Psychologische Betreuung 11

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11 Psychologische Betreuung
z Qualitätssicherung vonseiten des betreuenden (Haus- oder Fach-)Arztes
Dem Haus- und Facharzt kommt bei der psychologischen Betreuung die Funktion zu, psychologische Manifestationen am Bewegungsapparat zu erkennen,
psychisch überlagerte funktionelle Störungen zu benennen und psychosoziale
Probleme und Konflikte bei Patienten mit chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen zu beurteilen. Dabei kann er sowohl diagnostisch tätig sein
wie auch basispsychotherapeutische Funktionen ausüben im Sinne der sog.
„psychosomatischen Grundversorgung“. Voraussetzungen hierfür sind Kenntnisse und Wissen in Psychologie, tiefenpsychologie und Verhaltensmedizin sowie möglichst eigene Erfahrungen im reflektierten Umgang mit Patienten, z. B.
in Balintgruppen. Die ersten Hinweise auf psychosoziale Faktoren findet der Arzt
in der Regel schon in der allgemeinen Anamnese.
Anamnestische Indikatoren
auf psychische Mitverursachung rheumatischer Beschwerden
Durch mechanische Ursachen und einen organischen Befund nicht erklärbare,
meist polytope Schmerzen im Bereich der Weichteile (im klassischen Vorbild:
Fibromyalgiesyndrom, Kap. 3.3.34 und 5.5.30) haben oft einen psychosozialen
Hintergrund. Schon spontan geäußerte Angaben der Patienten anlässlich der
üblichen Anamnese lassen sich in typische Hinweiskategorien einordnen:
z Häufiger Arztwechsel: „Herr Doktor, Sie sind der letzte, der mir noch helfen
kann.“ „Ich war schon bei vielen Ärzten, jeder hat etwas anderes gesagt.“
z Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit aller therapeutischen Maßnahmen:
„Alle Medikamente haben mir bisher nicht geholfen, aber es muss doch etwas geben, das mir hilft.“ „Tabletten vertrage ich grundsätzlich nicht.“ „Mit
Gymnastik brauchen wir gar nicht erst anzufangen, die hat alles eher noch
schlimmer gemacht.“
z Trotz schon lang dauernder und oft immer stärker werdender Beschwerden
keine sichtbaren Veränderungen: „Meine Schmerzen haben sich immer weiter ausgebreitet und sind immer schlimmer geworden, aber kein Arzt hat
etwas finden können.“
z Bereits von mehreren Ärzten gestellte, sich oft widersprechende Diagnosen,
die aber meist nicht weiter verfolgt wurden: „Vor mehreren Jahren ist mal
ein Hirntumor gefunden worden, der dann aber nicht weiter bestätigt wur-
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de, weil ein anderer Arzt sagte, alles sind nur Verschleißerscheinungen der
Halswirbelsäule.“
z Unbestimmte Beschwerden vonseiten des Magens, Herzens usw., die vielleicht als „nervös bedingt“ bezeichnet wurden: „Ich hatte früher mal Herzstiche, aber es ist kein Grund dafür gefunden worden, das EKG war normal.
Der Arzt hat sie als nervös bezeichnet, sie sind dann auch wieder vergangen; dann kamen aber die entsetzlichen Schulterschmerzen.“
z Früher gestellte Diagnosen, die auf eine psychosomatische Beteiligung hinweisen: „Mein Hausarzt hat gemeint, dass alles nur nervös bedingt ist, das
kann auch sein, ich bin in letzter Zeit sehr nervös.“ „Nach vielen anderen
Hinweisen hat man schließlich eine vegetative Dystonie festgestellt.“ „Ein
anderer Arzt hat gemeint, dass ich es an der Psyche habe, zu dem bin ich
aber nicht wieder hingegangen.“
z Meist als ganz extrem und hypochondrisch geschilderte Beschwerden mit
irrationalen Vergleichen (bei chronischen Schmerzen): „wahnsinnige Schmerzen“, „so, als ob tausend Nadeln da herumbohrten“, „als ob ich mit heißem
Wasser überbrüht würde“, „als ob ich keine Haut mehr hätte, die mich zusammenhält“ „als ob mir der Rücken mitten durchbricht.“
Diagnostische Kriterien für psychisch bedingte rheumatische Beschwerden
Ergeben sich hierin erste Anhaltspunkte für psychische Faktoren, so können
durch gezielte Fragen schon die folgenden diagnostischen Kriterien für psychisch bedingte rheumatische Beschwerden erhoben werden:
z Polytopie. Beschwerden in mehreren topographisch nicht zusammengehörenden Körperregionen, wobei keine Folgen einer akuten oder chronischen
Überbeanspruchung (einschließlich repetitiver Bewegungsabläufe oder andauernder Zwangshaltung) vorliegen.
z Inadäquanz. Inadäquate, affektiv gefärbte Schilderungen der Beschwerden
(s. o.).
z Ungenauigkeit (Diffusität). Auf Nachfragen können keine genauen Angaben
über Lokalisation und zeitliches Auftreten gemacht werden (überall – mal
hier, mal dort – immer gleich – immer schlimmer – schon immer).
z Diskrepanz. Objektiv leichte körperliche Arbeiten werden subjektiv als
schwere Überforderung erlebt, z. B. das Auftreten von Schmerzen bei alltäglichen Verrichtungen.
z Gesprächigkeit. Schwer unterbrechbarer Redefluss, weitschweifend, wiederholend, pathetisch.
z Suggestibilität. Erhöhte Empfänglichkeit, leichte Beeinflussbarkeit (schon
beim Zeigen auf eine potenziell schmerzhafte Stelle äußert der Patient eine
Schmerzreaktion).
z Persistenz. Lang dauernde, wiederholt vorgebrachte Klagen über körperliche
Beschwerden werden trotz gründlicher Abklärung, bei der sich ein adäquater Befund nicht erheben lässt, wieder und wieder vorgetragen.
z Nervostität. Zittern, Muskelspannung, Herzklopfen, Schwitzen, Unfähigkeit,
sich zu entspannen, Sich-gestresst-Fühlen, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und Rastlosgikeit.
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z Depressivität. Hinweise auf gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Verlust
der Genussfähigkeit, Sich-nicht-freuen-Können, frühmorgendliches Erwachen vor der gewohnten Zeit, Antriebsminderung, morgendliches Tief, Appetit-, Gewichts-, Libidoverlust.
z Funktionelle Beschwerden außerhalb des Bewegungssystems. Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen, unerholsamer
Schlaf, verstärkte Traumtätigkeit), Kopfschmerzen, Migräne, kardiovaskuläre
(Herzphobien, Kreislaufregulationsstörungen, Herzstiche), urogenitale (Dysurie, Menstruationsbeschwerden), Atembeschwerden.
z Hypochondrie. Unbegründete Furcht, an einer schweren Krankheit zu leiden bzw. eine solche zu bekommen (z. B. im Rollstuhl landen, Karzinom,
multiple Sklerose, HIV-Infektion).
z Arzt-Patienten-Beziehung. Häufiger Wechsel, beidseitig als unangenehm erlebte Arzt-Therapeuten-Beziehung, sich entwickelndes Misstrauen, hartnäckiges Fordern neuer Untersuchungen, häufiger Wechsel der Medikamentenverordnung, Aufbau von Aggression beim Arzt.
z Psychosomatische Vordiagnosen. Der Patient gibt an, dass bereits von anderen Ärzten Diagnosen, wie z. B. „vegetative Dystonie“, „nervöse Störung“,
„depressive Verstimmung“, geäußert worden seien.
z Kontroverse Beurteilung in Vorbefunden. Der Patient beruft sich auf z. T.
widersprüchliche körperliche Diagnosen, die die Beschwerdesymptomatik
nicht erklären (z. B. degenerative Wirbelsäulenveränderungen, schiefes Becken, Gleitwirbel, M. Scheuermann).
z Therapieresistenz. Erlebte Unwirksamkeit von Maßnahmen oder Medikamenten, u. U. nach kurzfristigem Ansprechen, erhöhte Nebenwirkungsbereitschaft. Die Patienten lehnen alle vorgeschlagenen Maßnahmen ab.
Aus einer dann folgenden erweiterten Anamnese oder einem Interview kann
eine Klassifizierung psychosomatischer Störungen am Bewegungssystem in
Somatisierungsstörung (ICD-10: F 45), Konversionsstörung (F 44), Angststörung (F 41) oder depressive Störung (F 32) vorgenommen werden [2].
z Arzt-Patient-Interaktion
In neueren Forschungsansätzen findet in diesem Zusammenhang auch die
Interaktion von Behandler und Patient immer mehr Aufmerksamkeit [2].
Es zeichnet sich ab, dass bestimmte Interaktionsstile im Umgang mit
chronischen Schmerzpatienten besser geeignet sind, deren Bedürfnisse im
Behandlungsalltag zu berücksichtigen. Hier soll vor allem das Vorgehen
nach der Shared-decision-Methode Erwähnung finden. Dieser Ansatz
nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den beiden Extrempolen der direktiv-paternalistischen Handlungsweise des Arztes (alle Entscheidungsverantwortung liegt beim Arzt allein, Bedürfnisse des Patienten finden
wenig Beachtung) und der Herangehensweise nach der Informed-choiceMethode (die Behandlungsverantwortung liegt alleim beim Patienten, der
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Arzt stellt lediglich sein Expertenwissen zur Verfügung). Beim Vorgehen
nach der Shared-decision-Methode wird eine gemeinsam getroffene und
somit gemeinsam getragene Therapieentscheidung angestrebt, nachdem
der Arzt dem Patienten alle benötigten medizinischen Informationen zur
Verfügung gestellt hat und der Patient gleichzeitig Gelegenheit hatte, persönliche Präferenzen und Befürchtungen offen zu legen und Fragen zu
klären. Das Vorgehen lässt bei chronischen Schmerzpatienten eine Steigerung der Arzt- und der Patientenzufriedenheit erkennen.
Towle und Godolphin [6] empfehlen folgende Schritte um das „shared
decision making“ in die Praxis umzusetzen:
z Aufbau einer positiven Beziehung zum Patienten,
z Informationsbedarf des Patienten in Erfahrung bringen (z. B. Umfang
und Form),
z klären, inwieweit der Patient am Entscheidungsprozess beteiligt werden
möchte,
z Ideen, Befürchtungen und Erwartungen des Patienten in Erfahrung
bringen und berücksichtigen,
z Therapiemöglichkeiten darstellen und Forschungsergebnisse in Bezug
auf den Patienten bewerten,
z Patienten bei der Reflexion über Therapieentscheidungen unterstützen
und Bedeutung von Therapiealternativen unter Berücksichtigung von
Werten und Lebensumständen des Patienten herausarbeiten,
z gemeinsames partnerschaftliches Treffen oder Aushandeln einer Entscheidung und Konfliktmanagement,
z konkrete Vorgehensweise beschließen und Folgekontakte vereinbaren.
z Psychosoziale Reaktionen bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen
Dem hohen Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Patienten folgend,
sollten bereits bei der Diagnosemitteilung gezielte medizinische und psychologische Hinweise gegeben werden und mögliche Ängste des Patienten (z. B.
vor Verkrüppelung, vor aggressiver Medikation usw.) angesprochen werden,
um den „Diagnoseschock“ zu mildern und die Kooperation zu fördern.
Alle chronischen Erkrankungen, so auch die entzündlich-rheumatischen Leiden, haben bestimmte psychosoziale Folgen, die der Arzt erkennen und bei der
Betreuung des Patienten berücksichtigen muss. Die wichtigsten von ihnen sind
der nachfolgenden Aufstellung (nach Raspe und Rehfisch [5]) zu entnehmen.
z Psychische Veränderungen:
– Unsicherheit,
– Sinn- und Schuldfragen,
– Ängstlichkeit und Sorgen,
– Informationsbedürfnis, Informationsabwehr,
– Verleugnung, Aggression, Depression.
z Verhaltensänderungen:
– Beeinträchtigungen bei Tätigkeiten des täglichen Lebens,
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– Störungen der Sexualität,
– sozialer Rückzug.
z Familiäre Probleme:
– Verschlechterung des Familienklimas,
– vermehrte Abhängigkeit,
– Beeinträchtigungen bei Freizeitaktivitäten und Hobbys.
z Beruf:
– Schwierigkeiten bei Aus- und Weiterbildung,
– Arbeitsplatz- und Einkommensverlust,
– sozialer Funktionsverlust.
Primär sollten diese Probleme vom Hausarzt oder Rheumatologen erkannt
und mit dem Betroffenen beraten werden. In schweren Fällen, bei zeitlicher
und methodischer Überforderung ist jedoch eine fachpsychologische (Mit-)
Betreuung sinnvoll.
Indikationen zur Konsultation eines Psychologen, Psychotherapeuten bzw.
Psychiaters:
z zur weiteren Diagnostik,
z zur Analyse psychosozialer Folgen (s. o.),
z zur Therapie (Krankheits-, Schmerzbewältigung, Sexualberatung (z. B. mit Entspannungs- und Biofeedbackverfahren, verhaltenstherapeutischen Schmerzbewältigungsverfahren, partner- und familientherapeutischen Ansätzen.
z Qualitätssicherung vonseiten des behandelnden Psychologen
In seiner Ausbildung sollte er Erfahrung, Kenntnisse und Wissen im Umgang
mit rheumakranken Patienten und Schmerzpatienten gesammelt haben. Eine
differenzierte Weiterbildung zu einem Schmerzpsychologen erfolgt in verschiedenen schmerzpsychologischen Arbeitskreisen (z. B. durch den Bund Deutscher Psychologen), eine Zusatzqualifikation zum „psychologischen Schmerztherapeuten“ wird von einigen Gesellschaften angestrebt.
z Qualitätssicherung bei Gruppenbehandlungen
Nahezu für alle rheumatischen Erkrankungen gibt es mittlerweile Gruppentherapien. Die meisten davon sind Selbsthilfegruppen, deren Qualität unterschiedlich ist und von den teilnehmenden Personen abhängt. Für die häufigsten
rheumatischen Erkrankungen, wie die rheumatoide Arthritis, die ankylosierende Spondylitis und die Fibromyalgie gibt es evaluierte Gruppentherapien
(s. auch Kap. 16, Patientenschulung). Die Inhalte bestehen in der Regel aus
mehreren Modulen, die kombiniert angewandt werden. Es handelt sich dabei
um Einheiten mit Information, Schmerzbewältigung, krankheitsorientierter
Bewegungstherapie sowie Alltagsbewältigung.
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z Literatur
1. Basler HD, Franz C, Kröhner-Herwig B, Rehfisch HP, Seemann H (Hrsg) (1993)
Psychologische Schmerztherapie. Springer, Heidelberg New York
2. Charles C, Galni A, Whelan T (1997) Shared decision making in the medical encounter: what does it mean? (Or it takes at least two to tango). Social Science and
Medicine 44:681–692
3. Gesellschaft für Psychosomatik in der Rheumatologie (Hrsg) (1995) Psychosomatische Befunde in der rheumatologischen Diagnostik. EULAR, Basel
4. Mathies H (1993) Erweiterte Anamnese und psychodiagnostische Einordnung bei
psychosomatischen Rheumapatienten. Z Rheumatol 52:215–218
5. Raspe HH, Rehfisch HP (1996) In: Basler HD, Franz C, Kröhner- Herwig B (Hrsg)
Entzündliche rheumatische Erkrankungen. Springer, Heidelberg New York,
S 401–425
6. Towle A, Godolphin W (1999) Framework for teaching and learning informed
shared decision making. British Medical Journal 319:766–769
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