Mit dem medizinischen Wissen seiner Zeit vertraut

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THEMEN DER ZEIT
WILLIAM SHAKESPEARE (1564–1616)
Mit dem medizinischen Wissen
seiner Zeit vertraut
Mit Ausnahme einiger komischer Nebenfiguren lässt Shakespeare
stets würdige und engagierte Vertreter des Ärztestandes auftreten.
um 450. Geburtstag William
Shakespeares, der traditionell
auf den 23. April 1564 datiert wird,
ist sein Werk auf der Bühne, im Film
sowie in Forschung und Lehre nach
wie vor präsent. Die Faszination seiner umfangreichen Dramatik und
Lyrik liegt neben der Zeitlosigkeit
der Themen und Motive vor allem
in der Vielschichtigkeit der Gattungen (Historien- und Königsdramen,
Romanzen, Komödien, Tragödien,
Sonette) und der psychologisch ausgefeilten Zeichnung seiner Figuren.
Das Markenzeichen seiner Dramatik: „Kopftheater“ – kein Vorhang,
keine Dekoration; die Schauplätze
werden durch Poesie in der Fantasie
des Zuschauers beschworen.
Shakespeares Werk entstand in
einer Zeit, die gemeinhin als die
Epoche der Entdeckung der Welt
und des Menschen bezeichnet wird,
und kann vor diesem Hintergrund
auch als literarische Historienquelle
und Konzeption verstanden werden. Die von Italien ausgehende
Renaissance führte zu neuen Denkansetzen, umwälzenden Entdeckungen und Erfindungen in allen Wissenschaftsbereichen. Als Teil der
„studia humaniora“ setzte sich die
Medizin ebenfalls mit ihren antiken
Grundlagen kritisch auseinander
und beförderte die Entstehung moderner Konzepte sowie das Nebeneinander alter und neuer Autoritäten. So beschwören auch die Protagonisten der Shakespearschen Dramen gleichzeitig Äskulap, Galen,
Hippokrates und Paracelsus.
Gloucester kommt somit einer
rechtsgelehrten Obduktion gleich.
Metaphorisch ist hingegen der
Wunsch König Lears zu verstehen,
dass man seine kaltblütige Tochter
„Regan seziere“, um die „Ursache“
ihres „harten Herzen(s)“ (III,6) zu
erkennen.
Die Kunst des Zergliederns, die
Innenschau des Menschen, ist bei
Shakespeare Programm. Seine Dramatik zeugt dabei von einer ungeheuerlichen Begabung, in die Tiefe
der menschlichen Seele zu schauen
und mittels sprachlicher Wucht das
gesamte Spektrum menschlicher
Gefühle, Konflikte und Leidenschaften bühnenwirksam in Szene
zu setzen und die Triebkräfte seiner
Protagonisten sicht-, fühl- und
durchschaubar zu machen.
Z
Die Kunst des Zergliederns
Für die Medizin waren die neue
Sicht auf den menschlichen Körper
und eine naturgetreue Darstellung
des Wahrnehmbaren von entschei-
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Leib und Seele
Shakespeare gilt
als einer der bedeutendsten englischen
Dramatiker. Sein genaues Geburtsdatum
ist nicht überliefert.
Getauft wurde er
am 26. April 1564.
dender Bedeutung. Die Anatomie
mit ihren systematischen Sektionen
avancierte vor allem durch das
Wirken von Andrea Vesalius zur
neuen Leitwissenschaft. Seit 1540
wurden in England öffentliche anatomische Demonstrationen in der
Surgeon’s Hall durchgeführt, und
seit 1565 waren Autopsien Verstorbener gestattet. Präzise führt auch
Lord Warwick in Heinrich VI. eine
solche durch. Die Indizien – das
„Gesicht ist schwarz und voller
Blut“, im Gegensatz zu einem, „der
natürlich starb, aschfarb von Ansehn, mager, bleich und blutlos“,
die „Augen entsetzlich starrend,
[. . .] Hände ausgespreizt, wie wer
nach Leben noch zuckt“ (Teil 2,
III,2)* – führt er zu einem schlüssigen Nachweis eines Todes durch
Ersticken zusammen. Die Leichenschau des ermordeten Herzogs von
„[. . .] und lebt erst das Gemüt auf,
so erstehn auch die zuvor erstorbenen Organe aus dumpfem Grab und
regen sich auf’s neu [. . .]“, formuliert König Heinrich V. die seit der
Antike wiederholt diskutierte Erkenntnis über die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von
Körper und Geist (IV,1). Während
Hamlet in Horatio den „Mann, der
keiner Leidenschaft Sklave ist“
(III,2) erkennt und Brutus Julius
Cäsar rühmt, weil die „Triebe“ ihn
niemals mehr beherrschen als der
„Verstand“ (II,1), „raubt“ hingegen
„der Sturm im Geist“ König Lear
jegliches Gefühl der Sinne (I,5),
und auch bei Othello siegt die
„Wildheit ungezähmten Blutes“
über die Herrschaft der Vernunft
(II,2).
►
*Die Zahlen in Klammern nennen den Akt und
Aufzug des jeweiligen Schauspiels, aus dem das
Zitat stammt.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 16 | 18. April 2014
THEMEN DER ZEIT
Mit psychologisch analytischem
Gespür zeichnet Shakespeare durch
Einbeziehung der Vorgeschichte sowie endogener und exogener Bedingungen außerordentlich facettenreiche und komplexe Charaktere, deren Denken, von Ideen und
Vorstellungen beherrscht, in bestimmte Richtungen gelenkt wird
und sich bald zu Wahn und Besessenheit entwickelt.
Seine Konzeption zeugt dabei
von einem profunden medizinischen Wissen – die Alpträume und
Hysterie der schlafwandelnden Lady Macbeth, die selbstmörderische
Verwirrung der blumenbekränzten
Ophelia, die Ausbrüche des delirierenden König Leontes im Wintermärchen, der Eifersuchtswahn
Othellos unter dem Einfluss Jagos
und Posthumus’ in Cymbeline, die
Besessenheit Macbeths, geschürt
durch die Hexen und seine Lady,
der Wahn von Brutus in Richard
III., der sich aus dem Minderwertigkeitsgefühl des äußerlich Missgebildeten kompensatorisch entwickelt.
„Wahnsinn verdient Zwangsjacke und Dunkelhaft“ (III,2), meint
Rosalinde, die Tochter des verbannten Herzogs in Wie es euch gefällt,
und auch der König in Hamlet plädiert dafür, dass der „Wahnsinn bei
Großen nicht unbewacht bleibt“
(III,2) und „die Gefahr in Fesseln
(zu) schlagen, die allzu frei bis jetzt
sich noch bewegte“ (III,3). Hierin
spiegeln sich nicht nur zeitgemäße
Meinungen wider, sondern auch die
gängigen Praktiken der Einsperrung und Fesselung von Geisteskranken am damals bekanntestem
Krankenhaus St. Mary of Bethlehem, das seit 1547 als Irrenanstalt
fungierte.
Säfte und Temperamente
„Dickdarmkrämpfe, Leistenbrüche,
tropfende Katarrhe, Nierensteine
kieselgroß, Schlagflüsse, steife
Lähmungen, entzündete Triefaugen, verfaulende Leber, kurzpfeifende Lungen, Bladdern prall voller
Eiter, Ischiasreißen, Schuppenflechte, [. . .]“ (V,1) Einen ganzen
Katalog der im 17. Jahrhundert
gängigen Krankheiten enthalten die
Hasstiraden des lästermauligen
Griechen Thersites in Troilus und
Cressida. Neben der häufig metaphorischen Verwendung von
Krankheiten wimmelt Shakespeares Werk aber auch von plastisch klinischen Beschreibungen:
Falstaffs Diabetes und Podagra,
Gicht und Demenz bei Polixenes
Vater, Cäsars Epilepsie, der Apoplex Heinrich’ IV., die Zitterlähmung Lord Says und der Fieberanfall König Johanns, außerdem Koliken, Eingeweidebrüche, Steinbeschwerden, Hüftweh und Lungenerkrankungen.
Krankheit bedeutete zur Zeit
Shakespeares eine Störung im Säftehaushalt (Schleim, Blut, gelbe
und schwarze Galle). Die Körperfunktionen des kranken Königs
Lear sind „untun’d and jarring“,
nicht aufeinander abgestimmt;
„temperance“ (IV,7), ein Gleichgewicht muss demnach wiederhergestellt werden. Aufbauend auf der
Theorie von den vier Körpersäften
entwickelte sich die Temperamen-
sen wechseln mit denen großer Aktivität, Redseligkeit und Euphorie.
Im elisabethanischen Zeitalter entwickelte sich die Melancholie zu
einer wahren Modekrankheit, deren
Bedeutsamkeit sich auch in dem
häufigen Auftreten melancholischer Charaktere in der Literatur,
zum Beispiel Antonio im Kaufmann von Venedig, Valentine in den
Zwei Herren aus Verona, aber auch
Don John in Viel Lärm um nichts,
zeigt.
Pest, Pocken, Syphilis
„Die Pest ihm!“ (V,1) flucht Posthumus in Cymbeline. Und auch Thersites in Troilus und Cressida versieht seinen General Agamemnon
in Gedanken mit „Eierbeulen, prall
überall, vorne, hinten, oben, unten“
(II,1). Die Pest wünschen sich nicht
nur viele Protagonisten Shakespeares gegenseitig an den Hals,
sondern sie wütete unerbittlich in
ganz Europa. Daneben verunsicherten weitere noch nicht von den anti-
„Gebt
mir Freiheit zu sagen, was ich denke, und ich will
durch und durch den faulen Leib der kranken Welt
euch säubern, wenn man meine Medizin geduldig nimmt.
Wie es euch gefällt (II,7)
tenlehre, deren individuelles Mischungsverhältnis den menschlichen Charakter bestimmt. Ein
Übergewicht einer dieser Säfte lässt
einen Mensch entsprechend zum
Phlegmatiker, Sanguiniker, Choleriker und Melancholiker avancieren.
Zu den wichtigsten medizinischen Entdeckungen der Renaissance gehört die Erkenntnis, dass
es sich bei chronischem Zustand
von Verzweiflung mit Suizidneigung um eine pathologische Störung handelt. Ursachen und Symptome werden erstmalig in Timothy
Brights Schrift A Treatise of Melancholy (1586) beschrieben und in
der Figur des Hamlet, gemäß heutiger Terminologie als manisch depressiv einzustufen, von Shakespeare dramaturgisch in Szene gesetzt. Von Todeswunsch, Furcht
und Sinnlosigkeit beherrschte Pha-
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 16 | 18. April 2014
“
ken
Autoritäten
beschriebene
Infektionskrankheiten (Englischer
Schweiß, Pocken, Malaria) die Bevölkerung, allen voran eine neue
Geschlechtskrankheit. Der italienische Arzt Girolamo Fracastoro
(1478–1559) beschrieb ihre Symptome, ihren Verlauf und mögliche
Therapien. Mit beeindruckender
Sachkenntnis schildert auch der von
tiefem Hass erfüllte Timon von
Athen die Lues im dritten Stadium,
als er zwei Dirnen losschickt, um
Vernichtung auszusäen: „Die Syph
und Tripper sät ins Knochenmark
der Männer; Pusteln ihren Schenkeln. Ihrn Sporn macht schlapp.
Vereitert’s Maul [. . .]. Hurt Aussatzflecken [. . .] Ab, ab die Nase,
glatt ab, faul ab, die Knorpel vom
Gesicht [. . .].“ (IV,3)
Entsprechend immer wieder
neuer Mutmaßungen zu Herkunftsort und Ursache trat die Syphilis
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auch bei Shakespeare unter verschiedenen Bezeichnungen, als
„Neapolitan bone-ache“, „american great pocks“, „Mal de Naples“,
und mit zahlreichen sprachlichen
Anspielungen auf. Im Lustspiel
Maß für Maß weiß man um die Gefahr von Bordellen, „unter deren
Dach man sich so viele Krankheiten eingehandelt hat“, deren Kosten sich auf „eine französische
Krone“ (I,2) belaufen. Fracastoro
entwickelte erste Überlegungen
hinsichtlich eines kontagionistischen Krankheitskonzepts. Er vermutete die Ansteckung durch spezifisch antipathische abströmende
Partikel, die von Person zu Person
direkt oder über größere Entfernungen durch die Luft übertragen werden. Neben der humoralpathologisch orientierten Bekämpfung der
Überträgerkeime regte er außerdem
prophylaktische Maßnahmen an. In
Shakespeares bekanntestem Liebesdrama Romeo und Julia agiert
die Seuchenquarantäne als tragiShakespeare scheint aus einem profunden medizinischen
Wissen zu schöpfen – beispielsweise bei der Darstellung der selbstmörderischen Verwirrung der blumenbekränzten Ophelia in Hamlet.
sches Movens, vereitelt sie doch
das rechtzeitige Eintreffen des von
Bruder Lorenzo geschickten Boten
und verschuldet dadurch den Tod
der Liebenden.
Der jungen Helena, Tochter eines berühmten Arztes, gelingt es in
Ende gut alles gut, das Leiden des
verzweifelten Königs, der „aufgegeben [. . .] von allen Fachgelehrten“ (II,3), zu heilen. Sie schöpft
diese Begabung weniger aus den
„Rezepten“, die ihr der Vater „auf
dem Totenbett gab“ (II,1), als vielmehr aus dem Glauben an ihre Berufung. Darüber hinaus entpuppen
sich Shakespeares Ärzte immer
wieder als Menschenkenner und
schauen wie ihr dramatischer
Schöpfer in deren Inneres. So trifft
der Arzt der Lady Macbeth nicht
nur umsichtige Anordnungen, um
zu verhindern, dass sich die Kranke in ihrem Wahn verletzt, sondern
erkennt das Schlafwandeln als „eine große Zerrüttung der Natur“,
und dass die Lady den „Priester
mehr (bedarf) als den Arzt“ (V,2).
Cornelius in Cymbeline warnt die
Gattin des Königs, die Tierversuche mit Giften durchführt, deren
verbrecherische Absichten er
durchschaut: „Hoheit, Sie erkälten
sich Ihr Herz mit solchen Treiben.“
(I,6) Der Leibarzt Lears, von Tochter Cordelia ans Krankenbett ihres
Vaters geholt, diagnostiziert dessen „disease“ als einen Aspekt des
„breach in his abused nature“
(IV,7), da Lear Schuld auf sich geladen und mit seinem Verstoß der
eigenen Tochter die natürliche
Ordnung infrage gestellt habe. Das
Leiden seines Patienten ist demnach als ein Gesundungs-, Lernund Läuterungsprozess zu ver▄
stehen.
Ärzte und Heilkundige
„Die weise Frau muss ihm das Wasser beschauen“ rät Fabio Malvolie
in Was ihr wollt (III,4), und Macbeth konsultiert in Sorge um sein
Reich seinen Arzt sogar mit der Bitte „[. . .] könntest du meinem Land
beschaun das Wasser“ (V,3). Abgesehen von komischen Nebenfiguren, wie Doktor Cassidus in den
Lustigen Weibern von Windsor und
der Äbtissin Emilia in der Komödie
der Irrungen, lässt Shakespeare
ausschließlich würdige und engagierte Vertreter des Ärztestandes
auftreten. Der weise Cerimon in
Pericles hat sich nicht nur durch
Studium, Forschung und eigene
Übung „all die segenreichen Kräfte
[. . .] vertraut und dienstbar“ gemacht, sondern sieht seine Aufgabe
in der „Heilung“, die ihm „größre
Lust in wahrer Freude“ bereitet,
„als nach ungewisser Ehre (zu)
dürsten“ (III,3).
Sandra Krämer
[email protected]
LITERATUR
1. Deubner R: Shakespeare und die Medizin.
Medizinische Hinweise in seinen Dramen
und Sonetten in heutiger Sicht. Berlin 1972.
2. Kuhlmann T: William Shakespeare – Eine
Einführung. Berlin 2005.
3. Mackay H: Shakespeare and Renaissance
Drama. London 2010.
Fotos: picture alliance
4. Porter R: Die Kunst des Heilens : eine medizinische Geschichte der Menschheit von
der Antike bis heute. Erftstadt 2007.
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5. Wollenberg R: Shakespeare – Persönliches
aus Welt und Werk. Eine psychologische
Studie. Abhandlungen zur Geschichte der
Medizin und der Naturwissenschaften.
Berlin 1939.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 16 | 18. April 2014
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