VOM KÖNIGTUM ZUR REPUBLIK begab sich auf das Kapitol, wo sich das sogenannte Auguraculum befand. Wie eine Vogelschau im Einzelnen ablief, ist leider unbekannt. Mit Sicherheit wurde zu Beginn ein Himmelsareal festgelegt, wobei der Krummstab zum Einsatz kam. Zu den wichtigsten Aufgaben der Auguren gehörte es, den Ort festzulegen, wo ein Tempel gebaut werden durfte. Nur sie erkannten, ob ein Grundstück frei war für die Niederlassung eines Gottes. Nur sie konnten das Gelände von unguten Einflüssen reinigen. Auguren führten auch laut Cicero Priester in ihr Amt ein – daher der Begriff „Inauguration“. Anstatt den Vogelflug zu interpretieren, konnten auch Blitze gedeutet werden. Wenn im Verhältnis zu den zahlreichen Fragen, die an die Götter gerichtet wurden, nicht genügend Blitze niedergingen, fand sich eine pragmatische Lösung: Es genügte, dass von einem Blitz an einem anderen Ort berichtet wurde. Göttliche Ansichten ließen sich noch ganz anders aufdecken – zum Beispiel mithilfe der Innereien von Opfertieren. Diese Hieroskopie genannte Sitte, bei der zumeist die Leber unter die Lupe genommen wurde, pflegten bereits die Etrusker. Mit ihren Riten nahmen es die Römer sehr genau. Der Festkalender strukturier- te das Jahr; bestimmte Tage gehörten bestimmten Göttern. Alle profanen Aktivitäten – Handel, Waffengänge, Verträge, Hochzeiten – ordneten sich dem unter. Aber natürlich rief man auch bei Alltagshandlungen den einen oder anderen Gott an, um gutes Gelingen zu erbitten. Zwar konnte sich prinzipiell jeder Mensch an die Götter wenden, aber als geschulte Vermittler hatten die Priester eine besondere Expertise. Die Furcht, es könne etwas falsch laufen im Austausch mit den göttlichen Mächten, die das Leben so stark beeinflussten, war groß. Schon die kleinste Abweichung vom Ritual konnte Unheil heraufbeschwören. Es soll Situationen gegeben haben, in de- NAHAUFNAHME Sie genossen höchste Achtung, aber sie mussten keusch bleiben: Die Priesterinnen der Vesta bürgten für Roms Wohlergehen. Ein Leben für die Göttin chen ihr die Menschen Platz. An einem Erdwall vor dem Col- linnen das wichtigste und zugleich das ungewöhnlichste Prieslinischen Tor hält sie an. Die Begleiter lösen die Stricke, ein tertum in Rom.“ Priester hebt die Arme und spricht Gebete. Eine tief verschlei- Rund tausend Jahre lang, von den Anfängen Roms bis weit in erte Frau wird aus der Sänfte auf die Stufen geleitet, die in die Kaiserzeit, hielt sich der Vesta-Kult mit seiner sechsköpfigen Priesterinnenschar. Die weiß gewandeten, mit kunstvoll den Erdwall hinabführen. Der Priester wendet sich von ihr ab, während sie hinunter- geflochtenem und drapiertem Kopfschmuck ausstaffierten schreitet. Danach wird der Eingang mit Erde aufgeschüttet. Damen schritten unter dem Schutz eines Liktors durch die „Es gibt kein fürchterlicheres Schauspiel, und kein Tag erfüllt Stadt wie sonst nur hohe Würdenträger, sie verfügten über eine eigene Loge im Theater, und sie durften – eine die Stadt mit größerer Düsternis als dieser“, schrieb hohe Ehre – tagsüber mit dem Wagen durch der griechische Gelehrte Plutarch über das Ledie Stadt kutschieren. Wer eine der Heilibendbegräbnis einer Vestalin. gen Jungfrauen verletzte oder belästigte, Mit dem langsamen, qualvollen Tod in wurde mit der Todesstrafe belegt. einer unterirdischen Kammer, in der An allen wichtigen Zeremonien, Fesnur ein wenig Wasser, Brot, Öl und ten und Opferritualen im römischen Milch sowie eine brennende Lampe Kalender waren Vestalinnen beteiauf sie warteten, wurden Priesteligt; nur sie durften die „mola salsa“ rinnen der Göttin Vesta bestraft, zubereiten, einen speziellen Gedie ihre Jungfräulichkeit verloren treideschrot für die Opferrituale; hatten. Es war eine grausame Stranur sie auch durften mit den „safe, ungewöhnlich hart selbst für cra“, den hochverehrten Reliquien, römische Verhältnisse, und sie erim Inneren ihres Tempels hantieklärt sich aus der ungeheuren Beren. deutung der Vestalinnen für das Zum Dienst für Vesta, die Göttin von Selbstverständnis Roms: Die PriesteHeim und Herd, wurden Mädchen rinnen hüteten in der „Aedes Vestae“, zwischen sechs und zehn Jahren berueinem kleinen Rundtempel auf dem Fofen, die gesund sein und aus makellosen rum Romanum, Tag und Nacht das heilige gesellschaftlichen Verhältnissen stammen Feuer, das ewig flackernde Zeichen für das mussten – schon daran wird deutlich, ewige Wohlergehen des Reichs. „Durch ihren täglichen Dienst gewähr- Vestalinnen opfern vor ihrem Tempel dass sie ein Ideal verkörpern sollten. Zu Zeiten der Republik entschied ein Losleisteten sie nichts Geringeres als den Münze um 211 bis 217 n. Chr. 38 SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2015 REINHARD SACZEWSKI / BPK / MÜNZKABINETT, SMB Eine verhängte, mit Stricken fest verschnürte Fortbestand des römischen Staates“, schreibt der Historiker Sänfte wird durch Rom getragen. Stumm und bedrückt ma- Alexander Bätz, „ohne Zweifel war das Kollegium der Vesta- DE AGOSTINI / GETTY IMAGES nen komplizierte Kulthandlungen mehrfach wiederholt wurden, weil ein Mäusepiepsen den Ablauf gestört hatte. Für die Römer glich der Dialog mit den Göttern einem Tauschhandel: Gebe ich dir Opfer und Aufmerksamkeit, erfülle ich deine Erwartungen, dann erfüllst auch du, die göttliche Macht, meine Bitten. In diesem Geschäft waren die Tauschobjekte klar definiert. Bat jemand um Fruchtbarkeit, dann wusste er, was er Juno oder Ceres – vielleicht beiden – schuldig war. Er konnte die Göttin aber nicht durch eine größere Gabe als üblich bestechen. Es fehlte der Begriff der Sünde, wie ihn später vor allem das Christentum entwickelt hat. Aber Moral, also Maßstäbe richtigen Verhaltens innerhalb der Gemeinschaft, gab es sehr wohl. Lästerung, Tempelraub, Eidbruch waren Frevel und erregten göttlichen Zorn, was bestraft werden musste. Angesichts der vielen übermenschlichen Mächte versuchte der Polytheist, zumindest nicht unangenehm aufzufallen – man wusste ja nie. Darum wurde auch nur höchst selten ein Kult amtlich unterdrückt. Im Jahr 186 v. Chr. kam es jedoch so weit: Die Anhänger des Bacchus, der wie sein griechisches Pendant Dionysos für Wein, Weib und Gesang zuständig war, wurden verdächtigt, sie hätten eine Ver- verfahren darüber, welche Kandidatin auserwählt wurde. Ihre Berufung bedeutete „den rituellen Austritt aus der römischen Gesellschaft selbst“, so Bätz – sie wurden ihrer Göttin übergeben. Mindestens 30 Jahre lang mussten sie im Tempel dienen; danach stand es ihnen frei, wieder ein normales Leben zu führen – doch dafür sind keine Beispiele bekannt. Für eine Ehe, für Kinder und Familienleben war es viel zu spät, und die soziale Lage einer pensionierten Heiligen Jungfrau wäre höchst prekär gewesen. Mit dem Amt hätte eine Vestalin auch einiges aufgegeben. Denn der Verzicht auf eine standesgemäße Ehe wurde durch große Privilegien ausgeglichen. Vestalinnen standen außerhalb des strengen Familien- und Bürgerrechts, konnten eigene Testamente aufsetzen und waren nicht der Gewalt ihres Vaters unterstellt. „Die Befreiung von der Vormundschaft, die der Vestalin erlaubt, völlig frei über ihren Besitz zu verfügen und alle Rechtsgeschäfte selbstständig abzuhandeln, ist in der Frühzeit Roms einmalig für eine Frau“, erläutert die Historikerin Nina Mekacher. Maximal 20 Lebendbegräbnisse von Vestalinnen sind historisch verbürgt. Zwar maßen die Römer Porträtskulptur einer Obervestalin 2. Jh. n. Chr. SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2015 schwörung geplant. Im Übrigen aber durfte jeder die Götter seiner Wahl ehren. Ihnen unbekannte Mächte nahmen die Römer durchweg ernst: Mit den Bewohnern neu eroberter Gebiete hielten auch deren Götter in Rom Einzug. Und um ganz sicherzugehen, dass niemand Hohes ungewürdigt blieb, verehrten sie – so versicherte der römische Historiker Lucius Cincius Alimentus – zusätzlich zu den gewohnten Mächten oder Unterweltkräften die Novensiles: eine nicht näher definierte Gruppe aller unbekannten Götter, die es gab oder eventuell geben könnte. Mail: [email protected] der Jungfräulichkeit per se keinen besonderen Wert bei, doch die Keuschheit der Priesterinnen symbolisierte Ordnung, Perfektion und Stabilität des Staates. Es handelte sich, so die Historikerin Ariadne Staples, um eine „ideologische Jungfräulichkeit“. Eine unkeusche Vestalin war nicht bloß keine Jungfrau mehr, sie „hörte zugleich auf, eine Vestalin zu sein“. Darum war die Todesstrafe eine logische Konsequenz ihrer Verfehlung. Häufig aber entsprach die Bestrafung einer anderen, nämlich der politischen Logik. Auffällig viele Lebendbegräbnisse fallen in Zeiten schwerer Krisen. Wenn Rom wankte, so scheint man vermutet zu haben, dann vielleicht, weil die Vestalinnen ihre Aufgabe nicht fehlerlos – sprich: keusch – versehen hatten. Die Todesstrafe für eine angeblich gefallene Vestalin half also unter Umständen, eine Krise beizulegen und wieder Hoffnung im Reich zu schaffen. War die vermeintliche Unglücksursache beseitigt, konnte es mit dem Staat wieder aufwärtsgehen. Von einer schwangeren Vestalin ist übrigens nichts bekannt. Susanne Weingarten 39