Schweiz Med Wochenschr 2000;130:457–70 Peer reviewed article A. J. Radziwilla, L. Kapposa, M. Battegayb, A. J. Stecka Übersicht Neurologische Komplikationen der HIV-Infektion a Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik; b Medizinische Universitätspoliklinik; Universitätskliniken, Kantonsspital Basel Aktuelle Übersicht: neue diagnostische, therapeutische und prognostische Aspekte Summary About one third of patients with HIV infection show neurological complications with considerable morbidity and high mortality. This is an actualised review of the most important neurological manifestations resulting from primary HIV infection, from secondary opportunistic infections, or as complications of antiretroviral therapy. The primary neurological manifestations, including HIV-associated dementia complex, myelopathies, peripheral neuropathies and myopathies, the more common opportunistic infections, primary central nervous system lymphoma and cerebrovascular diseases, are discussed in the light of new evidence in diagnosis, therapy and prognosis. Cognitive and psychiatric symptoms, visual changes, headache, seizures, dizziness, involuntary movements, gait disturbances, cranial neuropathies and focal deficits are the common neurological symptoms in HIV infection which are described under the aspect of differential diagnosis. It is important to bear in mind that nearly all information available to date on this subject concerns HIV patients in the period before combination therapies (including protease inhibitors).The introduction of highly active antiretroviral therapy (HAART) with protease inhibitors in 1995, and non-nucleoside reverse transcriptase inhibitors, have opened up new therapeutic modalities with a new emphasis on earlier detection and treatment of neurological complications. The prognosis of different HIVassociated neurological diseases has considerably improved, as recently shown in the case, for example, of progressive multifocal leucoencephalopathy. Keywords: HIV infection; neurological complications; diagnosis; differential diagnosis; therapy; prognosis; highly active antiretroviral therapy (HAART) Die HIV-Infektion führt in einem Drittel der Patienten zu neurologischen Komplikationen, die mit einer beachtlichen Morbidität und einer hohen Mortalität verbunden sind. Ziel dieser Arbeit ist eine aktuelle Übersicht über die wichtigsten neurologischen Manifestationen der HIV-Infektion, die als Folge einer primären Infektion, einer sekundären opportunistischen Infektion oder als Komplikation der antiretroviralen Therapie beobachtet werden können. Wir möchten vor allem die primär neurologischen Manifestationen der HIV-Infektion hervorheben: Die HIV-Enzephalopathie, die Myelopathien, die Neuropathien und die Myopathien. Es sollen aber auch die opportunistischen Infektionen, das primäre ZNS-Lymphom (PZNSL), die zerebrovaskulären Erkrankungen und neuere Daten bezüglich Diagnostik, Therapie und Prognose besprochen werden. Die wichtigsten neurologischen Sym- Neurological complications of HIV infection Zusammenfassung Korrespondenz: Dr. A. J. Radziwill Neurologische Universitätsklinik und Poliklinik Kantonsspital Petersgraben 4 CH-4031 Basel e-mail: [email protected] 457 Übersicht Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 ptome werden in ihrer differentialdiagnostischen Bedeutung diskutiert: mentale und psychische Veränderungen, Visusstörungen, Kopfschmerzen, Anfälle, Schwindel, unwillkürliche Bewegungen, Gangstörungen, Hirnnervenausfälle und fokale Defizite. Wichtig ist die Tatsache, dass die meisten Daten hinsichtlich Symptomatik noch aus der Zeit vor den Kombinationstherapien stammen: Die neuen Therapiemöglichkeiten vor allem in Form der 1995 eingeführten Proteinaseinhibitoren oder der non-nukleosidartigen Hemmer der reversen Transkriptase im Rahmen einer hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) eröffnen neue Behandlungswege, die einer Früherkennung und einer frühzeitigeren Behandlung neurologischer Komplikationen eine neue Bedeutung geben und die Prognose verschiedener neurologischer Krankheitsbilder, wie z.B. der progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie, nachhaltig verbessern. Keywords: HIV-Infektion; neurologische Komplikationen; Diagnose; Differentialdiagnose; Therapie; Prognose; hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) Aids war 1994 in den USA in der Altersgruppe der 25–44jährigen die zweithäufigste Todesursache bei Männern nach einem Trauma, die fünfthäufigste Todesursache bei Frauen [1]. Ungefähr 10–20% der HIV-Infizierten zeigen als erstes Symptom eine neurologische Krankheit, und etwa 30% der Aids-Kranken leiden an neurologischen Störungen [2]. Die Überlebenszeit nach der Diagnose von Aids war ohne potente antiretrovirale Therapie etwa 3 bis 5 Jahre, ist jedoch nach Einführung der hoch aktiven antiretroviralen Therapie deutlich länger [3]. Vor allem bei fortgeschrittener Immundefizienz sind Demenz, Myelopathien oder sensorische Neuropathien die häufigen neurologischen Störungen bei jungen Patienten. Die Inzidenz des HIV-assoziierten Demenz-Komplexes oder der HIV-Enzephalopathie beträgt zum Beispiel ähnlich wie bei der Multiplen Sklerose etwa 3% [3]. Im Gegensatz zu grossen Zentren wie in den USA, in Frankreich oder Grossbritannien werden die neurologischen Probleme von HIV-Kranken im deutschsprachigen Raum trotz deren häufigen Auftretens noch relativ selten von neurologischer Seite mitbetreut. Wünschenswert wäre daher eine multidisziplinäre Erfassung von neurologischen Komplikationen der HIV-Infektion zur Durchführung einer möglichst raschen und damit wahrscheinlich effizienteren Behandlung bei den heute verbesserten Therapiemöglichkeiten [4]. Im Dezember 1999 lebten weltweit etwa 33,6 Millionen Menschen mit einer HIV-Infektion und/oder Aids [5]. Etwa 95% dieser Infizierten und/oder Erkrankten fanden sich in den Entwicklungsländern. Man rechnet mit etwa 8–10 000 neuen HIV-Infektionen pro Tag weltweit. In Westeuropa rechnet man mit einer Prävalenz von 0,065% (80% Männer, 20% Frauen) mit etwa 480 000 HIV-Infektionen oder Aids-Fällen, wobei die heterosexuelle Übertragung mindestens so wichtig wie der Geschlechtskontakt zwischen Männern ist. Ungünstigere Prävalenzzahlen findet man in Zentralafrika und Südostasien mit 5,6% und einem über 50% grossen Anteil bei den Frauen, wo die Hauptübertragung im Geschlechtskontakt zwischen Frau und Mann besteht [5]. Einen explosiven Anstieg beobachtet man in Osteuropa, wo z.B. in der Ukraine 1994 noch 44 HIV-Infektionen und bereits 1995 1600 HIVInfektionen gemeldet wurden. In der Schweiz registrierte man seit 1983 bis Dezember 1999 6742 Aids-Fälle, wovon 4889 verstorben sind, seit 1985 verzeichnete man bis Ende 1999 24 270 HIV-Infektionen [6]. Ungefähr ein Drittel der Kinder von HIV-infizierten Frauen werden infiziert, von diesen entwickeln etwa 50% innerhalb von 3 Jahren Aids. 50% der infizierten Erwachsenen entwickeln Aids innerhalb von 8 bis 10 Jahren [2]. Einführung Epidemiologie Neurobiologie der HIV-Infektion Das HIV ist im Liquor, im Hirn und auch im Rückenmark nachweisbar. Ein Befall des Nervensystems findet bereits sehr früh im Verlauf der Infektion statt. So konnte anlässlich 458 einer Autopsie ein Befall des zerebralen Kortex mit HIV bereits 15 Tage nach einer nuklearmedizinischen Untersuchung mit fälschlicherweise HIV-infizierten weissen Blutkörperchen Übersicht Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Abbildung 1 CD4-Zahl und spezifische Infektionen. Abbildung 2 HIV-Stadium und klinische Präsentation. Tabelle 1 Differenzierung von AidsKomplikationen des Zentralnervensystems. Toxoplasmose Präsentation Bewusstsein Fieber fokaler Ausfall <2 Wochen vermind./no. + +++ Lymphom 2–8 Wochen vermind./no. 0 + PML Wochen–Monate no. 0 ++ Kryptokokkose <2 Wochen vermindert +++ 0 HIV-Demenz Wochen–Monate no. 0 0 CMV-Enzephalitis <2 Wochen vermind./no. + 0 nachgewiesen werden [7]. Nicht nur die CD4Lymphozyten, sondern unter anderem auch das Nervensystem sind Ziel der Infektion mit dem HIV (Neurotropismus). Der Befall des Nervensystems (Neuroinvasion) geschieht hauptsächlich über infizierte Monozyten oder Makrophagen, welche die neuronalen Strukturen direkt oder indirekt mit verschiedenen neurotoxischen Substanzen (virale Proteine, proinflammatorische Zytokine usw.) und hier vor allem die Mikroglia infizieren und schädigen können (Neurovirulenz). Zeichen einer aktiven ZNS-Infektion sind positive oligoklonale Banden und eine intrathekale Produktion von IgG. Zwei Jahre nach einer Serokonversion findet man im Liquor von asymptomatischen Patienten in einem Drittel eine Pleozytose, in der Hälfte positive Viruskulturen und in zwei Dritteln eine spezifische intrathekale IgG-Produktion [8]. Die verschiedenen Krankheitsbilder und spezifischen Infektionen hängen dabei von der CD4Zahl (Abb. 1) und von der Virusmenge ab [2]. Für bestimmte ZNS-Infektionen bestehen auch bestimmte Risikofaktoren: Z.B. entwickeln Schwarze und i.v.-Drogenkonsumenten vermehrt eine Kryptokokken-Meningitis [2]. Die klinische Symptomatik ist auch vom Stadium der HIV-Infektion abhängig (Abb. 2). Wichtig ist auch die Möglichkeit einer Koinzidenz von mehreren Krankheitsbildern, und klinische Präsentationen können sich überlappen (Tab. 1) [9]. 459 Übersicht Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Serokonversion und asymptomatische HIV-Infektion Die primäre HIV-Infektion kann unbemerkt oder mit einer milden, unspezifischen Symptomatik ablaufen. Man findet aber auch ein Mononukleose-ähnliches Bild mit einer Lymphadenopathie, Müdigkeit, Lethargie und einem Hautausschlag, das von neurologischen Symptomen begleitet sein kann [10]: Wahrscheinlich aufgrund eines postinfektiösen autoimmunen Mechanismus entweder im Sinne einer ungebremsten überschiessenden Immunantwort oder im Sinne einer «Bystander»-Schädigung neuronaler Strukturen auf dem «Kampffeld» HIV-Immunsystem kann eine Meningoenzephalitis auftreten. Sie äussert sich mit Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Anfällen, Hirnnervenausfällen und Persönlichkeitsveränderungen und weist meistens eine gute und prompte Erholung auf [11, 12]. Des weiteren können eine Myelopathie mit einer Paraparese [13], eine Radikulopathie mit Sphinkterstörungen [2], ein Guillain-BarréSyndrom [14] oder eine asymmetrische bilaterale Plexusneuritis [15], eine Ganglioneuritis mit progressiver sensorischer Ataxie [16], ein zerebelläres Syndrom [17] oder eine Rhabdomyolyse [18] auftreten. Erste messbare Parameter im Serum und im Liquor sind das p24Antigen und die HIV-1-RNS, eine HIV-Serokonversion findet zwischen 2 bis 6 Monaten statt, ein Zeitfenster bis 48 Monate ist möglich [19]. Die asymptomatische Periode bis zum Auftreten einer symptomatischen Aids-definierenden Krankheit kann zwischen 8 bis 10 Jahre andauern [20]. Ein Guillain-Barré-Sydrom ist klinisch von einem HIV-negativen GuillainBarré-Syndrom nicht zu unterscheiden, ausser durch die meist neben der Eiweisserhöhung vorhandene diskrete Pleozytose um etwa 20 Zellen im Liquor [21]. Auch eine chronische Meningitis kann ausser durch den Liquorbefund mit einer leichten Pleozytose von Spannungskopfschmerzen kaum abgegrenzt werden. Wiederholt wird in der Literatur diskutiert, ob im asymptomatischen Stadium eine erhöhte Prävalenz neuropsychologischer Defizite besteht. Eine Metaanalyse von 40 Studien konnte diese Vermutung nicht belegen [22]. Eine kognitive Verschlechterung gehört nicht zur asymptomatischen Phase. Erst bei einer CD4Zahl unter 200 sind kognitive Veränderungen mit einem um 3,45fach erhöhten Risiko zu erwarten (Aids-definierendes Stadium bei CD4 <200) [23]. Auch der Neurostatus ist im asymptomatischen Stadium normal. Die evozierten Potentiale sind weitgehend normal mit eventueller Ausnahme bei der Erfassung einer subklinischen Myelopathie [24]. Auch das EEG ist im asymptomatischen Stadium unauffällig [25]. Neuroradiologische Untersuchungen wie das MRI oder die MR-Spektroskopie zeigen keine signifikanten Veränderungen [26]. Neurologische Symptomatik der HIV-Infektion Die neurologische Symptomatik der HIV-Infektion ist sehr vielseitig und kann manche Krankheiten imitieren [27]. Neben kognitiven und psychiatrischen Veränderungen finden sich Visusstörungen, Kopfschmerzen, Anfälle, Schwindel, unwillkürliche Bewegungen, Gangstörungen, Hirnnervenausfälle und fokale Defizite (Tab. 2). Primäre neurologische Komplikationen der HIV-Infektion Hierzu zählen der HIV-assoziierte Demenzkomplex oder kurz die HIV-Enzephalopathie, die Myelopathien, die Neuropathien und die Myopathie. HIV-Enzephalopathie Der HIV-assoziierte Demenzkomplex oder die HIV-Enzephalopathie tritt vorwiegend im Spätstadium der HIV-Infektion auf. Eine japanische Untersuchung fand kürzlich für die HIV-Demenz eine Prävalenz von etwa 12%, 460 womit die Häufigkeit aufgrund der antiretroviralen Therapie gegenüber früher deutlich zurückgegangen ist [43]. In bis zu 3% ist sie die erste Manifestation der Aids-Krankheit. Die Klinik ist charakterisiert durch eine subkortikale Demenz mit Störungen des Verhaltens, der Kognition und der Motorik mit den Kardinalsymptomen Depression, Gedächtnisverlust, mentale Verlangsamung und Gangunsicherheit [44]. Im Spätstadium der Demenz bestehen eine starke psychomotorische Verlangsamung, globale kognitive Defizite, eine fehlende Krankheitseinsicht und mutistische Zustände. Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Tabelle 2 Neurologische Differentialdiagnose der HIV-Infektion. Übersicht kognitive Veränderungen CD4-Zahl >200 Medikamentennebenwirkungen: (Foscarnet, Amphotericin B, trizyklische Antidepressiva, Opiate, Nukleosidanaloga), Wernicke-Enzephalopathie, Tbc-Meningitis, Neurosyphilis, Subarachnoidalblutung, HIV-assoziierte Demenz CD4-Zahl <200 opportunistische Infekte: CMV-Enzephalitis, Kryptokokkus-Meningitis, primäres ZNS-Lymphom, zerebrale Toxoplasmose, HIV-assoziierte Demenz Abbruch der antiviralen Therapie, akute Enzephalopathie [28] psychiatrische Veränderungen Diagnose der Serokonversion oder von Aids: Angststörungen, Anpassungsreaktionen, Depression usw. neu aufgetretene Manie: mögliches Zeichen einer HIV-assoziierten Demenz beachte: «Risikogruppen» haben erhöhte Lebensprävalenz für Angststörungen (38%), Depression (30%), Alkohol- oder Nicht-Opiat-Abusus (38%) [29] Visusstörungen [30] Gesichtsfeldausfälle fokale zerebrale Läsionen bei PML, Toxoplasmose, Lymphom, Ischämie Augenmuskelparesen Kryptokokkus-Meningitis, Meningeosis lymphomatosa, Tbc-Meningitis, CMV-Ventrikuloenzephalopathie Optikusneuropathie Neurosyphilis, lymphomatöse Infiltration Retinopathie CMV-Retinitis, Toxoplasmose, Histoplasmose Kopfschmerzen [31] in 55% präsentierendes Symptom von Aids CD4 >500 Spannungskopfschmerzen, Migräne, chronische Meningitis (Pleozytose im Liquor mit >20 Lc/mm3), Sinusitis «HIV-Kopfschmerz» Indikator für systemische Infektion? CD4 <500 Kryptokokkus-Meningitis (häufigste Kopfschmerzursache), Toxoplasmose (in 60%), Lymphom (in 40%) [32–34] Medikamente Migräne durch AZT epileptische Anfälle [35, 36] fokale Ursache 20% der Aids-Patienten, 50% ohne Ursache (Rolle des HIV?) Toxoplasmose (häufigste Ursache in 23%), Lymphom, Abszess, PML opportunistischer Infekt, systemische Erkrankung, Medikamenten- oder Alkoholabusus Meningitis, Enzephalitis: Herpes simplex, Herpes zoster, CMV, JC-Virus metabolische Störung zerebrovaskulärer Insult Interaktion Antiepileptika und antiretrovirale Therapie (s. [37]) unwillkürliche Bewegungen [38, 39] Prädilektion der HIV-Infektion für Basalganglien und Hirnstamm: Hemydystonie, Hemichorea, Hemiballismus, Akathisie, Tremor oder Verstärkung eines essentiellen Tremors, Myoklonus Toxoplasmoseabszesse, Lymphom, PML, Zostervaskulitis systemische Infektion Medikamente Foscarnet, Neuroleptika, Pyrimethamin Gangstörung intrakranielle Massenläsion, HIV-Enzephalopathie, Myelopathie, CMV-Radikulitis, Myopathie, sensorische Neuropathie Schwindel [40, 41] orthostatische Hypotension, Anämie, Infektion mit Mycobacterium-avium-Komplex, HIV-assoziiert (?), Nebenniereninsuffizienz bei CMV-Adrenalitis, Herzinsuffizienz bei HIV-induzierter Kardiomyopathie, autonome Neuropathie, Medikamente (Foscarnet, trizyklische Antidepressiva, Amphotericin B) Hirnnervenausfälle [42] VII >N. VI >N. III >N. XII >N.V Meningitis, Massenläsion, Vaskulitis, Otitis externa maligna, lokale Entzündung in 15% keine Ursache (Rolle des HIV?) fokale Ausfälle opportunistischer Infekt, Tumor, zerebrovaskuläres Geschehen 461 Übersicht Zusätzlich finden sich als Ausdruck einer Enzephalopathie eine Hyperreflexie, Enthemmungszeichen, Anfälle, Myoklonus, Ataxie, Sphinkterstörungen und Halluzinationen in Kombination mit einer Myelopathie und einer sensorischen Neuropathie (daher der Begriff Demenzkomplex). Aphasie, Apraxie oder andere fokale Defizite sind nicht typisch und sollten den Verdacht auf andere Differentialdiagnosen lenken. Wenn die Demenz in einem frühen Stadium der HIV-Infektion auftritt, ist der Verlauf häufig langsamer und weniger ausgeprägt. Die Diagnose beruht auf dem Ausschluss anderer Ursachen einer Demenz im Rahmen der HIV-Infektion: KryptokokkenMeningitis, progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), CMV-Enzephalitis, tuberkulöse Meningitis, Neurosyphilis, zerebrale Toxoplasmose oder ZNS-Lymphom. Es müssen daher eine Bildgebung der Gehirns (vorzugsweise ein MRI), entsprechende Laboruntersuchungen und eine Lumbalpunktion durchgeführt werden. Der Liquor kann eine leichte Pleozytose, eine Proteinerhöhung oder oligoklonale Banden aufweisen. Neuere Arbeiten weisen auf eine Korrelation zwischen dem «viral load» (HIV-RNA) im Liquor und dem Schweregrad der Demenz hin [45]. Während die Frühphase der Bildgebung unauffällig ist, findet man in der Spätphase unspezifische Zeichen der zentralen und kortikalen Atrophie mit Veränderungen der weissen Substanz unter Aussparung der subkortikalen Fasern im Gegensatz zur progressiven multifokalen Leukenzephalopathie [46]. Das EEG zeigt eine unspezifische Verlangsamung des Grundrhythmus [47]. Neuropsychologische Untersuchungen sind hilfreich für die Diagnose und Abgrenzung gegenüber einer allfälligen somatoformen Störung. Die HIV-Enzephalopathie gilt als Aids-definierende Krankheit, und es sollte eine potente antiretrovirale Therapie mit einer Dreierkombination eingeleitet werden [48]. Eine Wirksamkeit wurde bisher nur für hohe Dosen von AZT beschrieben, welche jedoch häufig nur transient ist, und zudem besteht das Problem der Resistenzentwicklung [49]. Die anderen nukleosidartigen Hemmer der reversen Transkriptase (ddI, ddC, 3TC, d4T usw.) sind bisher nicht systematisch bezüglich ihres Einflusses auf die Demenz geprüft worden. Auch die Wirksamkeit der anderen Therapiemodalitäten (non-nukleosidartige Hemmer der reversen Transkriptase, Proteinaseinhibitoren) wurde bisher noch wenig untersucht. Eine effiziente Reduktion der Virusmenge im Liquor ist unter einer AZT-Monotherapie, einer 3TCAZT-, einer 3TC-D4T-Kombination und unter 462 Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 anderen nukleosidhaltigen Kombinationstherapien beschrieben worden, so dass indirekt ein Einfluss auf die HIV-Enzephalopathie bestehen könnte [50]. Von den non-nukleosidartigen Hemmern der reversen Transkriptase scheint Nevirapin und von den Proteinasehemmern Indinavir die besten Konzentrationen im Liquor zu erzielen [50]. Die Prognose des fortgeschrittenen Stadiums war mit einer mittleren Überlebenszeit von etwa 6 Monaten vor der HAART-Ära sehr ungünstig. Kürzlich beschrieben Filippi et al. jedoch eine Regression der HIV-Enzephalopathie unter dem Einsatz von Proteinaseinhibitoren im Rahmen einer HAART [51]. Ebenfalls weist die drastische Reduktion der Inzidenz der HIV-Enzephalopathie unter Therapie auf deren Wirksamkeit hin. HIV-assoziierte Myelopathie Myelopathien können als direkte Folge einer primären HIV-Infektion in Form einer vakuolären Myelopathie oder einer transversen Myelitis im Rahmen einer Serokonversionsreaktion, aber auch als Folge eines opportunistischen Infekts, einer Neurosyphilis oder eines Lymphoms auftreten [52]. Die vakuoläre Myelopathie tritt normalerweise im Spätstadium in bis zu 4% der Aids-Erkrankungen auf, während autoptisch in etwa 20% Zeichen einer Myelopathie gefunden werden [43, 53]. Auch hier liegt ein deutlicher Rückgang der Prävalenzzahlen gegenüber früher vor. Man findet vor allem eine progressive Gangstörung, Paresen der unteren Extremitäten, Gleichgewichtsstörungen und Sphinkterstörungen. Die neurologische Untersuchung zeigt eine spastische Paraparese, eine sensorische Ataxie mit vermindertem Lagesinn bei erhaltener Oberflächensensibilität und eine Hyperreflexie vor allem der unteren Extremitäten. Ein sensibles Niveau ist unüblich. Die Diagnose beruht auf dem Ausschluss opportunistischer Infektionen (CMV, Herpes zoster, Herpes simplex, Toxoplasmose, Kryptokokkose, PML, HTLV-1, Tuberkulose), eines Vitamin-B12-Mangels, einer kompressiven Myelopathie oder eines Lymphoms. Ist vor allem in der Frühphase eine Myelonaffektion nicht klinisch zu sichern (z.B. bei gleichzeitig bestehender Neuropathie oder Myopathie), können die evozierten Potentiale (motorisch und somato-sensorisch) hilfreich sein [54]. Eine spezifische Behandlung besteht nicht, die antiretrovirale Therapie übt wenig Einfluss auf den Verlauf aus, ein eventueller Vitamin-B12-Mangel sollte substituiert und der Einsatz von Antispastika erwogen werden. Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Übersicht Neuropathien Je nach Krankheitsstadium können verschiedenartige Neuropathien beobachtet werden [55]: Bei der Serokonversion treten vor allem eine inflammatorisch demyelinisierende Polyneuropathie in Form eines Guillain-BarréSyndroms oder einer chronisch inflammatorisch demyelinisierenden Polyneuropathie oder eine sensorische ataktische Neuropathie (sog. Ganglioneuronopathie) auf. In jedem Krankheitsstadium beobachtet man auch isolierte Nervenläsionen oder iatrogene, d.h. meist medikamentös bedingte Neuropathien. Erst im Rahmen einer definitiven Aids-Erkrankung manifestieren sich die klassische distale, sensomotorische Neuropathie, eine Mononeuritis multiplex, eine autonome Neuropathie, eine lumbale CMV-Polyradikulopathie oder eine lymphomatöse Neuropathie. Bis zu 30% der Aids-Patienten entwickeln eine Neuropathie, welche häufig mit schweren systemischen opportunistischen Infekten und einer schweren Immunsuppression einhergeht [56]. Bei der häufig vorkommenden distalen sensomotorischen Neuropathie können neben Parästhesien, Dysästhesien, einer Berührungsüberempfindlichkeit vor allem in den Füssen und verminderten oder fehlenden distalen Muskeleigenreflexen auch in einem Drittel der Fälle einschiessende, teilweise funktionell stark einschränkende Schmerzen vorhanden sein. In einem Drittel findet man auch distale Muskelparesen. Die oberen Extremitäten bleiben normalerweise verschont. Bei längerem Verlauf kann das Krankheitsbild unter Hinterlassen einer Resttaubheit und einer Berührungsüberempfindlichkeit ausbrennen (burn out). Die propriozeptive und thermale Sensibilität ist gewöhnlich nicht betroffen [57]. Differentialdiagnostisch müssen neben häufigen Ursachen einer Polyneuropathie, wie z.B. Diabetes oder Alkoholkrankheit, auch ein Vitamin-B12-Mangel oder ein Pyridoxinexzess gesucht werden. Neurotoxische Medikamente wie Isoniazid, Vincristin oder die meisten Hemmer der reversen Transkriptase (ddI, ddC, d4T) können ebenfalls ursächlich beteiligt sein, wobei dort typischerweise auch die oberen Extremitäten betroffen sind. Die CMV-Polyradikulitis verursacht vor allem Sensibilitätsstörungen auf Höhe der Oberschenkel mit einer Reithosensymptomatik. Die elektroneuromyographische Untersuchung hilft bei der Differenzierung der verschiedenen Polyneuropathieformen weiter, im Liquor zeigt sich eine leichte Proteinerhöhung mit eventuell diskreter Pleozytose von 5 bis 10 Zellen. Bei Vorhandensein von poly- morphkernigen Leukozyten muss eine CMVPolyradikulitis in Betracht gezogen werden. Bei milder Symptomatik hilft das Vermeiden von engem Schuhwerk und von langem Stehen, periodische Eiswasserbäder, lokale Applikation von Capsaicin-Salbe oder von LidocainCreme, die Anwendung von transkutaner elektrischer Nervenstimulation (TENS) oder die systemische Gabe von NSAR, z.B. Ibuprofen 600–800 mg 3mal pro Tag. Bei stärkerer Symptomatik muss der Einsatz von trizyklischen Antidepressiva erwogen werden, z.B. Amitriptylin in niedriger Dosierung einschleichend (10–25 mg) und dann langsam steigernd bis 100–150 mg pro Tag. Bei Versagen eines Antidepressivums sollte man ein anderes versuchen. Andere Möglichkeiten sind lokale Anästhetika wie Mexiletin, Antiepileptika wie Carbamazepin, Phenytoin oder Lamotrigin und schliesslich auch Spasmolytika wie z.B. Baclofen. Bei schwerster Symptomatik kommen narkotische Analgetika in Frage, wobei bei richtiger Indikation das Problem der Abhängigkeit zu vernachlässigen ist. Wichtige Regeln sind das regelmässige Dosieren, eine Kombination mit Antidepressiva, das Voraussehen einer Toleranz und das Festlegen von klaren Richtlinien für die Patienten. Hier empfiehlt sich z.B. der Einsatz von Methadon 3–4mal 20 mg pro Tag oder Fentanyl TTS 25–100 µg jeden zweiten Tag [58]. Bei der neurotoxischen Neuropathie treten die Beschwerden erst nach mehreren Wochen unter hochdosierter Therapie mit den nukleosidartigen Hemmern der reversen Transkriptase auf (ddI >750 mg/d; ddC >2,25 mg/d). Der Beginn der Beschwerden ist häufig akuter und explosiver als bei der HIV-assoziierten Neuropathie, und es kommt auch zu einer Beteiligung der oberen Extremitäten. Nach Therapiestop können die Symptome noch während 3 bis 6 Wochen eskalieren [59]. Die Mononeuritis multiplex besteht in einer typischerweise fleckförmigen, asymmetrischen sensorischen und/oder motorischen Neuropathie eines oder mehrerer peripherer Nerven [21]. Auch die Hirnnerven können befallen sein, wo sich z.B. auch eine Heiserkeit bei laryngealer Neuropathie findet. Im frühen Verlauf der HIV-Infektion ist der Verlauf gutartig mit guter Remissionstendenz, bei fortgeschrittener HIV-Infektion mit CD4-Zellen unter 50 können Krankheitsbilder auftreten, die dem Guillain-Barré-Syndrom oder einer progressiven CMV-Polyradikulopathie gleichen. Histologisch findet sich das Bild einer Vaskulitis, als deren Ätiologie eine Infektion der Endothelzellen, Hepatitis-B- oder HIV-induzierte Im463 Übersicht munkomplexe oder eine Dysregulation der Zytokine und der Adhäsionsmoleküle diskutiert werden [60, 61]. Diagnostisch sollte daher wegen den therapeutischen Konsequenzen eine Nervenbiopsie in Betracht gezogen werden. Die Therapie besteht in der Verabreichung von Steroiden oder Immunoglobulinen, eventuell muss auch eine empirische Therapie gegen eine CMV-Infektion mit Ganciclovir erwogen werden [61]. Differentialdiagnostisch kommt auch eine Kompressionsneuropathie bei Bettlägrigkeit, Kachexie, eine Lymphominfiltration oder ein Kaposi-Sarkom in Frage. Die CMV-Radikulitis, eine progressive Polyradikulopathie, erscheint vor allem im Spätverlauf einer HIV-Infektion mit CD4-Zahlen unter 100. Damit verbunden sind häufig eine Retinitis, eine Pneumonie und eine Gastroenteritis. Neben einer schlaffen Paraparese der unteren Extremitäten mit sakralen oder ischiasartigen Schmerzen kommt auch ein Befall der Hirnnerven vor. Selten findet man ein thorakales Niveau. Sphinkterstörungen werden in 2 /3 der Fälle berichtet. Klinisch ist eine Überlappung mit einer Mononeuritis multiplex möglich, des weiteren müssen auch ein Caudaequina-Syndrom wegen Lymphominfiltration, eine Neurosyphilis und andere infektiöse Ursachen ausgeschlossen werden. Unbehandelt zeigt diese Krankheit einen fatalen Verlauf mit sehr hoher Mortalität. Typischerweise ergibt die Liquoruntersuchung eine polymorphkernige Pleozytose mit bis zu 2000 Zellen, eine Proteinerhöhung und eine tiefe Glukose. CMVKulturen sind im Liquor in 50% negativ, während die PCR mit über 80% eine hohe Sensitivität aufweist. Die Behandlung besteht in der Verabreichung von Ganciclovir oder Foscarnet, eine Stabilisierung oder Verbesserung ist nach etwa 3 Wochen Behandlung zu erwarten [62]. Kompressionsneuropathien bei Bettlägrigkeit werden vor allem in Form einer Ulnarisneuropathie am Sulcus ulnaris, einer Peronaeusneuropathie, einer Meralgia paraesthetica oder eines Tarsaltunnelsyndroms beobachtet. Hier helfen vor allem entsprechende Schienung und Polsterung. 464 Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Myopathien Hierzu zählen die HIV-assoziierte Polymyositis, die toxische Myopathie bei AZT-Behandlung, die Pyomyositis, die Kardiomyopathie und das Wasting-Syndrom bei fortgeschrittener Aids-Krankheit. Die HIV-assoziierte Polymyositis ist eine immunologisch vermittelte Störung, die vor allem in der asymptomatischen Phase mit polyklonaler Hypergammaglobulinopathie auftritt [63]. Man findet akute proximale Paresen, eine Erhöhung der Kreatininkinase bis zu 10mal über den Normwert, eine Myalgie, welche jedoch weniger ausgeprägt ist als bei der toxischen Myopathie. Elektrophysiologische Untersuchungen und die histologische Untersuchung stützen die Diagnose. Steroide führen zu einer Verbesserung der Myalgie und der Kreatininkinase-Werte [64]. Andere Therapieverfahren sind die Plasmapherese und die Immunoglobuline [65]. Die AZT-assoziierte toxische Myopathie entsteht nach langdauernder hochdosierter AZTTherapie mit Dosen um 1000 bis 1500 mg pro Tag. In etwa 30% der AZT-Dauertherapien sieht man diese schmerzhaften proximalen Myopathien, welche mit einer CK-Erhöhung, einem Gewichtsverlust und einem erhöhten Serumlaktat einhergehen können. Das Absetzen der Medikamente führt zu schneller Reduktion der Myalgie innert einer Woche, die CK-Werte normalisieren sich innerhalb von 4 Wochen und die Paresen verbessern sich innert 8 bis 10 Wochen [66]. Zu einer Pyomyositits kommt es durch lokalen Befall mit gram-negativen Bakterien oder Staphylokokken bei intravenösem Drogenkonsum. Typischerweise liegt ein lokaler Schmerz mit lokaler Schwellung und Fieber vor. Differentialdiagnostisch muss jedoch auch eine Toxoplasmose des Skelettmuskels erwogen werden [67]. Eine kongestive Kardiomyopathie kann bei fortgeschrittenem Aids-Leiden zum Herzversagen führen. Neben einer direkt HIV-assoziierten Myokarditis muss auch eine toxische Genese bei langzeitiger ZidovudinBehandlung in Betracht gezogen werden [68]. Schliesslich sei noch das Wasting-Syndrom erwähnt, welches möglicherweise mit einer Myopathie zusammenhängt [69]. Die Muskelkraft bleibt proportional zur Muskelmasse erhalten, die Kreatininkinase ist normal. Ursächlich wird eine vermehrte Produktion von «tumor necrosis factor» (TNF) diskutiert. Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Übersicht Fokale ZNS-Manifestationen der HIV-Infektion Die häufigste fokale zerebrale Läsion des HIVPatienten ist die Toxoplasmose, gefolgt vom primären zerebralen Lymphom und der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie [1]. Die klinische Unterscheidung ist oft schwierig, sie kann aufgrund des zeitlichen Verlaufs, der Bewusstseinslage, des Vorhandenseins von Fieber und der Ausprägung der fokalen Ausfälle vorgenommen werden (Tab. 1). therapie die stereotaktische Hirnbiopsie in Erwägung gezogen werden. Die Behandlung ist Pyrimethamin und Sulfadiazin zusammen mit Folsäure während 6 Wochen [73]. Die Prognose vor der HAART-Ära war ungünstig mit einer Überlebenszeit von etwa 120 bis 260 Tagen, neuere Arbeiten berichten über eine längere Überlebenszeit unter adäquater Toxoplasmosetherapie und HAART und stellen die Sekundärprophylaxe im Fall einer Wiederherstellung der Immunlage in Frage [74]. Toxoplasmose Die Toxoplasmose ist die häufigste Ursache einer fokalen neurologischen Läsion bei der HIV-Infektion. Sie macht je nach geographischer Lage bis zu 40% der neurologischen Komplikationen bei der Aids-Krankheit aus [70]. Der Erreger ist eine intrazelluläre Protozoe, Toxoplasma gondii. Ungefähr 95% der Fälle werden durch eine Reaktivierung einer latenten Infektion bei Verlust der zellulären Immunkompetenz ausgelöst (normalerweise bei einer CD4-Zellzahl <100). Es handelt sich typischerweise um eine fokale Störung bei einer globalen Enzephalopathie mit Kopfschmerzen, mentaler Veränderung oder Verwirrtheitszuständen, wobei das enzephalitische Bild teilweise überwiegen kann. Am häufigsten sieht man eine Hemisymptomatik, einen Hirnnervenbefall, Gesichtsfeldausfälle, eine Aphasie oder fokale Anfälle. Es kann auch ein Hirnstamm- oder Kleinhirnbefall vorliegen. Eine Chorea ist beinahe pathognomonisch für eine Toxoplasmose bei Aids-Patienten. Komplizierend kann ein Panhypopituitarismus oder ein Syndrom der inadäquaten Sekretion des antidiuretischen Hormons (ADH) auftreten. Schliesslich werden auch eine Myelitis, ein Konus-Syndrom oder ein erworbener Hydrozephalus beobachtet [71]. Die Diagnostik stützt sich auf die zerebrale Bildgebung mit einzelnen oder multiplen, teilweise ringförmig Kontrastmittel anreichernden Läsionen, welche schwierig von einem ZNS-Lymphom abgrenzbar sind. Der Liquor zeigt eine unspezifische Pleozytose, eine Proteinerhöhung, positive Kulturen in weniger als 40%, Antikörper gegen Toxoplasma gondii mit einer Sensitivität und Spezifität von 63 bzw. 68% und eine positive PCR-Analyse mit einer Sensitivität und Spezifität von 50–60% bzw. 97–100% [72]. Bei fehlenden IgG-Antikörpern im Serum ist die Diagnose einer zerebralen Toxoplasmose unwahrscheinlich. Schliesslich muss bei fehlendem Ansprechen auf eine zweiwöchige Probe- Primäres ZNS-Lymphom Das primäre ZNS-Lymphom ist ein NonHodgkin-Lymphom, das in 2% aller Aids-Fälle auftritt und in autoptischen Studien in bis zu 10% vorkommt. In 0,6% kann es die Erstmanifestation der Aids-Krankheit sein [31]. Es manifestiert sich innerhalb von Wochen und kann sowohl zerebrale oder intradurale fokale als auch diffuse meningeale oder periventrikuläre Läsionen aufweisen. Die Klinik besteht aus Verwirrtheitszuständen, Gedächtnisverlust, Kopfschmerzen, fokalen Defiziten, Anfällen, Hirnnervenausfällen, und es kann eine Augenbeteiligung vorhanden sein [75]. Sehr häufig besteht eine assoziierte EBV-Infektion, welche mit einer Sensitivität und einer Spezifität von 50 bis 100% bzw. 94 bis 100% auf das primäre ZNS-Lymphom hinweist [72]. Die Liquoranalyse zeigt maligne Zellen in bis zu 30% der Fälle. Bildgebende Verfahren zeigen solitäre oder multiple, Kontrastmittel aufnehmende Läsionen mit Masseneffekt, die schlecht abgegrenzt sind und die differentialdiagnostisch von der Toxoplasmose unterschieden werden sollten. Eine Prädilektion besteht für die Basalganglien, den Thalamus, das Corpus callosum, die periventrikuläre Region und den Kleinhirnwurm, es kann jedoch überall im Zentralnervensystem auftreten. Die Rolle des Thallium-SPECT und der Hirnbiopsie mit ihrer relativ hohen Morbidität und Mortalität für die Diagnosestellung ist noch nicht definiert. Therapie der Wahl ist eine Ganzhirnbestrahlung dieses sehr strahlenempfindlichen Tumors über 2 bis 4 Wochen. Die Prognose galt vor der HAART-Ära als sehr schlecht mit einer Überlebenszeit von einem Monat in unbehandelten und von 4 bis 6 Monaten in behandelten Fällen [76]. McGowan und Shah haben jedoch kürzlich über eine verbesserte Prognose mit einer Langzeitremission unter adäquater Lymphomtherapie und HAART berichtet [77]. 465 Übersicht Progressive multifokale Leukenzephalopathie Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine opportunistische Infektion der Oligodendrozyten, die zu einer ZNSDemyelinisierung führt. Verursacht wird sie durch die Reaktivation des latent vorkommenden JC-Virus (Initialen des erstbeschriebenen Patienten), eines doppelsträngigen DNA-Virus aus der Papovavirengruppe. Die primäre Infektion findet in der Kindheit statt. Ungefähr 85% der Bevölkerung entwickeln im Alter von 9 Jahren Antikörper gegen das JC-Virus. Die PML tritt normalerweise bei CD4-Zahlen unter 100 auf. Ungefähr 4 bis 7% der HIVInfizierten entwickeln eine PML während der Aids-Krankheit [78]. Die Klinik wird dominiert durch unspezifische oder fokal neurologische Defizite. Es finden sich eine progressive Demenz, eine Hemisymptomatik, Dysarthrie, Koordinationsstörungen und Anfälle. Ein Befall der hinteren Schädelgrube liegt in einem Drittel der Fälle vor. Die Bildgebung enthüllt solitäre oder multiple fleckförmige, meistens nicht Kontrastmittel aufnehmende Läsionen an der Grenze von weisser und grauer Hirn- Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 substanz, vor allem parieto-okzipital. Der Liquor zeigt unspezifische Befunde mit einer leichten Pleozytose (<10 Zellen), einer leichten Proteinerhöhung oder oligoklonalen Banden. Das JC-Virus ist im Liquor nicht kultivierbar, intrathekale Antikörper sind nicht bekannt. Die PCR-Analyse für das JC-Virus im Liquor weist eine Sensitivität von mehr als 65% mit falsch negativen Resultaten in 20–30% auf. Die Spezifität der PCR-Analyse im Liquor ist allerdings 92–100% [72]. Die Sensitivität wird durch wiederholte Liquorpunktionen erhöht. Diagnosesichernd bleibt letztlich die Hirnbiopsie. Eine konventionelle Therapie existiert nicht. Studien sprechen für eine Wirksamkeit von intravenös und intrathekal verabreichtem Cytarabin [79] oder von Cidofovir [80], das bei der Behandlung der CMV-Retinitis anerkannt ist. Die bisher einzige kontrollierte Studie von Hall et al. sprach gegen die Wirksamkeit von Cytarabin [81]. Die mittlere Überlebenszeit betrug vor der HAART-Ära ungefähr 4 Monate. Clifford et al. berichteten jedoch kürzlich von einer wesentlich verbesserten Prognose unter HAART mit einer mittleren Überlebenszeit von mehr als 46 Wochen [82]. Meningitiden bei einer HIV-Infektion Aseptische Meningitis Eine aseptische Meningitis tritt in 5–10% der HIV-Patienten auf. Sie ist vor allem die Manifestation einer Serokonversion, wo sie in 30 bis 40% der Fälle im Zusammenhang mit einem Mononukleose-ähnlichen Bild beobachtet werden kann. Der Liquor zeigt eine mässige Pleozytose mit 20–80 Zellen/mm3 und eine leichte Proteinerhöhung [83]. Die Prognose ist gut, selten kann eine chronische Form mit einer persistierenden Pleozytose vorliegen. Kryptokokken-Meningitis Der Erreger dieser Krankheit ist Cryptococcus neoformans, ein nicht-kontagiöser, opportunistischer Pilz, der zu einer Lungeninfektion führen kann. Gelegentlich verursacht eine hämatogene Dissemination einen Befall der Meningen bei immunsupprimierten Individuen. 1,6% der Aids-Kranken entwickelten 1997 in der schweizerischen Kohortenstudie eine Kryptokokken-Meningitis bei einer durchschnittlichen CD4-Zellzahl unter 200 [84]. In 25% kann sie die Erstmanifestation von Aids 466 sein. Neben den Zeichen einer Meningitis finden sich eine kognitive Verschlechterung über Wochen oder Monate, ein Hirnnervenbefall mit Bevorzugung des II. und VIII. Hirnnerven mit Blindheit und Taubheit. Ein erhöhter intrakranieller Druck mit einem Papillenödem entsteht durch ein Hirnödem oder einen kommunizierenden Hydrozephalus. Die Diagnose wird durch den Nachweis des Pilzes im Liquor gestellt. Bildgebende Verfahren können normal sein oder ein Enhancement der Meningen oder eine Hirnatrophie zeigen. Gelegentlich zeigt sich ein Kontrastmittel aufnehmendes Kryptokokkom. Der Liquor weist in mehr als 50% einen erhöhten Eröffnungsdruck auf. Typisch sind eine Pleozytose, ein normales Protein und eine erniedrigte Glukose. Die Kulturen im Liquor sind in 95% positiv. Die AntigenBestimmung ist im Liquor in 91% und im Serum gar in 99% positiv [85]. Die Therapie besteht in einer intravenösen Behandlung mit Amphotericin B und Flucytosin während 6 bis 8 Wochen [86]. Eine sekundäre Langzeitprophylaxe mit Fluconazol muss wegen des hohen Rezidivrisikos durchgeführt werden. Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 Übersicht CMV-Meningoenzephalitis Das Zytomegalie-Virus (CMV) ist ein DNAVirus der Herpesvirengruppe. Die primäre Infektion erfolgt entweder perinatal oder während der 2. bis 4. Lebensdekade. 80% der Bevölkerung haben nach dem 40. Altersjahr Antikörper gegen das CMV [87]. Bei immunsupprimierten Patienten kommt es zur Reaktivation mit der Entwicklung einer Meningoenzephalitis oder einer Radikulomyelitis. Es kommt zum Bild einer diffusen oder fokalen Symptomatik mit einer subakuten Enzephalopathie mit Verwirrtheitszuständen und Apathie. Im Vergleich zur HIV-Demenz ist der Verlauf schneller. Es finden sich Hirnnervenausfälle und Anfälle, in 10% liegt eine Ventrikulitis mit einer kranialen Neuropathie, Nystagmus und progressiver Ventrikelerweiterung vor. Selten kommt es zum Hypopituitarismus. Eine Hirnstammenzephalitis kann sich mit einer internukleären Ophthalmoplegie, Tetraparese, Ataxie und Abduzensparese manifestieren. Eine Vaskulitis kann zur zerebralen Ischämie, zu Subarachnoidalblutungen und zur intrazerebralen Hämorrhagie führen [70]. Eine periphere multifokale Neuropathie oder eine Polyradikulomyelitis kann zusätzlich mit der CMV-Enzephalitis assoziiert sein [62, 88]. Bildgebende Verfahren können ein meningeales oder ventrikuläres Enhancement zeigen. Der Liquor zeigt eine leichte Pleozytose, eine diskrete Proteinerhöhung und eine verminderte Glukose. Die Kulturen für CMV im Liquor sind häufig negativ, man kann jedoch eine intrathekale Produktion von Antikörpern nachweisen; die PCR-Analyse im Liquor zeigt eine Sensitivität und Spezifität von mehr als 80% [72]. Die Therapie ist Ganciclovir oder Foscarnet, eine lebenslange Erhaltungstherapie ist wichtig für die Rezidiv-Prävention [89]. Tuberkulöse Meningitis Ungefähr 10% der Aids-Kranken sind auch mit Tuberkelbakterien infiziert [90]. Alle asymptomatischen HIV-Infizierten mit einem reaktiven Tuberkulin-Test sollten eine Prophylaxe mit Isoniazid erhalten, da die Tuberkulose hauptsächlich durch eine Reaktivation einer latenten Infektion mit Mykobakterien entsteht. Der Beginn der tuberkulösen Meningitis ist subakut innerhalb von wenigen Wochen. Die häufigsten Symptome sind Kopfschmerzen, mentale Veränderungen, Fieber, fokale Ausfälle, Hirnnervenausfälle, im fortgeschrittenen Stadium Koma. Gelegentlich tritt ein Hydrozephalus oder ein Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion auf. Manchmal entwickelt sich ein Tuberkulom, das fokale neurologische Ausfälle bewirkt. Je nach Studie findet man in 50–64% positive Liquorkulturen, die Sensitivität der PCR-Diagnostik im Liquor schwankt zwischen 48 und 100% mit einer guten Spezifität über 94% [72]. Andere immunodiagnostische Verfahren im Liquor wie AntikörperBestimmung, Suche nach Mykobakterien-Antigen usw. zeigen wegen Kreuzreaktionen eine tiefe Spezifität. Die Behandlung besteht in einer Dreier- oder Viererkombination mit Isoniazid, Rifampicin, Pyrazinamid und Ethambutol während 3 bis 6 Monaten und einer Erhaltungstherapie mit Isoniazid und Rifampicin [73]. Neurosyphilis Mit der Aids-Epidemie wird die Neurosyphilis wieder vermehrt beobachtet, sie tritt bei den HIV-Infizierten früher und häufiger mit dem Bild einer syphilitischen Meningitis oder einer meningovaskulären Syphilis auf [91]. Eine akute syphilitische Meningitis manifestiert sich innerhalb von 2 Jahren nach der Infektion mit Kopfschmerzen, Meningismus und Hirnnervenbefall (v.a. N. II und VIII), es kann eine Myelitis oder eine Uveitis assoziiert sein. Die meningovaskuläre Form tritt in bis zu 10 Jahren nach der Infektion auf und zeigt sich mit dem Bild eines zerebrovaskulären Insults. Die Diagnose wird mit der Analyse des Serums und des Liquors gestellt. Screening-Tests im Serum sind der VDRL-Test (veneral disease research laboratory) und der RPR-Test (rapid plasma reagin), eine Bestätigung erfolgt mittels des MHA-TP-Test (microtreponemal hemagglutination treponemal pallidum) oder des FTAABS-Test (fluorescent treponemal antibodyabsorbed). Im Liquor wird die Neurosyphilis mit einem positiven VDRL-Test nachgewiesen, dessen Sensitivität bei HIV-negativen Patienten zwischen 20 und 70% schwankt [72]. Andere Verfahren wie die Treponema-pallidum-Hämagglutination (TPH) oder die FluoreszenzTreponema-Antikörper-Absorption (FTA-Abs) weisen im Liquor eine schlechte Spezifität wegen Durchwanderung von Antikörpern durch die Blut-Hirn-Schranke auf. Die PCRAnalyse im Liquor für die Neurosyphilis ist mit einer Sensitivität von weniger als 30% ungenügend und daher keine Routinemethode. 467 Übersicht Die Serologien können jedoch trotz histologisch nachgewiesener Lues negativ sein, so dass eine Behandlung bei entsprechendem Verdacht Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 13 vorgenommen werden muss. Therapie der Wahl ist Penicillin G [92]. Zerebrovaskuläre Krankheiten Die Häufigkeit von zerebrovaskulären Krankheiten ist bei Aids im Vergleich zu HIV-negativen Kontrollgruppen erhöht. Bei einigen Patienten fand man autoptisch eine Vaskulitis, so dass die zerebrovaskulären Krankheiten als direkte Folge der HIV-Infektion und von Aids angesehen werden. Embolische Ischämien entstehen aufgrund einer dilatativen Kardiomyopathie, einer Endokarditis, einer Herzklappen- krankheit und anderer Herzkrankheiten, die bei Aids-Patienten häufiger vorkommen. Eine andere Ursache sind die Antiphospholipid-Antikörper, welche bei Aids-Patienten vorkommen, die an transient ischämischen Attacken oder zerebralen Infarkten leiden [93, 94]. Klinik, Diagnostik und Therapie sind gleich wie bei HIV-negativen Patienten mit einem Stroke. 1 Centers for Disease Control and Prevention. HIV/AIDS Surveillance Report 1993;5:3–19. 2 Harrison MJG, McArthur JC. AIDS and Neurology. Edinburgh: Churchill Livingstone; 1995. p. 1–18. 3 Mc Arthur JC. AIDS and the nervous system: I. HIV associated dementia. Update and approach to therapy. 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