wurde. Albus et al. (1985) fanden jedoch, daß nach Absetzen der Neuroleptika Patienten mit Tardiven Dyskinesien sehr viel schneller akute Rezidive erlitten als Patienten ohne Tardive Dyskinesien. In einer Follow-up-Studie von Palmstierna und Wistedt (1987) fand sich bei 93% der Patienten über einen Zeitraum von fünf bis acht Jahren kein Dosisanstieg. Eine weitere Studie berichtet von einem Dosisrückgang bei vielen SSPPatienten über eine langjährige Periode (Sramek et al. 1990). Dopamin-D2-Rezeptorproliferation - wichtigstes pathophysiologisches Korrelat der Supersensitivitätspsychose - wurde in zahlreichen Tierexperimenten (Christensen et al. 1976; Burt et al. 1977; Davis et al. 1978) und klinisch mittels PET-Studien nachgewiesen (Blin et al. 1989; Andersson et al. 1990). Wong et al. (1986) berichteten jedoch auch über eine Rezeptorproliferation bei schizophrenen Patienten, die nie neuroleptisch behandelt wurden; das bedeutet ein Dopamin-Rezeptoranstieg durch den Krankheitsprozess selbst und nicht durch neuroleptische Exposition bedingt. - 57 - Auch in unserer Untersuchung zeigten die SSP-Patienten keinen signifikanten Dosisanstieg. Das könnte an der hohen Umstellungsrate auf atypische Neuroleptika liegen. Atypische Neuroleptika haben eine deutlich geringere neuroleptische Potenz und verfügen über andere und zusätzliche Wirkmechanismen (Serotoninantagonismus etc.). Einen Dosisanstieg bei Nichtumstellung konnte Jürgens (Jürgens und Börner 2000) nachweisen. Auch bei den kontinuierlich mit klassischen Neuroleptika behandelten SSP-Patienten zeigten lediglich drei Patienten einen Dosisanstieg, zwei weitere jedoch einen Dosisrückgang. Dies ist jedoch auch auf die unterschiedliche Dosierungsgewohnheiten der psychiatrischen Abteilungen und Kliniken zurückzuführen. Generell kann behauptet werden, daß bis noch vor wenigen Jahren allgemein höhere Dosierungen üblich waren. So kann ein durch Supersensitivitätsentwicklung notwendig gewordener Dosisanstieg möglicherweise kaschiert worden sein. Ein Nachweis über die Gültigkeit der Supersensitivitäts-Hypothese, darüber, daß chronische Neuroleptikatherapie zu klinischer Toleranzentwicklung und zu einer Zunahme psychotischer Exazerbationen führt - d. h. zu einer Zunahme, die pharmakogen bedingt ist und nicht morbogen aufgrund der Eigendynamik der Erkrankung - wurde bisher nicht erbracht. Nach unseren Ergebnissen handelt es sich um eine Patientengruppe, die bei ungünstiger Neuroleptika-Response im Krankheitsverlauf deutlich mehr psychomotorische und Negativsymptome entwickelt, wobei unklar bleibt, ob dies morbogen oder Folge neuroleptischer Therapie ist. Gleichzeitig weisen diese Patienten von Beginn an im Komorbiditätsspektrum Angst-, Zwangs- und Impulskontrollstörungen - also Krankheitsbilder, denen ätiopathogenetisch Dysregulationen des serotonergen Transmittersystems zugrunde liegen - in deutlich höherem Maße auf. Möglicherweise könnte dies ein Hinweis darauf sein, daß die Basisstörung bei dieser Patientensubpopulation auch eher in diesem Bereich zu finden ist und Neuroleptika wie Clozapin, Olanzapin und Risperidon mit einem hohen Anteil an Serotoninantagonismus im Wirkspektrum zumindest bei einem Teil der Patienten offensichtlich effizienter sind. - 58 - Abschließend zusammengefaßt als wichtigstes Ergebnis unserer Untersuchung sind offensichtlich Patienten mit einem hohen Anteil psychomotorischer Symptome deutlich mehr prädisponiert, den Verlauf einer Supersensitivitätspsychose zu nehmen, als Patienten, die diesen Anteil nicht aufweisen.