176 7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung Die oben beschriebenen neurotischen Kompromissbildungen haben deutlich die Funktion der Bewältigung von strukturellen Defiziten. Angesichts der strukturell erheblich erschwerten Fähigkeit, Beziehungen herzustellen und auszuhalten, erweisen sich narzisstische und schizoide Haltungen als geeignete Reparationsversuche. Sie sind geeignet, dem Patienten zu erklären, warum es sinnvoll ist, sich von den Objekten fernzuhalten. Damit wird zugleich das Selbstwerterleben stabilisiert, denn es geht jetzt für die Patienten nicht mehr um Bedürftigkeit und Unfähigkeit, sondern um selbst verantwortete Haltungen. Ähnlich wie bei den somatoformen Störungen und Depressionen kommt es häufig dann zur Symptombildung, wenn die neurotischen Bewältigungsmuster sich erschöpft haben und ihre Funktion, die strukturellen Defizite zu überdecken, nicht mehr erfüllen können. Das geschieht schleichend, allmählich, aber es wird häufig anlässlich eines aktuellen Ereignisses, welches das Fass zum Überlaufen bringt, als krisenhafter Zusammenbruch erlebt. Das Einbrechen wird als existenzielle Krise erfahren und ist häufig mit suizidalen Impulsen verknüpft. Es ist von außen her schwer verständlich, da die Anlässe scheinbar geringfügig waren und eine derart dramatische Erkrankung nicht eigentlich rechtfertigen. Die beiden genannten Aspekte prägen auch die Psychotherapie dieser Patienten: Die mühevolle Arbeit an einer festgefügten ich-syntonen Charakterabwehr macht es dem Patienten schwer, sie überhaupt in Frage zu stellen. Zum Zweiten geht es um die therapeutischen Komplikationen, die aus den strukturellen Defiziten herrühren: Schwer überwindbare Positionen des Misstrauens, immer wieder erfolgende Distanzierung in der therapeutischen Beziehung oder gar ihre Infragestellung und Zerstörung. Und schließlich ereignen sich dramatische, krisenhafte Ausnahmezustände, überraschende Katastrophenszenarien mit vitaler Bedrohung des Patienten und Zerstörung der therapeutischen Situation. Ein klinisches Beispiel für diesen Typus bietet die in Kapitel 5.4 beschriebene komplikationsreiche und ineffektive analytische Psychotherapie. 7.4 Bewältigung struktureller Störungen durch symptomwertiges Verhalten: Beispiel der Bulimie Eine Störung wie die Bulimie wurde gelegentlich konfliktneurotisch interpretiert: z. B. wurde in der Gier der raschen Nahrungsaufnahme im Essanfall und der zugehörigen Befriedigung eine Analogie zum sexuellen Orgasmus gesehen. Eine weitere Verständnisebene – die objektbeziehungstheoretische – fokussiert auf die latente Objektbedürftigkeit, den drängenden Wunsch, das gute Objekt bei sich zu haben und es sich möglichst einzuverleiben, um es dann beim Umschlag in die Objektenttäuschung als schlechtes Objekt wieder auszuspeien. Diese Vorstellung eines frühen Konflikts ist psychodynamisch plausibel, aber therapeutisch wenig handlungsleitend, weil sie sehr weit vom Erleben des Patienten entfernt ist. Erst wenn die struk- 7.4 Bewältigung struktureller Störungen durch symptomwertiges Verhalten turellen Aspekte der frühen Beziehungsstörung mit berücksichtigt werden, lässt sich daraus ein therapeutischer Ansatz ableiten. Für die junge Patientin schafft • die Schwierigkeit, die eigene Bedürftigkeit wahrzunehmen und mitzuteilen, • die Unsicherheit im Erkennen und Ertragen der eigenen Affekte, • die Schwierigkeit, das Selbst in seinen Intentionen und Identitätsaspekten wahrzunehmen sowie • die Unsicherheit der Selbstbewertung eine starke Abhängigkeit von der Zuwendung und Bewertung der anderen. Diese Voraussetzungen machen es speziell jungen Erwachsenen und Jugendlichen schwer, die alterstypischen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: die Verselbstständigung aus der Familie, das Sichpositionieren unter Gleichaltrigen und das Aufnehmen von Partnerbeziehungen. Diffuse Affekt- und Bedürfnisspannungen bei gleichzeitigen Leeregefühlen schaffen eine schwer erträgliche innere Verfassung, in der das impulshafte Verhalten des gierigen Essens eine Strukturierung des Empfindens, des Denkens und des Handelns und eine Erlösung aus der diffusen Leere und Anspannung bedeutet. Das bulimische Ereignis wird als „prägenitales Konfliktgeschehen“ wenig verständlich, aber im Kontext der strukturellen Defizite und Vulnerabilität gewinnt der Triebdurchbruch des Essanfalls und des Erbrechens eine funktionale Bedeutung. Er bringt den hohen Bedürfnisdruck der Objektgier ebenso zum Ausdruck wie er eine Selbststimulation und Selbstberuhigung in einer anders nicht zu regulierenden Affektsituation ermöglicht. Der Bewältigungsversuch (des bulimischen Verhaltens) gewinnt einen großen Symptomwert und überdeckt zunächst die dahinter liegende weniger laute strukturelle Störung. Therapeutisch stellt sich dadurch eine doppelte Aufgabe: Die Patientin kann weder das bulimische Verhalten noch ihre strukturelle Einschränkung aus eigener Kraft verändern. Ihre Hilflosigkeit angesichts des strukturellen Defizits ist genauso groß wie ihr Ausgeliefertsein an die Bulimie, die sich von einem bestimmten Zeitpunkt an suchtartig verselbständigt. Beides erfordert strukturierte aktive therapeutische Maßnahmen. Die zuweilen geäußerte therapeutische Hoffnung, der eine Bereich werde sich positiv weiterentwickeln, wenn der andere stabilisiert sei, ist wenig begründet. So erscheint es in hohem Maße ratsam, die strukturbezogene Psychotherapie, die sich auf die strukturelle Vulnerabilität richtet, zu ergänzen durch symptombezogene Therapiemaßnahmen, die sich mit dem süchtig verselbständigten bulimischen Verhalten befassen. Das gleiche Prinzip gilt für alle Formen des selbstschädigenden, z. B. selbstverletzenden Verhaltens, wie es bei einer überwiegend strukturellen Störung wie z. B. der Borderline-Störung vorliegt. Wichtige symptombezogene Maßnahmen in diesem Bereich sind die „Verträge“, die der Therapeut mit dem Patienten abschließt (z. B. Pakt gegen Selbstschädigung), um gemeinsam mit dem Patienten die Kontrolle über das entgleiste Verhalten zurückzugewinnen. 177 178 7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung 7.5 Borderline-Störung und Traumafolgestörung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist, wie schon wiederholt erwähnt, durch die Arbeiten von O. Kernberg so gut beschrieben, dass sie an dieser Stelle keines weiteren Kommentares bedarf. Einen Überblick über die wissenschaftlich begründeten Prinzipien in der Diagnostik und Therapie der Persönlichkeitsstörungen generell und hier speziell der Borderline-Persönlichkeitsstörung bieten Tress et al. 2002. Auf der Grundlage dieser Evidenz formulieren sie eine Leitlinie zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das Vorgehen der strukturbezogenen Psychotherapie mit seiner regressionsbegrenzenden strukturierenden Zielsetzung, seiner durch Aktivität und Akzeptanz bestimmten therapeutischen Haltung und seiner besonderen Aufmerksamkeit für maladaptive Beziehungsgestaltung und Selbstregulierung entspricht in allen wichtigen Punkten den Prinzipien dieser Leitlinie. Im Folgenden soll der häufig gegebene Zusammenhang zwischen Borderline-Entwicklung und Traumafolgen diskutiert werden. In der lebensgeschichtlichen Entwicklung von Patienten finden sich zuweilen schwerwiegende Defizite der frühen Versorgung, häufig aufgrund von psychischen Erkrankungen und sozialen Notlagen der Eltern (chronifizierte Depressionen, schwere Psychosen, Medikamentenabhängigkeit, Alkohol- und Drogensucht). Die Folge ist ein massiver Versorgungsmangel des Kindes, das von klein auf mit chaotischen Familienverhältnissen (intoxikierten, überforderten Eltern, fehlender Versorgung bezüglich Ernährung und Kleidung, emotionaler Unausgeglichenheit oder Bedrohlichkeit der Bezugspersonen) zurechtkommen muss. Die Auswirkungen dieser Unversorgtheit und Ungeschütztheit für die kindliche Entwicklung sind strukturell erheblich. Die Kinder überleben das Chaos manchmal dadurch, dass sie sich notfallmäßig an andere Angehörige, z. B. Großeltern wenden, die sie dann aber oft wieder zu früh verlieren. In ihrer Rolle als „Mutter meiner Mutter“ oder als „der einzig vernünftige nüchterne Mensch in unserer Familie“ werden sie parentifiziert, durch ihre wichtige Aufgabe stabilisiert, aber auch überfordert und ausgebeutet. Ihre strukturelle Störung ist in der Regel bestimmt durch: • das Fehlen von internalisierten verlässlichen Objekten • die fehlende Fähigkeit zur Selbstberuhigung • das Überflutetwerden von ängstigenden Eindrücken, die oft nur durch Dissoziation bewältigt werden können • ein fehlendes Identitätsgefühl • fehlende selbstreflexive Fähigkeiten speziell in der Differenzierung eigener Affekte Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches ungeschütztes, überfordertes Kind zum Opfer von aggressiven und sexuellen Übergriffen wird, ist groß. Das kleine Mädchen bindet sich an den alkoholkranken Vater, der in der Familie vergleichsweise noch der emotional Zugewandteste ist, aber unter Alkoholeinfluss vorübergehend gewalttätig oder sexuell übergriffig handelt. Die Jugendliche wendet sich, um aus der Familie herauszukommen, früh an einen Partner, der alsbald ähnliche gewalttätige Seiten wie der Vater erkennen lässt. Auch hier kommt es zu traumatisieren-