Ethik in der Medizin | Commentary Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung – ethische, rechtliche und klinische Aspekte Einleitung 5 Die ärztliche Assistenz zur Selbsttötung (ÄAS) ist Gegenstand der aktuellen wissenschaftlichen und politischen Debatte über normative Aspekte der Entscheidungsfindung am Lebensende. Gesetzliche Regelungen in den Niederlanden und im US-Bundesstaat Oregon sowie die Revision standesethischer Verlautbarungen in der Schweiz [15] und in Großbritannien [16] zeugen von einer sich wandelnden rechtlichen und moralischen Beurteilung der ÄAS. In Deutschland provozierte die Gründung einer deutschen Dependance der Schweizer Organisation „Dignitas“, die ihren Mitgliedern Unterstützung bei der Selbsttötung gewährt, eine große Anzahl kontroverser Stellungnahmen. Ziel dieses Beitrags ist die Information über ethische, rechtliche und klinisch-empirische Aspekte der ÄAS. Begriffsbestimmung 5 In Deutschland töten sich jährlich mehr als 10000 Menschen. Neben den Bezeichnungen „Selbsttötung“ und „Suizid“ wird vielfach auch der Begriff „Selbstmord“ zur Beschreibung des Sachverhalts gebraucht. Dieser Begriff wird aufgrund der präjudizierenden Konnotation kritisiert [19]. Ergebnisse der Suizidforschung zeigen, dass die große Mehrheit von Suiziden und Suizidversuchen von Menschen, die unter psychischen Störungen (z.B. Depression, Schizophrenie, Suchterkrankung) leiden, durchgeführt werden. Da bei diesen psychiatrischen Erkrankungen häufig eine Einschränkung kognitiver Funktionen vorliegt, muss die Selbstbestimmungsfähigkeit dieser Patienten kritisch hinterfragt werden. In Abgrenzung zu dieser Konstellation wird insbesondere in der philosophischen Literatur die Entscheidung zur Selbsttötung als mögliches Ergebnis eines selbstbestimmten Entscheidungsfindungsprozesses diskutiert. Lebensbedrohliche körperliche Erkrankungen verbunden mit schwerem subjektivem Leiden werden in diesem Zusammenhang als ein möglicher Grund für die Entscheidung Einzelner genannt, dem Leben ein Ende zu setzen [5, 14]. Juristische Grundlagen 5 1. Deutschland Die Selbsttötung ist kein Gegenstand des deutschen Strafgesetzbuchs, rechtsdogmatischen Grundsätzen entsprechend bleibt auch die Assistenz zur Selbsttötung straflos. Ein wichtiges juristisches Abgrenzungskriterium zur strafbaren Tötung auf Verlangen (§216 StGB) ist die Zuordnung der Tatherrschaft. Bei der assistierten Selbsttötung vollzieht und kontrolliert der Betroffene den gesamten Handlungsverlauf. Allerdings bestehen nach gültiger Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes bei einer ÄAS juristische Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen die ärztliche Garantenpflicht sowie des Begehens einer Straftat nach §323 StGB (unterlassene Hilfeleistung). Die höchstrichterliche Unterscheidung bei der Abwägung zwischen der Selbstbestimmung des Patienten und dem Prinzip der solidarischer Hilfsverpflichtungen durch Dritte bei Suizidenten einerseits und Patienten, die eine lebensrettende Maßnahme ablehnen andererseits wird in der rechtswissenschaftlichen Debatte kontrovers diskutiert [9]. J. Schildmann J. Vollmann Ethik Schlüsselwörter Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung Entscheidungen am Lebensende Ethik in der Medizin Patientenautonomie q q q q Key words Physician assisted suicide end-of-life decisions medical ethics patients’ autonomy q q q q 2. Belgien, Niederlande und Oregon (USA) Die ÄAS ist in den Niederlanden sowie im US-Bundesstaat Oregon gesetzlich geregelt [4, 12]. Das Gesetz zur Sterbehilfe in Belgien bezieht sich auf die Tötung auf Verlangen, die ÄAS wird im Gesetzestext nicht genannt [3]. Voraussetzungen für die legale Durchführung der ÄAS sind wiederholte und freiwillige Anfragen von Patienten sowie das Vorliegen eines unerträglichen Leidens. Entsprechend der Rechtsprechung in den Niederlanden erstreckt sich der Begriff „unerträgliches Leiden“ auch auf psychische Erkrankungen [5]. In Abgrenzung zu den Niederlanden, wo ÄAS auch bei einwilligungsfähigen minderjährigen Patienten die Assistenz zur Selbsttötung geleistet werden kann, müssen Patienten im US-Staat Oregon nach dem „Oregon Death with Dignity Act“ mindestens 18 Jahre alt sein. Eine nach ärztlicher Einschätzung begrenzte Lebenszeit (< 6 Monate) und der Ausschluss psychiatrischer Erkrankungen sind Voraussetzungen für die legale Durchführung der ÄAS in Oregon. Im Gegensatz zu Belgien und den Niederlanden ist die Tötung von Patienten auf ihr Verlangen in Oregon nicht erlaubt. Standesethische Verlautbarungen 5 Der Weltärztebund verurteilt die ärztliche Assistenz zur Selbsttötung [21] ebenso wie die Bundesärztekammer in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung [1]: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein.“ In Abgrenzung zu dieser von Ärztevertretern mehrheitlich vertretenen Bewertung des Sachverhalts wird die ÄAS in den aktuellen Stellungnahmen der schweizer [15] und britischen [16] Ärzteschaft nicht generell abgelehnt. In der Schweiz wird die Assistenz zur Selbsttötung – im Gegensatz zu deutschem Recht – im Strafgesetzbuch erwähnt. Institut Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum eingereicht 2.2.2006 akzeptiert 18.5.2006 Bibliografie DOI 10.1055/s-2006-946587 Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0012-0472 Korrespondenz Dr. med. Jan Schildmann, M. A. Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Ruhr-Universität Bochum Malakowturm-Markstraße 258a 44799 Bochum Tel. 0234/3228654 Fax 0234/3214205 eMail [email protected] 1405 1406 Ethik in der Medizin | Commentary Sie ist mit Strafe belegt, wenn sie aus „selbstsüchtigen“ Motiven erfolgt (Art. 115 Schweizerisches Strafgesetzbuch). Die Beteiligung einzelner Ärzte an der Selbsttötung – beispielsweise durch die Ausstellung von entsprechenden Rezepten für sterbewillige Mitglieder der für die Schweiz charakteristischen Laienorganisationen (z.B. Dignitas, EXIT) zur Ermöglichung der Selbsttötung – spiegelt sich in der 2004 verabschiedeten Empfehlung der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) wider: „Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren.“ [15]. kurzgefasst Die Assistenz zur Selbsttötung ist in Deutschland kein Gegenstand des Strafgesetzbuchs. Bei einer Beteiligung von Ärzten können juristische Abgrenzungsprobleme bezüglich der ärztlichen Garantenpflicht und der unterlassenen Hilfeleistung auftreten. In den Niederlanden und im US-Bundesstaat Oregon ist die ÄAS rechtlich möglich, allerdings gelten unterschiedliche Voraussetzungen für die legale Durchführung. Im belgischen Gesetz zur Sterbehilfe wird die ÄAS nicht erwähnt. Während die Vertreter der Ärzteschaft in den meisten Ländern die ÄAS ablehnen, wird sie in den aktuellen Stellungnahmen der Ärztevertretungen in der Schweiz und Großbritannien nicht generell verurteilt. Philosophisch-ethischer Diskurs 5 1. Autonomie und Recht auf Selbstbestimmung Die Autonomie des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung bilden die normative Grundlage für den Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zu sterben. Die Reichweite der Autonomie hinsichtlich der Verfügbarkeit des eigenen Lebens – das die notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines Rechts auf Selbstbestimmung darstellt – ist Gegenstand des Diskurses und wird unterschiedlich bewertet. Befürworter des Respekts vor der wohlüberlegten und begründeten Selbsttötung sehen keinen plausiblen Grund für eine entsprechende Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts. Angesichts der möglichen Bedeutung der Gestaltung der letzten Lebensphase sollten entsprechende Bemühungen nicht durch rechtliche oder andere Regelungen eingeschränkt werden. Gegner der Selbsttötung verweisen darauf, dass in den meisten Gesellschaften moralisch und rechtlich akzeptierte Grenzen der Selbstbestimmung existieren. So wird beispielsweise die Verstümmelung von Menschen auch nach vorausgehender Einwilligung in vielen Fällen moralisch und teilweise auch rechtlich sanktioniert. Das Verbot der Tötung menschlichen Lebens gründet sich sowohl auf religiöse (Leben als „Geschenk Gottes“; „Prinzip der Heiligkeit des Lebens“) als auch säkular ethische Prämissen. Im medizinischen Kontext wurde diese Norm bereits in frühen und für das ärztliche Ethos grundlegenden Kodizes – wie zum Beispiel dem Hippokratischen Eid – aufgenommen und spiegelt sich auch in aktuellen standesethischen Stellungnahmen der Ärzteschaft wider [2]. Zweifel an der Selbstbestimmungsfähigkeit und Authentizität des Wunsches nach Selbsttötung werden als empirische Argumente gegen eine selbstbestimmte Selbsttötung angeführt. Studien belegen eine psychiatrische Komorbidität bei einem Teil der Patienten mit unheilbaren Krebserkrankungen, die möglicherweise auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung beeinträchtigt [20]. Ferner verweisen Vertreter der Palliativmedizin auf den appellativen Charakter des Wunsches nach ärztlicher Unterstützung zum Sterben. Die Bitte werde häufig zurückgezogen, wenn Patienten eine gute Behandlung der Symptome sowie psycho-sozialen und spirituellen Beistand erhalten [6]. Die Differenzierung zwischen einem im Kontext von psychischen Störungen und Krankheiten auftretenden Sterbewunsches und dem als Ergebnis eines wohlbedachten Abwägungsprozesses formulierten Willen ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitlichen Dringlichkeit, mit der (folgenreiche) Entscheidungen von ärztlicher Seite getroffen werden müssen, äußerst schwierig. Vor dem Hintergrund der aufgeführten komplexen Problemstellungen ist eine differenzierte Beurteilung des Einzelfalls erforderlich. 2. Benefizienz und Nonmalefizienz: Assistenz zur Selbsttötung als ärztliche Aufgabe? Selbst, wenn der Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zum Tode ethisch begründbar ist, folgt daraus noch nicht, dass die ärztliche Assistenz zur Selbsttötung ethisch zu rechtfertigen ist. Unbestritten ist zunächst, dass jeder Arzt aus Gewissensgründen die Mitwirkung an der Selbsttötung eines Patienten ablehnen kann. Zur ethischen Rechtfertigung der ÄAS muss neben dem skizzierten „Autonomie-Argument“ das ethische Prinzip des Wohltuns (Benefizienz) hinzugezogen werden. Entsprechend dem „Benefizienz-Argument“ ist die Assistenz zur Selbsttötung in besonders schwerwiegenden und nicht behandelbaren Fällen von subjektivem Leid Teil der ärztlichen Aufgabe, Leiden zu vermindern und ein den Wertvorstellungen des kranken Menschen angemessenes und würdiges Sterben zu ermöglichen. Die ärztliche Assistenz verhindere brutale und inhumane Methoden der Selbsttötung (z.B. Sturz von Gebäuden, sich vor den Zug werfen), die mit zusätzlichem Leid für die Betroffenen und für Dritte verbunden sind. Angesichts der zumeist begrenzten Lebenserwartung und schlechten Lebensqualität der betroffenen Patienten kollidiere die ÄAS in diesen Fällen auch nicht mit dem ethischen Prinzip des Nichtschadens (Nonmalefizienz) [2]. Das „Benefizienz-Argument“ wird zunächst hinsichtlich seiner logischen Struktur kritisiert. Eine Handlung, die den Tod eines Menschen zufolge hat, könne mangels Empfängers des intendierten Wohls kein Akt der ärztlichen Fürsorge darstellen. Umstritten ist weiterhin, ob die Assistenz zur Selbsttötung als Teil der ärztlichen Aufgabe definiert werden soll. Befürworter verweisen in diesem Zusammenhang auf die ärztliche Kompetenz bei der Betreuung Sterbender und das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, innerhalb dessen eine derart schwierige Entscheidung getroffen werden sollte. Gegner halten die traditionelle Aufgabe des Arztes, menschliches Leben zu bewahren, für eine essenzielle Grundlage eines vertrauensvollen Arzt-Patient-Verhältnisses. Patienten müssten sich darauf verlassen können, dass Ärzte sich ausschließlich dem Schutz des Lebens verpflichtet fühlen, um ärztlichen Empfehlungen und Maßnahmen das notwendige Vertrauen schenken zu können. Anstelle der ethisch problematischen ÄAS sollten vielmehr die Mittel der modernen Palliativmedizin ausgeschöpft werden. Die palliative Sedierung – die Induzierung eines Bewusstseinszustandes, in dem nach ärztlicher Einschätzung Patienten weder Schmerzen noch anderes Leid wahrnehmen – wird in diesem Zusammenhang als Ultima ratio und Alternative Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · J. Schildmann, J. Vollmann, Ärztliche Assistenz zur … Ethik in der Medizin | Commentary zur ÄAS genannt [2]. Die ethische Analyse der palliativen Sedierung am Lebensende (dann häufig als „terminale Sedierung“ bezeichnet) birgt neben definitorischen Abgrenzungsschwierigkeiten allerdings nicht unerhebliche ethische und rechtliche Fragestellungen. Diese beziehen sich unter anderem auf die empirisch schwer zu beantwortende Frage nach der jeweiligen Intention des behandelnden Arztes (Symptomlinderung? Verkürzung von Leben und Leiden?) und deren Stellenwert für die ethische Bewertung des Sachverhalts. Darüber hinaus wirft die Kombination von palliativer Sedierung und Maßnahmen der Behandlungsbegrenzung (beispielsweise künstliche Ernährung) weitere ethische und rechtliche Problemstellungen auf. 3. Regulierung der ÄAS – erster Schritt auf eine schiefe Ebene? Durch die Verknüpfung des Autonomieund Benefizienz-Arguments erhält die Forderung nach ärztlicher Assistenz zur Selbsttötung in Fällen unheilbarer Erkrankung und schwerem subjektiven Leiden erhebliches moralisches Gewicht. Gleichzeitig bietet die Verbindung beider ethischer Prinzipien Kritikern Anlass zur Frage, ob bei Anwendung dieser Argumentation nicht nur die ÄAS, sondern zwangsläufig auch die Tötung auf Verlangen ethisch gerechtfertigt werden muss. Insbesondere unter Berücksichtigung des „BenefizienzPrinzips“ sei es ethisch schwer zu begründen, dass Patienten mit subjektiv schwerem Leiden und dem selbstbestimmten Willen zu sterben, allein deshalb keine ärztliche Assistenz zum Sterben erhalten sollen, weil sie – beispielsweise aufgrund ihrer Erkrankung – nicht in der Lage sind, die Selbsttötung durchzuführen und somit das für die ÄAS entscheidende Abgrenzungskriterium der Tatherrschaft fehlt. Kritiker monieren weiterhin, dass die Beschränkung der ÄAS (und der Tötung auf Verlangen) auf Patienten mit schwerem, krankheitsbedingtem Leiden eine Eingrenzung darstellt, die mit der von den Befürwortern ebenfalls angeführten Forderung nach einem Recht auf einen selbstbestimmten Tod logisch nicht vereinbar sei. Die Entscheidung eines Menschen für die ÄAS sei bei Akzeptanz seines Rechts auf ein selbstbestimmtes Sterben auch dann zu respektieren, wenn nicht eine schwere Erkrankung, sondern es andere Gründe (z.B. finanzielle Nöte) für die Bitte um Beihilfe zum Suizid gäbe [8]. Ein „logischer Dammbruch“ im Sinne der moralischen Akzeptanz aller selbstbestimmten Entscheidungen für die ÄAS ist nach Dafürhalten der Kritiker nur dann zu vermeiden, wenn die ÄAS in allen Fällen für ethisch nicht akzeptabel erachtet wird. Schließlich ist es nach Meinung der Gegner der ÄAS unmöglich, praktische Regelungen zur legalen Durchführung des assistierten Suizids zu implementieren, die nicht zwangsläufig zu Tötungen auf Verlangen oder gar Tötungen ohne Verlangen würden [7]. Diese so genannte „Dammbruchargumentation“ (Synonym: Argument der schiefen Ebene) stützt sich – im Unterschied zu normativen Argumenten – auf Behauptungen, die prinzipiell empirisch überprüfbar sind. In diesem Sinne leisten entsprechende Studien einen wichtigen Beitrag zur Überprüfung der aufgestellten Thesen. kurzgefasst Die Autonomie des Menschen bildet die normative Grundlage für den Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zum Sterben. Die ärztliche Beteiligung an der Selbsttötung von Patienten wird mit dem ethischen Prinzip der Benefizienz begründet. Mögliche Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, praktische Probleme bei der Überprüfung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Sterbewilligen und der Implementierung rechtlicher Rahmenbedingungen sind Argumente, die in der Diskussion von den Gegnern der ÄAS angeführt werden. Empirische Untersuchungen 5 Während in den von unterschiedlichen Interessensgruppen in Auftrag gegebenen repräsentativen Befragungen 35% und 81% der deutschen Bevölkerung die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe positiv bewerten [20], befürworten in verschiedenen Untersuchungen 10–25% der deutschen Ärzte die ÄAS [10]. Der Vergleich mit Befragungen von Ärzten in anderen Ländern zeigt eine restriktivere Haltung von Ärzten in Deutschland gegenüber der ärztlichen Assistenz zum Sterben [11]. Eine Analyse möglicher Einflussfaktoren für die Bewertung der ÄAS und anderer Entscheidungen am Lebensende zeigt, dass neben Religiosität und persönlichen Werthaltungen, die Zugehörigkeit zu einer Fachdisziplin sowie länderspezifische kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen in Betracht gezogen werden müssen [10]. Die Frage von Patienten an die behandelnden Ärzte nach Unterstützung zur Selbsttötung ist selten. Lediglich ein Teil der Patienten, die von ihrem Arzt ein Rezept für eine tödliche Substanz erhalten, beendet das Leben auf diese Weise. So nahmen 35 von 60 Bürgern im US-Bundesstaat Oregon, die 2004 ein Rezept unter den Bedingungen des „Oregon Death with Dignity Act“ erhielten, die Substanz ein [13]. Angesichts des mit der körperlichen Desintegration assoziierten Gefühls „der Krankheit ausgeliefert zu sein“ scheint für einen Teil der Patienten das Wissen um die Möglichkeit, das Leben selbst beenden zu können („being in control“), auszureichen. In Oregon wie auch den Niederlanden stirbt ein kleiner Teil der Patienten an den Folgen der ÄAS. In den Niederlanden wurden in etwa 20% der untersuchten Todesfälle medizinische Behandlungsverfahren am Lebensende begrenzt, in 0,21% aller untersuchten Todesfälle war der Tod die Folge von ÄAS. Dagegen starben in den Niederlanden in 2,59% aller untersuchten Todesfälle Patienten durch die Tötung auf Verlangen [17]. Befragungen von Ärzten in den Niederlanden zeigen, dass nicht die Selbstbestimmung, sondern das als aussichtslos und unerträglich bewertete Leiden als häufigster Grund für die Bitte um die ÄAS beziehungsweise Tötung auf Verlangen angegeben wurde. Aus medizinischer Sicht wird über eine höhere Komplikationsrate der ÄAS (z.B. unerwünschte Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Myoklonien sowie Verzögerung/Nichteintreten des Todes nach Einnahme der Substanz) im Vergleich zur Tötung auf Verlangen berichtet [18]. kurzgefasst Im Unterschied zu den Ergebnissen repräsentativer Befragungen in der Bevölkerung wird die Assistenz zur Selbsttötung von der großen Mehrheit der Ärzte abgelehnt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in Ländern, in denen die ÄAS rechtlich möglich ist, ein kleiner Teil der Patienten (0,3% in den Niederlanden) auf diese Weise stirbt. Fazit 5 Der von Patienten geäußerte Wille zu sterben erfordert eine sorgfältige Evaluation der gesundheitlichen Verfassung und Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen. Die sich wesentlich unterscheidenden Voraussetzungen, unter denen der Wunsch zum Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · J. Schildmann, J. Vollmann, Ärztliche Assistenz zur … 1407 Ethik in der Medizin | Commentary Abb. 1 Häufigkeit von Entscheidungen am Lebensende in den Niederlanden (Quelle: van der Heide et al. 2004). 25 20 Prozent 1408 20,00 20,00 15 10 5 2,59 0 0,60 0,21 1 2 3 4 5 1 = Begrenzung medizinischer Maßnahmen 2 = Symptombehandlung mit möglicher Lebensverkürzung 3 = ÄAS 4 = Tötung auf Verlangen 5 = Tötung ohne Verlangen Tode geäußert wird, sollten sich in einer differenzierten und kritischen Würdigung des Einzelfalls widerspiegeln. Das „AutonomieArgument“ nimmt in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über die moralische Bewertung von Entscheidungen am Lebensende eine zentrale Stellung ein. Der Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zu Sterben reicht jedoch nicht aus, um eine ärztliche Beteiligung an der Selbsttötung ethisch zu begründen. Die Frage, ob unter Berücksichtigung des Prinzips der Benefizienz die Assistenz zur Selbsttötung im Einzelfall als ärztliche Aufgabe ethisch begründet werden kann, ist Gegenstand kontroverser Diskussion. Die Kenntnis rechtlicher Rahmenbedingungen, philosophischethischer Argumente und Ergebnisse empirischer Untersuchungen sind Voraussetzung für eine informierte und wissenschaftlich fundierte Diskussion über die ÄAS. Die in die klinische Aus- und Weiterbildung integrierte Vermittlung ethischer und rechtlicher Kompetenzen könnte einen Beitrag zum professionellen Umgang mit der Bitte von Patienten um die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung leisten. Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass Sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben, deren Produkt in diesem Artikel eine wichtige Rolle spielt (oder mit einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt). Literatur 1 Bundesärztekammer. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch Ärztebl, 2004; 95: A2366–2377 Konsequenz für Klinik und Praxis 31. Die große Mehrheit von Suiziden und Suizidversuchen wird von Menschen, die unter psychischen Störungen (z.B. Depression, Schizophrenie, Suchterkrankung) leiden, durchgeführt. 32. Der Wunsch von Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen nach ärztlich assistierter Selbsttötung kann in Zusammenhang mit einer die Selbstbestimmungsfähigkeit einschränkenden psychischen Störung stehen. 33. Die individuelle Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Patienten ist ärztliche Aufgabe. Die ärztliche Rolle beim Wunsch von Patienten nach ÄAS ist Gegenstand kontroverser Diskussion. 2 Emanuel L. A Question of Balance Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, In: Emanuel LL (ed.). Regulating how we die. 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