Suchttherapie verlangt Spezialisten Report Psychologie im

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Suchttherapie verlangt Spezialisten
Report Psychologie im Gespräch mit der Leitenden Dipl.-Psychologin der Oberbergklinik
Extertal, Christina Hempel
Report Psychologie: Die Suchtproblematik war, als Sie vor 30 Jahren in der DDR Psychologie
studierten, viel weniger als heute ein Schwerpunkt psychotherapeutischer Arbeit. Was
faszinierte Sie an diesem Thema?
Ch. Hempel: Zunächst wenig. Ich habe mich erst nach einigen Jahren Berufserfahrung diesem
Gebiet zugewandt. Als sich die ehemalige DDR einer angemessenen und qualifizierten
Behandlung von Suchtkranken stellte und nicht mehr davon ausging, dass es sich bei dieser
Erkrankung um ein Überbleibsel der bürgerlichen Gesellschaft handele – das war ungefähr
Anfang der 80er Jahre – wurden sehr schnell auf hohem Niveau Forschungsprojekte und
Arbeitsgruppen ins Leben gerufen. Das Berliner Griesinger-Krankenhaus fungierte damals als
Leiteinrichtung.
Es wurde angeordnet, alle Alkoholkranken in speziellen Beratungsstellen auf Kreisebene zu
betreuen.
Alkoholkranke waren auch im Osten die "ungeliebten Patienten" in den Krankenhäusern und
Arztpraxen, deren Behandlungsmöglichkeiten häufig als wenig bis gar nicht erfolgversprechend
eingeschätzt wurden.
In dieser Zeit habe ich meine Weiterbeildung zur Betreuung Suchtkranker begonnen und in den
großen Schwerpunktkliniken in Berlin, Ueckermünde und Schwerin hospitiert. Ich ahnte anfangs
nicht, welch interessantes und befriedigendes Arbeitsfeld sich mir erschließen würde und wie
vielen sympathischen und sensiblen Menschen ich begegnen würde.
Viele Psychologinnen und Psychologen verfolgen skeptisch die zunehmende Spezialisierung auf
Teilgebiete der Psychologie und Psychotherapie. Wie wichtig ist der Spezialist in der
Suchttherapie?
Suchtbehandlung erfordert eine spezielle Kompetenz, die in einer besonderen Aus- oder
Weiterbildung erworben werden sollte. Während des Studiums konnte ich kein spezielles
Suchtverständnis erwerben. Entsprechende Vorlesungen gehörten nicht zum Angebot. Das
Studium - für Ärzte übrigens genauso wie für Psychologen - ist meines Erachtens auch heute
noch nicht danach ausgerichtet, Spezialkenntnisse in der Behandlung von Suchtpatienten zu
vermitteln.
Die Suchterkrankung ist zudem eine so komplexe Erkrankung, dass man tatsächlich ohne ein
spezielles Wissen nicht auskommt. Es geht dabei nicht nur um psychodynamische Hypothesen
oder psychotherapeutische Interventionen, sondern um ganz präzise Kenntnisse von den
Wirkungen der Drogen, den Absetzphänomenen und Entzugserscheinungen sowie um
fundiertes Wissen über die Symptome dieses nicht eben einfachen Krankheitsbildes, um
erfolgreich suchtkranke Patienten behandeln zu können. Aus dem, was der Patient uns erzählt,
den Ausprägungsgrad der Erkrankung einzuschätzen, ist keine einfache diagnostische
Aufgabe. Während etwa depressive Patienten relativ konkrete Beschwerden klagen, z.B.
Schlafstörungen oder den Verlust von Lebensfreude, beschreibt uns der suchtkranke Patient ja
vor allem seine Rituale mit Substanzen. Für den Therapeuten bleibt dabei ein größerer
Spielraum bei der Bewertung dieser Rituale, den er nur durch Fachkompetenz und Erfahrung
verantwortlich gestalten kann.
Der Begriff "Privatklinik" löst unterschiedliche Assoziationen aus, u.a. die einer elitären
Patientenauswahl. Stört Sie das als Therapeutin?
Ich wünsche jedem Patienten die bestmögliche, auf seine individuellen Bedürfnisse
abgestimmte Therapie. Zu unseren Patienten zählen viele Lehrer, Ärzte, Unternehmer –
Privatversicherte und Selbstzahler. Für mich sind sie in erster Linie Patienten, Menschen in
Krisensituationen, die unsere Hilfe suchen.
Welche Rolle spielen Sie als psychologische Psychotherapeutin im Klinikkonzept?
Die Oberbergkliniken sind Akutkliniken. Patienten kommen zu uns, werden
- soweit nicht
geschehen - entgiftet. In dieser Entgiftungsphase steht zunächst die körperliche Betreuung im
Vordergrund. Es hängt vor allem von der körperlichen Verfassung und der Gesprächsfähigkeit
des Patienten ab, wann die gezielte psychologische Betreuung einsetzt, die jedoch, so früh wie
möglich - auch schon während der Entgiftung – beginnt.
Die Beziehungsgestaltung zum Patienten erfolgt in dem Moment, da er die Klinik betritt. Von da
an sind unsere Pflege- und Serviceteams, die Ärzte und Psychologen für den Patienten da und
leisten Haltearbeit, wie wir es nennen, die den Patienten in seinem Entschluss bestärkt, etwas
zur Lösung seiner Probleme zu unternehmen. Diese Motivation des Patienten ist am Anfang oft
erzwungen durch beunruhigende Symptome, unter denen er zu leiden beginnt, oder auch durch
Angehörige oder den Arbeitgeber. Die Entzugszeit ist eine sehr schwierige Zeit für den
Patienten. Ihn quälen Ängste als Resultat dessen, was er mit den Substanzen erlebt hat.
Gleichzeitig ist die Bindung an den Suchtstoff aber noch so stark, dass der Patient sich gar nicht
vorstellen kann, ohne diesen zu leben. In dieser ambivalenten Phase ist ein Angebot zur
stützenden Begleitung besonders wichtig.
Ist diese frühe Einbindung von Psychologen typisch in der Suchttherapie?
Der Trend, zumindest in spezialisierten Kliniken, geht dahin. Aber auch in
Allgemeinkrankenhäusern, auf internistischen Stationen, sollten die Motivationsgespräche
zunehmend größeren Raum einnehmen.
Wir bemühen uns, besonders in der Aufnahmephase, in der der Patient mit starken Scham- und
Schuldgefühlen zu kämpfen hat, eine Brücke zum Patienten zu bauen und ihm ein tragfähiges
Angebot zu machen. In dieser Zeit sind Sensibilität und Einfühlungsvermögen sowie spezifische
Suchtkompetenz auf Seiten des Therapeuten eine wichtige Voraussetzung für eine qualifizierte
Entzugsbegleitung.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Sobald der Zustand des Patienten es erlaubt, und das ist bei Alkoholkranken nach drei bis vier
Tagen häufig der Fall, bekommen unsere Einzelgespräche eine zunehmend strukturierte
Qualität. Der Patient wird angehalten, über das, was er während der Aufnahme- bzw.
Entgiftungsphase erlebt hat, zu reflektieren, und es wird ihm bei der Einordnung und
Beurteilung des Erlebten geholfen. Wir nennen das Arbeiten am Aufbau einer
Krankheitseinsicht bzw. eines Krankheitsmodells. Dieses ist die Basis für die spätere
Abstinenzvornahme und die Abstinenzkompetenz.
Wir binden den Patienten, sobald es seine körperliche und seelische Verfassung erlaubt, in
Gruppen ein, damit er über die Schuld- und Schamgefühle dieser Anfangsphase sprechen kann
und sich in der Gemeinschaft der Betroffenen Verständnis und Stütze holen kann.
In der berufspolitischen Arbeit gewinnt man bisweilen den Eindruck, es bestünden zwischen
Ärzten und psychologischen Psychotherapeuten nur schwer überbrückbare
Interessengegensätze...
Im Klinikalltag spüre ich das nicht. Bei uns arbeiten psychologische und ärztliche
Psychotherapeuten in einem Programm. Wir sind eingearbeitet und die Zusammenarbeit
funktioniert überwiegend sehr gut. Wir haben ein interessantes Behandlungsprogramm mit
verschiedenen Einzel- und Gruppentherapien. Selbstverständlich sind, gerade für ein so großes
Team wie das unsere, therapeutische Disziplin und Konzepttreue von besonderer Bedeutung.
Es bleibt aber nach meinem Verständnis auch ausreichend Raum für individuelle Umsetzungsund Gestaltungsmöglichkeiten.
Sind Patienten, die gewohnt sind, sich den meisten Problemen intellektuell zu nähern,
schwierigere Patienten und sind sie schwerer therapierbar?
Die kopftrainierten Patienten haben sicher größere Schwierigkeiten, einen direkten Zugang zu
ihren Gefühlen zu finden. Andererseits verstehen sie, wenn es gelungen ist, sie zu motivieren,
oft rascher, welchen Handlungsbedarf ein Symptom signalisiert. Ihre Lust am Nachdenken kann
man nutzen. Diese Patienten arbeiten oft engagiert an der Korrektur ihrer Wahrnehmungen,
ihrer kognitiven und emotionalen Bewertungen und sind kreativ beim Durchspielen neuer
Verhaltensentwürfe.
Kompliziertere Widerstandsphänomene werden aus meiner Sicht durch diese Vorzüge
aufgewogen.
Qualitätssicherung in der Psychotherapie ist ein wichtiges Thema. In der Suchtbehandlung hat
es aus meiner Sicht eine besondere Bedeutung. Wie stellen Sie sich dem?
Unser hoher Personalstand, bei dem im Mittel ein Arzt oder ein Psychologe zwei Patienten
betreut, sichert z. B. die Strukturqualität unserer Arbeit. Die Ergebnisqualität prüfen wir anhand
von Katamnesen. Die frühzeitige soziale Rückbindung unserer Patienten ist uns, auch aus
qualitätssichernden Aspekten, sehr wichtig. Schon während des stationären Aufenthaltes wird
der Patient durch Belastungserprobungen auf die Zeit nach dem Klinikaufenthalt vorbereitet. Ein
Schwerpunkt dabei ist die ambulante Nachsorge über unsere Korrespondenztherapeuten, ein
anderer ist der Besuch von Selbsthilfegruppen. Die Zusammenarbeit mit
Korrespondenztherapeuten und das Modell der Oberberggruppen hat bereits der Klinikgründer,
Prof. Dr. Gottschaldt, initiiert und entwickelt.
Wir laden Selbsthilfegruppen zu Informationsveranstaltungen in unser Haus ein, binden die
Angehörigen unserer Patienten in Form von Gesprächen in unsere Arbeit ein.
In speziellen Fortbildungsveranstaltungen unserer Klinik nutzen viele in der Region tätige
psychologische Psychotherapeuten und Ärzte die fast kostenlose Möglichkeit, Wissen zu
erwerben. Ich verspreche mir davon eine Qualitätssteigerung auch in der Nachsorge, aber auch
bei der Früherkennung suchtkranker Patienten. Aus meiner Sicht wird die Bedeutung der
psychologischen Psychotherapeuten in Zukunft noch zunehmen, nicht nur als Vermittler,
sondern perspektivisch auch als Überweiser. Die Weichen sind durch das
Psychotherapeutengesetz und die Kammerbildungen im Ansatz richtig gestellt.
Der Therapieplan eines Patienten kann bei Ihnen täglich sechs oder sieben Stunden
unterschiedlicher Therapieformen beinhalten. Sind abhängig Erkrankte in der Lage, dieses
Pensum zu bewältigen?
Zu uns kommen die Patienten vielfach im intoxikierten Zustand. Entgiftungs- und
Motivationsbehandlung sind in unser stationäres Konzept integriert. Das bedeutet, dass wir mit
den psychischen Folgen des Stoffgebrauchs, den neuropsychologischen Defiziten des
Patienten, konfrontiert sind. Das schränkt die Arbeitsfähigkeit der Patienten am Anfang ein. Wir
stellen uns zur Zeit die Frage, ob unsere klar strukturierten und auch größtenteils
manualisierten Therapieinhalte nicht öfters wiederholt werden müßten, um so die
eingeschränkten Leistungsmöglichkeiten zu kompensieren. Die Konsequenz daraus wäre eine
etwas verlängerte Verweildauer von im Mittel etwa 8 Wochen. Therapiedichte als
Markenzeichen ginge dabei nicht verloren, könnte aber in der Anfangsphase, in der einige
Patienten noch nicht so belastbar und aufnahmefähig sind, etwas zurückgenommen werden.
In den Medien hat das Konzept vom "kontrollierten Trinken" ein starkes Echo gefunden. Halten
Sie es für realistisch?
In den Köpfen auch der von uns behandelten Patienten lebt noch sehr lange der Wunsch, das
Trinken kontrollieren zu können. Das halte ich für legitim und nachvollziehbar. Natürlich würde
es ein Betroffener vorziehen, nicht abhängig erkrankt zu sein. Wenn wir ein Auseinandergehen
der Behandlungsziele feststellen müssen – der Patient will kontrolliert trinken, wir meinen, dass
er abstinent leben sollte - geht unser Therapiebündnis zu Ende. Ich vermag nicht zu sagen, ob
der z. B. von Prof. Körkel beschriebene Weg funktionieren kann. Ich denke aber, dass der
Wunsch nach Kontrolle des Trinkens auch Gegenstand des Gespräche zwischen
abstinenzorientierten Therapeuten und Patienten sein darf. Für mich persönlich ist nur eine
Abstinenzvornahme eine angemessene Reaktion auf eine Abhängigkeitserkrankung. Ich
empfehle das dem Patienten aus meiner Erfahrung heraus, kann aber nicht verhindern, dass er
für sich eine andere Zielstellung für möglich und vor allem wünschenswert hält. Für mich geht
es bei der ganzen Debatte nicht darum, die Abstinenz als Therapieziel aufzuheben. Menschen,
nicht nur Patienten, die in ihre Sucht verstrickt sind, suchen für sich immer nach Kompromissen.
Dieser Realität muss ich mich stellen. Wegen der vitalen Bedrohung, die eine sich
chronifizierende Abhängigkeitserkrankung für den Patienten darstellt, lehne ich es aber ab, den
Patienten bei diesen Versuchen zu begleiten, um so die Realisierbarkeit seines Vorhabens zu
überprüfen.
Wenn wir über neue Ansätze in der Suchttherapie sprechen, dann möchte ich vielmehr auf die
sich entwickelnde Behandlungsvielfalt verweisen: qualifizierte Entgiftungs- und
Motivationsbehandlung, Entwöhnungsbehandlung, Rückfallbehandlung, Kriseninterventionen
zur Rückfallprophylaxe, Nachsorgebehandlungen. Ich denke, dass man sich künftig noch mehr
am individuellen Krankheitsverlauf des Patienten orientieren wird. Für chronifiziert erkrankte
Patienten ist sicher eine qualifizierte Entgiftungsbehandlung, ein sich anschließendes
Entwöhnungsprogramm mit ambulanter Nachbehandlung und Selbsthilfegruppenbesuch das
beste Angebot. Vorstellbar sind aber auch je nach Ausprägungsgrad und Phase der Erkrankung
Modelle mit kürzerer stationärer Verweildauer und einem sich anschließenden intensiven
ambulanten Behandlungsangebot. Erstrebenswert aus meiner Sicht sind nahtlos miteinander
vernetzte Behandlungsbausteine innerhalb eines Behandlungsangebotes für Suchtkranke, die
der Patient, wenn er das will, ohne rückfallriskante Wartezeiten in Anspruch nehmen kann.
Das Gespräch führte Christa Schaffmann.
Dipl.-Psychologin Christina Hempel, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin BDP,
Oberbergklinik Extertal, Brede 29, 32699 Extertal-Laßbruch
Aus: Report Psychologie 3/02 März 2002
Diesen Text finden Sie auch im Internet unter der Adresse
www.BDP-Verband.org/bdp/idp/2002-1/01.shtml
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