Prof. Vollmann und PD Dr. Schildmann: "Ärztliche Assistenz zur

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Ethik in der Medizin | Commentary
Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung –
ethische, rechtliche und klinische Aspekte
Einleitung
5
Die ärztliche Assistenz zur Selbsttötung (ÄAS) ist
Gegenstand der aktuellen wissenschaftlichen
und politischen Debatte über normative Aspekte
der Entscheidungsfindung am Lebensende. Gesetzliche Regelungen in den Niederlanden und
im US-Bundesstaat Oregon sowie die Revision
standesethischer
Verlautbarungen in der
Schweiz [15] und in Großbritannien [16] zeugen
von einer sich wandelnden rechtlichen und moralischen Beurteilung der ÄAS. In Deutschland
provozierte die Gründung einer deutschen Dependance der Schweizer Organisation „Dignitas“, die ihren Mitgliedern Unterstützung bei der
Selbsttötung gewährt, eine große Anzahl kontroverser Stellungnahmen. Ziel dieses Beitrags ist
die Information über ethische, rechtliche und
klinisch-empirische Aspekte der ÄAS.
Begriffsbestimmung
5
In Deutschland töten sich jährlich mehr als 10000
Menschen. Neben den Bezeichnungen „Selbsttötung“ und „Suizid“ wird vielfach auch der Begriff
„Selbstmord“ zur Beschreibung des Sachverhalts gebraucht. Dieser Begriff wird aufgrund der präjudizierenden Konnotation kritisiert [19]. Ergebnisse der
Suizidforschung zeigen, dass die große Mehrheit
von Suiziden und Suizidversuchen von Menschen,
die unter psychischen Störungen (z.B. Depression,
Schizophrenie, Suchterkrankung) leiden, durchgeführt werden. Da bei diesen psychiatrischen Erkrankungen häufig eine Einschränkung kognitiver Funktionen vorliegt, muss die Selbstbestimmungsfähigkeit dieser Patienten kritisch hinterfragt werden. In
Abgrenzung zu dieser Konstellation wird insbesondere in der philosophischen Literatur die Entscheidung zur Selbsttötung als mögliches Ergebnis eines
selbstbestimmten Entscheidungsfindungsprozesses diskutiert. Lebensbedrohliche körperliche Erkrankungen verbunden mit schwerem subjektivem
Leiden werden in diesem Zusammenhang als ein
möglicher Grund für die Entscheidung Einzelner genannt, dem Leben ein Ende zu setzen [5, 14].
Juristische Grundlagen
5
1. Deutschland
Die Selbsttötung ist kein Gegenstand des deutschen
Strafgesetzbuchs, rechtsdogmatischen Grundsätzen
entsprechend bleibt auch die Assistenz zur Selbsttötung straflos. Ein wichtiges juristisches Abgrenzungskriterium zur strafbaren Tötung auf Verlangen
(§216 StGB) ist die Zuordnung der Tatherrschaft. Bei
der assistierten Selbsttötung vollzieht und kontrolliert der Betroffene den gesamten Handlungsverlauf. Allerdings bestehen nach gültiger Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes bei einer ÄAS juristische Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen die ärztliche
Garantenpflicht sowie des Begehens einer Straftat
nach §323 StGB (unterlassene Hilfeleistung). Die
höchstrichterliche Unterscheidung bei der Abwägung zwischen der Selbstbestimmung des Patienten
und dem Prinzip der solidarischer Hilfsverpflichtungen durch Dritte bei Suizidenten einerseits und Patienten, die eine lebensrettende Maßnahme ablehnen
andererseits wird in der rechtswissenschaftlichen
Debatte kontrovers diskutiert [9].
J. Schildmann
J. Vollmann
Ethik
Schlüsselwörter
Ärztliche Assistenz zur
Selbsttötung
Entscheidungen am
Lebensende
Ethik in der Medizin
Patientenautonomie
q
q
q
q
Key words
Physician assisted suicide
end-of-life decisions
medical ethics
patients’ autonomy
q
q
q
q
2. Belgien, Niederlande und Oregon (USA)
Die ÄAS ist in den Niederlanden sowie im US-Bundesstaat Oregon gesetzlich geregelt [4, 12]. Das Gesetz zur Sterbehilfe in Belgien bezieht sich auf die
Tötung auf Verlangen, die ÄAS wird im Gesetzestext
nicht genannt [3]. Voraussetzungen für die legale
Durchführung der ÄAS sind wiederholte und freiwillige Anfragen von Patienten sowie das Vorliegen
eines unerträglichen Leidens. Entsprechend der
Rechtsprechung in den Niederlanden erstreckt sich
der Begriff „unerträgliches Leiden“ auch auf psychische Erkrankungen [5]. In Abgrenzung zu den Niederlanden, wo ÄAS auch bei einwilligungsfähigen
minderjährigen Patienten die Assistenz zur Selbsttötung geleistet werden kann, müssen Patienten im
US-Staat Oregon nach dem „Oregon Death with Dignity Act“ mindestens 18 Jahre alt sein. Eine nach
ärztlicher Einschätzung begrenzte Lebenszeit (< 6
Monate) und der Ausschluss psychiatrischer Erkrankungen sind Voraussetzungen für die legale Durchführung der ÄAS in Oregon. Im Gegensatz zu Belgien
und den Niederlanden ist die Tötung von Patienten
auf ihr Verlangen in Oregon nicht erlaubt.
Standesethische Verlautbarungen
5
Der Weltärztebund verurteilt die ärztliche Assistenz
zur Selbsttötung [21] ebenso wie die Bundesärztekammer in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung [1]: „Die Mitwirkung des Arztes bei der
Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und
kann strafbar sein.“ In Abgrenzung zu dieser von Ärztevertretern mehrheitlich vertretenen Bewertung
des Sachverhalts wird die ÄAS in den aktuellen Stellungnahmen der schweizer [15] und britischen [16]
Ärzteschaft nicht generell abgelehnt. In der Schweiz
wird die Assistenz zur Selbsttötung – im Gegensatz
zu deutschem Recht – im Strafgesetzbuch erwähnt.
Institut
Institut für Medizinische Ethik
und Geschichte der Medizin,
Ruhr-Universität Bochum
eingereicht 2.2.2006
akzeptiert 18.5.2006
Bibliografie
DOI 10.1055/s-2006-946587
Dtsch Med Wochenschr 2006;
131: 1405–1408 · © Georg
Thieme Verlag KG Stuttgart ·
New York · ISSN 0012-0472
Korrespondenz
Dr. med. Jan Schildmann, M. A.
Institut für Medizinische Ethik
und Geschichte der Medizin
Ruhr-Universität Bochum
Malakowturm-Markstraße 258a
44799 Bochum
Tel. 0234/3228654
Fax 0234/3214205
eMail [email protected]
1405
1406
Ethik in der Medizin | Commentary
Sie ist mit Strafe belegt, wenn sie aus „selbstsüchtigen“ Motiven erfolgt (Art. 115 Schweizerisches Strafgesetzbuch). Die Beteiligung
einzelner Ärzte an der Selbsttötung – beispielsweise durch die Ausstellung von entsprechenden Rezepten für sterbewillige Mitglieder der für die Schweiz charakteristischen Laienorganisationen (z.B. Dignitas,
EXIT) zur Ermöglichung der Selbsttötung –
spiegelt sich in der 2004 verabschiedeten
Empfehlung der Schweizerischen Akademie
für Medizinische Wissenschaften (SAMW)
wider: „Auf der einen Seite ist die Beihilfe
zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit,
weil sie den Zielen der Medizin widerspricht.
Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation
erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im
Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist
als solche zu respektieren.“ [15].
kurzgefasst
Die Assistenz zur Selbsttötung ist in
Deutschland kein Gegenstand des
Strafgesetzbuchs. Bei einer Beteiligung von Ärzten können juristische
Abgrenzungsprobleme bezüglich der
ärztlichen Garantenpflicht und der unterlassenen Hilfeleistung auftreten. In
den Niederlanden und im US-Bundesstaat Oregon ist die ÄAS rechtlich möglich, allerdings gelten unterschiedliche
Voraussetzungen für die legale Durchführung. Im belgischen Gesetz zur
Sterbehilfe wird die ÄAS nicht erwähnt. Während die Vertreter der Ärzteschaft in den meisten Ländern die
ÄAS ablehnen, wird sie in den aktuellen Stellungnahmen der Ärztevertretungen in der Schweiz und Großbritannien nicht generell verurteilt.
Philosophisch-ethischer Diskurs
5
1. Autonomie und Recht auf Selbstbestimmung
Die Autonomie des Menschen und sein
Recht auf Selbstbestimmung bilden die
normative Grundlage für den Respekt vor
dem selbstbestimmten Willen zu sterben.
Die Reichweite der Autonomie hinsichtlich
der Verfügbarkeit des eigenen Lebens – das
die notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines Rechts auf Selbstbestimmung
darstellt – ist Gegenstand des Diskurses
und wird unterschiedlich bewertet. Befürworter des Respekts vor der wohlüberlegten und begründeten Selbsttötung sehen
keinen plausiblen Grund für eine entsprechende Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts. Angesichts der möglichen
Bedeutung der Gestaltung der letzten Lebensphase sollten entsprechende Bemühungen nicht durch rechtliche oder andere
Regelungen eingeschränkt werden. Gegner der Selbsttötung verweisen darauf,
dass in den meisten Gesellschaften moralisch und rechtlich akzeptierte Grenzen der
Selbstbestimmung existieren. So wird beispielsweise die Verstümmelung von Menschen auch nach vorausgehender Einwilligung in vielen Fällen moralisch und teilweise auch rechtlich sanktioniert. Das Verbot der Tötung menschlichen Lebens
gründet sich sowohl auf religiöse (Leben
als „Geschenk Gottes“; „Prinzip der Heiligkeit des Lebens“) als auch säkular ethische
Prämissen. Im medizinischen Kontext wurde diese Norm bereits in frühen und für
das ärztliche Ethos grundlegenden Kodizes – wie zum Beispiel dem Hippokratischen Eid – aufgenommen und spiegelt
sich auch in aktuellen standesethischen
Stellungnahmen der Ärzteschaft wider [2].
Zweifel an der Selbstbestimmungsfähigkeit
und Authentizität des Wunsches nach
Selbsttötung werden als empirische Argumente gegen eine selbstbestimmte Selbsttötung angeführt. Studien belegen eine psychiatrische Komorbidität bei einem Teil der Patienten mit unheilbaren Krebserkrankungen,
die möglicherweise auch die Fähigkeit zur
Selbstbestimmung beeinträchtigt [20]. Ferner verweisen Vertreter der Palliativmedizin
auf den appellativen Charakter des Wunsches nach ärztlicher Unterstützung zum
Sterben. Die Bitte werde häufig zurückgezogen, wenn Patienten eine gute Behandlung
der Symptome sowie psycho-sozialen und
spirituellen Beistand erhalten [6]. Die Differenzierung zwischen einem im Kontext von
psychischen Störungen und Krankheiten
auftretenden Sterbewunsches und dem als
Ergebnis eines wohlbedachten Abwägungsprozesses formulierten Willen ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitlichen
Dringlichkeit, mit der (folgenreiche) Entscheidungen von ärztlicher Seite getroffen
werden müssen, äußerst schwierig. Vor dem
Hintergrund der aufgeführten komplexen
Problemstellungen ist eine differenzierte Beurteilung des Einzelfalls erforderlich.
2. Benefizienz und Nonmalefizienz:
Assistenz zur Selbsttötung als ärztliche Aufgabe?
Selbst, wenn der Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zum Tode ethisch begründbar ist, folgt daraus noch nicht, dass
die ärztliche Assistenz zur Selbsttötung
ethisch zu rechtfertigen ist. Unbestritten ist
zunächst, dass jeder Arzt aus Gewissensgründen die Mitwirkung an der Selbsttötung eines Patienten ablehnen kann. Zur
ethischen Rechtfertigung der ÄAS muss neben dem skizzierten „Autonomie-Argument“ das ethische Prinzip des Wohltuns
(Benefizienz) hinzugezogen werden. Entsprechend dem „Benefizienz-Argument“
ist die Assistenz zur Selbsttötung in besonders schwerwiegenden und nicht behandelbaren Fällen von subjektivem Leid Teil
der ärztlichen Aufgabe, Leiden zu vermindern und ein den Wertvorstellungen des
kranken Menschen angemessenes und
würdiges Sterben zu ermöglichen. Die
ärztliche Assistenz verhindere brutale und
inhumane Methoden der Selbsttötung (z.B.
Sturz von Gebäuden, sich vor den Zug werfen), die mit zusätzlichem Leid für die Betroffenen und für Dritte verbunden sind.
Angesichts der zumeist begrenzten Lebenserwartung und schlechten Lebensqualität der betroffenen Patienten kollidiere
die ÄAS in diesen Fällen auch nicht mit
dem ethischen Prinzip des Nichtschadens
(Nonmalefizienz) [2].
Das „Benefizienz-Argument“ wird zunächst hinsichtlich seiner logischen Struktur kritisiert. Eine Handlung, die den Tod
eines Menschen zufolge hat, könne mangels Empfängers des intendierten Wohls
kein Akt der ärztlichen Fürsorge darstellen.
Umstritten ist weiterhin, ob die Assistenz
zur Selbsttötung als Teil der ärztlichen Aufgabe definiert werden soll. Befürworter
verweisen in diesem Zusammenhang auf
die ärztliche Kompetenz bei der Betreuung
Sterbender und das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, innerhalb dessen eine derart schwierige Entscheidung getroffen werden sollte. Gegner
halten die traditionelle Aufgabe des Arztes,
menschliches Leben zu bewahren, für eine
essenzielle Grundlage eines vertrauensvollen Arzt-Patient-Verhältnisses. Patienten
müssten sich darauf verlassen können,
dass Ärzte sich ausschließlich dem Schutz
des Lebens verpflichtet fühlen, um ärztlichen Empfehlungen und Maßnahmen das
notwendige Vertrauen schenken zu können. Anstelle der ethisch problematischen
ÄAS sollten vielmehr die Mittel der modernen Palliativmedizin ausgeschöpft werden. Die palliative Sedierung – die Induzierung eines Bewusstseinszustandes, in dem
nach ärztlicher Einschätzung Patienten
weder Schmerzen noch anderes Leid
wahrnehmen – wird in diesem Zusammenhang als Ultima ratio und Alternative
Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · J. Schildmann, J. Vollmann, Ärztliche Assistenz zur …
Ethik in der Medizin | Commentary
zur ÄAS genannt [2]. Die ethische Analyse
der palliativen Sedierung am Lebensende
(dann häufig als „terminale Sedierung“ bezeichnet) birgt neben definitorischen Abgrenzungsschwierigkeiten allerdings nicht
unerhebliche ethische und rechtliche Fragestellungen. Diese beziehen sich unter anderem auf die empirisch schwer zu beantwortende Frage nach der jeweiligen Intention des behandelnden Arztes (Symptomlinderung? Verkürzung von Leben und
Leiden?) und deren Stellenwert für die
ethische Bewertung des Sachverhalts. Darüber hinaus wirft die Kombination von palliativer Sedierung und Maßnahmen der
Behandlungsbegrenzung (beispielsweise
künstliche Ernährung) weitere ethische
und rechtliche Problemstellungen auf.
3. Regulierung der ÄAS – erster Schritt
auf eine schiefe Ebene?
Durch die Verknüpfung des Autonomieund Benefizienz-Arguments erhält die Forderung nach ärztlicher Assistenz zur
Selbsttötung in Fällen unheilbarer Erkrankung und schwerem subjektiven Leiden erhebliches moralisches Gewicht. Gleichzeitig bietet die Verbindung beider ethischer
Prinzipien Kritikern Anlass zur Frage, ob
bei Anwendung dieser Argumentation
nicht nur die ÄAS, sondern zwangsläufig
auch die Tötung auf Verlangen ethisch gerechtfertigt werden muss. Insbesondere
unter Berücksichtigung des „BenefizienzPrinzips“ sei es ethisch schwer zu begründen, dass Patienten mit subjektiv schwerem Leiden und dem selbstbestimmten
Willen zu sterben, allein deshalb keine
ärztliche Assistenz zum Sterben erhalten
sollen, weil sie – beispielsweise aufgrund
ihrer Erkrankung – nicht in der Lage sind,
die Selbsttötung durchzuführen und somit
das für die ÄAS entscheidende Abgrenzungskriterium der Tatherrschaft fehlt. Kritiker monieren weiterhin, dass die Beschränkung der ÄAS (und der Tötung auf
Verlangen) auf Patienten mit schwerem,
krankheitsbedingtem Leiden eine Eingrenzung darstellt, die mit der von den Befürwortern ebenfalls angeführten Forderung
nach einem Recht auf einen selbstbestimmten Tod logisch nicht vereinbar sei.
Die Entscheidung eines Menschen für die
ÄAS sei bei Akzeptanz seines Rechts auf ein
selbstbestimmtes Sterben auch dann zu respektieren, wenn nicht eine schwere Erkrankung, sondern es andere Gründe (z.B.
finanzielle Nöte) für die Bitte um Beihilfe
zum Suizid gäbe [8]. Ein „logischer Dammbruch“ im Sinne der moralischen Akzeptanz aller selbstbestimmten Entscheidungen für die ÄAS ist nach Dafürhalten der
Kritiker nur dann zu vermeiden, wenn die
ÄAS in allen Fällen für ethisch nicht akzeptabel erachtet wird. Schließlich ist es nach
Meinung der Gegner der ÄAS unmöglich,
praktische Regelungen zur legalen Durchführung des assistierten Suizids zu implementieren, die nicht zwangsläufig zu Tötungen auf Verlangen oder gar Tötungen
ohne Verlangen würden [7]. Diese so genannte „Dammbruchargumentation“ (Synonym: Argument der schiefen Ebene)
stützt sich – im Unterschied zu normativen
Argumenten – auf Behauptungen, die prinzipiell empirisch überprüfbar sind. In diesem Sinne leisten entsprechende Studien
einen wichtigen Beitrag zur Überprüfung
der aufgestellten Thesen.
kurzgefasst
Die Autonomie des Menschen bildet
die normative Grundlage für den Respekt vor dem selbstbestimmten Willen zum Sterben. Die ärztliche Beteiligung an der Selbsttötung von Patienten wird mit dem ethischen Prinzip der
Benefizienz begründet. Mögliche
Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, praktische Probleme bei der
Überprüfung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Sterbewilligen und der
Implementierung rechtlicher Rahmenbedingungen sind Argumente, die in
der Diskussion von den Gegnern der
ÄAS angeführt werden.
Empirische Untersuchungen
5
Während in den von unterschiedlichen
Interessensgruppen in Auftrag gegebenen repräsentativen Befragungen 35%
und 81% der deutschen Bevölkerung die
Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe positiv bewerten [20], befürworten in verschiedenen Untersuchungen 10–25% der
deutschen Ärzte die ÄAS [10]. Der Vergleich mit Befragungen von Ärzten in anderen Ländern zeigt eine restriktivere
Haltung von Ärzten in Deutschland gegenüber der ärztlichen Assistenz zum
Sterben [11]. Eine Analyse möglicher Einflussfaktoren für die Bewertung der ÄAS
und anderer Entscheidungen am Lebensende zeigt, dass neben Religiosität und
persönlichen Werthaltungen, die Zugehörigkeit zu einer Fachdisziplin sowie
länderspezifische kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen in Betracht gezogen werden müssen [10].
Die Frage von Patienten an die behandelnden Ärzte nach Unterstützung zur Selbsttötung ist selten. Lediglich ein Teil der Patienten, die von ihrem Arzt ein Rezept für
eine tödliche Substanz erhalten, beendet
das Leben auf diese Weise. So nahmen 35
von 60 Bürgern im US-Bundesstaat Oregon, die 2004 ein Rezept unter den Bedingungen des „Oregon Death with Dignity
Act“ erhielten, die Substanz ein [13]. Angesichts des mit der körperlichen Desintegration assoziierten Gefühls „der Krankheit
ausgeliefert zu sein“ scheint für einen Teil
der Patienten das Wissen um die Möglichkeit, das Leben selbst beenden zu können
(„being in control“), auszureichen.
In Oregon wie auch den Niederlanden
stirbt ein kleiner Teil der Patienten an den
Folgen der ÄAS. In den Niederlanden wurden in etwa 20% der untersuchten Todesfälle medizinische Behandlungsverfahren
am Lebensende begrenzt, in 0,21% aller untersuchten Todesfälle war der Tod die Folge
von ÄAS. Dagegen starben in den Niederlanden in 2,59% aller untersuchten Todesfälle Patienten durch die Tötung auf Verlangen [17]. Befragungen von Ärzten in den
Niederlanden zeigen, dass nicht die Selbstbestimmung, sondern das als aussichtslos
und unerträglich bewertete Leiden als häufigster Grund für die Bitte um die ÄAS beziehungsweise Tötung auf Verlangen angegeben wurde. Aus medizinischer Sicht
wird über eine höhere Komplikationsrate
der ÄAS (z.B. unerwünschte Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Myoklonien sowie
Verzögerung/Nichteintreten des Todes
nach Einnahme der Substanz) im Vergleich
zur Tötung auf Verlangen berichtet [18].
kurzgefasst
Im Unterschied zu den Ergebnissen repräsentativer Befragungen in der Bevölkerung wird die Assistenz zur Selbsttötung von der großen Mehrheit der
Ärzte abgelehnt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in Ländern, in denen die ÄAS rechtlich möglich ist, ein
kleiner Teil der Patienten (0,3% in den
Niederlanden) auf diese Weise stirbt.
Fazit
5
Der von Patienten geäußerte Wille zu sterben erfordert eine sorgfältige Evaluation der
gesundheitlichen Verfassung und Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen. Die
sich wesentlich unterscheidenden Voraussetzungen, unter denen der Wunsch zum
Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · J. Schildmann, J. Vollmann, Ärztliche Assistenz zur …
1407
Ethik in der Medizin | Commentary
Abb. 1 Häufigkeit von Entscheidungen am Lebensende in
den Niederlanden (Quelle: van
der Heide et al. 2004).
25
20
Prozent
1408
20,00
20,00
15
10
5
2,59
0
0,60
0,21
1
2
3
4
5
1 = Begrenzung medizinischer Maßnahmen
2 = Symptombehandlung mit möglicher Lebensverkürzung
3 = ÄAS
4 = Tötung auf Verlangen
5 = Tötung ohne Verlangen
Tode geäußert wird, sollten sich in einer differenzierten und kritischen Würdigung des
Einzelfalls widerspiegeln. Das „AutonomieArgument“ nimmt in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über die
moralische Bewertung von Entscheidungen
am Lebensende eine zentrale Stellung ein.
Der Respekt vor dem selbstbestimmten
Willen zu Sterben reicht jedoch nicht aus,
um eine ärztliche Beteiligung an der Selbsttötung ethisch zu begründen. Die Frage, ob
unter Berücksichtigung des Prinzips der Benefizienz die Assistenz zur Selbsttötung im
Einzelfall als ärztliche Aufgabe ethisch begründet werden kann, ist Gegenstand kontroverser Diskussion. Die Kenntnis rechtlicher Rahmenbedingungen, philosophischethischer Argumente und Ergebnisse empirischer Untersuchungen sind Voraussetzung
für eine informierte und wissenschaftlich
fundierte Diskussion über die ÄAS. Die in
die klinische Aus- und Weiterbildung integrierte Vermittlung ethischer und rechtlicher Kompetenzen könnte einen Beitrag
zum professionellen Umgang mit der Bitte
von Patienten um die ärztliche Beihilfe zur
Selbsttötung leisten.
Autorenerklärung: Die Autoren erklären,
dass Sie keine finanziellen Verbindungen
mit einer Firma haben, deren Produkt in
diesem Artikel eine wichtige Rolle spielt
(oder mit einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt).
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Dtsch Ärztebl, 2004; 95: A2366–2377
Konsequenz für Klinik und Praxis
31. Die große Mehrheit von Suiziden und
Suizidversuchen wird von Menschen,
die unter psychischen Störungen (z.B.
Depression, Schizophrenie, Suchterkrankung) leiden, durchgeführt.
32. Der Wunsch von Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen nach
ärztlich assistierter Selbsttötung kann in
Zusammenhang mit einer die Selbstbestimmungsfähigkeit einschränkenden
psychischen Störung stehen.
33. Die individuelle Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Patienten ist
ärztliche Aufgabe. Die ärztliche Rolle
beim Wunsch von Patienten nach ÄAS ist
Gegenstand kontroverser Diskussion.
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Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1405–1408 · J. Schildmann, J. Vollmann, Ärztliche Assistenz zur …
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