Mathematik I (für Informatiker, ET und IK) Oliver Ernst Professur Numerische Mathematik Wintersemester 2013/14 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 2 / 367 Organisatorisches Wir Vorlesung Prof. Oliver Ernst Mo Do 9:15 11:30 Fr Mi Mi Mo(1) Mo Fr(2) 13:45 15:30 11:30 13:45 11:30 13:45 Übungen Dipl.-Math. Ingolf Busch Dipl.-Math. Hansjörg Schmidt Dipl.-Math. Björn Sprungk Dr. Roman Unger : B_AI, B_In, M_IG : B_In : B_BT, B_ET, B_IK : B_EM, B_ET, B_RE Webseite www.tu-chemnitz.de/mathematik/numa/lehre/mathematik-I-2013 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 3 / 367 Organisatorisches Sie B_AI B_AI B_BT B_EM B_ET B_IK B_RE M_IG Studiengang Informatik Angewandte Informatik Biomedizinische Technik Elektromobilität Elektrotechnik Informations und Kommunikationstechnik Regenerative Energietechnik Informatik f. Geistes- u. Soz.-Wiss.) SWS 4V+2Ü 4V+2Ü 4V+3Ü 4V+3Ü 4V+3Ü 4V+3Ü 4V+3Ü 4V+2Ü Klausurzeit 120 120 180 120 120 120 120 120 LP 9 9 8 8 8 9 8 9 AS 270 270 240 240 240 240 240 270 Studenten 18 25 34 2 25 4 8 12 (laut Modulbeschreibungen Mathematik I bzw. Höhere Mathematik I) AS = Gesamtarbeitsaufwand in Stunden LP = Leistungspunkte Neben der Präsenzzeit von 4,5 bzw. 5,25 h/Woche (= 67.5 bzw. 78,75 h gesamt) entfällt also ein erheblicher Anteil auf Selbststudium: Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen, Literaturstudium, Lösen von Übungsaufgaben, Prüfungsvorbereitung. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 4 / 367 Organisatorisches Prüfung Klausurarbeit am Ende des Wintersemesters (Umfang laut Tabelle). Termin wird bekanntgegeben sobald von zentraler Prüfunsplanung verkündet. Zugelassene Hilfsmittel: Ausdruck dieser Folien, Randnotizen hierauf, Formelsammlung. (kein Taschenrechner). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 5 / 367 Organisatorisches Inhalt: reelle und komplexe Zahlen Folgen und Reihen Differential- und Integralrechnung einer reellen Variablen elementare lineare Algebra Ziele: Die Studierenden sollen das elementare technische Reservoir der Mathematik (Grundlagen lineare Algebra und Infinitesimalrechnung einer Variablen) kennen und beherrschen, Verständnis des „mathematischen Sprache“ entwickelt haben, einfache mathematische Modelle aus den Naturwissenschaften analysieren können. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 6 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Nehmen Sie an den Übungen teil. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Nehmen Sie an den Übungen teil. Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diese besser und kann Probleme besser identifizieren. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Nehmen Sie an den Übungen teil. Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diese besser und kann Probleme besser identifizieren. Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur, um andere Aspekte kennenzulernen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Nehmen Sie an den Übungen teil. Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diese besser und kann Probleme besser identifizieren. Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur, um andere Aspekte kennenzulernen. Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen der Probleme zu entwickeln. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Empfehlungen Arbeiten Sie von Anfang an intensiv mit. Arbeiten Sie die Vorlesungen nach. Stellen Sie Fragen, wenn sich Unklarheiten ergeben. Werden Sie insbesondere sofort aktiv, wenn Sie den „roten Faden“ verloren haben. Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben, Beispiele und Übungsklausuren selbstständig. Nehmen Sie an den Übungen teil. Bilden Sie Arbeitsgruppen. Wer über Mathematik spricht, versteht diese besser und kann Probleme besser identifizieren. Lesen Sie dem Stand der Vorlesung entsprechende Kapitel in der Literatur, um andere Aspekte kennenzulernen. Versuchen Sie Freude, Ausdauer und sportlichen Ehrgeiz beim Lösen der Probleme zu entwickeln. Nehmen Sie sich von Anfang an genügend Zeit. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 7 / 367 Organisatorisches Speziell zur Zeitplanung Beispiel zur Zeitplanung Laut Modulbeschreibung ist der Selbststudiumsanteil im Modul auf 160–200 h ausgelegt. Diese könnte man exemplarisch wie folgt aufteilen: 120 h während des Semesters, d. h. durchschnittlich 8 h pro Woche (ggf. könnte man einen Teil dieser Zeit im Tutorium oder in einer Lerngruppe verbringen), 40–80 h Prüfungsvorbereitung in der vorlesungsfreien Zeit. Wie Sie die Zeit aufteilen, ist natürlich Ihre Sache. Wir empfehlen Ihnen jedoch, von vornherein einen Zeitplan zu erstellen und auch konsequent einzuhalten. Falls das noch nicht reicht. . . ... hilft nur, sich mehr Zeit zu nehmen. Die Modulbeschreibung geht von durchschnittlichem Talent und Vorkenntnissen aus. In den seltensten Fällen ist jemand generell unfähig den Stoff zu verstehen – in der Regel braucht man einfach nur mehr Zeit. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 8 / 367 Organisatorisches Warnungen Was sicher schiefgeht . . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrsche ich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367 Organisatorisches Warnungen Was sicher schiefgeht . . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrsche ich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen. Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aber für die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zu besuchen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367 Organisatorisches Warnungen Was sicher schiefgeht . . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrsche ich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen. Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aber für die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zu besuchen. Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reicht für Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten und Zusammenhängen benötigen nur Mathematiker. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367 Organisatorisches Warnungen Was sicher schiefgeht . . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrsche ich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen. Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aber für die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zu besuchen. Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reicht für Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten und Zusammenhängen benötigen nur Mathematiker. Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende des Semesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage) werden schon reichen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367 Organisatorisches Warnungen Was sicher schiefgeht . . . ist das Umsetzen verbreiteter „pragmatischer“ Einstellungen wie Ich kann in Vorlesung/Übung dem Dozenten recht gut folgen, also beherrsche ich den Stoff – „Beschallenlassen“ reicht vollkommen. Die Vorlesung zeigt mir die theoretische Seite des Stoffes – ich brauche aber für die Klausur nur die Anwendung. Also reicht es, Übung bzw. Tutorium zu besuchen. Mathematische Techniken kann man wie Rezepte auswendiglernen; das reicht für Anwendung und Klausur. Ein tieferes Verständnis von Inhalten und Zusammenhängen benötigen nur Mathematiker. Mein Stundenplan lässt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite am Ende des Semesters einfach alles „am Stück“ nach. Ein, zwei Wochen (oder gar Tage) werden schon reichen. Bei der Klausur sind so viele Hilfsmittel zugelassen, dass ich auf Lernen und Üben verzichten kann. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 9 / 367 Literatur Folien Die in der Vorlesung gezeigten Folien werden auf der Vorlesungswebseite im Voraus zum Herunterladen bereitgestellt. Diese stellen kein Vorlesungsskript dar, sondern sollen lediglich den Mitschreibaufwand minimieren. Eigene Ergänzungen bzw. Randnotizen sind unerlässlich. Der Download ersetzt natürlich nicht den Besuch von Vorlesung/Übung und auch nicht die Lektüre von Fachliteratur. Einige Lehrbücher M. Schubert: Mathematik für Informatiker. Springer-Vieweg, 2012. E L. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler. Vieweg+Teubner, Band 1–3, 2009. E W. Preuß, G. Wenisch: Lehr- und Übungsbuch Mathematik für Informatiker: Lineare Algebra und Anwendungen; Verlag: Fachbuchverlag Leipzig, 2002. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 10 / 367 Zu guter letzt Danksagung: Diese Vorlesung entstand nach Vorlagen meiner ehemaligen Kollegen Prof. Michael Eiermann und Dr. Mario Helm am Institut für Numerische Mathematik und Optimierung, TU Bergakademie Freiberg. Doch nun . . . lassen Sie uns endlich zur Mathematik kommen! Immerhin eine der ältesten wissenschaftlichen Beschäftigungen der Menschen überhaupt: Papyrus Rhind (ca. 1550 v. Chr.) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 11 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 12 / 367 Wie sag’ ich’s? Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung: f : R → R stetig in x0 :⇔ (∀ > 0 ∃δ > 0 : |x − x0 | < δ ⇒ |f (x) − f (x0 )| < ) Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wie Wie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken? Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken? Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen: Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 13 / 367 Wie sag’ ich’s? Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung: f : R → R stetig in x0 :⇔ (∀ > 0 ∃δ > 0 : |x − x0 | < δ ⇒ |f (x) − f (x0 )| < ) Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wie Wie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken? Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken? Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen: Erklären Sie Ihrem Nachbarn in einer Minute, was eine reelle Zahl ist, und warum für diese das Kommutativgesetz der Addition gilt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 13 / 367 Wie sag’ ich’s? Werfen Sie einen kurzen Blick auf folgende lyrische Einlassung: f : R → R stetig in x0 :⇔ (∀ > 0 ∃δ > 0 : |x − x0 | < δ ⇒ |f (x) − f (x0 )| < ) Möglicherweise bewegen Sie jetzt Fragen wie Wie kann man jemals einen solchen Ausdruck durchblicken? Wozu muss man sich überhaupt derart kompliziert ausdrücken? Lassen Sie uns dazu ein kleines Experiment durchführen: Erklären Sie Ihrem Nachbarn in einer Minute, was eine reelle Zahl ist, und warum für diese das Kommutativgesetz der Addition gilt. Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass die Umgangssprache für eine präzise Beschreibung nicht ausreicht. Wir brauchen eine Fachsprache zur mathematischen Kommunikation. Diese muss erst erlernt werden. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 13 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 14 / 367 Elemente der Aussagenlogik Eine Aussage ist ein sprachliches oder formelmäßiges Gebilde, dem man entweder den Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“ zuordnen kann. Sprechweisen „p ist eine wahre (richtige) Aussage.“, „p gilt.“ „p ist eine falsche Aussage.“, „p gilt nicht.“ Insbesondere kann keine Aussage gleichzeitig wahr oder falsch sein. Sind folgende Konstrukte Aussagen? Was ist ggf. ihr Wahrheitswert? „Wir sprechen gerade über Aussagenlogik.“; „Wie soll ich bloß die Prüfung schaffen?“; „62 =√36“; „7 √= 48“; „ 14“; „Rettet den Euro!“; „Wir befinden uns in Dresden oder Chemnitz.“ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 15 / 367 Elemente der Aussagenlogik Eine Aussagenverknüpfung liefert eine neue Aussage, deren Wahrheitwert sich aus den Wahrheitswerten der verknüpften Aussagen ergibt. Seien p und q Aussagen, dann heißt p (auch ¬p) Negation von p (sprich: „nicht p“), p ∨ q Disjunktion von p und q (sprich: „p oder q“), p ∧ q Konjunktion von p und q (sprich: „p und q“). Die Wahrheitswerte werden durch folgende Tabellen festgeschrieben: p w f p f w p w w f f q w f w f p∨q w w w f p∧q w f f f Beachten Sie den rot markierten Wahrheitswert bei „oder“ – umgangssprachlich meint man mitunter nicht dasselbe! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 16 / 367 Elemente der Aussagenlogik Geben Sie den Wahrheitswert der Aussage „Wir gehen heute abend ins Kino oder ins Theater“ in Abhängigkeit von der tatsächlich durchgeführten Aktivitäten an. Machen Sie sich den Unterschied zur Umgangssprache klar. Geben Sie die Wahrheitswerte und Negationen zu folgenden Aussagen an: p: „Unsere Vorlesung findet heute am Nachmittag statt.“ q: „Unsere Vorlesung findet heute am Abend statt.“ Warum ist q nicht die Negation von p? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 17 / 367 Elemente der Aussagenlogik Implikation und Äquivalenz Ein zentrales Element beim Aufbau mathematischer Theorie ist das logische Schließen. Dafür benötigen wir zwei weitere Verknüfungen. Seien p und q Aussagen; dann heißt p ⇒ q Implikation („Aus p folgt q“; „Wenn p gilt, so gilt q.“), p ⇔ q Äquivalenz („p gilt genau dann, wenn q gilt.“). Eine Implikation ist genau dann falsch, wenn man aus wahren Aussagen die falschen Schlüsse zieht (p wahr, q falsch). Eine Äquivalenz bedeutet, dass p und q immer den gleichen Wahrheitswert besitzen. Die zugehörige Wahrheitswerttabelle spielt für den Praktiker kaum eine Rolle – die sprachliche Fassung der Begriffe ist handlicher: p w w f f Oliver Ernst (Numerische Mathematik) q w f w f p⇒q w f w w q⇒p w w f w Mathematik I p⇔q w f f w Winterersemester 2013/14 18 / 367 Elemente der Aussagenlogik Wichtig sind aber folgende alternative Sprechweisen: für p ⇒ q: „p ist hinreichend für q.“ oder “q ist notwendig für p.“ für p ⇔ q: „p ist hinreichend und notwendig für q.“ und folgender Satz: Satz 2.1 Seien p und q Aussagen. Dann gilt: (p ⇔ q) (p ⇒ q) ⇔ ⇔ (p ⇒ q) und (q ⇒ p) (q ⇒ p) Die zweite Aussage bildet die Grundlage für das indirekte Beweisen („Angenommen q gilt nicht, dann kann auch p nicht gelten.“). Interpretieren Sie die Aussage „Wenn n gerade ist, so ist auch n2 gerade.“ vor dem Hintergrund der zweiten Beziehung in Satz 2.1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 19 / 367 Elemente der Aussagenlogik Satz 2.2 Es seien p, q und r beliebige Aussagen. Dann gelten immer: p⇔p (doppelte Verneinung), p∨p (Satz vom ausgeschlossenen Dritten), (p ∨ q) ⇔ (p ∨ q) (p ∧ q) ⇔ (q ∧ p) [(p ∨ q) ∨ r] ⇔ [p ∨ (q ∨ r)], [(p ∧ q) ∧ r] ⇔ [p ∧ (q ∧ r)] (Kommutativgesetze), (Assoziativgesetze), [p ∧ (q ∨ r)] ⇔ [(p ∧ q) ∨ (p ∧ r)], [p ∨ (q ∧ r)] ⇔ [(p ∨ q) ∧ (p ∨ r)] p ∨ q ⇔ (p ∧ q), p ∧ q ⇔ (p ∨ q) (Distributivgesetze), (De Morgansche Regeln). Punkte 1-4 scheinen sofort klar. Im Zweifel erfolgt der Nachweis solcher Äquivalenzen durch Aufstellen von Wahrheitstabellen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 20 / 367 Elemente der Aussagenlogik Exkurs: Anwendung in der Digitaltechnik In der Digitaltechnik gibt es genau zwei Zustände (hohe/niedrige(keine) Spannung; 1/0), die man als logisches „wahr“ bzw. „falsch“ interpretiert. Schaltungen bestehen häufig aus „Logikgattern“ (engl. gates). Diese besitzen z. B. 2 Eingänge (A,B) und einen Ausgang (Y) und reproduzieren logische Verknüfungen. Eine wichtige Anwendung von Satz 2.2 liegt in der Analyse und Vereinfachung logischer Schaltnetzwerke. Beispiel: Schaltsymbol und Wahrheitstabelle für ein UND-Gatter A A 1 1 0 0 & Y B Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I B 1 0 1 0 Y 1 0 0 0 Winterersemester 2013/14 21 / 367 Elemente der Aussagenlogik Eine Aussageform ist ein Gebilde, welches eine oder mehrere Variablen enthält, und das nach dem Ersetzen der Variablen durch konkrete Werte in eine Aussage übergeht. Schreibweise: p(x), falls x als Variable verwendet wird. Mit p(x) sei die Aussageform x ≤ 1 bezeichnet, wobei x eine reelle Variable sei. Wie lauten die Aussagen p(0) und p(4) und was ist ihr Wahrheitswert? Eine weitere Möglichkeit, Aussageformen in Aussagen zu überführen, ist die Bindung der Variablen an Quantoren. Die wichtigsten sind: ∀ – „für alle . . . gilt . . . “ ∃ – „es existiert (mindestens) ein . . . , so dass . . . “ Beispiel: „Für alle reellen Zahlen x gilt x > 1.“ „Es gibt eine reelle Zahl x mit x2 = −1.“ (Beide Aussagen sind natürlich falsch.) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 22 / 367 Elemente der Aussagenlogik Definition 2.3 Sei p(x) eine Aussageform; dann meinen wir mit der Negation von „Für alle x gilt p(x)“ die Aussage „Es existiert ein x, für das p(x) nicht gilt“; symbolisch: ∀x : p(x) := (∃x : p(x)) der Negation von „Es existiert ein x, für das p(x) gilt“ die Aussage „Für alle x gilt p(x) nicht“; symbolisch: ∃x : p(x) := (∀x : p(x)) Natürlich erfolgt diese Definition im Einklang mit unserer Intuition - die Intuition wird lediglich sinnvoll formalisiert. Formulieren Sie die Negationen von “Für alle reellen Zahlen x gilt x > 1.“, “Es gibt eine reelle Zahl x mit x2 = −1.“, “Jeder Haushalt gibt ein Drittel seines Einkommens für Wohnen aus.“ (SZ, 8.9.12) und “Alle Politiker lügen gelegentlich.“ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 23 / 367 Elemente der Aussagenlogik Axiome und Sätze Gerüstet mit diesen Vorkenntnissen lassen sich die gebräuchlichen Sprachkonstrukte der Mathematik grob typisieren. Ein Axiom ist eine Aussage, die innerhalb einer Theorie nicht begründet oder hergeleitet wird. Axiome werden beweislos vorausgesetzt. WIchtige Eigenschaften von Axiomensystemen sind Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit.1 Beispiel: Kommutativgesetz für reelle Zahlen, siehe später. Ein Satz ist eine Aussage, die mittels eines Beweises als wahr erkannt wurde. Den Beweis bildet dabei eine Kette von Schlussfolgerungen, die nur von Axiomen oder bereits bewiesenen Sätzen ausgeht. √ Beispiel: „ 2 ist keine rationale Zahl.“ Gebräuchliche Ausprägungen von Sätzen sind auch Lemma (Hilfssatz) – ein Satz, der als Zwischenstufe in einem Beweis dient, Korollar (Folgerung) – ein Satz, der ohne großen Beweisaufwand aus einem anderen folgt. Die Abgrenzung zum Satz ist jeweils fließend und subjektiv. 1 vgl. D. Hofstadter: Gödel, Escher Bach. Basic Books, New York NY 1979 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 24 / 367 Elemente der Aussagenlogik Definitionen Eine Definition dient zur Festlegung eines mathematischen Begriffs. Hier sind eher Wertungen wie „sinnvoll/nicht sinnvoll“ statt „wahr/falsch“ angebracht. Sinnvolle Definitionen erfüllen unter anderem folgende Anforderungen: Widerspruchsfreiheit, Zirkelfreiheit (das zu Definierende darf nicht selbst Bestandteil der Definition sein), Angemessenheit (nicht zu eng und nicht zu weit gefasst), Redundanzfreiheit (keine Bestandteile enthalten, die aus anderen logisch folgen). Häufig schreibt man Definitionen in der Form von Gleichungen oder Äquivalenzen und verwendet die Symbole := und :⇔. Der zu definierende Ausdruck steht immer auf der Seite des Doppelpunkts. Beispiel: a0 := 1 für a ∈ R. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 25 / 367 Elemente der Aussagenlogik Zum mathematischen Wahrheitsbegriff Da in der Mathematik alle Aussagen per logischem Schluss bewiesen werden, entsteht ein sehr scharfer Wahrheitsbegriff. In den (experimentellen) Naturwissenschaften ist der Wahrheitsbegriff stärker an Beobachtungen gekoppelt und daher weniger scharf. Die Mathematik ist also im logischen Sinne präziser, dies erfordert aber eben auch eine kompliziertere Fachsprache. Für unsere Vorlesung: Ein strenger Aufbau der Theorie kostet Zeit und ist nicht Aufgabe des Anwenders, daher folgender Kompromiss: Reihenfolge von Axiomen, Sätzen und Definitionen entspricht weitgehend dem strengen Aufbau der Theorie, Beweise und Beweisideen werden dort skizziert, wo sie dem Verständnis des Stoffes dienen, „technische“ und aufwändige Beweise werden weggelassen – verwenden Sie bei Interesse entsprechende Literatur. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 26 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 27 / 367 Elemente der Mengenlehre Definition 2.4 („naive“ Mengendefinition, Cantor∗ , 1895) Eine Menge M ist eine Zusammenfassung von bestimmten, wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen. Die erwähnten Objekte heißen Elemente dieser Menge M . Schreibweise: x ∈ M (bzw. x ∈ / M ). ∗ Georg Cantor (1845-1918), deutscher Mathematiker, lieferte u. a. wichtige Beiträge zur Mengenlehre. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 28 / 367 Elemente der Mengenlehre Darstellungsmöglichkeiten für Mengen aufzählende Darstellung – Elemente werden explizit aufgelistet, z.B.: A B = {Chemnitz; Dresden; Freiberg; Leipzig}, = {2; 3; 5; 7}. beschreibende Darstellung – Elemente werden durch eine Eigenschaft charakterisiert, z.B.: A B = {x : x ist sächsische Universitätsstadt.}, = {p : p ist Primzahl und p < 10}. Die Gesamtheit, die kein Element enthält heißt leere Menge. Symbol: ∅ oder {}. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 29 / 367 Elemente der Mengenlehre Mengenbeziehungen Seien A und B Mengen. A heißt Teilmenge von B, wenn jedes Element von A auch Element von B ist. Schreibweise: A ⊆ B. A und B heißen gleich, wenn jedes Element von A auch Element von B ist und umgekehrt (A ⊆ B und B ⊆ A). Schreibweise: A = B. A heißt echte Teilmenge von B, wenn jedes Element von A auch Element von B ist, und ein Element von B existiert, das nicht zu A gehört. (A ⊆ B und A 6= B). Schreibweise: A ⊂ B. Die Teilmengen einer Menge M können wiederum zur sogenannten Potenzmenge zusammengefasst werden: P(M ) := {A : A ⊂ M }. Man gebe die Potenzmenge von A = {1; 2; 4} an. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 30 / 367 Elemente der Mengenlehre Mengenoperationen Seien A und B Teilmengen einer Grundmenge X. Dann heißt A ∪ B := {x : x ∈ A oder x ∈ B} die Vereinigung von A und B, A ∩ B := {x : x ∈ A und x ∈ B} der Durchschnitt von A und B, A \ B := {x : x ∈ A und x ∈ / B} die (mengentheoretische) Differenz von A und B (sprich „A ohne B“), A := X \ A das Komplement von A in X. Geben Sie zu A = {1; 2; 3; 4; 5; 6} und B = {0; 4; 5} die Mengen A ∪ B, A ∩ B, A \ B und B \ A an. Wie lauten Vereinigung und Durchschnitt der Mengen C = {p : p ist Primzahl} und D = {p : p ist Primzahl und p < 10}? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 31 / 367 Elemente der Mengenlehre Visualisierung Visualisierung von Mengenoperationen und -beziehungen erfolgt häufig im sogenannten Venn-Diagramm: A A B B A∪B A∩B A A B A A\B Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I X Winterersemester 2013/14 32 / 367 Elemente der Mengenlehre Rechenregeln für Mengenoperationen Vereinigung (∪), Schnitt (∩) bzw. Komplement wurden letztlich über die logischen Junktoren „oder“(∨), „und“ (∧) bzw. Negation definiert. Daher gelten für Mengenoperationen analoge Regeln zu Satz 2.2: Satz 2.5 (Regeln für das Operieren mit Mengen) Es seien A, B, C Mengen. Dann gelten: A ∩ B = B ∩ A, A ∪ B = B ∪ A, A ∩ (B ∩ C) = (A ∩ B) ∩ C, A ∪ (B ∪ C) = (A ∪ B) ∪ C, A ∪ (B ∩ C) = (A ∪ B) ∩ (A ∪ C), A ∩ A = A, A ∪ A = A, A ∩ ∅ = ∅, A ∪ ∅ = A, A \ B = A ⇔ A ∩ B = ∅, A ∩ (B ∪ C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ C), A \ B = ∅ ⇔ A ⊆ B, A \ (B ∩ C) = (A \ B) ∪ (A \ C), A \ (B ∪ C) = (A \ B) ∩ (A \ C). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 33 / 367 Elemente der Mengenlehre Kartesisches Produkt Seien A und B Mengen. Dann heißt die Menge aller geordneten Paare (a, b) mit a ∈ A und b ∈ B kartesisches Produkt von A und B, kurz A × B := {(a, b) : a ∈ A und b ∈ B} Analog definiert man für Mengen A1 , A2 , . . . , An A1 × A2 × · · · × An := {(a1 , a2 , . . . , an ) : a1 ∈ A1 , a2 ∈ A2 , . . . , an ∈ An } und schreibt im Falle der Gleichheit aller Ai kürzer An := A × A × · · · × A (n Faktoren). Als wichtigste Beispiele werden uns R2 und R3 begegnen – das sind die Entsprechungen von Anschauungsebene und -raum. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 34 / 367 Relationen Äquivalenzrelationen Mit Relationen werden Beziehungen zwischen Objekten ausgedrückt. Eine (binäre) Relation R auf einer Grundmenge M ist eine Teilmenge des kartesischen Produkts M × M , also R ⊆ M × M. Wichtige Eigenschaften von Relationen sind (a) Reflexivität. ∀x ∈ M : (x, x) ∈ R. (b) Symmetrie. ∀x, y ∈ M : (x, y) ∈ R ⇒ (y, x) ∈ R. (c) Transitivität. ∀x, y, z ∈ M : (x, y) ∈ R ∧ (y, z) ∈ R ⇒ (x, z) ∈ R. Eine Relation, die alle drei Eigenschaften erfüllt, heißt Äquivalenzrelation. Eine Partition P einer Menge M bezeichnet eine Zerlegung in disjunkte Teilmengen, d.h. [ M= T und S ∩ T = ∅ für je zwei verschiedene S, T ∈ P. T ∈P Jede Partition einer Menge erzeugt eine Äquivalenzrelation auf ihr und umgekehrt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 35 / 367 Relationen Ordnungsrelationen Weitere wichtige Eigenschaften von Relationen: (d) Antisymmetrie. ∀x, y ∈ M : xRy ∧ yRx ⇒ x = y. (e) Asymmetrie. ∀x, y ∈ M : xRy ⇒ ¬(yRx). Eine Relation auf M heißt Ordnungsrelation, wenn sie reflexiv, antisymmetrisch und transitiv ist. Besipiel: ≤, ⊆. Eine Ordnungsrelation auf M heißt vollständig oder linear, falls für alle x, y ∈ M gilt: xRy ∨ yRx. Eine Relation auf M heißt strenge Ordnungsrelation, wenn sie asymmetrisch und transitiv ist. Beispiel: <. Eine strenge Ordnungsrelation heißt vollständig, wenn für alle x, y ∈ M mit x 6= y gilt xRy ∨ yRx. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 36 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 37 / 367 Die reellen Zahlen Erinnern Sie sich an unser Experiment in der allerersten Stunde? Obwohl jeder von uns schon seit Jahren reelle Zahlen verwendet, fällt es uns extrem schwer, das Wesen der Zahl in Worte zu fassen. Es lohnt sich also eine nähere Betrachtung – gerade auch weil Messwerte für viele physikalische Größen als reelle Zahlen aufgefasst werden können. Einen (eher historisch interessanten) Anfangspunkt liefert uns folgendes berühmte wie umstrittene Zitat: “Die natürlichen Zahlen hat Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.“ (Leopold Kronecker, deutscher Mathematiker, 1823-1891) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 38 / 367 Die reellen Zahlen Zahlbereichserweiterungen Skizzieren wir zunächst das klassische Vorgehen über Zahlbereichserweiterungen. Wir starten mit N := {1, 2, 3, . . .} – natürliche Zahlen (“hat Gott gemacht“ oder werden über Peano-Axiome beschrieben) N0 := N ∪ {0} = {0, 1, 2, 3, . . .} Nach Einführung der Addition stellt man fest, dass Gleichungen wie x + 9 = 1 in N nicht lösbar sind, daher Erweiterung zu Z := {. . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . .} – ganze Zahlen Nimmt man die Multiplikation hinzu, sind wiederum Gleichungen wie (−2) · x = 1 in Z nicht lösbar, daher Erweiterung zu n o Q := pq | p, q ∈ Z, q 6= 0 – rationale Zahlen (alle endlichen und periodischen Dezimalbrüche) Wählt man die Zahlengerade als Modell, so kann man mit den rationalen Zahlen zumindest beliebig feine Einteilungen realisieren. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 39 / 367 Die reellen Zahlen Lücken in Q Aber: Bereits Euklid (ca. 360-280 v. Chr.) überlieferte uns den Beweis zu Satz 2.6 √ 2 6∈ Q, d.h. √ 2 ist keine rationale Zahl. Die rationalen Zahlen erfassen also nicht die gesamte Zahlengerade. Erst durch “Vervollständigen“ gelangt man zu den reellen Zahlen R. -7/4 √ -1 -1/ 2 0 1/2 1 π/2 2 Jedem Punkt der Zahlengeraden entspricht genau eine reelle Zahl. Die erste exakte Formulierung dieses Vervollständigungsprozesses stammt übrigens nicht aus der Antike. Dies gelang erst Karl Weierstraß (deutscher Mathematiker, 1815-1897). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 40 / 367 Die reellen Zahlen Moderner axiomatischer Ansatz Klassische Zahlbereichserweiterungen sind anschaulich, erweisen sich aber im Detail als kompliziert, z. B. bei Einführung von Addition und Multiplikation sowie der damit verbundenen Rechengesetze, Einführung einer Ordnungsrelation („größer/kleiner“), Ausformulieren des Vervollständigungsschritts. Moderne Ansätze definieren daher R direkt über Axiome, die unmittelbar die Rechengesetze liefern. Man benötigt: Körperaxiome (liefern Rechengesetze), Anordnungsgesetze (liefern Ordnungsrelation), Vollständigkeitsaxiom. N, Z und Q werden als entsprechende Teilmengen von R aufgefasst. Wir verzichten auf eine formale Angabe der Axiome, geben aber die unmittelbar resultierenden Gesetze an. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 41 / 367 Die reellen Zahlen Die arithmetischen Gesetze in R (1) (a+b)+c = a+(b+c) ∀a, b, c ∈ R (Assoziativgesetz der Addition), (2) a + 0 = a ∀a ∈ R (neutrales Element der Addition), (3) a + (−a) = 0 ∀a ∈ R (4) a + b = b + a ∀a, b ∈ R (5) (ab)c = a(bc) ∀ a, b, c ∈ R (inverse Elemente der Addition), (Kommutativgesetz der Adddition), (Assoziativgesetz der Multiplikation), (6) a · 1 = a ∀a ∈ R (neutrales Element der Multiplikation), (8) ab = ba ∀a, b ∈ R (Kommutativgesetz der Multiplikation), (7) a a1 = 1 ∀a ∈ R, a 6= 0 (inverse Elemente der Multiplikation), (9) a(b + c) = ab + ac ∀a, b, c ∈ R (Distributivgesetz). Diese Gesetze korrespondieren mit den Körperaxiomen. Eine Menge die die Körperaxiome erfüllt, heißt (Zahl-)Körper. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 42 / 367 Die reellen Zahlen Die arithmetischen Gesetze in R Wir definieren für a ∈ R und n ∈ N: an := a · a · . . . · a (n Faktoren), a0 := 1 und, falls a > 0: 1 a−n := n . a Dann folgen aus den arithmetischen Gesetzen weitere Rechenregeln: Satz 2.7 Für alle a, b ∈ R gelten a · 0 = 0, ab = 0 ⇒ a = 0 oder b = 0, a2 = b2 ⇔ a = b oder a = −b, −(−a) = a, −(a + b) = −a − b, (−a)b = a(−b) = −ab, (−a)(−b) = ab, an am = an+m an bn = (ab)n ∀m, n ∈ Z (falls a 6= 0), ∀n ∈ Z (falls a, b 6= 0). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 43 / 367 Die reellen Zahlen Binomische Formeln Weiterhin lassen sich mit den arithmetischen Gesetzen folgende wohlbekannte Aussagen beweisen: Satz 2.8 (Binomische Formeln) Für alle a, b ∈ R gilt (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 , (a − b)2 = a2 − 2ab + b2 , (a + b)(a − b) = a2 − b2 . Natürlich kann man auch Binome höheren Grades so auswerten. Z. B. gilt (a ± b)3 = a3 ± 3a2 b + 3ab2 ± b3 . Einen allgemeingültige Formel für (a + b)n , n ∈ N, finden Sie in der Literatur unter dem Namen „Binomischer Lehrsatz“. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 44 / 367 Die reellen Zahlen Die Ordnungsrelation in R (10) Zwischen zwei reellen Zahlen a und b besteht immer genau eine der folgenden drei Größenbeziehungen: a < b (a kleiner b), a = b (a gleich b), a > b (a größer b). (11) (a < b und b < c) ⇒ a < c (12) a < b ⇔ a + c < b + c ∀a, b, c ∈ R ∀a, b, c ∈ R (13) (a < b und 0 < c) ⇔ ac < bc ∀a, b, c ∈ R (Transitivität), (Monotonie der Addition), (Monotonie der Multiplikation). Definition: a ≤ b (a kleiner oder gleich b) bedeutet a < b oder a = b. a ≥ b (a größer oder gleich b) bedeutet a > b oder a = b. Diese Gesetze korrespondieren mit den Anordnungsaxiomen. Körper, die die Anordnungsaxiome erfüllen, heißen geordnete Körper. Beispiele sind R, aber auch Q. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 45 / 367 Die reellen Zahlen Die Ordnungsrelation in R Aus den Anordnungsaxiomen folgen weiterhin die Regeln für den Umgang mit Ungleichungen: Satz 2.9 Für a, b, c, d ∈ R gelten: a ≤ b und c ≤ d a ≤ b und c < 0 a≤b ⇒ a + c ≤ b + d, ⇒ −b ≤ −a, 0<a≤b ⇒ a<0<b ⇒ a≤b<0 ⇒ ⇒ 0< 1 b 1 a ≤ 1 b 1 a ac ≥ bc und ≥ cb , ≤ a1 , < 0, < 0 < 1b . Finden Sie die Lösungen der Ungleichung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) a c x−1 x+3 Mathematik I <2 (x 6= −3). Winterersemester 2013/14 46 / 367 Die reellen Zahlen Definition 2.10 (Obere und untere Schranken) Sei M 6= ∅, eine Teilmenge der reellen Zahlen. M heißt nach oben beschränkt , wenn es eine Zahl C ∈ R gibt mit x ≤ C für alle x ∈ M. Jede solche Zahl C heißt obere Schranke von M . Die kleinste obere Schranke einer nach oben beschränkten Menge M heißt Supremum von M (Schreibweise: sup M ). M heißt nach unten beschränkt , wenn es eine Zahl C ∈ R gibt mit x ≥ C für alle x ∈ M. Jede solche Zahl C heißt untere Schranke von M . Die größte untere Schranke einer nach unten beschränkten Menge M heißt Infimum von M (Schreibweise: inf M ). M heißt beschränkt, wenn M sowohl nach oben wie auch nach unten beschränkt ist. Gilt sup M ∈ M [inf M ∈ M ], so heißt sup M [inf M ] auch Maximum [Minimum] von M . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 47 / 367 Die reellen Zahlen Beispiele: Ist die Menge M1 := 1 :n∈N n ⊂R beschränkt? Geben Sie falls möglich obere und untere Schranken, Supremum und Infimum sowie Maximum und Minimum an. Betrachten wir weiterhin M2 := {q ∈ Q : q 2 < 2} ⊂ Q. Offenbar ist M2 nach oben beschränkt, denn 42 ist obere Schranke. Ein Supremum √ besitzt die Menge in den rationalen Zahlen jedoch nicht, da 2 ∈ / Q. In den reellen Zahlen ist die Angabe des Supremums jedoch unproblematisch: √ sup M2 = 2. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 48 / 367 Die reellen Zahlen Vollständigkeit Das letzte Beispiel liefert den Schlüssel für den noch fehlenden Vervollständigungsschritt bei der Konstruktion von R. (14) Jede nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum in R. Folgerungen: Jede nach unten beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Infimum in R. Jede beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum und ein Infimum in R. Damit ist die axiomatische Konstruktion von R komplett. Kurz zusammenfassen kann man (1)-(14) in folgendem Satz: R ist ein ordnungsvollständiger geordneter Körper. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 49 / 367 Die reellen Zahlen Intervalle Intervalle sind „zusammenhängende“ Teilmengen von R. Es wird dabei nach Inklusion der Randpunkte unterschieden. Für a, b ∈ R mit a ≤ b: [a, b] (a, b] [a, b) (a, b) [a, ∞) (a, ∞) (−∞, b] (−∞, b) (−∞, ∞) := := := := := := := := := {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R {x ∈ R R. : : : : : : : : a ≤ x ≤ b} (abgeschlossenes Intervall), a < x ≤ b} (halboffenes Intervall), a ≤ x < b} (halboffenes Intervall), a < x < b} (offenes Intervall), a ≤ x}, a < x}, x ≤ b}, x < b}, Auf dem Zahlenstrahl lassen sich Intervalle als zusammenhängende Bereiche darstellen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 50 / 367 Die reellen Zahlen Betrag Der Betrag von a ∈ R ist durch a, |a| := −a, für a ≥ 0, für a < 0 definiert. Satz 2.11 (Rechnen mit Beträgen) Für a, b ∈ R, c ≥ 0 gelten |a| ≥ 0, wobei |a| = 0 ⇔ a = 0, |a| = c ⇒ a = c oder a = −c, |a| = |− a| und |a − b| = |b − a|, |ab| = |a||b|, |a + b| ≤ |a| + |b| (Dreiecksungleichung), |a| ≤ c ⇔ −c ≤ a ≤ c. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 51 / 367 Die reellen Zahlen Betrag und Abstand Für den Betrag gibt es eine einfache, aber wichtige Interpretation am Zahlenstrahl. Für a, b ∈ R gibt |a| den Abstand von a zur Null an, gibt |a − b| = |b − a| den Abstand zwischen a und b an. |x| x Oliver Ernst (Numerische Mathematik) |b − a| 0 b Mathematik I a Winterersemester 2013/14 52 / 367 Die reellen Zahlen π = 3.2 per Gesetz? The „Indiana Pi Bill“. Zum Abschluss dieses Kapitels ein Kuriosum aus der mathematischer Unterhaltungsliteratur. Es geht um eine Gesetzesvorlage vom Ende des 19. Jahrhunderts. ab 1892 veröffentlicht der Arzt Edward J. Goodwin mehrere Arbeiten zur Quadratur des Kreises. Eine Behauptung: π = 3.2 1897 Gesetzesvorlage für Parlament von Indiana zur Festlegung von π. Zweck: Vermeidung von Gebühren an Urheber Entwurf passiert Repräsentantenhaus nach 3 Lesungen mit 67:0 Stimmen Mathematiker Clarence A. Waldo interveniert im Senat, dieser verweist Entwurf in Ausschuss, welcher diesen befürwortet Senat vertagt Entscheidung auf unbestimmte Zeit (Wert der Vorlage nicht einschätzbar, Sache aber nicht für Gegenstand der Gesetzgebung gehalten) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 53 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 54 / 367 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip Ausgehend von den reellen Zahlen findet man leicht folgende Charakterisierung der natürlichen Zahlen: Die natürlichen Zahlen sind die kleinste Teilmenge von R, die sowohl die Zahl 1 und mit jeder Zahl n auch deren Nachfolger n + 1 enthält. Visualisierung am Zahlenstrahl: 1 2 3 4 5 6 7 Daraus können wir nun ein wichtiges Beweisprinzip ableiten. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 55 / 367 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip Satz 2.12 (Prinzip der vollständigen Induktion) Eine Aussageform A(n) ist genau dann für alle n ∈ N wahr, wenn A(1) wahr ist („Induktionsanfang“), aus der Gültigkeit von A(n) für ein beliebiges n ∈ N stets die Gültigkeit von A(n + 1) folgt („Induktionsschritt“). Der Induktionsschritt sichert also folgende „Kette“ von Implikationen: A(1) ⇒ A(2) ⇒ A(3) ⇒ . . . ⇒ A(n) ⇒ A(n + 1) ⇒ . . . Man ist natürlich nicht zwingend auf den Startwert 1 festgelegt. Man kann im Induktionsanfang auch bei einem beliebigen n0 ∈ Z starten, muss dann aber auch den Induktionsschritt für n ≥ n0 beweisen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 56 / 367 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip Beispiel 2.13 (Bernoullische Ungleichung) Man beweise folgende Ungleichung mittels vollständiger Induktion: (1 + x)n ≥ 1 + nx für alle x ∈ R, x ≥ −1, n ∈ N. (2.1) Wir führen eine vollständige Induktion über n aus. Induktionsanfang: Für n = 1 gilt (1 + x)n = 1 + x = 1 + n · x, d. h. die Aussage ist für alle x ≥ −1 wahr. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 57 / 367 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip Induktionsschritt: Angenommen, (2.1) ist für ein n ∈ N wahr, d. h. (1 + x)n ≥ 1 + nx (x ≥ −1) (Induktionsvoraussetzung, IV). Dann gilt (1 + x)n+1 = (1 + x)n (1 + x) ≥ (1 + nx)(1 + x) = (nach IV) 1 + (n + 1)x + nx ≥ 1 + (n + 1)x 2 (da nx2 ≥ 0). Aus der Gültigkeit von (2.1) für n folgt also die Gültigkeit für n + 1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 58 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 59 / 367 Abbildungen und Funktionen Hier sollen nur die grundlegenden Begriffe bereitgestellt/wiederholt werden. Eine intensive Beschäftigung mit der Materie erfolgt später. Definition 2.14 (Funktion) Seien A und B Mengen. Eine Abbildung oder Funktion f : A → B ist eine Vorschrift, durch die jedem x ∈ A genau ein y = f (x) ∈ B zugeordnet wird. A heißt Definitionsbereich von f und f (A) := {f (x) : x ∈ A} ⊆ B heißt Wertebereich oder Bild von f . Für x ∈ A heißt y = f (x) Bild von x unter f oder Funktionswert von f an der Stelle x. Zwei Funktionen f : Df → B, x 7→ f (x), und g : Dg → C, x 7→ g(x), heißen gleich (f = g), wenn Df = Dg und f (x) = g(x) für alle x ∈ Df = Dg gelten. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 60 / 367 Abbildungen und Funktionen Schreibweisen: f :A→B y = f (x) oder f :A→B . x 7→ f (x) Beschreibung von Funktionen Eine Funktion f : A → B kann man auf verschiedene Weisen beschreiben: analytisch, d.h. durch Angabe der Zuordnungsvorschrift, tabellarisch, d.h. durch eine Wertetabelle, graphisch, d.h. durch Visualisierung der Menge Graph(f ) := {(x, f (x)) : x ∈ A} ⊆ A × B, des sogenannten Graphen von f . (Für f : R → R ist der Graph von f eine „Kurve“ im R2 .) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 61 / 367 Abbildungen und Funktionen Definition 2.15 Sei f : A → B eine Funktion. Zu einer Menge A0 ⊆ A heißt f (A0 ) := {f (x) : x ∈ A0 } ⊆ B das Bild von A0 unter f . Zu einer Menge B 0 ⊆ B heißt f −1 (B 0 ) := {x ∈ A : f (x) ∈ B 0 } das Urbild von B 0 unter f . Man bestimme f ([1, 2]) und f −1 ([1, 4]) für f : R → R, f (x) = x2 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 62 / 367 Abbildungen und Funktionen Umkehrbarkeit von Abbildungen Definition 2.16 Eine Funktion f : A → B heißt injektiv (eineindeutig), wenn für alle x1 , x2 ∈ A mit x1 6= x2 stets f (x1 ) 6= f (x2 ) gilt, surjektiv, wenn es zu jedem y ∈ B ein x ∈ A gibt mit y = f (x), bijektiv, wenn f injektiv und surjektiv ist. Ist f bijektiv, so existiert die Umkehrfunktion f −1 : B → A, Oliver Ernst (Numerische Mathematik) f −1 (y) = x :⇔ y = f (x). Mathematik I Winterersemester 2013/14 63 / 367 Abbildungen und Funktionen Umkehrbarkeit von Abbildungen A1 B1 A2 f1 surjektiv, nicht injektiv B2 A3 f2 injektiv, nicht surjektiv B3 f3 bijektiv Ist die Funktion f1 : R → R, f1 (x) = x2 injektiv/surjektiv/bijektiv? Wie verhält es sich mit f2 : N → N, f2 (x) = x2 , f3 : [0, ∞) → R, f3 (x) = x2 , f4 : [0, ∞) → [0, ∞), f4 (x) = x2 ? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 64 / 367 Abbildungen und Funktionen Umkehrbarkeit von Abbildungen Beispiel 2.17 (n−te Wurzel) Die Funktion f : [0, ∞) → [0, ∞), f (x) = xn ist für alle n ∈ N bijektiv. Die Umkehrfunktion ist die n−te Wurzel: √ f −1 : [0, ∞) → [0, ∞), x 7→ n x. Beachten Sie: die n−te √ Wurzel ist für negative Zahlen nicht definiert. Statt schreibt man kurz x. √ 2 x 4 f(x)=x2 3 2 g(x)=x1/2 1 0 0 1 2 3 4 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Situation für n = 2. Wie bei allen reellen Funktionen entsteht der Graph von f −1 durch Spiegeln des Graphen von f an der Geraden y = x. Mathematik I Winterersemester 2013/14 65 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen Grundlagen 1.1 Elemente der Aussagenlogik 1.2 Elemente der Mengenlehre 1.3 Die reellen Zahlen 1.4 Natürliche Zahlen und Induktionsprinzip 1.5 Abbildungen und Funktionen 1.6 Komplexe Zahlen 1 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 66 / 367 Komplexe Zahlen Motivation Erinnern Sie sich an die Zahlbereichserweiterungen? Unser Ziel war dabei, bestimmte Gleichungstypen uneingeschränkt lösen zu können. Z. B. hatte x + 5 = 2 in N keine Lösung. Erweitert man den Zahlbereich zu Z, so lässt sich eine Lösung angeben (x = −3). In den reellen Zahlen sind quadratische Gleichungen nicht immer lösbar: x2 = 1 hat in R zwei Lösungen (x1/2 = ±1), dagegen hat x2 = −1 in R keine Lösung. Um diesen „Mangel“ zu beheben, kann man eine weitere Zahlbereichserweiterung durchführen. Der initiale Schritt ist dabei das Hinzufügen einer neuen Zahl i, die i2 = −1 erfüllt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 67 / 367 Komplexe Zahlen Definition Definition 2.18 (Komplexe Zahl) Eine komplexe Zahl z ist ein Ausdruck der Form z = a + ib mit a, b ∈ R, Die Zahl i (mit der Eigenschaft i2 = −1) heißt imaginäre Einheit. a =: Re z heißt Realteil von z, b =: Im z heißt Imaginärteil von z. Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn sowohl die Realteile als auch die Imaginärteile übereinstimmen. Die Menge aller komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet. Statt x+i0 schreibt man x, d.h. reelle Zahlen sind komplexe Zahlen mit Imaginärteil 0. In diesem Sinne gilt also R ⊆ C. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 68 / 367 Komplexe Zahlen Gaußsche Zahlenebene Definition 2.19 Sei z = a + ib (a, b ∈ R) eine komplexe Zahl. Dann heißt z̄ := a − ib die zu z konjugiert komplexe Zahl. √ |z| := a2 + b2 der Betrag von |z|. Im z b 0 −b z = a + ib a Re z z̄ = a − ib Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Eine komplexe Zahl z veranschaulicht man sich als Punkt der Gaußschen Zahlenebene mit den Koordinaten (Re z, Im z). Mathematik I Winterersemester 2013/14 69 / 367 Komplexe Zahlen Rechenregeln Rechenoperationen in C Für z = a + ib, w = c + id ∈ C (a, b, c, d ∈ R) definiert man z+w z−w zw z w := (a + c) + i(b + d), := (a − c) + i(b − d), := (ac − bd) + i(ad + bc), bc−ad := ac+bd (w 6= 0). c2 +d2 + i c2 +d2 Diese Operationen sind so definiert, dass man die gewohnten Vorstellungen von den reellen Zahlen unter Beachtung von i2 = −1 direkt übertragen kann. Die Division lässt sich als „Erweitern“ mit dem Konjugiert-Komplexen des Nenners auffassen: z (a + ib)(c − id) (a + ib)(c − id) z w̄ = = = . w (c + id)(c − id) c2 + d2 |w|2 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 70 / 367 Komplexe Zahlen Addition und Subtraktion in der Gaußschen Zahlenebene Man gebe zu z1 = 1, z2 = −i, z3 = −3 + 2i, z4 = 1 + i Real- und Imaginärteil an und zeichne die zugehörigen Punkte in die Gaußschen Zahlenebene. Man berechne z3 + z4 , z3 − z4 , z3 · z4 sowie z3 /z4 . Wie lautet die kartesische Form der Zahl 1i ? Im z Im z z1 − z2 z1 0 z2 z1 −z2 z1 + z2 Re z 0 z2 Re z Beachten Sie die Analogie zur Vektorrechnung! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 71 / 367 Komplexe Zahlen Geometrische Interpretation des Betrags In der Gaußschen Zahlenebene charakterisiert |z| den Abstand einer Zahl z zum Koordinatenursprung |z1 − z2 | = |z2 − z1 | den Abstand zwischen z1 und z2 in der Gaußschen Zahlenebene. die Menge M = {z ∈ C : |z − z0 | ≤ r} für r > 0 und z0 ∈ C eine Kreisscheibe um z0 mit Radius r. Im z Im z z1 − z2 −z2 0 |z2| M z1 |z1| |z1 − z2| z2 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) r z0 Re z Mathematik I 0 Re z Winterersemester 2013/14 72 / 367 Komplexe Zahlen C als Zahlkörper Mit der eingeführten Addition und Multiplikation bildet C einen Zahlkörper. Konsequenzen sind: Die arithmetischen Gesetze der reellen Zahlen (vgl. S. 42) gelten auch für komplexe Zahlen. Satz 2.20 Die Rechenregeln für reelle Zahlen (Satz 2.7) sowie die binomischen Formeln und deren Verallgemeinerungen (vgl. S. 44) gelten auch für komplexe Zahlen. Wie gewohnt schreiben wir dabei für z ∈ C, n ∈ N z n := z · z · . . . · z (n Faktoren), z 0 := 1, z −n := 1 (z 6= 0). zn Finden Sie die komplexen Lösungen der Gleichung z 2 (z + 1)(z − 4 + i) = 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 73 / 367 Komplexe Zahlen Rechenregeln für z und z̄ Satz 2.21 Für z, w ∈ C gelten z̄¯ = z, z ± w = z̄ ± w̄, z · w = z̄ · w̄, z z̄ = |z|2 , |z̄| = |z|, Re z = 12 (z + z̄), Im z = z = z̄ ⇔ 1 2i (z z ∈ R. z w = z̄ w̄ , − z̄), Beweisen Sie einige dieser Regeln. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 74 / 367 Komplexe Zahlen Rechenregeln für Beträge Satz 2.22 Für z, w ∈ C gelten |z| ≥ 0, wobei |z| = 0 ⇔ z = 0, |z| = |− z|, |zw| = |z||w|, |z + w| ≤ |z| + |w| (Dreiecksungleichung). Warum lassen sich die Regeln |a| = c ⇒ a = c oder a = −c, |a| ≤ c ⇔ −c ≤ a ≤ c. für a ∈ R, c ≥ 0 nicht auf komplexe Zahlen anwenden? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 75 / 367 Komplexe Zahlen Die Polarform einer komplexen Zahl Eine komplexe Zahl z = 6 0 ist auch über ihre Polarkoordinaten in der Gaußschen Zahlenebene eindeutig charakterisiert: Im z b z r ϕ 0 a Re z Dabei ist r = |z| der Abstand von z zu 0, ϕ der „Drehwinkel“ des Ortsvektors zu z, gemessen von der reellen Achse im Gegenuhrzeigersinn. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 76 / 367 Komplexe Zahlen Die Polarform einer komplexen Zahl Mir den klassischen Definitionen von Sinus und Kosinus am Einheitskreis gilt also für z = a + ib: z = r cos ϕ + i · r sin ϕ = |z|(cos ϕ + i sin ϕ). Definition 2.23 (Polarform) Für z = a + ib (a, b ∈ R), z 6= 0, heißt ϕ = arg(z) Argument von z, falls |z| cos ϕ = a und |z| sin ϕ = b. (2.2) Die Darstellung z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ). heißt Polarform von z. Das Argument ist nur bis auf ganzzahlige Vielfache von 2π festgelegt. Man wählt häufig ϕ ∈ [0, 2π), um Eindeutigkeit zu erhalten, und spricht dann vom Hauptwert des Arguments. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 77 / 367 Komplexe Zahlen Umwandlungsarbeiten Von der Polarform z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) zur kartesischen Form gelangt man durch Ausmultiplizieren. Von der √ kartesischen Form z = a + ib zur Polarform gelangt man mit |z| = a2 + b2 und (2.2). Zur Bestimmung des Arguments kann man auch b (a 6= 0) tan ϕ = a benutzen, muss dabei aber auf Quadrantenbeziehungen achten (der Fall a = 0 ist trivial). Wie lautet die Polarform von 2i, −1, −3 + 2i? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 78 / 367 Komplexe Zahlen Die komplexe Exponentialfunktion Die Zahl eiϕ (ϕ ∈ R) spielt im Zusammenhang mit der Polarform eine wichtige Rolle. Da uns noch keine Potenzreihen zur Verfügung stehen, definieren wir sie vorläufig mittels Eulersche Formel eiϕ := cos ϕ + i sin ϕ (ϕ ∈ R) Damit kann man jede komplexe Zahl z 6= 0 schreiben als z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) = |z|eiϕ (ϕ = arg(z)). Diese Darstellung nennt man Eulersche, Exponential- oder einfach wieder Polardarstellung von z. Im Einklang mit den Potenzgesetzen schreiben wir ferner ez = ea eib für eine beliebige komplexe Zahl z = a + ib (a, b ∈ R). Auch dies wollen wir vorläufig als Definition verstehen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 79 / 367 Komplexe Zahlen Die komplexe Exponentialfunktion Es lässt sich zeigen, dass die komplexe Exponentialfunktion ähnlichen Gesetzen genügt, wie die reelle: Satz 2.24 Für z, w ∈ C, n ∈ N gelten: ez+w = ez · ew , ez−w = ez , ew insbesondere also für ϕ, ψ ∈ R: ei(ϕ+ψ) = eiϕ · eiψ , Oliver Ernst (Numerische Mathematik) ei(ϕ−ψ) = Mathematik I eiϕ , eiψ (ez )n = enz , (eiϕ )n = einϕ . Winterersemester 2013/14 80 / 367 Komplexe Zahlen Die komplexe Exponentialfunktion Die Eulersche Formel eiϕ = cos ϕ+i sin ϕ (ϕ ∈ R) liefert den Schlüssel für folgende Beobachtung: eiϕ ist die komplexe Zahl auf dem Einheitskreis, deren Argument ϕ ist. Im z 1 eiϕ ϕ 0 1 Re z Bild rechts: Leonhard Euler (1707-1783), Schweizer Mathematiker. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 81 / 367 Komplexe Zahlen Multiplikation und Division in der Polarform Für zwei komplexe Zahlen z, w 6= 0 mit den Polardarstellungen z w erhält man = |z| eiϕ = |z|(cos ϕ + i sin ϕ), = |w| eiψ = |w|(cos ψ + i sin ψ) z·w = = = (ϕ, ψ ∈ R) |z||w| eiϕ eiψ |zw| ei(ϕ+ψ) |zw|(cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ)), |z| eiϕ |w| eiψ z i(ϕ−ψ) = e w z = (cos(ϕ − ψ) + i sin(ϕ − ψ)), w d.h. arg(zw) = arg(z) + arg(w) und arg( wz ) = arg(z) − arg(w) z w Oliver Ernst (Numerische Mathematik) = Mathematik I Winterersemester 2013/14 82 / 367 Komplexe Zahlen Geometrische Darstellung von Multiplikation und Division Im z wz Im z w w z |w| z |wz| ϕ ψ 0 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) ϕ |z| |z| |w| ψ ϕ Re z Mathematik I 0 z/w |z/w| ψ Re z Winterersemester 2013/14 83 / 367 Komplexe Zahlen Potenzen und Wurzeln Für eine komplexe Zahl z 6= 0 mit Polardarstellung z = |z| eiϕ und n ∈ N gilt weiterhin z n = |z|n (eiϕ )n = |z|n einϕ = |z|n (cos(nϕ) + i sin(nϕ)). Bei der Ermittlung der Lösungen von wn = z zu einer gegebenen komplexen Zahl z = |z| eiϕ ist zu beachten, dass ϕ → 7 eiϕ im Gegensatz zum reellen Fall 2π−periodisch ist, d.h. eiϕ = ei(ϕ+2kπ) (k ∈ Z). Somit liefert die (formale) Anwendung der Potenzgesetze wn = |z| eiϕ ⇔ 1 w = |z| n ei ϕ+2kπ n = p n ϕ |z| ei( n + 2kπ n ) . Auch die Periode 2π wird also durch n geteilt, wodurch n verschiedene „n-te Wurzeln“ von z entstehen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 84 / 367 Komplexe Zahlen Potenzen und Wurzeln Wir fassen unsere Vorüberlegung folgendermaßen zusammen: Satz 2.25 (Potenzieren und Radizieren in C) Sei n ∈ N, dann gilt: Die n−te Potenz von z = |z|eiϕ = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) (ϕ ∈ R) ergibt sich zu z n = |z|n einϕ = |z|n (cos(nϕ) + i sin(nϕ)). Insbesondere gilt die de Moivresche Formel (cos ϕ + i sin ϕ)n = cos(nϕ) + i sin(nϕ). Für jede Zahl z = |z|eiϕ besitzt die Gleichung wn = z genau n verschiedene Lösungen p p ϕ 2kπ ϕ 2kπ ϕ 2kπ wk = n |z| ei( n + n ) = n |z|(cos( + ) + i sin( + )) n n n n mit k = 0, . . . , n − 1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 85 / 367 Komplexe Zahlen Geometrische Darstellung der n−ten Wurzeln Die n−ten Wurzeln von |z|eiϕ liegen auf einem Kreis mit Radius Nullpunkt und bilden ein regelmäßiges n−Eck. p n |z| um den Im z 2 π π/8 0 2 Re z Illustration am Beispiel der 8-ten Wurzeln von −256 = 256eiπ . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 86 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Mehrfachwinkelformeln und Additionstheoreme Mit Hilfe der Eulerschen und der de Moivreschen Formel lassen sich Beziehungen für trigonometrische Funktionen zeigen, z. B. sin(x ± y) = sin x cos y ± cos x sin y, cos(x ± y) = cos x cos y ∓ sin x sin y, sin 2x = 2 sin x cos x, cos 2x = cos2 x − sin2 x (sinn x := (sin x)n , analog für cos) sin 3x = 3 sin x − 4 sin3 x, cos 3x = 4 cos3 x − 3 cos x. Beweisen Sie einige dieser Beziehungen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 87 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Komplexe Polynome Bei der Bestimmung n−ter Wurzeln wurden Gleichungen der Form z n − a = 0 gelöst. Wir wollen die Frage der Lösbarkeit algebraischer Gleichungen allgemeiner untersuchen. Folgende Terminologie: Eine Abbildung der Form p : C → C, p(z) = an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 mit festen Zahlen („Koeffizienten“) a0 , a1 , . . . , an ∈ C heißt komplexes Polynom vom Grad deg(p) = n. Eine Zahl w ∈ C heißt Nullstelle von p, falls p(w) = 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 88 / 367 Komplexe Zahlen Abspalten von Linearfaktoren, Existenz von Nullstellen Besitzt ein Polynom p vom Grad n ≥ 1 eine Nullstelle w, so lässt sich p ohne Rest durch (z − w) teilen, d.h. es gibt ein Polynom q von Grad n − 1 mit p(z) = (z − w) q(z) (z ∈ C). Anders als in R gilt in den komplexen Zahlen folgende Aussage: Satz 2.26 (Fundamentalsatz der Algebra) Jedes Polynom vom Grad n ≥ 1 besitzt mindestens eine komplexe Nullstelle. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 89 / 367 Komplexe Zahlen Zerlegung in Linearfaktoren Von jedem Polynom p mit Grad n ≥ 1 kann man also einen Linearfaktor abspalten. Ist der verbleibende Rest mindestens vom Grad 1, kann man dies natürlich erneut tun usw. . . Wir halten fest: Folgerung 2.27 Das Polynom p : C → C sei gegeben durch p(z) = an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 . Dann existieren komplexe Zahlen w1 , . . . , wn mit p(z) = an (z − w1 )(z − w2 ) . . . (z − wn ). (2.3) Jedes komplexe Polynom hat also sogar n Nullstellen (Vielfachheiten mitgezählt) und zerfällt vollständig in Linearfaktoren. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 90 / 367 Komplexe Zahlen Quadratische Gleichungen Die Berechnung der Nullstellen gemäß Satz 2.26 und Folgerung 2.27 ist i. Allg. nur numerisch möglich. Ausnahmen bilden n-te Wurzeln oder quadratische Gleichungen mit reellen Koeffizienten: Satz 2.28 Die komplexen Lösungen der quadratischen Gleichung z 2 + pz + q = 0, sind gegeben durch z1,2 q p2 p − 2 ± 4 − q, = q 2 p − 2 ± i q − p4 , p, q ∈ R, falls p2 4 − q ≥ 0, falls p2 4 − q < 0. Verifizieren Sie den zweiten Fall durch Modifikation der bekannten Herleitung der p–q–Formel. Geben Sie die komplexen Lösungen von z 2 − 4z + 5 = 0 an. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 91 / 367 Komplexe Zahlen Nullstellen reeller Polynome Das Auftreten konjugiert komplexer Zahlen in der p-q-Formel lässt sich verallgemeinern: Satz 2.29 Sind die Koeffizienten des Polynoms p : C → C, p(z) = an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 . allesamt reell, so sind die Nullstellen reell (λj ∈ R) oder treten in konjugiert komplexen Paaren (αj ± iβj , αj , βj ∈ R) auf. Es existiert eine Zerlegung der Form p(z) = an k Y (z − λj ) j=1 m Y ((z − αj )2 + βj2 ), (2.4) j=1 wobei k + 2m = n. Jedes reelle Polynom lässt sich also als Produkt von Linearfaktoren und quadratischen Polynomen schreiben. Geben Sie Zerlegungen von p(z) = z 3 + z gemäß (2.3) und (2.4) an. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 92 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Komplexe Wechselstromrechnung In der Wechselstromtechnik treten häufig sinus-/cosinusförmige Spannungs- bzw. Stromverläufe auf: i(t) = Im cos(ωt) u(t) = Um cos(ωt + ϕ) (Im , Um Amplituden, t Zeit, ω = 2πf Kreisfrequenz, f Frequenz (Netz in D: f = 50 Hz)) Der Winkel ϕ charakterisiert die i.A. auftretende Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 93 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Komplexe Wechselstromrechnung Ursache für die Phasenverschiebung sind verschiedene „Arten“ von Widerständen im Wechselstromkreis: Ohmscher Widerstand R: Um = R Im , keine Phasenverschiebung, Induktivität L (Spule): Um = ωLIm , Phasenverschiebung π2 , Hintergrund Selbstinduktion/Lenzsches Gesetz, Kapazität C (Kondensator): 1 Um = ωC Im , Phasenverschiebung - π2 , Hintergrund: fortwährende Ladungs-/Entladungsvorgänge. Es müssen also nicht nur die reellen Proportionalitätsfaktoren, sondern auch die Phasenverschiebungen beachtet werden. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 94 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Komplexe Wechselstromrechnung Trick: Verwende zur Berechnung komplexe Ströme und Spannungen und interpretiere dabei nur den Realteil: i(t) = Im eiωt , u(t) = Um ei(ωt+ϕ) . Mit folgenden komplexen Widerständen R̃ gilt dann das Ohmsche Gesetz u(t) = R̃ i(t) auch hier: Ohmscher Widerstand R ∈ R: u(t) = Um eiωt = RIm eiωt = Ri(t), Induktiver Widerstand RL = iωL: π u(t) = Um ei(ωt+ 2 ) = iωL Im eiωt = RL i(t) 1 Kapazitiver Widerstand RC = −i ωC : π i u(t) = Um ei(ωt− 2 ) = − Im eiωt = RC i(t) ωC Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I π (beachte i = ei 2 ) π (beachte − i = e−i 2 ) Winterersemester 2013/14 95 / 367 Komplexe Zahlen Exkurs: Komplexe Wechselstromrechnung Für einen komplexen Widerstand R bezeichnet man Re R als Wirk- und Im R als Blindwiderstand. Ohmsche Widerstände sind reine Wirkwiderstände, kapazitive und induktive reine Blindwiderstände. Vorteile der komplexen Wechselstromrechnung: Das Ohmsche Gesetz gilt wie gewohnt (für die Realteile gilt es nicht!), Phasenverschiebung arg R und Scheinwiderstand |R| = Um /Im werden gleichzeitig erfasst, Die Kirchhoffschen Gesetze und ihre Folgerungen gelten damit auch im Wechselstromkreis, z. B. R = R1 + R2 bzw. 1 1 1 = + R R1 R2 für Reihen-/Parallelschaltung zweier Widerstände. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 96 / 367 Komplexe Zahlen Weitere Anwendungen Weitere Anwendungen der komplexen Zahlen finden sich an verschiedensten Stellen. Einige werden Sie im Laufe ihres Studiums sicher kennenlernen, z.B. Die mit bestimmten Differentialgleichungen verknüpften „Eigenwerte“ sind komplexe Zahlen. Standardanwendungen sind Federschwinger oder Fadenpendel. In der Signal- oder Bildanalyse verwendet man oft die komplexwertige Fouriertransformierte, um Frequenzanalysen oder -filterungen durchzuführen. In der Quantenmechanik werden Teilchen durch ihre komplexwertige Zustandsfunktion beschrieben. Interpretiert wird nur deren Quadrat („Ortsauffindungswahrscheinlichkeitsdichte“) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 97 / 367 Ziele erreicht? Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Nacharbeiten des Stoffes): sicher mit reellen Zahlen, Gleichungen und Ungleichungen umgehen können, sicher mit komplexen Zahlen umgehen können (Arithmetik in kartesischer und Polarform, Potenzen und Wurzeln, einfache Gleichungen, Veranschaulichungen in der Gaußschen Zahlenebene), einfache bis mäßig schwierige logische Zusammenhänge und Schlüsse erfassen können, Überblickswissen über den Aufbau mathematischer Theorie im allgemeinen besitzen, eine grobe Vorstellung vom axiomatischen Aufbau von Zahlenbereichen haben, erste Vorstellungen entwickelt haben, wozu man das bisher vermittelte Wissen in der Informatik/Elektrotechnik braucht. Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Dann werden Sie aktiv! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 98 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 99 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen Folgen und Reihen 3.1 Folgen 3.2 Grenzwerte und Konvergenz 3.3 Unendliche Reihen 3 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 100 / 367 Folgen Betrachten Sie folgende Liste von Zahlen: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, . . . Erkennen Sie ein Gesetz, mit dem man die Liste sinnvoll fortsetzen kann? Ist die Regel einmal erkannt, so können Sie mit diesem Gesetz zu jeder vorgegebenen Position das zugehörige Element der Liste ausrechnen. Jeder natürlichen Zahl („Position“) wird dabei eine reelle Zahl („Listenelement“) zugeordnet – es entsteht eine Abbildung a : N → R. Solche Abbildungen heißen Zahlenfolgen. Sie spielen in vielen Anwendungen eine große Rolle und liefern uns den Schlüssel zum Verständnis des Grenzwerts - des wohl wichtigsten Begriffs der Analysis. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 101 / 367 Folgen Definition 3.1 (Zahlenfolge) Eine Abbildung a, die jeder natürlichen Zahl n eine reelle Zahl an zuordnet, heißt (unendliche reelle) Zahlenfolge. Statt a : N → R schreibt man (an )n∈N oder kurz (an ). an = a(n) heißt n-tes Folgenglied dieser Zahlenfolge. Anmerkung: Wie schon beim Induktionsprinzip kann man als Indexmenge auch jede andere Menge der Form {n ∈ Z : n ≥ n0 } für festes n0 ∈ Z benutzen. Insbesondere ist N0 zulässig. Notation für diesen Fall: (an )n≥n0 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 102 / 367 Folgen Bildungsgesetze Die Beschreibung von Folgen erfolgt in der Regel durch Angabe von Bildungsgesetzen. Explizites Bildungsgesetz: Der Wert an wird mittels einer Gleichung in Abhängigkeit von n angeben (Funktionsvorschrift). Beispiel: Die Bildungsvorschrift an = (−1)n n12 erzeugt die Folge 1 1 1 1 1 1 1 −1, , − , , − , , − , , . . . 4 9 16 25 36 49 64 Das 42-te Glied kann man direkt berechnen: a42 = (−1)42 4212 = 1 1764 . √ Man gebe die ersten 7 Glieder der Folgen ( 21n ) und ( n n) (ggf. näherungsweise) an. Wie lautet das 1000-te Folgenglied? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 103 / 367 Folgen Bildungsgesetze Rekursionsvorschrift: Der Wert an+1 wird in Abhängigkeit von an und n ausgedrückt. Zusätzlich wird a1 angegeben (vgl. Induktionsprinizip). Beispiel: Die Rekursionsvorschrift an+1 = an + n erzeugt die Folge 1, 2, 4, 7, 11, 16, 22, 29, . . . Das Glied a42 = 903 über diese Vorschrift zu berechnen ist mühsam. (Später werden wir sehen, wie dies explizit besser geht). Man gebe die ersten 7 Glieder der durch an+1 = a2n und a1 = 1 gegebenen Folge an. Können Sie eine explizite Bildungsvorschrift finden? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 104 / 367 Folgen Bildungsgesetze Gelegentlich greift man in Rekursionsformeln auch auf mehrere vorhergehende Glieder zurück. Drückt man dabei an+m über an , . . . , an+m−1 aus, muss man m Startwerte angeben. Beispiel: Die Rekursionsvorschrift für die Fibonacci-Zahlen an+2 = an+1 + an , n ≥ 1, a1 = 1, a2 = 1, erzeugt die Folge 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, . . . Diese Folge wurde von Leonardo da Pisa (Fibonacci), ca. 1180–1241, bei der mathematischen Modellierung einer Kaninchenpopulation entdeckt. Fibonacci gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker des Mittelalters. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 105 / 367 Folgen Exkurs: Fibonacci-Zahlen in der Natur Fibonacci-Zahlen finden sich häufig an Pflanzenteilen wieder. Grund ist die damit erreichbare hohe Lichtausbeute: Die Anzahl von Blütenblättern ist oft eine Fibonacci-Zahl (Ringelblume 13, Aster 21, Sonnenblume, Gänseblümchen 21/34/55/89) Die Anzahl gewisser Spiralen in Blütenkörbchen (Sonnenblumen- kerne) oder bei Zapfen (Kiefer) ist häufig eine Fibonacci-Zahl Bilder alle aus Wikimedia Commons, links: André Karwath aka Aka, Mitte: KENPEI, rechts: Dr. Helmut Haß, Koblenz / Wolfgang Beyer Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 106 / 367 Folgen Bildungsgesetze Anmerkung: Die Umwandlung von expliziter in rekursive Vorschrift und zurück kann schwierig sein. Es gibt Folgen, bei denen nur eine Form oder sogar gar kein Bildungsgesetz bekannt ist. Beispiel: Folge der Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, . . . Die Bestimmung z. B. des 42-ten Folgenglieds (181) ist hier ohne eine betreffende Liste sehr aufwändig. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 107 / 367 Folgen Visualisierung von Folgen Darstellung des Graphen in der Ebene: 1 0.8 Der Graph einer Zahlenfolge (an ) besteht aus den diskret liegenden Punkten (n, an ), 0.6 0.4 n ∈ N. 0.2 0 Mitunter ist es auch zweckmäßig, lediglich die Folgenglieder auf dem Zahlenstrahl darzustellen: Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I 0 1 2 b2 −2 3 4 5 b4 b6 b5 b3 0 2 6 7 8 9 4 Winterersemester 2013/14 10 b1 6 108 / 367 Folgen Beschränktheit und Monotonie Definition 3.2 Eine Folge (an ) heißt beschränkt, wenn es eine reelle Zahl C ≥ 0 gibt, so dass |an | ≤ C für alle n ∈ N. Eine Folge (an ) heißt (streng) monoton wachsend, wenn an ≤ an+1 (bzw. an < an+1 ) für alle n ∈ N, (streng) monoton fallend, wenn an ≥ an+1 (bzw. an > an+1 ) für alle n ∈ N, (streng) monoton, falls sie (streng) monoton wachsend oder fallend ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 109 / 367 Folgen Beschränktheit und Monotonie Beispiele ( n1 ) ist streng monoton fallend und beschränkt (C = 1). n ( (−1) n ) ist nicht monoton, aber beschränkt (C = 1). (− 45 + 1 10 n) ist streng monoton wachsend und unbeschränkt. Bilder zu den drei Folgen: Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 110 / 367 Folgen Hinweis zum Rechnen Oft ist es sinnvoll, statt an ≤ an+1 für monotones Wachstum eine der äquivalenten Ungleichungen an+1 an+1 − an ≥ 0 oder ≥1 an zu verwenden (letztere nur, wenn alle an positiv sind!). Für monoton fallende Folgen analog mit umgekehrtem Relationszeichen. 2n Untersuchen Sie die Folge 5n+2 auf Monotonie und Beschränktheit. Führen Sie die Monotonieuntersuchung mit beiden o. a. Ungleichungen durch. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 111 / 367 Folgen Spezielle Folgen Definition 3.3 (Arithmetische Folge) Eine Folge (an ) heißt arithmetische Folge, falls die Differenz zweier aufeinanderfolgender Glieder immer den gleichen Wert ergibt, d.h. für eine Konstante d ∈ R. an+1 − an = d Satz 3.4 Sei (an ) eine arithmetische Folge mit an+1 − an = d (n ∈ N). Dann lautet die explizite Bildungsvorschrift: an = a1 + (n − 1)d. (3.1) Eine arithmetische Folge ist also durch Angabe des ersten Folgenglieds a1 und der Differenz d eindeutig bestimmt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 112 / 367 Folgen Beispiel Mit a1 = 3 und d = −2 erhält man die Folge 3, 1, −1, −3, −5, −7, −9, . . . Die zugehörige Bildungsvorschrift lautet an = 3 + (n − 1) · (−2) = 5 − 2n. Geben Sie eine explizite Bildungsvorschrift zur arithmetischen Folge 2, 7, 12, 17, 22, 27, . . . an. Berechnen Sie damit das 2013-te Folgenglied. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 113 / 367 Folgen Spezielle Folgen Graphische Darstellung: Nach Satz 3.4 kann man eine arithmetische Folge als Einschränkung der affin linearen Funktion f : R → R, f (x) = a1 + d(x − 1) = a1 − d + dx auf die natürlichen Zahlen auffassen. Die Punkte des Graphen liegen somit auf einer Geraden mit Anstieg d: 7 a1 = − 10 , d= 1 10 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) a1 = 2 , 5 d=0 Mathematik I a1 = 1, d = − 16 Winterersemester 2013/14 114 / 367 Folgen Spezielle Folgen Definition 3.5 (Geometrische Folge) Eine Folge (an ) heißt geometrische Folge, falls der Quotient zweier aufeinanderfolgender Glieder immer den gleichen Wert ergibt, d.h. an+1 =q an für eine Konstante q ∈ R, q 6= 0. Satz 3.6 Sei (an ) eine geometrische Folge mit an+1 /an = q (n ∈ N). Dann lautet die explizite Bildungsvorschrift: an = a1 q n−1 . (3.2) Eine geometrische Folge ist also durch Angabe des ersten Folgenglieds a1 und des Quotienten q eindeutig bestimmt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 115 / 367 Folgen Beispiel Mit a1 = 1 und q = 1 2 erhält man die Folge 1 1 1 1 1 1 1, , , , , , , . . . 2 4 8 16 32 64 Die zugehörige Bildungsvorschrift lautet n−1 1 1 an = 1 · = n−1 . 2 2 Wie lautet die explizite Bildungsvorschrift zur geometrischen Folge 2 4 8 16 32 64 , , , , , , . . .? 3 3 3 3 3 3 Handelt es sich bei an = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 4·3n−4 7n+1 (n ∈ N) um eine geometrische Folge? Mathematik I Winterersemester 2013/14 116 / 367 Folgen Spezielle Folgen Graphische Darstellung: Nach Satz 3.6 kann man für q > 0 eine geometrische Folge als Einschränkung der Funktion a1 f : R → R, f (x) = a1 q x−1 = q x q auf die natürlichen Zahlen auffassen. Die Punkte des Graphen liegen für q > 0 somit auf dem Graphen einer Exponentialfunktion mit Basis q. a1 = 1, q = 12 (·) a1 = −1, q = 43 (+) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 1 a1 = 10 , q = 1.25 (·) 1 a1 = − 10 , q = 1.2 (+) Mathematik I a1 = 1, q = − 23 Winterersemester 2013/14 117 / 367 Folgen Folgen und Wachstumsprozesse Arithmetische Folgen werden häufig verwendet, wenn es um einen konstanten Zuwachs (lineares Wachstum) geht. Geometrische Folgen benutzt man, wenn das Wachstum proportional zur Grundmenge erfolgt (exponentielles Wachstum). Ein typisches Beispiel ist die Zinseszinsformel Kn = K0 (1 + p)n (K0 Anfangskapital, p Zinssatz, Kn Kapital nach n Jahren). An einer für Mitteleuropa typischen Stelle beträgt die Temperatur in 25 m Tiefe etwa 10◦ C. Schätzen Sie die Temperatur in 10 km Tiefe, indem Sie von einem Zuwachs von 3 K pro 100 m ausgehen. In einer Nährlösung befinden sich 1000 Einzeller, bei denen es durchschnittlich alle 20 min zur Teilung kommt. Schätzen Sie die Zahl der Einzeller nach 24 h bei ungebremstem Wachstum ohne Tod. Aufgaben auf diesem Frame frei nach Bigalke/Köhler: Mathematik, Band 1, Analysis. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 118 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen Folgen und Reihen 3.1 Folgen 3.2 Grenzwerte und Konvergenz 3.3 Unendliche Reihen 3 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 119 / 367 Grenzwerte und Konvergenz In einigen unserer Beispiele konnten wir feststellen, dass sich die Folgenglieder für große n immer weiter an eine feste Zahl annähern. Mathematisch wird dies mit den Begriffen „Konvergenz“ und „Grenzwert“ gefasst. Konvergenz ist ein grundlegendes Prinzip der Analysis. Der Grenzwertbegriff in seiner modernen Form wurde erstmals durch A.-L. Cauchy formuliert. Augustin-Louis Cauchy (1789-1857), französischer Mathematiker, entwickelte u. a. die durch Leibniz und Newton aufgestellten Grundlagen der Analysis weiter. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 120 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Definition Definition 3.7 (Grenzwert) Eine Zahl a heißt Grenzwert der Folge (an ), wenn zu jedem > 0 ein Index n0 ∈ N existiert, so dass |an − a| < für alle n ≥ n0 . Besitzt die Folge (an ) einen Grenzwert, so heißt sie konvergent, anderenfalls divergent. Schreibweisen: a = limn→∞ an an → a für n → ∞, oder kürzer: an → a. Zum besseren Verständnis: Denken Sie vor allem an beliebig kleine > 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 121 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Graphische und sprachliche Illustration des Begriffs a+ε a a−ε n0 = n0 (ε) Für hinreichend großes n liegen die Folgenglieder an beliebig nahe am Grenzwert a. (Bild unten: Wikimedia Commons; Matthias Vogelgesang (Youthenergy)) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 122 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Beispiele, Eindeutigkeit Beispiele: an = c → c: Sei > 0 gegeben. Dann gilt |an − c| = 0 < für alle n. 1 n → 0: Sei > 0 gegeben. Wähle ein n0 ∈ N mit n0 > 1/, dann gilt: 1 1 |an − 0| = |an | = < 1 = für n ≥ n0 . n √ n2 +1 an = n2 → 1: Sei > 0 gegeben. Wähle ein n0 ∈ N mit n0 > 1/ , dann gilt: 2 n + 1 1 1 |an − 1| = − 1 = 2 < 2 = für n ≥ n0 . n2 n 1 √ an = Satz 3.8 Der Grenzwert einer konvergenten Zahlenfolge ist eindeutig bestimmt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 123 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Nullfolgen Definition 3.9 (Nullfolge) Eine Folge (an ) heißt Nullfolge, wenn an → 0 für n → ∞. Nullfolgen können für eine weitere Charakterisierung von Grenzwerten benutzt werden: Satz 3.10 Eine Folge (an )n∈N ist genau dann konvergent, wenn (an − a)n∈N eine Nullfolge ist. Dabei vereinbaren wir, dass arithmetische Operationen auf Folgen immer gliedweise zu verstehen sind. Beispiel: an = n+1 n → 1, denn an − 1 = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) n+1 n Mathematik I −1= 1 n → 0. Winterersemester 2013/14 124 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Cauchy-Folgen Eng im Zusammenhang mit konvergenten Folgen steht folgender Begriff: Definition 3.11 (Cauchy-Folge) Eine Folge (an ) heißt Cauchy-Folge, wenn zu jedem > 0 ein n0 ∈ N existiert, so dass |an − am | < für alle n, m ≥ n0 . (3.3) Bei einer Cauchy-Folge liegen also die Glieder für hinreichend große Indizes beliebig eng beisammen. Der Bezug zur Konvergenz von reellen Zahlenfolgen lautet: Satz 3.12 (Cauchysches Konvergenzkriterium) Eine reelle Zahlenfolge ist genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchy-Folge ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 125 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Cauchy-Folgen Die Konvergenz von Cauchy-Folgen in R resultiert aus der Vollständigkeit. Die umgekehrte Aussage benötigt jedoch nur die Definition des Grenzwerts: Zeigen Sie, dass jede konvergente Zahlenfolge (an ) die Cauchy-Eigenschaft (3.3) besitzt. Der Nutzen von Satz 3.12 liegt nicht in der konkreten Berechnung von Grenzwerten, sondern eher in theoretischen Betrachtungen und Entscheidungen über das Konvergenzverhalten einer Folge an sich. Begründen Sie mit Satz 3.12, dass eine arithmetische Folge mit d 6= 0 nicht konvergent sein kann. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 126 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Bezug zu Monotonie und Beschränktheit Satz 3.13 Jede konvergente Folge ist beschränkt. Jede beschränkte monotone Folge ist konvergent. Finden Sie eine Folge die konvergent, aber nicht monoton ist. Beweisen Sie Satz 3.13. Sie benötigen nur die Grenzwertdefinition und die Tatsache, dass jede beschränkte Menge in R ein Supremum besitzt. Begründen Sie mit Satz 3.13, dass die Folge (q n )n∈N für q > 1 divergiert. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 127 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Rechnen mit konvergenten Folgen Wir beginnen mit einigen Vergleichskriterien für Grenzwerte. Satz 3.14 Gilt an → a, bn → b, und ist fast immer an ≤ bn (d. h. durchweg ab einem bestimmten Index), so gilt auch a ≤ b. Achtung: Aus an < bn folgt dagegen i. a. nicht die strenge Beziehung a < b. Betrachte zum Beispiel die Folgen an = 1 − n1 und bn = 1 + n1 . Folgerung 3.15 (Sandwichsatz) Gilt an → a und bn → a, und gilt ferner fast immer an ≤ cn ≤ bn , so gilt auch cn → a. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 128 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Rechnen mit konvergenten Folgen Folgerung 3.16 Ist (bn ) Nullfolge und gilt fast immer |an | ≤ |bn |, so ist auch (an ) eine Nullfolge. Visualisierungen zu Folgerung 3.15 und 3.16: bn cn |bn| an |an| Für Nullfolgen gilt noch ein weiteres Ergebnis: Satz 3.17 Ist (an ) Nullfolge und (bn ) beschränkt, so ist (an bn ) wieder eine Nullfolge. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 129 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Rechnen mit konvergenten Folgen Für die Berechnung von Grenzwerten hilft meist auch folgender Satz: Satz 3.18 (Rechenregeln für Grenzwerte) Seien (an ) und (bn ) Zahlenfolgen mit an → a und bn → b. Dann gilt (1) an + bn → a + b, (2) an − bn → a − b, (3) an bn → ab, (4) λan → λa für jede Konstante λ ∈ R. Ist weiterhin b 6= 0, so gibt es ein n0 ∈ N, so dass bn 6= 0 (n ≥ n0 ). Die Folge (bn )n≥n0 konvergiert mit (5) an bn → ab . Beispiel: Aus 1 n → 0 folgt z. B. 2 + 5 n − 3 n3 → 2 + 5 · 0 − 3 · 03 = 2. Man beweise Aussage (1) mit Hilfe der Grenzwertdefinition. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 130 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Bestimmte Divergenz Definition 3.19 Eine Folge (an ) heißt bestimmt divergent gegen +∞ (Schreibweise an → ∞ oder limn→∞ an = +∞), wenn zu jeder Zahl C ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass an ≥ C für n ≥ n0 . an ≤ C für n ≥ n0 . Entsprechend heißt (an ) bestimmt divergent gegen −∞ (Schreibweise an → −∞ oder limn→∞ an = −∞), wenn zu jeder Zahl C ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass Beispiele: Es gilt n + 4 → +∞ und −n2 + 3n → −∞ für n → ∞. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 131 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Bestimmte Divergenz Einige Rechenregeln aus Satz 3.18 lassen sich teilweise auf bestimmt divergente Folgen übertragen. Dazu definiert man: c + ∞ = ∞ + ∞ = ∞ für c ∈ R, c − ∞ = −∞ − ∞ = −∞ für c ∈ R, c · ∞ = ∞ · ∞ = (−∞) · (−∞) = ∞ für c > 0, c · ∞ = (−∞) · ∞ = ∞ · (−∞) = −∞ für c < 0, c · (−∞) = −∞ für c > 0, c · (−∞) = ∞ für c < 0, c ±∞ = 0 für c ∈ R. Achtung: Ausdrücke wie ∞ − ∞, −∞ + ∞, und können nicht sinnvoll definiert werden. ±∞ ±∞ , 0 · (±∞), ±∞ 0 sind unbestimmt Man finde Beispiele für Folgen vom Typ „0 · ∞“ mit Grenzwert 0, 1, −42, bestimmter Divergenz in beide Richtungen sowie nicht bestimmter Divergenz. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 132 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Bestimmte Divergenz Wichtige Beispiele Für αk , βl 6= 0 gilt k P 0, αk falls k < l; k , falls k = l; α + α n + . . . + α n j=0 0 1 k βl = → l l ∞, falls k > l, P β0 + β1 n + . . . + βl n βj n j −∞, falls k > l, j=0 αj nj αk βl αk βl > 0; < 0. Beweisen Sie die Aussage, indem Sie jeweils die höchste in Zähler und Nenner vorkommende Potenz von n ausklammern und dann die Grenzwertsätze anwenden. 2 3 n+3 +3 4n +1 Wie lauten die Grenzwerte der Folgen ( n2 +4n−1 ), ( 5n2n−4n+1 ) und ( −8n+1 )? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 133 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Geometrische Folge Geometrische Folge: für |q| < 1; 0, 1, für q = 1; qn → +∞, für q > 1. Für q ≤ −1 ist die Folge (q n ) divergent, aber nicht bestimmt divergent (alternierendes Vorzeichen). Man führe den Beweis für 0 < q < 1 mit Hilfe der Bernoulli-Ungleichung (vgl. S. 49) aus. Für |q| < 1 gilt im übrigen sogar nk q n → 0 für alle k ∈ N. Das polynomielle Wachstum von nk ist also schwächer als das exponentielle Abklingen von q n . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 134 / 367 Grenzwerte und Konvergenz Geometrische Folge Weitere Beispiele: r n → √ n √ n +∞, falls r > 0; 0, falls r < 0. c → 1 für jede Zahl c > 0, n → 1, (1 + n1 )n → e = 2.71828 . . . (1 + nx )n → ex . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 135 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen Folgen und Reihen 3.1 Folgen 3.2 Grenzwerte und Konvergenz 3.3 Unendliche Reihen 3 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 136 / 367 Unendliche Reihen Addieren wir von einer gegebenen Zahlenfolge (ak ) die jeweils ersten Glieder, so entstehen Partialsummen (oder Teilsummen): s1 = a1 , s2 = a1 + a2 , s3 = a1 + a2 + a3 , .. . sn n X = a1 + a2 + . . . + an = ak , k=1 .. . Diese Partialsummen bilden eine neue Folge (sn ) und führen uns zum Begriff der (unendlichen) Reihe. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 137 / 367 Unendliche Reihen Definition Definition 3.20 (Reihe) Sei (ak )k∈N eine Zahlenfolge. Dann heißt sn := von (ak ). Pn k=1 ak die n-te Partialsumme Die Folge (sn )n∈N Reihe mit den Gliedern ak genannt. Man verwendet für sie Pwird ∞ die Schreibweise k=1 ak . P∞ Eine Reihe k=1 ak heißt konvergent, wenn die zugehörige Partialsummenfolge konvergiert, andernfalls divergent. Gilt sn → s für n → ∞, so schreibt man ∞ X ak = s k=1 und bezeichnet s auch als Wert oder Summe der Reihe P∞ k=1 ak . Anmerkung: Wie bei Folgen ist man bei den Indizes auch hier nicht auf den Startwert 1 festgelegt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 138 / 367 Unendliche Reihen Beispiel: geometrische Reihe P∞ Die Reihe k=1 deutlich macht: 1 2k konvergiert gegen 1, wie folgende geometrische Betrachtung 1 32 1 8 1 16 1 2 1 4 Man schreibt also P∞ 1 k=1 2k = 1. Es handelt sich hierbei um einen Spezialfall der geometrischen Reihe, die uns später noch beschäftigen wird. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 139 / 367 Unendliche Reihen Beispiel Die Partialsummen zur Folge (ak ) mit ak = sn = a1 + a2 + . . . + an = 1 k(k+1) sind gegeben durch 1 1 1 1 + + ... + =1− . 1·2 2·3 n(n + 1) n+1 Damit gilt sn → 1 für n → ∞; wir schreiben also ∞ X k=1 1 = 1. k(k + 1) Beweisen Sie die Formel für die Partialsummen mittels vollständiger Induktion (Hausaufgabe). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 140 / 367 Unendliche Reihen Beispiel Die zur Reihe ∞ X (−1)k = 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 + . . . (3.4) k=0 gehörige Partialsummenfolge ist (1, 0, 1, 0, 1, 0, 1, . . .) und die Reihe damit divergent. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass Reihen nicht einfach als „unendliche Summen“ aufgefasst werden können: Paarweises Zusammenfassen benachbarter Glieder (1 − 1 = 0) in (3.4) könnte zum Beispiel zu völlig falschen Schlüssen führen! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 141 / 367 Unendliche Reihen Beispiel Dezimaldarstellung als Reihe Seit Ihrer frühen Schulzeit verwenden Sie für reelle Zahlen auch die Dezimaldarstellung. Betrachtet man zum Beispiel die Zahl π, so gilt: π = 3, 141529265 . . . = 3 + 4 1 5 1 + + 3 + 4 + ... 10 102 10 10 Allgemein lässt sich die Zifferndarstellung einer Dezimalzahl mit einer Vorkommastelle und Ziffernfolge (zk ) (zk ∈ {0, 1, . . . , 9}) als folgende Reihe auffassen: ∞ z1 , z2 z3 z4 z5 . . . = X zk z1 z2 z3 z4 + 1 + 2 + 3 + ... = . 0 10 10 10 10 10k−1 k=1 Die Basis 10 ist übrigens willkürlich gewählt (Anzahl der Finger). Computer verwenden intern zumeist die Basis 2 (Dualzahlen), in Babylon verwendete man 60; bei den Indianern Südamerikas waren 4, 8 und 16 als Basis gebräuchlich (Rechnen ohne Daumen). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 142 / 367 Unendliche Reihen Partialsummen arithmetischer Folgen Erinnerung: Eine arithmetische Folge ist gekennzeichnet durch immer gleiche Differenz ihrer Folgenglieder. Satz 3.21 Sei (ak ) eine arithmetische Folge mit ak+1 − ak = d (also mit ak = a1 + (k − 1)d, vgl. Satz 3.4). Dann gilt sn = n X k=1 n 1 ak = (a1 + an ) = n a1 + (n − 1)d . 2 2 (3.5) Pn Die zugehörige Reihe k=1 ak ist daher immer divergent – mit Ausnahme des Falles ak = 0 (k ∈ N) (d.h. a1 = 0 und d = 0). Bei arithmetischen Folgen sind also nur die Partialsummen, aber nicht deren Grenzwerte interessant. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 143 / 367 Unendliche Reihen Exkurs: Gaußsche Summenformel Einen Spezialfall von (3.5) bildet die Formel („Kleiner Gauß“): n X 1 k = n(n + 1). 2 k=1 Sie war bereits den Babyloniern bekannt und wurde vom 9-jährigen C.F. Gauß bei der Schulaufgabe, die natürlichen Zahlen von 1 bis 100 zu addieren, wiederentdeckt. Schema: 1 100 101 2 99 101 3 98 101 4 97 101 ... ... ... 99 2 101 100 1 101 ⇒ 100 X i=1 i= 1 · 100 · 101 = 5050. 2 Carl Friedrich Gauß (deutscher Mathematiker, Astronom, Geodät und Physiker, 1777-1855). U. a. ermöglichte die von ihm entwickelte Ausgleichsrechnung die Wiederentdeckung des Kleinplaneten Ceres (1801). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 144 / 367 Unendliche Reihen Geometrische Reihe Die Reihe zur geometrischen Folge ist eine der wichtigsten in der Mathematik überhaupt. Auch hier beginnen wir wieder mit einer Aussage über die Darstellung der Partialsummen: Satz 3.22 Sei (ak ) eine geometrische Folge mit ak+1 /ak = q (also mit ak = a1 q k−1 , vgl. Satz 3.6). Dann gilt sn = n X k=1 ak = n −1 a1 qq−1 , falls q = 6 1; na1 , falls q = 1. (3.6) Man beweise Satz 3.22 mittels vollständiger Induktion über n. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 145 / 367 Unendliche Reihen Geometrische Reihe Mittels Grenzübergang n → ∞ erhält man aus Formel (3.6): Satz 3.23 (Geometrische Reihe) P∞ Eine Reihe der Form k=1 a1 q k−1 heißt geometrische Reihe. Die geometrische Reihe konvergiert für |q| < 1, in diesem Falle gilt ∞ X a1 q k−1 = a1 k=1 1 . 1−q (3.7) Für |q| ≥ 1 ist die Reihe divergent. Man berechne die Summen der Reihen P∞ 3 k=1 7k−1 und P∞ 1 k=1 2k . Bemerkung: In Tafelwerken finden Sie auch häufig die Formeln ∞ ∞ X X q 1 a1 q k = a1 und a0 q l = a0 . 1 − q 1−q k=1 l=0 Diese erhält man aus (3.7) durch Multiplikation von a1 mit q bzw. durch Indexverschiebung l = k − 1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 146 / 367 Unendliche Reihen Harmonische Reihe P∞ Eine Reihe der Form k=1 k1α mit α > 0 wird harmonische Reihe genannt. Es gilt: P∞ 1 kα ist konvergent für alle α > 1. Pk=1 ∞ 1 k=1 kα = +∞, d. h. die Reihe divergiert, für alle α ≤ 1. P∞ P∞ P∞ Insbesondere sind also die Reihen k=1 k1 und k=1 √1k divergent, während k=1 k12 konvergiert. P∞ Die Divergenz von k=1 k1 erfolgt dabei extrem langsam; hier einige Zahlenwerte zur Illustration: n sn 1 1 2 1.5 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 5 2.2833 10 2.9290 100 5.1874 Mathematik I 104 9.7876 108 18.9979 Winterersemester 2013/14 147 / 367 Unendliche Reihen Exkurs zur Divergenz der harmonischen Reihe P∞ Die Divergenz von k=1 k1 zeigt man durch Abschätzung der Partialsummen für n = 2m : s2m = ≥ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1+ + + + + + + +. . .+ +. . .+ 2 3 4 5 6 7 8 2m−1 + 1 2m 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1+ + + + + + +. . .+ m + +. . .+ 2 4 4 8 8 8 8 2m 2 | {z } | | {z } {z } 2 mal = 1 1+ m →∞ 2 4 mal 2m−1 mal für m → ∞. Die Partialsummenfolge enthält also eine divergente Teilfolge und ist damit selbst divergent. Dieser Beweisansatz findet sich übrigens bereits in mittelalterlicher Literatur (Nicole Oresme, Frankreich, ≈ 1350). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 148 / 367 Unendliche Reihen Rechnen mit konvergenten Reihen Wendet man die Grenzwertsätze (Satz 3.18) auf Partialsummenfolgen an, erhält man: Satz 3.24 Sind P∞ k=1 ak und P∞ k=1 bk ∞ X beide konvergent, so gilt: (ak + bk ) k=1 ∞ X (ak − bk ) = = k=1 ∞ X (λak ) k=1 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) = ∞ X k=1 ∞ X ak + ak − k=1 ∞ X λ k=1 Mathematik I ak ∞ X k=1 ∞ X bk , bk , k=1 für λ ∈ R. Winterersemester 2013/14 149 / 367 Unendliche Reihen Absolute Konvergenz Berechnen Sie den Grenzwert der Reihe P∞ k=1 1 5k + 4 3k Machen P Sie sich anhand der Partialsummen klar, dass Aussagen analog zu Satz ∞ 3.24 für k=1 (ak · bk ) nicht gelten können. Definition 3.25 (Absolute Konvergenz) Eine Reihe P∞ k=1 ak heißt absolut konvergent, wenn P∞ k=1 |ak | konvergiert. Absolut konvergente Reihen sind besonders komfortabel – zum Beispiel darf man nur bei ihnen die Glieder beliebig umordnen, ohne den Grenzwert zu verändern. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 150 / 367 Unendliche Reihen Absolute Konvergenz Der folgende Satz liefert den Bezug zur „gewöhnlichen“ Konvergenz: Satz 3.26 P∞ Eine absolut konvergente Reihe k=1 ak ist erst recht konvergent. Für sie gilt die verallgemeinerte Dreiecksungleichung ∞ ∞ X X ak ≤ |ak |. k=1 Beispiele: P∞ k=1 (−1)k+1 k ist konvergent (Nachweis später), aber nicht absolut k+1 P∞ konvergent. Es gilt k=1 (−1)k = ln 2. P∞ (−1)k+1 ist absolut konvergent. Es gilt 2 k=1 P∞ k (−1)k+1 P∞ 2 2 0 ≤ k=1 k2 = π12 ≤ π6 = k=1 k12 . k=1 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 151 / 367 Unendliche Reihen Konvergenzkriterien Mitunter stellt man lediglich die Frage nach der Konvergenz einer Reihe, ohne deren konkreten Grenzwert berechnen zu wollen. Hierbei sind eine Reihe von Konvergenzkriterien hilfreich. Einen ersten Satz erhalten wir ausP dem Cauchy-Kriterium für die Partialsummen∞ folge zu einer konvergenten Reihe k=1 ak . Es gilt |an | = |sn − sn−1 | < für großes n und daher Satz 3.27 (Notwendiges Konvergenzkriterium) Bei einer konvergenten Reihe ak → 0 für k → ∞. P∞ k=1 ak bilden die Glieder eine Nullfolge, d. h. P∞ k Kann die Reihe k=1 2k+1 konvergieren? Gilt die Umkehrung von Satz 3.27? Wenn nicht, finden Sie Gegenbeispiele. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 152 / 367 Unendliche Reihen Alternierende Reihen Für alternierende Reihen (d. h. mit wechselndem Vorzeichen der Glieder) ist das folgende Kriterium häufig hilfreich: Satz 3.28 (Leibniz-Kriterium) Eine alternierende Reihe Nullfolge ist. P∞ k=1 (−1) k ak konvergiert, wenn (ak ) eine monotone k P∞ P∞ √ Was lässt sich über die Konvergenz der Reihen k=1 (−1) , k=1 k P∞ (−1)k k=1 2k3 sagen? Konvergieren diese Reihen auch absolut? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I (−1)k+1 k Winterersemester 2013/14 und 153 / 367 Unendliche Reihen Majorantenkriterium Nach Satz 3.13 ist eine Reihe mit nichtnegativen Gliedern genau dann konvergent, wenn ihre Partialsummenfolge beschränkt ist. Daraus folgen: Satz 3.29 (Majorantenkriterium) P∞ Ist k=1 bk eine konvergente Reihe P∞mit nichtnegativen Gliedern, und gilt fast immer |ak | ≤ bk , so konvergiert k=1 ak , und zwar sogar absolut. Die Reihe Beispiel: P∞ P∞ k=1 bk 1 k=1 k2 +k wird dabei Majorante von konvergiert, denn konvergiert. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 1 k2 +k ≤ 1 k2 Mathematik I P∞ k=1 ak genannt. für alle k ∈ N, und P∞ 1 k=1 k2 Winterersemester 2013/14 154 / 367 Unendliche Reihen Minorantenkriterium Satz 3.30 (Minorantenkriterium) P∞ Ist k=1 bk eine divergente Reihe P∞mit nichtnegativen Gliedern, und gilt fast immer ak ≥ bk , dann ist auch k=1 ak divergent. Die Reihe P∞ k=1 bk wird dabei Minorante von Beispiel: P∞ P∞ k=1 1√ 1√ 1 1 k=1 k+ k divergiert, denn k+ k ≥ k+k = 2k P∞ 1 und k=1 2k divergiert (harmonische Reihe). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I ak genannt. für alle k ∈ N, Winterersemester 2013/14 155 / 367 Unendliche Reihen Quotientenkriterium Durch Verwendung von geometrischen Reihen als Majoranten bzw. Minoranten erhält man zwei Kriterien, die häufig bei Reihengliedern mit Quotienten-/Potenzstruktur greifen: Satz 3.31 (Quotientenkriterium) Gilt mit einer festen positiven Zahl q < 1 fast immer ak+1 ak ≤ q, P∞ so konvergiert die Reihe k=1 ak , und zwar sogar absolut. Gilt jedoch fast immer ak+1 ak ≥ 1, P∞ so ist k=1 ak divergent. Dabei ist natürlich vorauszusetzen, dass fast immer ak 6= 0 ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 156 / 367 Unendliche Reihen Wurzelkriterium Satz 3.32 (Wurzelkriterium) Gilt mit einer festen positiven Zahl q < 1 fast immer p k |ak | ≤ q, P∞ so konvergiert die Reihe k=1 ak , und zwar sogar absolut. Gilt jedoch fast immer p k |ak | ≥ 1, P∞ so ist k=1 ak divergent. Achtung: Es reicht nicht, lediglich auf Konvergenz zu schließen! Testen Sie dies am Beispiel Oliver Ernst (Numerische Mathematik) P∞ k=1 p k |ak | < 1 bzw. aak+1 < 1 nachzuweisen, um k k+1 k . Mathematik I Winterersemester 2013/14 157 / 367 Unendliche Reihen Quotienten- und Wurzelkriterium Folgende Version von Quotienten- und Wurzelkriterium ist besonders handlich und wird in der Praxis am häufigsten verwendet: Folgerung 3.33 (Quotienten- und Wurzelkriterium) p Konvergiert die Quotientenfolge ( aak+1 ) oder die Wurzelfolge ( k |ak |) gegen k P∞ einen Grenzwert α, so ist die Reihe k=1 ak (absolut) konvergent, wenn α < 1, divergent, wenn α > 1. Bemerkung: Im Falle α = 1 liefern die Kriterien kein Ergebnis. Eine nähere Untersuchung wird notwendig. Warum ist Folgerung 3.33 eine unmittelbare Konsequenz der Sätze 3.31 und 3.32? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 158 / 367 Unendliche Reihen Beispiele zu Konvergenzkriterien P∞ k2 k=1 2k P∞ k k=1 kk P∞ 1 k=0 k! (k+1)2 2k konvergiert, denn aak+1 = k2 2k+1 = 21 (1+ k1 )2 → 12 . k q √ √ k konvergiert, denn k kkk = kk → 0 (da k k → 1). 1 k! konvergiert, denn aak+1 = k+1 → 0. = (k+1)! k Dabei ist k! := 1 · 2 · . . . · k(k ∈ N), 0! := 1 (“k-Fakultät“). P∞ xk Es konvergiert k+1 sogar k=0 k! für beliebiges x ∈ R, denn ak+1 x |x| k! ak = xk · (k+1)! = k+1 → 0. Wir werden diese Reihe später nutzen, um damit die Exponentialfunktion zu P∞ k definieren: ex := k=0 xk! . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 159 / 367 Unendliche Reihen Ausblick: Anwendungen in den Naturwissenschaften In den Naturwissenschaften tauchen Reihen häufig in der Gestalt von Potenz- und Fourierreihen auf (mehr dazu später). Desweiteren werden wir im Kapitel Differentialrechnung den Satz von Taylor kennenlernen, welcher mit solchen Reihenentwicklungen im Zusammenhang steht. Diese Sätze begründen u. a. folgende häufig verwendeten Näherungen für betragsmäßig kleine x ∈ R: sin x ≈ tan x ≈ x, cos x ≈ 1 − 12 x2 , 1 1−x ≈ 1 + x, 1 1+x ≈ 1 − x. Zum Beispiel führt die erstgenannte Näherung auf die typischen Sinusschwingungen beim Fadenpendel. Die Näherungen in der letzten Zeile beruhen auf geometrischen Reihen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 160 / 367 Unendliche Reihen Exkurs: Achilles und die Schildkröte . . . ist ein bekannter Trugschluss (Paradoxon) des griechischen Philosophen Zenon von Elea (ca. 490-430 v. Chr.). Es wird behauptet, dass der Läufer Achilles niemals eine Schildkröte einholen kann, wenn sie einmal einen gewissen Vorsprung hat. Folgende Argumentation: Wenn Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, hat diese einen neuen (kleineren) Vorsprung gewonnen, Wenn Achilles diesen neuen Vorsprung aufgeholt hat, ist die Schildkröte wieder ein Stück weiter vorn usw. Was Zenon damit zeigen wollte, ist auch aufgrund der Quellenlage unklar. Fakt ist, dass die Vorstellungen von Grenzwert und Unendlichkeit in der Antike noch nicht gut ausgeprägt waren. Lösen Sie das Paradoxon mit Ihrem neu erworbenen Wissen über Reihen auf. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 161 / 367 Ziele erreicht? Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium): wissen, was man unter Folgen und Reihen versteht, die Grenzwertdefinition tiefgehend verstanden haben und beherrschen (auswendig!), Grenzwerte von Folgen mit Hilfe der Grenzwertsätze sicher berechnen können, an einfachen Beispielen Vergleichskriterien anwenden können (gilt für Folgen und Reihen), über die Konvergenzeigenschaften von geometrischer und harmonischer Reihe bescheidwissen, anhand von Konvergenzkriterien das Konvergenzverhalten von Reihen analysieren können (mit besonderem Schwerpunkt auf den Sätzen 3.27 und 3.28 sowie Folgerung 3.33). Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Werden Sie aktiv! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 162 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 163 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 4.1 Grundlegende Eigenschaften 4.2 Grenzwerte reeller Funktionen 4.3 Stetigkeit 4.4 Elementare Funktionen 4 Polynome Rationale Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Trigonometrische Funktionen und Arkusfunktionen Hyperbel- und Areafunktionen Ernst (Numerische Mathematik) 5Oliver Differentialrechnung in Mathematik I einer Variablen Winterersemester 2013/14 164 / 367 Reelle Funktionen In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Funktionen f : D f → Wf auseinandersetzen, bei denen sowohl der Definitions- als auch der Wertebereich Teilmengen der reellen Zahlen sind (Df , Wf ⊂ R). Diese Funktionen nennen wir kurz reelle Funktionen. Bereits in Abschnitt 1.5 hatten wir uns mit dem Funktionsbegriff auseinandergesetzt. Alle dort bereits erarbeiteten Begriffe gelten natürlich auch für reelle Funktionen. Allerdings ermöglichen die reellen Zahlen auch speziellere Strukturen. Erste Beiträge liefert dieser Abschnitt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 165 / 367 Reelle Funktionen Maximaler Definitionsbereich Eine erste Konvention werden wir bezüglich der Notation treffen: Ist zu einer reellen Funktion f lediglich die Bildungsvorschrift x 7→ f (x) angegeben, so wählen wir den Definitionsbereich Df ⊂ R so groß wie möglich. Die so gewählte Menge Df heißt maximaler Definitionsbereich von f . Man identifiziere die maximalen Definitionsbereiche für √ f (x) = 4 x − 1, g(x) = x7 , und Oliver Ernst (Numerische Mathematik) h(x) = 2x − 3 sin x . (x2 − 1)(x − 4) Mathematik I Winterersemester 2013/14 166 / 367 Reelle Funktionen Monotonie Da Funktionswerte reeller Funktionen vergleichbar sind, lässt sich auch für reelle Funktionen Monotonie definieren: Definition 4.1 (monotone Funktion) Eine reelle Funktion f : Df → R heißt auf einem Intervall I ⊂ Df (streng) monoton wachsend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y stets f (x) ≤ f (y) (bzw. f (x) < f (y)) gilt, (streng) monoton fallend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y stets f (x) ≥ f (y) (bzw. f (x) > f (y)) gilt, (streng) monoton, wenn sie (streng) monoton wachsend oder fallend ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 167 / 367 Reelle Funktionen Graphische Darstellung Die graphische Darstellung reeller Funktionen erfolgt in der x-y-Ebene (Graph(f ) ist eine Teilmenge von R2 ). Beispiele: g f I = Df I = Dg f ist auf Df streng monoton wachsend und g auf Dg monoton fallend (allerdings nicht streng). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 168 / 367 Reelle Funktionen Umkehrfunktion Ist die reelle Funktion f : D f → Wf bijektiv, dann existiert die Umkehrfunktion (auch inverse Funktion genannt) f −1 : Wf → Df , f −1 (y) = x :⇔ y = f (x). Offenbar gilt (x, y) ∈ Graph(f ) ⇔ (y, x) ∈ Graph(f −1 ), weshalb der Graph von f −1 aus dem Graphen von f durch Spiegelung an der ersten Winkelhalbierenden y = x hervorgeht. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 169 / 367 Reelle Funktionen Umkehrfunktion Beispiele: Graphen von f : [0, ∞) → [0, ∞), f (x) = x2 und h : (0, ∞) → (0, ∞), h(x) = sowie der entsprechenden Umkehrfunktionen: 4 1 x 2 f(x)=x2 3 1.5 h(x)=1/x 2 1 g(x)=x1/2 1 0 0 0.5 1 2 3 0 0 4 0.5 1 1.5 2 Warum ist im Bild rechts nur ein Graph zu sehen? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 170 / 367 Reelle Funktionen Umkehrfunktion Satz 4.2 (Monotonie und Umkehrfunktion) Ist f : I → R streng monoton auf dem Intervall I, so ist f : I → f (I) bijektiv. Die Umkehrfunktion f −1 ist streng monoton wachsend (fallend), wenn f streng monoton wachsend (fallend) ist. Nach Satz 4.2 besitzt f (x) = x3 auf ganz R eine Umkehrfunktion. Wie lautet diese? Zeichnen Sie die Graphen beider Funktionen. Anmerkung: Die Umkehrfunktion in der Situation von Satz 4.2 ist sogar stetig (Stetigkeitsbegriff folgt noch). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 171 / 367 Reelle Funktionen Operationen mit Funktionen Da uns in R die gewohnten Rechenoperationen zur Verfügung stehen, sind folgende „punktweisen“ Konstruktionen möglich: Definition 4.3 Es seien f, g : D → R reelle Funktionen und α ∈ R. Wir definieren neue Funktionen αf f ±g fg f /g : D → R, : D → R, : D → R, : D1 → R, (αf )(x) := αf (x), (f ± g)(x) := f (x) ± g(x), (f g)(x) := f (x)g(x), (f /g)(x) := f (x)/g(x) mit D1 = {x ∈ D : g(x) 6= 0}. Achtung: f −1 und 1 f sind nicht dasselbe. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 172 / 367 Reelle Funktionen Operationen mit Funktionen Definition 4.4 Sind f : Df → R und g : Dg → R mit Wf ⊆ Dg , dann definieren wir die Komposition oder Verkettung („g nach f “) von f mit g durch g ◦ f : Df → R, (g ◦ f )(x) := g(f (x)). Symbolische Skizze: Df f g g(f (x)) f (x) x g(Wf ) Wf Dg Wg g◦f Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 173 / 367 Reelle Funktionen Operationen mit Funktionen Achtung: Im allgemeinen ist g ◦ f 6= f ◦ g. Beispiel: Für f (x) = x2 und g(x) = sin x ist (f ◦ g)(x) = f (g(x)) = (sin x)2 =: sin2 x (Bild links), (g ◦ f )(x) = g(f (x)) = sin(x2 ) (Bild rechts). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 174 / 367 Reelle Funktionen Operationen mit Funktionen Der Übergang von x 7→ f (x) nach x 7→ f (x)+c bewirkt eine vertikale Verschiebung des Graphen von f um c. Der Übergang von x 7→ f (x) nach x 7→ f (x − c) bewirkt eine horizontale Verschiebung des Graphen um c. 2 1 1.5 y=f(x)+c 0.5 1 0.5 0 0 −0.5 y=f(x) −0.5 y=f(x−c) y=f(x) −1 −1 −0.5 0 0.5 1 −1 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 Formulieren Sie die beiden neu entstandenen Funktionen als Kompositionen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 175 / 367 Reelle Funktionen Beschränkte Funktionen Definition 4.5 Eine reelle Funktion f : Df → R heißt nach oben (unten) beschränkt, wenn ihr Wertebereich Wf ⊂ R nach oben (unten) beschränkt ist. Eine Funktion heißt beschränkt, wenn sie sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt ist. Für beschränkte Funktionen existiert also eine Konstante c > 0, so dass |f (x)| ≤ c Sind die Funktionen für alle x ∈ Df . f1 (x) = x2 , 1 f3 (x) = , x f2 (x) = (x − 2)3 , f4 (x) = sin(2x), (nach oben/unten) beschränkt? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 176 / 367 Reelle Funktionen Gerade und ungerade Funktionen Definition 4.6 Eine reelle Funktion f : Df → R, für die mit jedem x ∈ Df auch −x ∈ Df gilt, heißt gerade, wenn für alle x ∈ Df , f (x) = f (−x) ungerade, wenn f (x) = −f (−x) für alle x ∈ Df . Graphisch äußern sich die Eigenschaften als Spiegelsymmetrie bzgl. der y-Achse (gerade Funktionen), Punktsymmetrie am Ursprung (ungerade Funktionen). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 177 / 367 Reelle Funktionen Gerade und ungerade Funktionen Beispiele: f (x) = |x| ist gerade (Bild links), g(x) = sin x ist ungerade (Bild rechts). Sind die folgenden Funktionen gerade/ungerade? f1 (x) = cos x, f2 (x) = x5 , f3 (x) = x3 + 1, f4 (x) = x2 − 1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 178 / 367 Reelle Funktionen Periodische Funktionen Definition 4.7 Eine reelle Funktion f : Df → Wf heißt periodisch, wenn es eine Zahl a > 0 gibt („Periode“), so dass mit jedem x ∈ Df auch x + a ∈ Df gilt, und f (x + a) = f (x) für x ∈ Df . (4.1) Aus (4.1) folgt sofort, dass auch f (x + na) = f (x) für alle x ∈ Df , n ∈ N, gilt. Mit a ist also gleichzeitig auch na Periode. Im Falle der Existenz gibt man daher häufig die kleinste Periode a > 0 an, um das Verhalten der Funktion f möglichst gut zu beschreiben („primitive Periode“). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 179 / 367 Reelle Funktionen Graphische Darstellung Funktion mit primitiver Periode P Bild: Oleg Alexandrov, Wikimedia Commons Sind folgende Funktionen periodisch? Wenn ja, geben Sie eine Periode, wenn möglich die primitive Periode an. f1 (x) = cos(2x), f2 (x) = |x|, f3 (x) = sin x + cos x, f4 (x) = 42. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 180 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 4.1 Grundlegende Eigenschaften 4.2 Grenzwerte reeller Funktionen 4.3 Stetigkeit 4.4 Elementare Funktionen 4 Polynome Rationale Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Trigonometrische Funktionen und Arkusfunktionen Hyperbel- und Areafunktionen Ernst (Numerische Mathematik) 5Oliver Differentialrechnung in Mathematik I einer Variablen Winterersemester 2013/14 181 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Betrachten wir folgende drei Funktionen: f1 (x) = x2 , f2 (x) = sin( x1 ) (x 6= 0), f3 (x) = 1 x (x 6= 0). Offenbar zeigen die Funktionen bei Annäherung der x-Werte an den Nullpunkt völlig verschiedenes Verhalten. Wir wollen ein mathematisches Instrument entwickeln, dies näher zu beschreiben. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 182 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Häufungspunkte Definition 4.8 Eine Zahl ξ ∈ R heißt Häufungspunkt der Menge M ⊂ R, wenn es eine Folge (xn ) mit Gliedern aus M gibt mit xn → ξ für n → ∞ und xn 6= ξ für alle n ∈ N. Einem Häufungspunkt kann man sich also innerhalb der Menge M beliebig weit nähern, ohne ihn selbst zu erreichen. Ein Häufungspunkt kann selbst zur Menge gehören, muss es aber nicht. ξ2 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) M Mathematik I ξ1 Winterersemester 2013/14 183 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Häufungspunkte Beispiele: Die für uns relevanten Beispiele für M sind vor allem Intervalle. Die Menge der Häufungspunkte des offenen Intervalls (a, b) ist zum Beispiel das abgeschlossene Intervall [a, b] (vgl. Skizze S. 183) Man bestimme die Häufungspunkte der Mengen M1 = (−∞, 42), und M2 = [a, b), 1 : n ∈ N ⊂ R. M3 = n Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 184 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Innere Punkte Definition 4.9 Eine Zahl x ∈ M heißt innerer Punkt der Menge M ⊂ R, wenn es ein > 0 gibt, so dass (x − , x + ) ⊂ M . x−ε x x+ε a M = [a, b] b Von einem inneren Punkt aus kann man sich also ein kleines Stück „nach rechts und nach links bewegen“, ohne die Menge M zu verlassen. Man bestimme die inneren Punkte der Mengen M1 = (a, b), M2 = [a, b] Oliver Ernst (Numerische Mathematik) (mit a < b) und Mathematik I M3 = 1 : n∈N n Winterersemester 2013/14 ⊂ R. 185 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Isolierte Punkte Definition 4.10 Eine Zahl x ∈ M heißt isolierter Punkt der Menge M ⊂ R, wenn es ein > 0 gibt, so dass (x − , x + ) ∩ M = {x} gilt. x1 M x2 Isolierte Punkte gehören also selbst zur Menge, haben aber zum Rest derselben einen positiven Abstand. Man bestimme, falls vorhanden, die isolierten Punkte der Mengen 1 M1 = (a, b), M2 = : n ∈ N ⊂ R, n N ⊂ R, Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Q ⊂ R. Mathematik I Winterersemester 2013/14 186 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Grenzwertbegriff Nun können wir das Verhalten einer Funktion bei Annäherung an einen Häufungspunkt des Definitionsbereichs näher beschreiben. Definition 4.11 (Grenzwert einer Funktion) Sei f : Df → R eine reelle Funktion und ξ ∈ R Häufungspunkt des Definitionsbereichs Df . Die Zahl a heißt Grenzwert von f für x gegen ξ, wenn für alle Folgen (xn ) ⊂ Df mit xn → ξ für n → ∞ und xn 6= ξ für alle n ∈ N (4.2) gilt: f (xn ) → a Schreibweise: lim f (x) = a x→ξ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) oder für n → ∞. f (x) → a für x → ξ. Mathematik I Winterersemester 2013/14 187 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Skizze zur Definition f (ξ) a f (f (xn )) a = lim f (x) x→ξ (xn ) ξ Definition 4.11 lässt sich problemlos auf die Fälle x → ±∞ und a = ±∞ erweitern. In letzterem Fall sprechen wir von bestimmter Divergenz. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 188 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Beispiele lim x2 = 4, denn für jede Folge (xn ) mit xn → 2 [also auch für die mit x→2 xn 6= 2 (n ∈ N)] gilt x2n → 4. lim 12 x→0 x gilt x2n = +∞, denn für alle Folgen (xn ) mit xn → 0 und xn 6= 0 (n ∈ N) > 0 und x2n → 0, d.h. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 1 x2n → ∞. Mathematik I Winterersemester 2013/14 189 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Beispiele lim sin( x1 ), existiert nicht. Beispielsweise gelten für xn = x→0 Beziehungen xn → 0 und sin( x1n ) = sin(n + 1 2 )π 1 (n+ 12 )π n die = (−1) . Achtung: Das heißt nicht, dass keine konvergenten Folgen von Funktionswerten im Kontext von Definition 4.11 existieren. Für xn = gelten z. B. xn → 0 und sin( x1n ) = sin nπ = 0 → 0. 1 nπ Es reicht aber ein Gegenbeispiel, um die Konvergenz auszuschließen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 190 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Weitere Beispiele Existieren folgende Grenzwerte? Wenn ja, bestimmen Sie sie. lim (x3 + 2x2 + 1), x→−1 lim 21 , lim 21 , x→2 x −4 x→0 x −4 lim 1 , x→0 x 2 lim x −1 . x→−1 x+1 Man zeichne Skizzen der betreffenden Funktionsgraphen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 191 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Einseitige Grenzwerte Lässt man in Definition 4.11 in (4.2) statt Folgen (xn ) mit xn 6= ξ nur Folgen mit xn > ξ (bzw. xn < ξ) zu, so entsteht ein rechtsseitiger (linksseitiger) Grenzwert. Schreibweise: Für den rechtsseitigen Grenzwert: lim f (x) = a x→ξ+ oder f (x) → a für x → ξ + . bzw. für den linksseitigen Grenzwert: lim f (x) = a x→ξ− oder f (x) → a für x → ξ − . Dabei ist vorauszusetzen, dass man sich dem Punkt ξ von rechts (links) aus Df heraus nähern kann, d. h. dass ξ Häufungspunkt von Df ∩ (ξ, ∞) (bzw. Df ∩ (−∞, ξ)) ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 192 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Einseitige Grenzwerte Einseitige Grenzwerte sind somit einfach die Grenzwerte der auf Df ∩ (ξ, ∞) bzw. Df ∩ (−∞, ξ) eingeschränkten Funktion f . f a b f a = lim f (x) b = lim f (x) x→ξ+ x→ξ− ξ ξ Bei der Untersuchung einseitiger Grenzwerte lässt man also jeweils den im grau schraffierten Teil liegenden Teil der Funktion unbeachtet. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 193 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Einseitige Grenzwerte Beispiele: lim x1 = +∞, denn für jede Folge (xn ) mit xn → 0 mit xn > 0 (n ∈ N) gilt x→0+ 1 xn → +∞, 1 = −∞, denn für jede x→0− x 1 xn → −∞, lim x2 = lim x2 = lim x2 x→2+ x→2− x→2 lim Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Folge (xn ) mit xn → 0 mit xn < 0 (n ∈ N) gilt = 4. Mathematik I Winterersemester 2013/14 194 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Einseitige Grenzwerte Weitere Beispiele: Existieren die folgenden einseitigen Grenzwerte? Wenn ja, wie lauten sie? lim x→0+ √1 , x lim |x|, x→0+ lim |x|, x→0− lim sgn(x), x→0+ lim sgn(x). x→0− Dabei bezeichnet sgn : R → R die sogenannte Signum- oder Vorzeichenfunktion: −1, für x < 0; 0, für x = 0; sgn(x) := 1, für x > 0. Zeichnen Sie wieder Bilder der Funktionsgraphen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 195 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Einseitige Grenzwerte Zwischen dem Grenzwert und den einseitigen Grenzwerten gibt es eine Beziehung, die sofort einleuchtet: Satz 4.12 Sei f : Df → R und ξ ein Häufungspunkt sowohl von Df ∩ (ξ, ∞) als auch von Df ∩ (−∞, ξ). Dann gilt: Der Grenzwert lim f (x) existiert genau dann, wenn die beiden Grenzwerte x→ξ lim f (x) und lim f (x) existieren und übereinstimmen. x→ξ+ x→ξ− Existiert lim |x|, und was ergibt sich ggf. für ein Wert? Argumentieren Sie mit x→0 Satz 4.12 und den Erkenntnissen vom Beispiel auf Seite 195. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 196 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Rechnen mit Grenzwerten Da Grenzwerte von Funktionen auf Grenzwerte von Folgen zurückführen, übertragen sich die Grenzwertsätze aus Abschnitt 2. Satz 4.13 (Grenzwertsätze für reelle Funktionen) Unter Vorraussetzung der Existenz der betreffenden Grenzwerte gelten jeweils für x → ξ die Regeln: lim(cf )(x) = c lim f (x) für alle c ∈ R, lim(f ± g)(x) = lim f (x) ± lim g(x), lim(f · g)(x) = (lim f (x)) · (lim g(x)) lim( fg )(x) = f ≤g ⇒ lim f (x) lim g(x) , falls lim g(x) 6= 0, lim f (x) ≤ lim g(x). Hierbei ist auch ξ = ±∞ erlaubt. Für einseitige Grenzwerte gelten die Regeln in analoger Weise. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 197 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Rechnen mit Grenzwerten Mit den auf Seite 132 getroffenen Definitionen (∞ + ∞ = ∞, ∞ · ∞ = ∞ etc.) gelten die Aussagen von Satz 4.13 auch für den Fall bestimmter Divergenz. Wie schon bei den Folgen muss aber darauf geachtet werden, dass die entstehenden Ausdrücke sinnvoll definiert sind. Bestimmen Sie (falls existent) folgende Grenzwerte: lim (x3 + x), x→2 lim (2x + x1 ), x→∞ lim (cos(πx) + x→−1 x2 −1 x+1 ), lim (x sin x1 ), x→0 Argumentieren Sie beim Kosinus mit der graphischen Darstellung. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 198 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Sprungstellen Definition 4.14 Existieren zu einer reellen Funktion die beiden Grenzwerte lim f (x) und x→ξ+ lim f (x), und sind sie endlich aber verschieden, so nennt man ξ eine x→ξ− Sprungstelle von f . f ξ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 199 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Sprungstellen Ein bemerkenswertes Ergebnis gilt nun für monotone Funktionen: Satz 4.15 Seien I = (a, b) ein Intervall, f : I → R monoton auf I und ξ ∈ I. Dann existieren limx→ξ− f (x) und limx→ξ+ f (x) und es gelten −∞ < lim f (x) ≤ f (ξ) ≤ lim f (x) < ∞, x→ξ− x→ξ+ wenn f monoton wachsend ist, und ∞ > lim f (x) ≥ f (ξ) ≥ lim f (x) > −∞, x→ξ− x→ξ+ wenn f monoton fallend ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 200 / 367 Grenzwerte reeller Funktionen Unendlichkeitsstellen Gilt für eine reelle Funktion f mindestens eine der Beziehungen lim f (x) = ±∞ x→ξ+ oder lim f (x) ± ∞, so nennt man ξ eine Unendlichkeitsstelle von f . x→ξ− Vor allem bei rationalen Funktionen f (x) = spricht man auch von Polstellen. p(x) q(x) , wobei p und q Polynome sind, f (x) = g(x) = 1 (links) x 1 (rechts) x2 Achtung: Der Sprachgebrauch in der Literatur ist, was Unendlichkeits- und Polstellen betrifft, nicht einheitlich. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 201 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 4.1 Grundlegende Eigenschaften 4.2 Grenzwerte reeller Funktionen 4.3 Stetigkeit 4.4 Elementare Funktionen 4 Polynome Rationale Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Trigonometrische Funktionen und Arkusfunktionen Hyperbel- und Areafunktionen Ernst (Numerische Mathematik) 5Oliver Differentialrechnung in Mathematik I einer Variablen Winterersemester 2013/14 202 / 367 Stetigkeit In vielen naturwissenschaftlichen Modellen führen kleine Änderungen an den Daten (z.B. durch Rundungs-/Messfehler) auch nur zu kleinen Änderungen in den Ergebnissen nach Anwendung des Modells. Mathematisch wird dieser Zusammenhang durch das Konzept der Stetigkeit erfasst. Dieses geht auf Augustin-Louis Cauchy (1789-1857) und Bernard Bolzano (17811848) zurück und wurde später von Karl Weierstraß (1815-1897) präzisiert (v.l.n.r.). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 203 / 367 Stetigkeit Definition Definition 4.16 (Stetigkeit) Eine reelle Funktion f : Df → R heißt stetig an der Stelle ξ ∈ Df , wenn für alle Folgen (xn ) ⊂ Df mit xn → ξ die zugehörigen Funktionswerte konvergieren mit f (xn ) → f (ξ). f heißt stetig in M ⊆ Df , wenn f an jeder Stelle ξ ∈ M stetig ist. Als Abgrenzung zum Grenzwertbegriff (Def. 4.11) beachte man, dass hier ξ ∈ Df gelten muss, und auch Folgenglieder mit xn = ξ zugelassen sind. Beispiel Die Funktion f (x) = x2 ist stetig an der Stelle ξ = 2, denn für jede Folge (xn ) mit xn → 2 gilt: f (xn ) = x2n → 4 = f (2). Die Funktion f (x) = x2 ist sogar stetig auf ganz R, denn für beliebiges (festes) ξ ∈ R und jede Folge (xn ) mit xn → ξ gilt: f (xn ) = x2n → ξ 2 = f (ξ). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 204 / 367 Stetigkeit Stetigkeit und Grenzwert Ein sorgfältiger Vergleich der Definitionen 4.16 und 4.11 liefert folgenden Zusammenhang zwischen Stetigkeit und Grenzwert: Satz 4.17 Sei f : Df → R eine reelle Funktion und ξ ∈ Df ein Häufungspunkt∗ von Df . Dann gilt: f ist stetig in ξ ⇔ lim f (x) = f (ξ). (4.3) x→ξ Der Grenzwert von f für x → ξ muss also mit dem Funktionswert an der Stelle ξ übereinstimmen. ∗) Anmerkung: In isolierten Punkten des Definitionsbereichs sind Funktionen dagegen immer stetig. Für die Praxis ist dies jedoch belanglos. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 205 / 367 Stetigkeit Stetigkeit und Grenzwert In der Praxis verwendet man zum Testen auf Stetigkeit statt (4.3) auch häufig die Beziehung lim f (x) = f (ξ) = lim f (x) x→ξ− x→ξ+ die durch Kombination von (4.3) mit Satz 4.12 entsteht. Man untersuche die Funktion f (x) = |x| auf Stetigkeit im Punkt ξ = 0. Was lässt sich über die Stetigkeit von f auf R sagen? Für welche Wahl des Parameters α ∈ R ist die folgende Funktion stetig? 1 + αx, für x < 0; f (x) = x2 + α2 , für x ≥ 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 206 / 367 Stetigkeit -δ-Definition Häufig wird die Stetigkeit auch über eine zu Definition 4.16 äquivalente Formulierung eingeführt: Satz 4.18 (-δ-Version der Stetigkeit) Eine reelle Funktion f : Df → R ist genau dann stetig in ξ ∈ Df , wenn zu jedem > 0 ein δ > 0 existiert, so dass x ∈ Df und |x − ξ| < δ ⇒ |f (x) − f (ξ)| < . Für konkrete Rechnungen sind Definition 4.16 oder Satz 4.17 häufig bequemer (überzeugen Sie sich am Beispiel von S. 204 selbst). Allerdings vermittelt uns Satz 4.18 die bessere Vorstellung, was Stetigkeit praktisch bedeutet. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 207 / 367 Stetigkeit Graphische und sprachliche Interpretation f f (ξ) + ε f (ξ) f (ξ) − ε ξ−δ ξ ξ+δ (Hinreichend) kleine Änderungen an den Argumenten führen zu (beliebig) kleinen Änderungen an den Funktionswerten. Die Funktionswerte lassen sich durch hinreichend feines „Justieren“ der Argumente beliebig fein „einstellen“. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 208 / 367 Stetigkeit Eine weitere anschauliche Interpretation Der Graph einer auf einem Intervall stetigen Funktion bildet eine zusammenhängende Kurve. (Achtung: Zusammenhang mathematisch zu definieren ist gar nicht so einfach!) Daher wird manchmal salopp geschrieben, dass man Funktionsgraphen stetiger Funktionen zeichnen kann, „ohne den Stift abzusetzen“. Dies ist unmathematisch, unsauber (es gibt zusammenhängende Kurven, die man nicht zeichnen kann, vgl. Bild rechts), und erfasst auch nicht das gesamte Wesen der Stetigkeit. Trotzdem liefert es uns eine gewisse Vorstellung. f (x) = sin x. ( 1 x sin( x ), g(x) = 0, Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I x= 6 0; x = 0. Winterersemester 2013/14 209 / 367 Stetigkeit Eigenschaften stetiger Funktionen Der folgende Satz ergibt sich durch Kombination der Grenzwertsätze für Funktionen (Satz 4.13) mit Definition 4.16. Satz 4.19 Sind f, g stetig in ξ, dann sind auch f + g, f − g, f g stetig in ξ. Gilt g(ξ) 6= 0, dann ist auch f /g stetig in ξ. Ist f stetig in ξ und ist g stetig in f (ξ), so ist g ◦ f stetig in ξ. Beispiel: Die Funktionen f1 (x) = x2 , f2 (x) = |x| und f3 (x) = 42 sind auf ganz R 1 stetig. Daher sind beispielsweise auch g1 (x) = 42 · |x| · x2 und g2 (x) = 42 |x| + x2 6 und g3 (x) = x stetig auf R. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 210 / 367 Stetigkeit Stetigkeit der Umkehrfunktionen, Zwischenwertsatz Für Umkehrfunktionen gilt: Satz 4.20 Sei I ⊆ R ein Intervall. Die Funktion f : I → R besitze eine Umkehrfunktion f −1 : f (I) → I. Ist f stetig in I, so ist f (I) ein Intervall und f −1 stetig in f (I). Da – wie eben bemerkt – das Bild eines Intervalls unter einer stetigen Funktion wieder ein Intervall ist, ergibt sich sofort: Satz 4.21 (Zwischenwertsatz) Ist f : [a, b] → R stetig, dann gibt es zu jedem w, das zwischen f (a) und f (b) liegt, ein z ∈ [a, b] mit f (z) = w. Anders ausgedrückt: Eine stetige Funktion f nimmt jeden Wert zwischen f (a) und f (b) an. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 211 / 367 Stetigkeit Nullstellensatz Ein Spezialfall von Satz 4.21 ist: Folgerung 4.22 (Nullstellensatz) Ist f : [a, b] → R stetig, und gilt f (a) > 0 und f (b) < 0 (bzw. f (a) < 0 und f (b) > 0), so hat f mindestens eine Nullstelle in (a, b). Visualisierungen f (b) f f (b) f a w f (a) f (a) z a b Zwischenwertsatz Oliver Ernst (Numerische Mathematik) b Nullstellensatz Mathematik I Winterersemester 2013/14 212 / 367 Stetigkeit Exkurs: Intervallhalbierungsverfahren Sei f : [a, b] → R stetig mit f (a)f (b) < 0 (verschiedenes Vorzeichen). Nach dem Nullstellensatz gibt es in (a, b) eine Nullstelle z von f . Algorithmus: Setze a1 = a und b1 = b. Für n = 1, 2, . . . h = (an + bn )/2. Ist f (h) = 0, so haben wir eine Nullstelle von f gefunden. Ist f (h)f (an ) > 0, setze an+1 = h, bn+1 = bn . Ist f (h)f (an ) < 0, setze an+1 = an , bn+1 = h. Die entstehenden Folgen (an ) und (bn ) konvergieren gegen einen gemeinsamen Grenzwert z, der eine Nullstelle von f ist. Überlegen Sie sich, warum das so ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 213 / 367 Stetigkeit Beispiel Gesucht ist eine Lösung der Gleichung −x = ex , d. h. eine Nullstelle von f (x) = x + ex . Eine Lösung durch Umstellen nach x ist hier unmöglich. Wir verwenden das Intervallhalbierungsverfahren. Da f (0) = 1 und f (−1) = −0.6321 . . ., können wir mit a = −1 und b = 0 starten. Natürlich wird man das Verfahren auf einem Rechner implementieren. Ergebnisse: n 1 2 .. . 11 .. . 21 an −1 −1 .. . −0.56738281 . . . .. . −0.56714344 . . . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) bn 0 −0.5 .. . −0.56640625 .. . −0.56714248 . . . Mathematik I 1 210 1 220 bn − an 1 1 = 0.5 2 .. . −4 ≈ 9.77 · 10 .. . −7 ≈ 9.54 · 10 Winterersemester 2013/14 214 / 367 Stetigkeit Extremalwerte stetiger Funktionen Satz 4.23 Ist f : [a, b] → R stetig, dann gibt es ein xmax ∈ [a, b] mit f (xmax ) ≥ f (x) für alle x ∈ [a, b] ein xmin ∈ [a, b] mit f (xmin ) ≤ f (x) für alle x ∈ [a, b]. Anders ausgedrückt: Jede auf [a, b] stetige Funktion nimmt auf [a, b] Maximum und ihr Minimum an. Vorsicht: Die Aussage wird falsch, wenn der Definitionsbereich von f nicht abgeschlossen oder unbeschränkt ist. An welchen Stellen nimmt die Funktion f : [−2, 4] → R, f (x) = x2 Maximum und Minimum an? Wie ändert sich die Situation, wenn man f stattdessen auf (−2, 4), (−2, 4] oder [−2, 4) betrachtet? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 215 / 367 Stetigkeit Unstetigkeitsstellen Eine Stelle ξ ∈ Df , an der eine Funktion f : Df → R nicht stetig ist, heißt Unstetigkeitsstelle von f . Handelt es sich dagegen bei ξ um eine Definitionslücke, kann man lediglich über stetige Fortsetzbarkeit von f entscheiden. Beispiel: f : R \ {0} → R, f (x) = x1 , ist auf dem ganzen Definitionsbereich stetig, aber in 0 nicht stetig fortsetzbar. 1 (x 6= 0); x, ist dagegen unstetig in 0 und sonst f : R → R, f (x) = 42, (x = 0). stetig. Achtung: In der Literatur werden die Begriffe „unstetig“ und „nicht stetig fortsetzbar“ mitunter unschön vermengt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 216 / 367 Stetigkeit Typische Vertreter von Unstetigkeitsstellen Sprungstellen: u. a. Vorkommen bei Ein- und Ausschaltvorgängen oder Modellierung von Materialparametern an Materialgrenzen, Unendlichkeitsstellen/Pole: u.a. Vorkommen bei der Beschreibung von Kräften und deren Potentialen, bspw. bei Gravitations- und Coulomb-Kraft (F (r) = c1 r−2 , V (r) = c2 r−1 ). (Dies sind jedoch keineswegs die einzigen Arten von Unstetigkeiten.) Regel: Tritt in einem mathematischen Modell eine Unstetigkeit (oder fehlende stetige Fortsetzbarkeit) auf, sollte sich auch der Praktiker immer Gedanken über evtl. Auswirkungen machen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 217 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 4.1 Grundlegende Eigenschaften 4.2 Grenzwerte reeller Funktionen 4.3 Stetigkeit 4.4 Elementare Funktionen 4 Polynome Rationale Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Trigonometrische Funktionen und Arkusfunktionen Hyperbel- und Areafunktionen Ernst (Numerische Mathematik) 5Oliver Differentialrechnung in Mathematik I einer Variablen Winterersemester 2013/14 218 / 367 Elementare Funktionen Polynome Wir werden in diesem Abschnitt ein Standardrepertoire von Funktionen zur Verfügung stellen, die in Mathematik und Naturwissenschaften häufig benötigt werden. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um stetige Funktionen. Polynome: Eine Funktion der Form x 7→ f (x) = a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an−1 xn−1 + an xn , a0 , a1 , . . . , an−1 , an ∈ R, an 6= 0, heißt ganzrational oder Polynom. Die Zahlen ai heißen Koeffizienten von f , die Zahl n heißt Grad von f (Abkürzung: grad(f )). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 219 / 367 Elementare Funktionen Lineare Funktionen Polynome vom Grad 1, f (x) = a0 + a1 x, heißen (affin) lineare Funktionen. Der Graph von f ist eine Gerade durch (0, a0 ) mit Anstieg a1 . In Vorbereitung auf die Differentialrechnung bemerken wir: Zu gegebenem Punkt (x0 , f (x0 )) und Anstieg a1 erhält man die lineare Funktion f (x) = f (x0 ) + a1 (x − x0 ). Durch zwei verschiedene gegebene Punkte (x0 , f (x0 )) und (x1 , f (x1 )) „führt“ die lineare Funktion f (x) = f (x0 ) + Oliver Ernst (Numerische Mathematik) f (x1 ) − f (x0 ) (x − x0 ). x1 − x0 Mathematik I Winterersemester 2013/14 220 / 367 Elementare Funktionen Quadratische Funktionen Polynome vom Grad 2, 2 a2 a1 + a0 − 1 , f (x) = a0 + a1 x + a2 x2 = a2 x + 2a2 4a2 heißen quadratische Funktionen. Sie besitzen als Graph eine Parabel mit Scheitel (x0 , y0 ), x0 = − a1 , 2a2 y0 = a0 − a21 , 4a2 die für a2 > 0 nach oben und für a2 < 0 nach unten offen ist. Lineare und quadratische Funktionen wurden intensiv in Vorkurs und Schule behandelt. Schließen Sie evtl. Lücken selbständig. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 221 / 367 Elementare Funktionen Nullstellen von Polynomen Nach dem Fundamentalsatz der Algebra (Sätze 1.26/29) existiert zu einem Polynom vom Grad n eine Faktorisierung f (x) = an k Y (x − λj )µj j=1 m Y j=1 x2 + pj x + qj νj , (4.4) Pm Pk wobei j=1 µj + 2 j=1 νj = n. Die quadratischen Faktoren besitzen keine reellen Nullstellen, und die Ausdrücke in den Klammern sind paarweise verschieden. Die Zahlen λj sind gerade die Nullstellen von f . Die Zahl µj heißt Vielfachheit der Nullstelle λj . Jedes Polynom von ungeradem Grad besitzt somit mindestens eine Nullstelle. Ein Polynom vom Grad n besitzt höchstens n Nullstellen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 222 / 367 Elementare Funktionen Verhalten von Polynomen im Unendlichen Wenn grad(f ) > 0, so gilt lim f (x) = x→∞ sowie ∞, falls an > 0, −∞, falls an < 0 ∞, falls n gerade und an > 0 oder falls n ungerade und an < 0, lim f (x) = x→−∞ −∞, falls n ungerade und an > 0 oder falls n gerade und an < 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 223 / 367 Elementare Funktionen Rationale Funktionen Eine Funktion der Form f (x) = a0 + a1 x + · · · + am xm pm (x) = b0 + b1 x + · · · + bn xn qn (x) (4.5) (mit am 6= 0, bn 6= 0) heißt (gebrochen) rationale Funktion. pm (x) = a0 + a1 x + · · · + am xm qn (x) = b0 + b1 x + · · · + bn x n heißt Zählerpolynom von f , heißt Nennerpolynom von f . Rationale Funktionen sind bis auf die Nullstellen des Nennerpolynoms qn (Pole, Lücken) überall definiert. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 224 / 367 Elementare Funktionen Null- und Polstellen rationaler Funktionen Wir setzen im weiteren voraus, dass Zählerpolynom p und Nennerpolynom q keine gemeinsamen Nullstellen haben∗ . Die Nullstellen von f sind dann gerade die Nullstellen des Zählerpolynoms p. Ist x0 ∈ Df eine Nullstelle (mit Vielfachheit k) des Nennerpolynoms q, so heißt x0 Pol (k-ter Ordnung) von f . Es gilt lim | f (x) | = ∞. x→x0 Dabei hat f bei x0 einen Vorzeichenwechsel, wenn k ungerade ist, keinen Vorzeichenwechsel, wenn k gerade ist. ∗) Andernfalls kann man die betreffenden Linearfaktoren kürzen und „füllt“ ggf. die Definitionslücke „auf“. Betrachte z. B. f (x) = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) x2 −1 x−1 Mathematik I = (x−1)(x+1) . x−1 Winterersemester 2013/14 225 / 367 Elementare Funktionen Null- und Polstellen rationaler Funktionen Interpretieren Sie das folgende Schaubild der Funktion f (x) = 5(x − 2)(x − 27/5) 5x2 − 37x + 54 = x3 − 6x2 + 9x x(x − 3)2 im Hinblick auf die gewonnenen Erkenntnisse über Null- und Polstellen. 8 4 0 −4 −8 −8 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) −4 0 Mathematik I 4 8 Winterersemester 2013/14 226 / 367 Elementare Funktionen Verhalten rationaler Funktionen im Unendlichen Seien m der Grad des Zählerpolynoms p und n der Grad des Nennerpolynoms q. Dann gilt mit am , bn aus (4.5): 0, falls m < n, lim f (x) = lim f (x) = am /bn , falls m = n. x→−∞ x→∞ Falls m ≥ n, so gibt es Polynome s und t mit grad(s) = m − n und grad(t) < n, so dass t(x) p(x) = s(x) + . (4.6) f (x) = q(x) q(x) Insbesondere gilt für m > n, dass lim |f (x) − s(x)| = lim |f (x) − s(x)| = 0. x→−∞ x→∞ Man sagt, s ist Asymptote von f für |x| → ∞; die Graphen von f und s kommen sich im Unendlichen beliebig nahe. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 227 / 367 Elementare Funktionen Verhalten rationaler Funktionen im Unendlichen Interpretieren Sie das folgende Schaubild (blau) der Funktion 1 1 x3 − x2 + 5 = x2 + 5x − 5 5 x−1 im Hinblick auf die Asymptotik im Unendlichen und an den Polen. f (x) = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 228 / 367 Elementare Funktionen Exkurs: Polynomdivision/Euklidscher Algorithmus Die Polynome s und t in (4.6) können mit dem Euklidschen Algorithmus berechnet werden. Diesen lernt man am besten am Beispiel: (3x4 + 7x3 + x2 + 5x + 1) + 3x2 3x4 3 7x − 2x2 + 5x + 1 7x3 + 7x − 2x2 − 2x + 1 −2x2 −2 − 2x + 3 : (x2 + 1) = 3x2 + 7x − 2 Ergebnis: −2x + 3 3x4 + 7x3 + x2 + 5x + 1 = (3x2 + 7x − 2) + 2 . 2 x +1 x +1 Allerdings sind in modernen Zeiten auch Computeralgebrasysteme (CAS) für solche Zwecke zuverlässige und empfehlenswerte Helfer. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 229 / 367 Elementare Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen Für alle n ∈ N ist die Potenzfunktion f (x) = xn eine bijektive Abbildung von [0, ∞) auf [0, ∞). Ihre Umkehrfunktion √ g : [0, ∞) → [0, ∞), x 7→ n x = x1/n , heißt n-te Wurzel von x. Für n ∈ N definieren wir x−n := 1 xn (x 6= 0). Allgemeiner erhalten wir Potenzfunktionen mit rationalem Exponenten über √ g : [0, ∞) → [0, ∞), x 7→ n xm =: xm/n (m ∈ Z, n ∈ N). Wie man die Funktion x 7→ xr für beliebiges reelles r erklärt, werden wir im nächsten Abschnitt erfahren. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 230 / 367 Elementare Funktionen Wurzel- und Potenzfunktionen, Graphische Darstellung 4 3 x 3 x2.5 x2 2 x1/2 1 x x 0 0 1 2 3 2/5 1/3 4 Dargestellt sind einige Potenzfunktionen mit den zugehörigen Umkehrungen (jeweils gleiche Farbe). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 231 / 367 Elementare Funktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Die Exponentialfunktion ist durch f : R → R, x 7→ ∞ X xn n! n=0 definiert und wird mit f (x) = ex oder f (x) = exp(x) bezeichnet. Wichtigste Eigenschaften: ex+y = ex ey , (ex )y = exy für alle x, y ∈ R, ex > 0 für alle x ∈ R, f (x) = ex ist streng monoton wachsend auf R, lim ex = ∞ und lim ex = 0. x→∞ x→−∞ Die Exponentialfunktion spielt eine zentrale Rolle in Wachstums- modellen und bei der Lösung linearer Differentialgleichungen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 232 / 367 Elementare Funktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen Die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion ln : (0, ∞) → R, x 7→ ln(x), heißt natürlicher Logarithmus oder Logarithmus zur Basis e. Wichtigste Eigenschaften: ln(ex ) = x (für x ∈ R) und eln(x) = x (für x > 0), ln(x) ≥ 0 für x ≥ 1 und ln(x) < 0 für 0 < x < 1, ln(xy) = ln(x) + ln(y), ln(xy ) = y ln(x), x 7→ ln(x) ist streng monoton wachsend auf R, lim ln(x) = ∞, x→∞ lim ln(x) = −∞. x→0+ Logarithmen werden häufig benutzt, wenn Beobachtungsgrößen über viele Größenordnungen variieren. (Schalldruckpegel, pH-Wert, Richter-Skala, Leuchtstärke, Sternhelligkeiten, . . . ) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 233 / 367 Elementare Funktionen Beispiel: Hertzsprung-Russell-Diagramm Dargestellt ist der Logarithmus der Leuchtkraft über dem B-VFarbindex. Unten: Farb- und Größenvergleich für Hauptreihensterne. Bilder: Richard Powell und Kieff, Wikimedia Commons Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 234 / 367 Elementare Funktionen Exponential- und Logarithmusfunktionen, graphische Darstellung Exponentialfunktion (blau) und natürlicher Logarithmus (rot) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 235 / 367 Elementare Funktionen Potenzen mit reellem Exponenten Für a > 0 und b ∈ R definieren wir nun ar := er ln(a) . (4.7) Damit können wir nun z. B. die Potenzfunktion f : (0, ∞) → R, x 7→ xr := er ln(x) , für beliebige reelle Exponenten r erklären. Desweiteren eröffnet sich die Möglichkeit, Funktionen vom Typ f (x) = ax (a > 0) zu definieren. Machen Sie sich klar, dass Definition (4.7) für rationale r mit der bereits bekannten übereinstimmt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 236 / 367 Elementare Funktionen (Allgemeine) Exponentialfunktion Für a > 0, a 6= 1, ist f : R → (0, ∞), x 7→ ax := ex ln(a) , die allgemeine Exponentialfunktion oder Exponentialfunktion zu Basis a. Aus den Eigenschaften der Exponentialfunktion ergeben sich: ax+y = ax ay , (ax )y = axy , (ab)x = ax bx , ax > 0, x 7→ ax ist auf R streng monoton wachsend, falls a > 1, x 7→ ax ist auf R streng monoton fallend, falls 0 < a < 1, lim ax = ∞, x→∞ lim ax = 0, x→∞ lim ax = 0 (wenn a > 1), x→−∞ lim ax = ∞ (wenn 0 < a < 1). x→−∞ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 237 / 367 Elementare Funktionen Logarithmen Die Umkehrfunktion von f (x) = ax heißt Logarithmus zur Basis a: loga : (0, ∞) → R, x 7→ loga (x), Für a = 10 schreibt man oft lg(x), für a = e (siehe oben) ln(x) und für a = 2 auch ld(x). Es gelten loga (x) = ln(x)/ ln(a) (x > 0), loga (xy) = loga (x) + loga (y), loga (xy ) = y loga (x), x 7→ loga (x) ist streng monoton wachsend für a > 1, lim loga (x) = ∞ für a > 1, x→∞ lim loga (x) = −∞ für a > 1. x→0+ Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 238 / 367 Elementare Funktionen Logarithmen, graphische Darstellung 2 4x ex 1 2x 0 log4(x) ln(x) log2(x) −1 −2 −2 −1 0 1 2 Dargestellt sind Exponentialfunktionen zu verschiedenen Basen mit den zugehörigen Umkehrungen (jeweils gleiche Farbe). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 239 / 367 Elementare Funktionen Sinus und Kosinus Bei der sauberen analytischen Definition der Sinus- und Kosinusfunktion geht der Mathematiker wie folgt vor: Erweitere den Definitionsbereich der Exponentialfunktion auf komplexe Zahlen: ∞ X zn exp : C → C, exp(z) = n! n=0 Definiere Sinus und Kosinus gemäß sin : R → [0, 1], cos : R → [0, 1], sin(x) = Re(eix ), cos(x) = Im(eix ). (4.8) Damit ergeben sich unmittelbar auch Reihendarstellungen zu Sinus und Kosinus, doch dazu später. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 240 / 367 Elementare Funktionen Sinus und Kosinus Zeigt man nun noch, dass eiϕ für ϕ ∈ R in der auf S. 81 beschriebenen Weise auf dem Einheitskreis liegt (kein leichtes Unterfangen!), so erhält man die gewohnte Darstellung am Einheitskreis. 1 eiϕ sin ϕ ϕ ϕ 0 cos ϕ 1 Für die meisten Zwecke ist diese Vorstellung ausreichend. Durch Skalieren erhält man die klassischen Winkelbeziehungen im rechtwinkligen Dreieck. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 241 / 367 Elementare Funktionen Eigenschaften von Sinus und Kosinus sin(x + 2π) = sin(x), cos(x + 2π) = cos(x), d. h. Sinus und Kosinus sind 2π-periodisch, sin(−x) = − sin(x), cos(−x) = cos(x), d. h. der Sinus ist ungerade, der Kosinus gerade, sin(x) = cos(π/2 − x) und cos(x) = sin(π/2 − x), d. h. die Graphen sind um π/2 gegeneinander verschoben, sin2 (x) + cos2 (x) = 1 (Satz des Pythagoras), sin(x) = 0 ⇔ x = kπ mit k ∈ Z und cos(x) = 0 ⇔ x = (k + 0.5)π mit k ∈ Z, sin(x) ist auf [−π/2, π/2] streng monoton wachsend und cos(x) ist auf [0, π] streng monoton fallend. Desweiteren gelten die in Abschnitt 1.6 (S. 87) kennengelernten Additionstheoreme und Mehrfachwinkelformeln. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 242 / 367 Elementare Funktionen Sinus und Kosinus, graphische Darstellung Sinus 1 0 −1 −2π −π 0 π 2π Kosinus 1 0 −1 −2π Oliver Ernst (Numerische Mathematik) −π 0 Mathematik I π 2π Winterersemester 2013/14 243 / 367 Elementare Funktionen Tangens und Kotangens Der Tangens von x ist definiert durch f : R \ k + 12 π : k ∈ Z → R, x 7→ tan(x) := sin(x) . cos(x) Der Kotangens von x ist definiert durch f : R \ {kπ : k ∈ Z} → R, x 7→ cot(x) := cos(x) . sin(x) Im Gebrauch ist vor allem der Tangens. Wichtige Eigenschaften: tan und cot sind π-periodische Funktionen, tan(−x) = − tan(x) und cot(−x) = − cot(x), d. h. beide Funktionen sind ungerade, tan ist auf (−π/2, π/2) streng monoton wachsend und cot ist auf (0, π) streng monoton fallend. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 244 / 367 Elementare Funktionen Tangens und Kotangens, graphische Darstellung Tangens Kotangens 4 cot(x) 1 2 x tan(x) 0 sin(x) 0 −2 cos(x) −4 −2π −π 0 π 2π −1 −1 0 1 Dargestellt sind die Graphen von Tangens und Kotangens sowie die graphische Interpretation am Einheitskreis. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 245 / 367 Elementare Funktionen Arkusfunktionen Die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen nennt man Arkusfunktionen. Da die trigonometrischen Funktionen auf R nicht bijektiv sind, muss man Einschränkungen auf bestimmte Intervalle betrachten. Man Kosinus und Kotangens auf [0, π] sowie Sinus und Tangens auf π schränkt − 2 , π2 ein, und erhält die Umkehrfunktionen arcsin : [−1, 1] → − π2 , π2 , y = arcsin(x) :⇔ x = sin y, y ∈ [− π2 , π2 ], arccos : [−1, 1] → [0, π] , y = arccos(x) :⇔ x = cos y, y ∈ [0, π], arctan : R → − π2 , π2 , y = arctan(x) :⇔ x = tan y, y ∈ [− π2 , π2 ], arccot : R → [0, π] , y = arccot(x) :⇔ x = cot y, y ∈ [0, π]. mit Namen Arkussinus, Arkuscosinus, Arkustangens und Arkuskotangens. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 246 / 367 Elementare Funktionen Arkusfunktionen, graphische Darstellung π π arccot arccos π/2 π/2 0 0 arcsin −π/2 −1 0 arctan 1 −π/2 −4 −2 0 2 4 Graphen sämtlicher Arkusfunktionen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 247 / 367 Elementare Funktionen Hyperbel- und Areafunktionen Die Funktionen 1 x e − e−x , 2 1 x f : R → R, x 7→ cosh(x) := e + e−x , 2 f : R → R, x 7→ sinh(x) := f : R → R, x 7→ tanh(x) := sinh(x) ex − e−x = x −x e +e cosh(x) heißen Sinus hyperbolicus, Kosinus hyperbolicus und Tangens hyperbolicus. Ihre Umkehrfunktionen heißen Areasinus, Areakosinus und Areatangens. (cosh muss dafür auf [0, ∞) eingeschränkt werden.) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 248 / 367 Elementare Funktionen Hyperbel- und Areafunktionen, graphische Darstellung Beachten Sie die sich aus den Definitionen ergebende Asymptotik. Hyperbelfunktionen treten mitunter bei der Lösung von Differentialgleichungen auf. Z.B. kann ein durchhängendes Seil über den Kosinus hyperbolicus beschrieben werden. Bild: Wikimedia Commons, Geek3 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 249 / 367 Ziele erreicht? Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium): Begriffe wie Monotonie, Periodizität, gerade und ungerade Funktion sicher beherrschen und anwenden können, den Grenzwertbegriff für Funktionen tiefgreifend verstanden haben und für viele Funktionen bereits Grenzwerte berechnen können, den Begriff der Stetigkeit (beide Versionen) und seine mathematischen Konsequenzen tiefgreifend verstanden haben, Funktionen anhand von Definition 4.16 auf Stetigkeit untersuchen können, einen Überblick über elementare Funktionen gewonnen haben und mit den wichtigsten sicher umgehen können (Schwerpunkte: Polynome, Potenz- und Wurzelfunktionen, Exponentialfunktion und natürlicher Logarithmus, trigonometrische Funktionen). Sie sind sich nicht sicher oder meinen “nein“? Sie wissen schon. . . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 250 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 251 / 367 Differentialrechnung Die „Infinitesimalrechnung“ ist ein weiteres großes analytisches Konzept, ohne das moderne Naturwissenschaften undenkbar sind. Die Entwicklung erfolgte unabhängig voneinander durch Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646-1716, links) und Sir Isaac Newton (1643-1727, rechts). Die unabhängige Leistung gilt heute als gesichert, damals allerdings kam es zum bekanntesten Prioritätsstreit der Wissenschaftsgeschichte. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 252 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 253 / 367 Differenzierbarkeit Grundidee Diese ist sehr einfach: Ersetzt man eine Funktion f nahe einer Stelle x0 durch ihre Tangente t(x), so macht man in der Nähe von x0 nur kleine Fehler. t f x0 Die Tangente ist dabei als lineare Funktion viel leichter zu handhaben, als die Funktion f selbst. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 254 / 367 Differenzierbarkeit Grundidee Definition 5.1 (Ableitung) Sei f : Df → R eine reelle Funktion und x0 ∈ Df ein innerer Punkt von Df . Dann heißt f differenzierbar an der Stelle x0 , wenn der Grenzwert f 0 (x0 ) := lim x→x0 f (x0 + h) − f (x0 ) f (x) − f (x0 ) = lim h→0 x − x0 h existiert. f 0 (x0 ) heißt erste Ableitung von f an der Stelle x0 . Ist f an jeder Stelle x0 ∈ M ⊆ Df differenzierbar, so heißt f in M differenzierbar. Man nennt die Funktion f 0 : M → R, x 7→ f 0 (x), dann die Ableitung von f . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 255 / 367 Differenzierbarkeit Geometrische Interpretation t(x) s(x) f (x) f (x0 +h) f (x0 ) (x0 ) s(x) = f (x0)+ f (x0+h)−f (x−x0) h | {z h→0 } t(x) = f (x0) + f 0(x0)(x−x0) x0 x0 + h Für h → 0 geht die Sekante s(x) durch (x0 , f (x0 )) und (x0 + h, f (x0 + h)) in eine Tangente t(x) über. Die Ableitung f 0 (x0 ) ist also der Anstieg der Tangente t an f im Punkt x0 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 256 / 367 Differenzierbarkeit Höhere Ableitungen Ist zu einer Funktion f die Ableitung f 0 in x0 ebenfalls differenzierbar, so heißt f 00 (x0 ) := (f 0 )0 (x0 ) die zweite Ableitung von f an der Stelle x0 . Entsprechend wird (für n ∈ N) die n-te Ableitung f (n) (x0 ) = (f (n−1) )0 (x0 ) von f an der Stelle x0 definiert. (Dabei ist f (0) (x0 ) := f (x0 ) zu setzen.) Notation: Für die ersten drei Ableitungen schreibt man f 0 , f 00 und f 000 . Ab n = 4 schreibt man zumeist f (n) . Zudem sind in der Physik auch f˙(t) und f¨(t) für die ersten zwei Ableitungen üblich, wenn das Argument t eine Zeit darstellt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 257 / 367 Differenzierbarkeit Leibniz-Notation Auf Leibniz geht die folgende Schreibweise für Ableitungen zurück: df d (x0 ) = f (x0 ), dx dx d2 f d2 df 0 f 00 (x0 ) = (x0 ), (x0 ) = f (x0 ) = 2 2 dx dx dx .. . f 0 (x0 ) = f (n) (x0 ) = dn df (n−1) dn f (x0 ) = f (x0 ) = (x0 ). n n dx dx dx Diese Schreibweise ist noch heute weit verbreitet, da man damit manche Rechenregeln (z. B. Kettenregel) sehr eingängig fassen kann, und die Variable, nach der man differenziert, eindeutig gekennzeichnet ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 258 / 367 Differenzierbarkeit Leibniz-Notation Leibniz hatte damals die vage Vorstellung, dass sich die erste Ableitung f 0 (x0 ) als Quotient „infinitesimal kleiner Elemente“ dy und dx schreiben lässt. Er betrachtete dazu den Differenzenquotienten y − y0 f (x) − f (x0 ) ∆y = = ∆x x − x0 x − x0 und machte gedanklich die Größen ∆y und ∆x „unendlich klein“. In Anlehnung an den Differenzenquotienten verwendete er für die erste Ableitung dy den Ausdruck dx . Die lediglich formale Quotientenform der Leibniz-Notation lässt sich mit dem Differentialbegriff (siehe später) mathematisch unterlegen. Manchmal nennt man die Ableitung daher auch Differentialquotient. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 259 / 367 Differenzierbarkeit Beispiele Die konstante Funktion f1 (x) = c (c ∈ R) ist differenzierbar mit f10 (x) = 0, denn f1 (x + h) − f1 (x) c−c = = 0 → 0 (h → 0). h h Die Funktion f2 (x) = ax (a ∈ R) ist differenzierbar mit f20 (x) = a, denn f2 (x + h) − f2 (x) a(x + h) − ax ah = = = a → a (h → 0). h h h Die Funktion f3 (x) = x2 ist differenzierbar mit f30 (x) = 2x, denn f3 (x+h)−f3 (x) (x + h)2 −x2 2hx+h2 = = = 2x + h → 2x (h → 0). h h h Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 260 / 367 Differenzierbarkeit Weitere Beispiele Ohne Beweis geben wir hier noch einige weitere Funktionen mit ihren Ableitungen an: Für f1 (x) = xn (n ∈ N) gilt f10 (x) = nxn−1 . Für f2 (x) = ex gilt f20 (x) = f2 (x) = ex . Für f3 (x) = sin x gilt f30 (x) = cos x. Für f4 (x) = cos x gilt f40 (x) = − sin x. Mit Hilfe der Ableitungsdefinition bestimme man die erste Ableitung von f (x) = x1 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 261 / 367 Differenzierbarkeit Beispiel für eine nicht differenzierbare Funktion Die Funktion f (x) = |x| ist in x0 = 0 nicht differenzierbar, denn h→0+ lim f (0+h)−f (0) h = lim h−0 h lim f (0+h)−f (0) h = lim −h−0 h h→0− h→0+ h→0− = 1, aber = −1 6= 1. Der Differenzenquotient besitzt also keinen Grenzwert für h → 0. Der bei x0 = 0 auftretende „Knick“ ist typisch für Funktionen, die stetig, aber nicht differenzierbar sind. Es ist offensichtlich, dass man in diesem Punkt keine eindeutig bestimmte Tangente finden kann. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 262 / 367 Differenzierbarkeit Bezug zur Stetigkeit Satz 5.2 Ist f : Df → R in x0 ∈ Df differenzierbar, dann ist f in x0 auch stetig. Beweisidee: f (x) − f (x0 ) = f (x) − f (x0 ) (x − x0 ) → 0 | {z } x − x0 | {z } →0 (x → x0 ). →f 0 (x0 ) Achtung: Wie das Beispiel f (x) = |x| zeigt, gibt es sehr wohl stetige Funktionen, die nicht differenzierbar sind. Die Umkehrung von Satz 5.2 ist also falsch! Differenzierbarkeit ist in diesem Sinne eine stärkere Eigenschaft als Stetigkeit. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 263 / 367 Differenzierbarkeit Präzisierung des Linearisierungsgedankens Wir wollen noch einmal den Bezug der Funktion f zu ihrer Tangente t nahe x0 aufgreifen. Dabei hilft folgende alternative Charakterisierung der Differenzierbarkeit: Satz 5.3 Eine reelle Funktion f : Df → R ist genau dann in x0 ∈ Df differenzierbar, wenn es eine Zahl a ∈ R und eine Funktion φ : Df → R gibt mit f (x) = f (x0 ) + a(x − x0 ) + φ(x), wobei φ(x) x−x0 (5.1) → 0 für x → x0 . In diesem Fall gilt a = f 0 (x0 ). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 264 / 367 Differenzierbarkeit Präzisierung des Linearisierungsgedankens Mit der Tangentenfunktion t(x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) liest sich (5.1) für eine differenzierbare Funktion f als φ(x) → 0 für x → x0 . x − x0 Grob gesprochen: „Funktion = Tangente + Restterm, wobei der Restterm für x → x0 schneller als linear gegen Null geht“. f (x) = t(x) + φ(x) mit Visualisierung: t |ϕ(x)| f φ(x) Überzeugen Sie sich, dass mit x−x →0 0 erst recht φ(x) → 0 für x → x0 gilt. x0 x Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 265 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 266 / 367 Differentiationsregeln Satz 5.4 (Regeln für die Ableitung) Seien f, g : D → R differenzierbar in x0 ∈ D. Dann sind auch cf (c ∈ R), f ± g, f g und f /g (falls g(x0 ) 6= 0) in x0 differenzierbar. Dabei gelten folgende Regeln: (cf )0 (x0 ) = cf 0 (x0 ), c ∈ R, (f ± g)0 (x0 ) = f 0 (x0 ) ± g 0 (x0 ) (Summenregel), (f g)0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 ) 0 f 0 (x0 )g(x0 ) − f (x0 )g 0 (x0 ) f (x0 ) = g g(x0 )2 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I (Produktregel), (Quotientenregel). Winterersemester 2013/14 267 / 367 Differentiationsregeln Beispiele Finden Sie die Ableitungen von f1 (x) = 7x2 + 4x − 8, f2 (x) = (x + 1)ex , f3 (x) = f4 (x) = f5 (x) = ex x , 1 x2 , 1 xn für n ∈ N, ausgehend von (xn )0 = nxn−1 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 268 / 367 Differentiationsregeln Kettenregel Satz 5.5 (Kettenregel) Ist f : Df → R in x0 ∈ Df differenzierbar und g : Dg → R in f (x0 ) ∈ Dg differenzierbar, dann ist (g ◦ f ) ebenfalls in x0 differenzierbar mit (g ◦ f )0 (x0 ) = g 0 (f (x0 )) · f 0 (x0 ). (5.2) Die Multiplikation mit f 0 (x0 ) in (5.2) nennt man auch „Nachdifferenzieren“. Außerdem sind für g 0 und f 0 die Begriffe „äußere“ und „innere“ Ableitung gebräuchlich. In Leibniz-Notation schreibt man für (5.2) mitunter kurz Man bestimme die Ableitung von f (x) = e3x Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 2 Mathematik I +1 dg dx = dg df · df dx . . Winterersemester 2013/14 269 / 367 Differentiationsregeln Ableitung der Umkehrfunktion Satz 5.6 Die reelle Funktion f : Df → Wf sei in x0 ∈ Df differenzierbar und besitze die Umkehrfunktion f −1 : Wf → Df . Ist f 0 (x0 ) 6= 0 und ist f −1 stetig in f (x0 ), dann ist f −1 in f (x0 ) differenzierbar mit (f −1 )0 (f (x0 )) = 1 1 bzw. (f −1 )0 (y0 ) = 0 für y0 = f (x0 ). f 0 (x0 ) f (x0 ) Leibniz-Notation: dx 1 = dy dy dx Oliver Ernst (Numerische Mathematik) für y = f (x) Mathematik I bzw. x = f −1 (y) Winterersemester 2013/14 270 / 367 Differentiationsregeln Ableitung der Umkehrfunktion, Beispiel Für y = f (x) = sin x, π π , x∈ − , 2 2 gilt f 0 (x) = cos x 6= 0. Desweiteren ist f −1 (y) = arcsin y stetig. Damit gilt nach Satz 5.6: arcsin0 (y) = 1 1 1 1 =p = =p . 0 2 cos x sin (x) 1 − y2 1 − sin x Bestimmen Sie auf diese Weise die Ableitungen von f1 (x) = ln x und f2 (x) = √ x. Wie lässt sich die Ableitung einer beliebigen Potenzfunktion f (x) = xr (x > 0, r ∈ R) bestimmen? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 271 / 367 Differentiationsregeln Logarithmisches Differenzieren Die Kettenregel liefert für positive differenzierbare Funktionen f die Gleichung (ln(f (x)))0 = f 0 (x) f (x) bzw. f 0 (x) = (ln(f (x)))0 f (x). Dieser „Trick“ erleichtert manchmal die Berechnung der Ableitung. Beispiel: Für f (x) = xx (x > 0) gilt (xx )0 = (ln(xx ))0 xx = (x ln x)0 xx = (1 + ln x)xx . Man bestimme die Ableitung der Funktion f (x) = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I q x−1 (x−2)(x−3) . Winterersemester 2013/14 272 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 273 / 367 Ableitungen elementarer Funktionen Mit Hilfe von Definition 5.1 und der Regeln aus Abschnitt 2 lassen sich zu vielen gebräuchlichen Funktionen Ableitungen gewinnen. Die folgenden Tabellen (betrifft vor allem diese Seite) sollten Sie am besten auswendig lernen. Potenz- und Exponentialfunktionen, Logarithmen f (x) f 0 (x) xr (r ∈ R) rxr−1 ex ex ln x 1 x ax (a > 0) ax ln a loga (x) 1 x ln a Trigonometrische Funktionen f (x) f 0 (x) sin x cos x cos x − sin x Oliver Ernst (Numerische Mathematik) tan x 1 cos2 x = 1 + tan2 x Mathematik I cot x − sin12 x Winterersemester 2013/14 274 / 367 Ableitungen elementarer Funktionen Arkusfunktionen f (x) f 0 (x) arcsin x arccos x 1 − √1−x 2 √ 1 1−x2 arctan x 1 1+x2 arccot x 1 − 1+x 2 Hyperbelfunktionen f (x) f 0 (x) sinh x cosh x cosh x sinh x tanh x 1 cosh2 x coth x − sinh12 x Areafunktionen f (x) f 0 (x) arsinh x √ 1 x2 +1 arcosh x √ 1 , x>1 x2 −1 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) artanh x 1 1−x2 , |x| < 1 Mathematik I arcoth x 1 1−x2 , |x| > 1 Winterersemester 2013/14 275 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 276 / 367 Extrema Definition Mit der Differentialrechnung steht uns nun ein sehr mächtiges Instrument zur Untersuchung reeller Funktionen zur Verfügung. Wir beginnen mit etwas Begriffsbildung. Definition 5.7 (Lokale Extrema) Sei f : Df → R eine reelle Funktion. Ein Punkt x0 ∈ Df heißt lokales Maximum [lokales Minimum] von f , wenn es ein > 0 gibt, so dass f (x0 ) ≥ f (x) [f (x0 ) ≤ f (x)] für alle x ∈ Df ∩ (x0 − , x0 + ). (5.3) x0 heißt lokales Extremum von f , wenn x0 ein lokales Maximum oder ein lokales Minimum von f ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 277 / 367 Extrema Global vs. lokal Bei einem lokalen Extremum x0 betrachtet man also nur das Verhalten der Funktion f sehr nahe bei x0 . Das Gegenstück sind globale Extrema, bei denen die Beziehung f (x0 ) ≥ f (x) bzw. f (x0 ) ≤ f (x) aus (5.3) für alle x ∈ Df gelten muss. Zeichnen Sie die Graphen der Funktionen f : R → R, f (x) = 2 cos 2x, g : [0, ∞) → R, g(x) = 1 1+x cos x (qualitativ reicht), und machen Sie sich den Unterschied zwischen „global“ und „lokal“ auch graphisch klar. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 278 / 367 Extrema Notwendige Bedingung Bei differenzierbaren Funktionen ist die Suche nach lokalen Extrema eher einfach: Satz 5.8 (Notwendige Bedingung für lokale Extrema) Ist x0 ein lokales Extremum der differenzierbaren Funktion f : (a, b) → R, dann gilt f 0 (x0 ) = 0. (5.4) Mit Satz 5.8 kann man also die „Kandidaten“ finden, die für ein lokales Extremum überhaupt in Frage kommen. Nur für diese wird man dann einen konkreten Nachweis versuchen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 279 / 367 Extrema Graphische Darstellung t f x0 An einem Extremalstelle x0 besitzt die Funktion f aus Satz 5.8 eine horizontale Tangente. Finden Sie die Beweisidee von Satz 5.8. Betrachten Sie dafür das Vorzeichen des Differenzenquotienten in x0 für h > 0 und h < 0. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 280 / 367 Extrema Hinreichende Bedingung Hat man mittels Satz 5.8 Kandidaten für lokale Extrema gefunden, prüft man häufig folgende Bedingung: Satz 5.9 (Hinreichende Bedingung für lokale Extrema) Sei f : (a, b) → R zweimal differenzierbar mit f 0 (x0 ) = 0 für ein x0 ∈ (a, b). Dann ist x0 Stelle eines lokalen Minimums, wenn f 00 (x0 ) > 0, Stelle eines lokalen Maximums, wenn f 00 (x0 ) < 0. Bestimmen Sie die lokalen und globalen Extrema von f (x) = x2 e−x . Analysieren Sie das Verhalten von f (x) = xn (n = 2, 5, 6) im Hinblick auf die Sätze 5.8 und 5.9 und das tatsächliche Auftreten von Extrema. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 281 / 367 Mittelwertsatz Satz von Rolle Wir fahren mit einem Ergebnis fort, das für den Anwender eher den Charakter eines Lemmas hat, aber an vielen Stellen von zentraler Wichtigkeit ist. Wir beginnen mit einem einfachen Spezialfall: Satz 5.10 (von Rolle∗ ) Ist f : [a, b] → R stetig und in (a, b) differenzierbar, und gilt f (a) = f (b), dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit f 0 (ξ) = 0. ∗) Michel Rolle, frz. Mathematiker, 1652-1719 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 282 / 367 Mittelwertsatz Satz von Rolle, graphische Darstellung f a ξ b Beweisidee: f nimmt auf [a, b] Maximum und Minimum an. (Warum?) Liegen Maximum und Minimum auf dem Intervallrand, so ist f (x) = 0 auf [a, b], d,ḣ f 0 (x) = 0 für alle x ∈ (a, b) Ansonsten gibt es ein lokales Extremum ξ ∈ (a, b). Für dieses gilt f 0 (ξ) = 0 nach Satz 5.8. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 283 / 367 Mittelwertsatz Die Voraussetzung f (a) = f (b) = 0 kann durch folgende Modifikation entfernt werden: Satz 5.11 (Mittelwertsatz) Ist f : [a, b] → R stetig und in (a, b) differenzierbar, dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit f 0 (ξ) = f (b) − f (a) . b−a (5.5) Beweisidee: Anwendung des Satzes von Rolle auf f (b) − f (a) (x − a) . F (x) := f (x) − f (a) + b−a | {z } Sekante Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 284 / 367 Mittelwertsatz Graphische Darstellung f (b) f s f (a) a ξ ξ˜ b Die Funktion nimmt an mindestens einer Zwischenstelle ξ den Anstieg der Sekante s durch (a, f (a)) und (b, f (b)) an. Hat ein Autofahrer, der eine Tempo-30-Zone mit durchschnittlich 38 km/h durchfährt, eine Ordnungswidrigkeit begangen? Lässt sich ggf. der exakte Ort der Tempoüberschreitung bestimmen? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 285 / 367 Mittelwertsatz Monotonie Mit dem Mittelwertsatz lässt sich sofort ein Ergebnis zur Bestimmung des Monotonieverhaltens einer differenzierbaren Funktion herleiten: Folgerung 5.12 Sei f : [a, b] → R stetig und differenzierbar in (a,b). Ist f 0 (x) = 0 für alle x ∈ (a, b), so ist f konstant. Ist f 0 (x) ≥ 0 (bzw. f 0 (x) ≤ 0) für alle x ∈ (a, b), so ist f monoton wachsend (bzw. fallend). Ist f 0 (x) > 0 (bzw. f 0 (x) < 0) für alle x ∈ (a, b), so ist f streng monoton wachsend (bzw. fallend). Führen Sie den Beweis für einen Punkt Ihrer Wahl aus. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 286 / 367 Mittelwertsatz Ein altes Problem neu diskutiert Die Funktion f (x) = x3 ist, wie in Kapitel 4 diskutiert, streng monoton wachsend, da aus x < y immer x3 < y 3 folgt. Versuchen Sie sich an einem Nachweis mittels Folgerung 5.12. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 287 / 367 Krümmungsverhalten Konvex und konkav Definition 5.13 Eine reelle Funktion f : Df → R heißt konvex [konkav] im Intervall I ⊂ Df , wenn für alle x, y ∈ I und alle λ ∈ (0, 1) f (λx + (1 − λ)y) ≤ λf (x) + (1 − λ)f (y) [f (λx + (1 − λ)y) ≥ λf (x) + (1 − λ)f (y)] (5.6) gilt. Veranschaulichung: Die Sekante durch (x, f (x)) und (y, f (y)) verläuft in [x, y] oberhalb [unterhalb] des Graphen von f . Machen Sie sich klar, warum diese Veranschaulichung korrekt ist. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 288 / 367 Krümmungsverhalten Konvex und konkav, graphische Darstellung Bild einer konvexen (links) und einer konkaven Funktion (rechts). Die bei Bewegung “von links nach rechts“ auftretende Links- und Rechtskrümmung ist typisch; insbesondere wenn in (5.6) die strengen Ungleichungsrelationen gelten. Finden Sie ein Beispiel für eine auf R konvexe [konkave] Funktion. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 289 / 367 Krümmungsverhalten Zusammenhang mit Ableitungen Wie folgende Sätze zeigen, wird die Untersuchung der Krümmung leichter, wenn man Ableitungen zur Verfügung hat. Satz 5.14 Ist die Funktion f : (a, b) → R differenzierbar, so definieren wir für jedes z ∈ (a, b) die „Tangentenfunktion“ tz : x 7→ f (z) + f 0 (z)(x − z). f ist in (a, b) genau dann konvex [konkav], wenn f (x) ≥ tz (x) [f (x) ≤ tz (x)] für alle z ∈ (a, b) und alle x ∈ (a, b) gilt. Vereinfacht: Jede Tangente an f verläuft unterhalb [oberhalb] des Graphen von f . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 290 / 367 Krümmungsverhalten Zusammenhang mit Ableitungen Satz 5.15 Ist die Funktion f : (a, b) → R differenzierbar, dann ist f genau dann konvex [konkav] in (a, b), wenn f 0 in (a, b) monoton wachsend [fallend] ist. Ist f zweimal differenzierbar, dann ist f in (a, b) genau dann konvex [konkav], wenn f 00 (x) ≥ 0 [f 00 (x) ≤ 0] für alle x ∈ (a, b) gilt. Untersuchen Sie das Krümmungsverhalten der Funktionen f1 (x) = xn (n ∈ N), f2 (x) = ex , f3 (x) = ln x und f4 (x) = sin x mit Hilfe von Satz 5.15. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 291 / 367 Krümmungsverhalten Zusammenhang mit Ableitungen, graphische Darstellung f f tz z Situation der Sätze 5.14 und 5.15 am Beispiel einer konvexen (links) und einer konkaven Funktion (rechts). Machen Sie sich die Aussagen von Satz 5.14 und 5.15 noch einmal anhand der Bilder plausibel. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 292 / 367 Krümmungsverhalten Wende- und Sattelpunkt Definition 5.16 (Wende- und Sattelpunkt) Ein Punkt (x0 , f (x0 )) des Graphen, an dem sich das Krümmungsverhalten einer Funktion f ändert, heißt Wendepunkt von f . Die Stelle x0 heißt Wendestelle. Die Tangente in einem Wendepunkt heißt Wendetangente. Einen Wendepunkt mit horizontaler Tangente nennt man auch Sattelpunkt. Ig(x) = x3 mit Sattelpunkt Winterersemester(0, 2013/14 f (x) = sin x mit Wendepunkt (0,Mathematik 0) 0) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 293 / 367 Krümmungsverhalten Wende- und Sattelpunkt Ist Differenzierbarkeit gegeben, ist die Bestimmung von Wendepunkten wieder einfacher: Satz 5.17 Ist f : (a, b) → R zweimal differenzierbar und (x0 , f (x0 )) ein Wendepunkt von f , dann ist f 00 (x0 ) = 0. Ist f : (a, b) → R dreimal differenzierbar und gilt für ein x0 ∈ (a, b) sowohl f 00 (x0 ) = 0 als auch f 000 (x0 ) 6= 0, dann ist (x0 , f (x0 )) ein Wendepunkt von f . Man bestätige das Vorliegen eines Wende-/Sattelpunkts in den Beispielen von Folie 293 mit Hilfe von Satz 5.17. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 294 / 367 Krümmungsverhalten Wende- und Sattelpunkt, zusammenfassende graphische Darstellung 3 konvex konkav 2 f’ 1 f’’ 0 f −1 −2 −3 0 monoton wachsend 1 monoton wachsend monoton fallend 2 3 4 5 Dargestellt ist eine Funktion f , ihre Ableitungen f 0 und f 00 , sowie die resultierenden Monotonie- und Krümmungsbereiche. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 295 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 296 / 367 Verschiedene Anwendungen Kurvendiskussion Eine Kurvendiskussion setzt sich aus den folgenden Teilaufgaben zusammen: Definitionsbereich. Auf welcher (möglichst großen) Menge Df ist die Funktion f definiert? Wertebereich. Welche Werte kann f (x) (x ∈ Df ) annehmen? Symmetrien. Ist f gerade oder ungerade? Nullstellen. Löse f (x) = 0. Extrema. Bestimme die Lösungen xE von f 0 (x) = 0. Ist f 00 (xE ) > 0, dann ist (xE , f (xE )) ein lokales Minimum von f . Ist f 00 (xE ) < 0, dann ist (xE , f (xE )) ein lokales Maximum von f . Wendepunkte. Bestimme die Lösungen xW von f 00 (x) = 0. Ist f 000 (xW ) 6= 0, dann ist (xW , f (xW )) ein Wendepunkt von f . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 297 / 367 Verschiedene Anwendungen Kurvendiskussion Verhalten an Polstellen. Ist f eine rationale Funktion, bestimme die Pole xP von f (Nullstellen des Nennerpolynoms) und berechne lim f (x) sowie x→xP − lim f (x). x→xP + Verhalten im Unendlichen. Berechne lim f (x) sowie x→∞ lim f (x). x→−∞ Monotoniebereiche. Untersuche Vorzeichen von f 0 (x). Krümmungsverhalten. Untersuche Vorzeichen von f 00 (x). Graphische Darstellung. 2 Führen Sie eine Kurvendiskussion für f (x) = e−x durch. Erinnern Sie sich an einen Geldschein, auf dem der Funktionsgraph zu finden war? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 298 / 367 Verschiedene Anwendungen Newton-Verfahren In Abschnitt 5.3 hatten wir das Intervallhalbierungsverfahren zur Lösung von Gleichungen der Form f (x) = 0 (5.7) kennengelernt. Mit dem Newton-Verfahren behandeln wir nun ein Verfahren für differenzierbare Funktionen f , welches im Allgemeinen wesentlich schneller ist. Ziel ist die Bestimmung einer Lösung x∗ von (5.7) – ausgehend von einem Startwert x0 , der möglichst in der Nähe von x∗ liegt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 299 / 367 Verschiedene Anwendungen Newton-Verfahren: Idee f x0 x1 x2 x∗ Man berechnet im n-ten Schritt die Nullstelle xn der Tangente t an f in xn−1 . Diese wird als neue Näherung für x∗ verwendet. Natürlich wird man zu Beginn einen Startwert x0 wählen müssen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 300 / 367 Verschiedene Anwendungen Newton-Verfahren: Herleitung der Verfahrensvorschrift f t xn−1 xn x∗ Wir stellen die Bedingung ! t(xn ) = f (xn−1 ) + f 0 (xn−1 )(xn − xn−1 ) = 0. Umstellen nach xn führt auf die Verfahrensvorschrift des Newton-Verfahrens: xn = xn−1 − Oliver Ernst (Numerische Mathematik) f (xn−1 ) f 0 (xn−1 ) Mathematik I (n = 1, 2, . . .). Winterersemester 2013/14 (5.8) 301 / 367 Verschiedene Anwendungen Newton-Verfahren: Numerisches Experiment Für das Beispiel f (x) = x + ex aus Abschnitt 5.3 liefert (5.8) die Vorschrift xn = xn−1 − xn−1 + exn−1 . 1 + exn−1 Ausgehend vom Startwert x0 = 0 liefert Matlab folgende Werte: n 1 2 3 4 5 xn −0.500000000000000 −0.566311003197218 −0.567143165034862 −0.567143290409781 −0.567143290409784 |f (xn )| 1.06 · 10−1 1.30 · 10−3 1.96 · 10−7 4.55 · 10−15 1.11 · 10−16 Für 14 Nachkommastellen benötigt man gerade 4 Schritte. Das Intervallhalbierungsverfahren hätte dagegen 48 Schritte gebraucht! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 302 / 367 Verschiedene Anwendungen Newton-Verfahren: Konvergenzeigenschaften Wenn das Newton-Verfahren konvergiert, dann wesentlich schneller als das Intervallhalbierungsverfahren (Faustformel: in jedem Schritt Verdopplung der Anzahl korrekter Dezimalstellen). Voraussetzung für Konvergenz ist aber, dass der Startwert x0 „genügend nahe“ bei x∗ liegt („lokal konvergentes Verfahren“). Ist f : R → R dagegen zweimal stetig differenzierbar (d.h. f 00 ist stetig) sowie konvex, und besitzt f eine reelle Nullstelle, so konvergiert die Newton–Folge für jeden Startwert x0 mit f 0 (x0 ) 6= 0. Man mache sich die letzten beiden Aussagen an den Beispielen f1 (x) = x2 − 1 und f2 (x) = x2 e−x graphisch klar. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 303 / 367 Verschiedene Anwendungen Die Regeln von Bernoulli und de l’Hospital f (x) x→ξ g(x) Bei der Berechnung von Grenzwerten der Form lim unbestimmten Ausdrücken wie „ 00 “ oder „∞ ∞“ waren wir bei auf Probleme gestoßen. Solche Probleme werden häufig leichter, wenn Differenzierbarkeit gegeben ist. Das betreffende Ergebnis wurde von Johann Bernoulli (1667-1748, links) entwickelt, und vom Marquis de l’Hospital (1661-1704, rechts) im ersten Lehrbuch der Differentialrechnung (1696) veröffentlicht. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 304 / 367 Verschiedene Anwendungen Die Regeln von Bernoulli und de l’Hospital Satz 5.18 (De l’Hospital-Regel) Seien f, g : (a, b) → R differenzierbare Funktionen mit g 0 (x) 6= 0 für alle x ∈ (a, b) und sei entweder lim f (x) = lim g(x) = 0 oder x→b− x→b− lim f (x) = lim g(x) = ±∞ x→b− x→b− Dann gilt f (x) f 0 (x) = lim 0 , x→b− g(x) x→b− g (x) lim wenn der zweite Grenzwert existiert. Hierbei ist b = ∞ erlaubt. Entsprechende Aussagen gelten für rechtsseitige und beidseitige Grenzwerte. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 305 / 367 Verschiedene Anwendungen Plausibilitätsargument zu Satz 5.18 Nahe einer Stelle x0 mit f (x0 ) = g(x0 ) = 0 gilt f (x) ≈ f 0 (x0 )(x − x0 ) und 0 (x) (x0 ) g(x) ≈ g 0 (x0 )(x − x0 ). Damit also fg(x) ≈ fg0 (x . 0) Beispiele lim x→0 sin x x = lim x→0 x3 lim x→−∞exp(−x) cos x 1 = 1, 3x2 x→−∞− exp(−x) = lim 6x x→−∞exp(−x) = lim x−sin(x) x→0 x sin(x) Man berechne die Grenzwerte lim 6 x→−∞− exp(−x) = lim und lim x→∞ eαx x für α > 0. Wie kann man aus letzterem einem Aussage über limx→∞ gewinnen? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I = 0. eαx xβ für α, β > 0 Winterersemester 2013/14 306 / 367 Verschiedene Anwendungen Anmerkung zur l’Hospital-Regel Die Bedeutung der l’Hospitalschen Regeln wird vom Anfänger oft überschätzt und endet in nervenaufreibenden Rechnungen ohne Ergebnis. Betrachten Sie dazu zum Beispiel ex − e−x lim x x→∞ e + e−x 1 − e−2x = lim =1 . x→∞ 1 + e−2x Häufig ist es günstiger, bei der Grenzwertberechnung für unbestimmte Ausdrücke ∞ “ auf Potenzreihen zurückzugreifen. wie „ 00 “ oder „ ∞ Doch diese Betrachtungen verschieben wir auf später. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 307 / 367 Verschiedene Anwendungen Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Wir kommen noch einmal auf die Leibniz-Schreibweise y 0 (x0 ) = dy (x0 ) dx zurück und wollen die Ausdrücke dx und dy näher fassen. Definition 5.19 (Totales Differential) Sei f : Df → R eine in x0 differenzierbare Funktion. Für eine beliebige Zahl dx = x − x0 heißt dy := f 0 (x0 ) dx = f 0 (x0 )(x − x0 ) totales Differential von f bei x0 . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 308 / 367 Verschiedene Anwendungen Totales Differential: geometrische Deutung f (x) f (x0) dx x0 dy ∆y f x dy ist die Änderung der Funktionswerte der Tangente bei Änderung des Arguments um dx. Idee für Fehlerfortpflanzung Approximiert man f nahe x0 durch die Tangente, so gilt näherungsweise f (x) − f (x0 ) =: ∆y ≈ dy = f 0 (x0 ) dx. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 309 / 367 Verschiedene Anwendungen Totales Differential: Praktische Anwendung In Experimenten ist häufig der Einfluss des Fehlers ∆x einer Messgröße x auf den Fehler ∆y einer berechneten Zielgröße y = f (x) von Interesse. Mit dem totalen Differential und der eben beschriebenen Idee ergibt sich die Näherungsformel |∆y| ≈ |f 0 (x)| · |∆x|. Durch Messung der Parallaxe p eines Fixsterns (in 00 ) lässt sich mittels r(p) = 1/p der Abstand des Sterns zu Erde errechnen (in Pc; 1 Pc ≈ 3.262 ly). Die erste Parallaxe wurde 1838 am Stern 61 Cyg von F. W. Bessel mit p = (0.3483 ± 0.0095)00 gemessen. Welcher Abstand zur Erde ergibt sich? Wie genau ist das Ergebnis? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 310 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen Differentialrechnung in einer Variablen 5.1 Differenzierbarkeit 5.2 Differentiationsregeln 5.3 Ableitungen elementarer Funktionen 5.4 Extrema, Wachstum und Krümmung differenzierbarer Funktionen 5.5 Verschiedene Anwendungen 5 Kurvendiskussion Newton-Verfahren Die Regel von de l’Hospital Totales Differential und Fehlerfortpflanzung Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 311 / 367 Verschiedene Anwendungen Der Satz von Taylor Mit der ersten Ableitung waren wir in der Lage, Funktionen nahe einer Stelle x0 linear zu approximieren. Statt linearer Funktionen kann man auch Polynome höherer Ordnung verwenden und damit ggf. noch bessere Ergebnisse erreichen. Der betreffende Satz trägt den Namen des englischen Mathematikers Brook Taylor (1685-1731). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 312 / 367 Verschiedene Anwendungen Der Satz von Taylor: Illustration der Idee am Beispiel Die Funktion f (x) = cos x (blau) lässt sich nahe x0 = 0 durch die Tangente t(x) = 1 approximieren (grün). Besser ist jedoch die Approximation durch T2 (x) = 1 − 12 x2 (rot). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 313 / 367 Verschiedene Anwendungen Der Satz von Taylor Satz 5.20 (Satz von Taylor) Sei f : I → R eine auf dem offenen Intervall I (n + 1)-mal differenzierbare Funktion; x0 , x ∈ I. Dann gibt es eine Zahl ξ zwischen x und x0 , so dass f (x) = Tn (x) + Rn (x) mit dem Taylor-Polynom n-ter Ordnung Tn (x) = n X f (k) (x0 ) (x − x0 )k k! k=0 = f (x0 )+f 0 (x0 )(x − x0 )+ f 00 (x0 ) f (n) (x0 ) (x − x0 )2 +. . .+ (x − x0 )n 2 n! und dem Lagrangeschen Restglied Rn (x) = Oliver Ernst (Numerische Mathematik) f (n+1) (ξ) (x − x0 )n+1 . (n + 1)! Mathematik I Winterersemester 2013/14 314 / 367 Verschiedene Anwendungen Der Satz von Taylor: Beispiel Für f (x) = sin x und x0 = 0 gilt f 0 (x) = cos x, f 00 (x) = − sin x, f 000 (x) = − cos x, f (4) = f, f (5) = f 0 , . . . Somit ergibt sich f (x0 ) = 0, f 0 (x0 ) = 1, f 00 (x0 ) = 0, f 000 (x0 ) = −1, f (4) (x0 ) = 0, . . . Die ersten 6 Taylor-Polynome lauten also T1 (x) = 0 + 1(x − 0) = x, T2 (x) = 0 + 1(x − 0) + 20 (x − 0)2 = x, T3 (x) = 0 + 1(x − 0) + 20 (x − 0)2 − 16 (x − 0)3 = x − 16 x3 , T4 (x) = x − 16 x3 , T5 (x) = T6 (x) = x − 16 x3 + Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 1 5 120 x . Mathematik I Winterersemester 2013/14 315 / 367 Verschiedene Anwendungen Der Satz von Taylor: Bild zum Beispiel f (x) = sin x (blau) mit den Taylorpolynomen T1 (x) = T2 (x) (grün), T3 (x) = T4 (x) (rot) und T5 (x) = T6 (x) (türkis) im Entwicklungspunkt x0 = 0. der “Physiker-Näherung“ sin x ≈ x (|x| Schätzen Sie den relativen Fehler sinsinx−x x klein) für |x| < 0.1 mit dem Lagrangeschen Restglied ab. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 316 / 367 Verschiedene Anwendungen Taylor-Reihen Verhält sich das Restglied „gutartig“, so approximieren die Taylorpolynome Tn die Funktion f mit größer werdendem n nahe x0 immer besser. Im günstigsten Fall lässt sich f in einer Umgebung von x0 durch eine Taylor-Reihe darstellen: f (x) = ∞ X f (n) (x0 ) (x − x0 )n n! n=0 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I für alle x mit |x − x0 | < ε. Winterersemester 2013/14 317 / 367 Verschiedene Anwendungen Taylor-Reihen Wichtige Taylor–Reihen: (1 − x)−1 exp(x) sin(x) cos(x) ln(1 + x) ∞ X n=0 ∞ X n=0 ∞ X n=0 ∞ X n=0 ∞ X n=1 mit a 0 := 1 und xn |x| < 1 arctan(x) xn n! x∈R sinh(x) (−1)n x2n+1 (2n + 1)! x∈R (−1)n x2n (2n)! x∈R (−1)n+1 xn n x ∈ (−1, 1] a n := a(a−1)···(a−n+1) n! Oliver Ernst (Numerische Mathematik) cosh(x) artanh(x) (1 + x)a ∞ X (−1)n x2n+1 2n + 1 n=0 ∞ X n=0 ∞ X n=0 ∞ X x2n+1 (2n + 1)! x∈R x2n (2n)! x∈R x2n+1 2n + 1 |x| < 1 a n x n |x| < 1 n=0 ∞ X n=0 |x| ≤ 1 für alle n ∈ N und alle a ∈ R. Mathematik I Winterersemester 2013/14 318 / 367 Verschiedene Anwendungen Taylor-Reihen Warnung Es soll aber vor dem Trugschluss gewarnt werden, der Satz von Taylor garantiere die Entwickelbarkeit jeder unendlich oft differenzierbaren Funktion in eine Taylor-Reihe. Vielmehr gilt: Es gibt Fälle, in denen die Taylor-Reihe für x 6= x0 überhaupt nicht konvergiert. Es gibt Fälle, in denen die Taylor-Reihe für x 6= x0 konvergiert, aber mit der eigentlichen Funktion f nichts zu tun hat. Zum Beispiel gilt für f (x) = 1 e − x2 , 0, x 6= 0; x=0 die Beziehung Tn (x) = 0 für alle n ∈ N. Informationen über die Konvergenz erhält man mit Hilfe des Restglieds. Dies soll hier aber nicht weiter diskutiert werden. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 319 / 367 Ziele erreicht? Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium): den Ableitungsbegriff und die Idee der linearen Approximation tiefgreifend verstanden haben, Funktionen sicher auf Differenzierbarkeit untersuchen und deren Ableitung mit Diffenzenquotient oder Ableitungsregeln sicher bestimmen können, alle Punkte einer Kurvendiskussion sicher ausführen können, Taylor-Polynome sicher berechnen können und wissen was man unter einer Taylor-Reihe versteht, über Newton-Verfahren und Fehlerfortpflanzung grob Bescheid wissen. Sie sind sich nicht sicher oder meinen „nein“? Sie wissen schon. . . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 320 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen 6 Integralrechnung in einer Variablen Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 321 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen Integralrechnung in einer Variablen 6.1 Der Riemannsche Integralbegriff 6.2 Integrationstechniken 6 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 322 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Die Integralrechnung bildet das Gegenstück zur Differentialrechnung. Sie wurde parallel zu dieser von I. Newton und G. W. v. Leibniz entwickelt und später von A. L. Cauchy präzise gefasst. Der hier vorgestellte Integralbegriff geht (zumindest sinngemäß) auf den deutschen Mathematiker Bernhard Riemann (1826-1866) zurück. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 323 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Motivierende Problemstellung Gesucht ist der Flächeninhalt zwischen dem Graphen einer beschränkten Funktion f : [a, b] → R und der x-Achse: f a b Im Allgemeinen ist die Fläche krummlinig begrenzt; Formeln für elementare geometrische Objekte scheiden also zur Lösung aus. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 324 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Lösungsstrategie Das Problem ist einfach für stückweise konstante Funktionen, da sich dann der Flächeninhalt aus Rechtecken zusammensetzt. Daher schachtelt man die Fläche unter dem Graphen von f von oben und unten mit Rechteckflächen ein und gewinnt so obere und untere Schranken. Können sich die grauen und grünen Rechteckflächen von oben und unten beliebig weit derselben Schranke nähern, so ist diese die gesuchte Fläche. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 325 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Integral für Treppenfunktionen Wir beschreiben diesen Zugang nun mathematisch exakt. Definition 6.1 Wir nennen t : [a, b] → R eine Treppenfunktion, wenn es eine Zerlegung a = x0 < x1 < x2 < · · · < xn = b des Intervalls [a, b] gibt, so dass t auf jedem der (offenen) Teilintervalle (xi , xi+1 ) konstant ist, d. h. t(x) = ξi für alle x mit xi < x < xi+1 . Für eine solche Treppenfunktion t setzt man Z b n−1 X t(x) dx := ξi (xi+1 − xi ). a Oliver Ernst (Numerische Mathematik) i=0 Mathematik I Winterersemester 2013/14 326 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Geometrische Interpretation ξ2 ξ1 x0 x1 + + ξ3 ξ5 x4 + x2 x3 − ξ4 − + x5 x6 ξ0 Rb t(x) dx entspricht dem gewichteten Flächeninhalt zwischen dem Graph von t a und der x-Achse. Dabei werden Flächen oberhalb der x–Achse positiv, Flächen unterhalb der x-Achse negativ gezählt. Berechnen Sie R1 −2 sgn(x) dx (vgl. S. 195). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 327 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Ober- und Unterintegral Zu jeder beschränkten Funktion f : [a, b] → R können wir nun zwei Zahlen definieren, nämlich das Oberintegral (Z ) b I¯f := inf t(x) dx : t Treppenfunktion auf [a, b] mit t ≥ f a und das Unterintegral (Z I f := sup a b t(x) dx : t Treppenfunktion auf [a, b] mit t ≤ f ) . Diese beiden Größen helfen uns, die „Einschachtelung“ der Fläche unter dem Graphen von f mit Rechteckflächen mathematisch zu erfassen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 328 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Definition Definition 6.2 (Riemann-Integral) Eine auf [a, b] beschränkte Funktion f heißt auf [a, b] Riemann-integrierbar, falls das Ober- und das Unterintegral übereinstimmen, d. h. falls I¯f = I f =: I. Der gemeinsame Wert wird bestimmtes Riemann-Integral von f über [a, b] genannt und mit Z b f (x) dx a bezeichnet. a heißt untere und b obere Integrationsgrenze, und [a, b] wird Integrationsintervall genannt. x heißt Integrationsvariable und f (x) Integrand. Konventionen Ra a f (x) dx := 0 und Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Ra b f (x) dx := − Mathematik I Rb a f (x) dx (falls a < b). Winterersemester 2013/14 329 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Rechenregeln I Definition 6.2 liefert zwar kaum Anhaltspunkte für die konkrete Berechnung von Integralen, aber bereits einige Rechenregeln: Satz 6.3 (Rechenregeln für die Integration I) Sind f, g : [a, b] → R integrierbar, so auch max{f, g}, min{f, g}, |f |, f ± g und f g. Es gelten die folgenden Integrationsregeln: Z b Z b Z f (x) dx ± (f ± g)(x) dx = a Z b (λf )(x) dx = λ a Z a b b g(x) dx, a f (x) dx a für alle λ ∈ R. Machen Sie sich eine der Formeln zumindest für Treppen- funktionen klar. (Die „Vererbung“ der Eigenschaften an integrierbare Funktionen soll hier nicht diskutiert werden.) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 330 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Rechenregeln II Satz 6.4 (Rechenregeln für die Integration II) Seien f, g : [a, b] → R integrierbar. Dann gilt Z b Z c Z f (x) dx = f (x) dx + a a b f (x) dx für alle c ∈ (a, b). c Falls f ≤ g auf (a, b) gilt, so folgt Z a b f (x) dx ≤ Z b g(x) dx. a Insbesondere folgt aus c ≤ f (x) bzw. f (x) ≤ C für alle x ∈ (a, b) : Z b Z b f (x) dx bzw. f (x) dx ≤ C(b − a). c(b − a) ≤ a Außerdem gilt a Z Z b b f (x) dx ≤ |f (x)| dx. a a Interpretieren Sie einige dieser Aussagen geometrisch. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 331 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Klassen integrierbarer Funktionen Satz 6.5 Ist f auf [a, b] stetig oder monoton, so ist f auch integrierbar auf [a, b]. Natürlich gehört aber bei weitem nicht jede auf [a, b] integrierbare Funktion in eine dieser beiden Klassen. Aus dem Zwischenwertsatz für stetige Funktionen folgt desweiteren: Satz 6.6 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Ist f : [a, b] → R stetig, dann gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit Z b f (x) dx = f (ξ) (b − a). a Interpretieren Sie diese Aussage geometrisch. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 332 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Stammfunktionen und der HDI Bislang haben sind wir noch gar nicht darauf eingegangen, wie man denn Integrale konkret berechnet. Dazu benötigen wir den Begriff der Stammfunktion sowie den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Letzterer besagt, dass das Integrieren – unter gewissen Voraussetzungen und sehr grob gesprochen – die „Umkehrung“des Differenzierens ist. Das Ergebnis ist so berühmt und wichtig, dass es sogar eine Vertonung als Kantate gibt.2 2 (F. Wille, 1935-1992). Eine schöne Aufführung von Würzburger Gymnasiasten inclusive animierter Skizzen finden Sie unter http://www.youtube.com/watch?v=4n6aB4aasyg. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 333 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Stammfunktionen Definition 6.7 Sei f : [a, b] → R eine reelle Funktion. Man nennt eine differenzierbare Funktion F : [a, b] → R eine Stammfunktion von f , wenn F 0 (x) = f (x) für alle x ∈ [a, b]. Beispiel: F (x) = x2 ist Stammfunktion von f (x) = 2x, denn F 0 = f . Können Sie Stammfunktionen zu f (x) = ex und g(x) = cos x finden? Vielleicht sogar mehrere? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 334 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Integrationskonstanten und unbestimmtes Integral Sind F1 und F2 Stammfunktionen von f , dann gibt es eine Konstante c ∈ R mit F1 (x) = F2 (x) + c für alle x ∈ [a, b]. (Warum?) Stammfunktionen sind also bis auf Konstanten eindeutig bestimmt. Stammfunktionen werden auch unbestimmte Integrale genannt und häufig in der Form Z F (x) = f (x) dx + c geschrieben. Die Konstante c heißt Integrationskonstante. Was verstehen wir also unter den unbestimmten Integralen R cos x dx? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I R ex dx und Winterersemester 2013/14 335 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Hauptsatz I Zu stetigen Funktionen erhält man eine Stammfunktion wie folgt: Satz 6.8 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, Teil I) Sei f : [a, b] → R stetig, dann ist die durch F : [a, b] → R, x 7→ Z x f (s) ds a definierte Funktion F in [a, b] differenzierbar, und es gilt Z x d f (s) ds = f (x). F 0 (x) = dx a Sämtliche Stammfunktionen einer stetigen Funktionen sind konsequenterweise von der Bauart Z x F (x) = f (s) ds + c. (6.1) a Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 336 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Graphische Darstellung f f (x) F (x) a x b Dargestellt ist eine stetige Funktion f und ihre Stammfunktion F als Maß der schraffierten Fläche gemäß Satz 6.8. Erarbeiten Sie sich die Beweisidee anhand der Skizze selbst. Nutzen Sie ggf. auch die Literatur oder die Hauptsatzkantate. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 337 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Stammfunktionen spezieller Funktionen Wegen der Beziehung F 0 = f liegt für die Bestimmung von Stammfunktionen zunächst das „Rückwärtslesen“ der Tabellen für Ableitungen (S. 274 f.) nahe. Lernen Sie am besten folgende Stammfunktionen elementarer Funktionen auswendig: f xn 1/x eax ln x sin x cos x F xn+1 /(n + 1) ln |x| eax /a x ln x − x − cos x sin x Bemerkungen n 6= −1 x 6= 0 a 6= 0 x>0 Prüfen Sie die Beispiele auf ihre Richtigkeit. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 338 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Regeln für Stammfunktionen Aus den Regeln für Ableitungen ergeben sich schließlich folgende Regeln für Stammfunktionen (bis auf Integrationskonstanten): R R R f (x) dx (λ ∈ R), R R (f (x) + g(x)) dx = f (x) dx + g(x) dx. λf (x) dx = λ Es ist anzumerken, dass die Berechnung von Stammfunktionen im Allgemeinen viel schwieriger ist als Differenzieren. Daher gibt es z. T. Hunderte Seiten dicke Integraltafeln. Deren Bedeutung hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten mit der Verfügbarkeit von PC und numerischen Verfahren deutlich relativiert. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 339 / 367 Der Riemannsche Integralbegriff Hauptsatz II Kommen wir nun zur konkreten Berechnung der Integrale über Stammfunktionen: Satz 6.9 (HDI, Teil II) Sei f : [a, b] → R stetig und F eine (beliebige) Stammfunktion von f , dann gilt: Z b a b f (x) dx = F (x)a := F (b) − F (a). Man mache sich klar, warum Satz 6.9 aus (6.1) und Satz 6.8 folgt. Man berechne Man berechne R2 1 d dx dx x Rx mit Hilfe von Satz 6.9. −1 te2t dt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 340 / 367 Inhalt 1 Vorbemerkungen 1 Grundlagen 3 Folgen und Reihen 4 Grenzwerte, Stetigkeit und Beispiele reeller Funktionen 5 Differentialrechnung in einer Variablen Integralrechnung in einer Variablen 6.1 Der Riemannsche Integralbegriff 6.2 Integrationstechniken 6 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 341 / 367 Integrationstechniken Partielle Integration Wir nennen eine Funktion f : Df → R stetig differenzierbar, wenn sie auf Df differenzierbar, und die Ableitung f 0 stetig ist. Wir wollen hier wenigstens einige elementare Techniken zur Bestimmung von Integralen/Stammfunktionen behandeln. Der folgende Satz entsteht z. B. durch „Integrieren“ der Produktregel: Satz 6.10 (Partielle Integration) Seien f, g : [a, b] → R stetig differenzierbar. Dann gelten: Z Z f 0 (x)g(x) dx = f (x)g(x) − f (x)g 0 (x) dx und Z a b b Z f (x)g(x) dx = f (x)g(x) − 0 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) a Mathematik I (6.2) b f (x)g 0 (x) dx. (6.3) a Winterersemester 2013/14 342 / 367 Integrationstechniken Beispiel: Z x x xe dx = xe − Z ex dx = (x − 1)ex + c. Hierbei wurde in (6.2) f 0 (x) = ex und g(x) = x gewählt, d. h. f (x) = ex und g 0 (x) = 1. Das Beispiel ist typisch: Bei Produkten von Polynomen mit trigonometrischen Funktionen (sin, cos, exp) ist die partielle Integration Mittel der Wahl. Man berechne folgende Integrale mittels partieller Integration: Rπ x sin x dx, 0 R ln x dx, R cos2 x dx. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 343 / 367 Integrationstechniken Durch „Integrieren“ der Kettenregel entsteht folgender Satz: Satz 6.11 (Substitutionsregel) Sei I ⊂ R ein Intervall, f : I → R stetig und ϕ : [a, b] → I stetig differenzierbar. Dann gelten: Z Z 0 f (ϕ(t)) ϕ (t) dt = f (x) dx (6.4) und Z a b 0 f (ϕ(t)) ϕ (t) dt = Z ϕ(b) f (x) dx. (6.5) ϕ(a) Die Formeln (6.4) und (6.5) merken sich besonders gut in Leibniz-Notation, wenn man x = ϕ(t) und dx = ϕ0 (t) dt setzt. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 344 / 367 Integrationstechniken Beispiele Substituiert man in Z 2 1 x = ϕ(t) = ln t, so gilt ϕ0 (t) = Z 1 2 cos(ln t) dx = t Z 0 1 t ln 2 cos(ln(t)) dt t und daher mit (6.5): ln 2 cos x dx = sin x = sin(ln 2) ≈ 0.639. 0 In Leibniz-Notation würde man x = ln t schreiben und „umformen“. Einsetzen ins Integral liefert dann ebenso Z 1 2 cos(ln t) dt = t Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Z 0 ln 2 dx dt = 1 t in dt = t dx cos x tC dx = . . . = sin(ln 2). tC Mathematik I Winterersemester 2013/14 345 / 367 Integrationstechniken Beispiele Entscheidend ist das Erkennen der Struktur f (ϕ(t))ϕ0 (t). Haben Sie diese Struktur einmal erfasst, führt die Substitution auch zum Ziel. Zusätzliche Konstanten im Integranden sind wegen der Linearität des Integrals unproblematisch. Besonders einfach sind Integranden der Form f (at + b). Kennt man eine Stammfunktion von f , führt die Substitution x = at + b zum Ziel. Berechnen Sie R tet 2 +1 dt und R1 0 √ 1 3t+1 dt. Welche Substitutionen sind in folgenden Integralen zweckmäßig: Z sin(2t−5) dt, Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Z t cos(t2 +4) dt, 17 Mathematik I Z √ t e1+ √ t dt, Z t2 dt ? + 2t + 2 Winterersemester 2013/14 346 / 367 Integrationstechniken Beispiele Für eine invertierbare Funktion ϕ liefert (6.5) desweiteren Z b f (x) dx = Z ϕ−1 (b) f (ϕ(t)) ϕ0 (t) dt. ϕ−1 (a) a Auch dies lässt sich geschickt nutzen. Mit x = ϕ(t) = sin t erhält man für −1 ≤ a < b ≤ 1 zum Beispiel Z a b p 1 − x2 dx = arcsin Z b arcsin a p 2 1 − sin t cos t dt = arcsin Z b cos2 t dt. arcsin a Das letztere Integral hatten wir bereits auf S. 343 ausgewertet. Es ergibt sich Z a b p Oliver Ernst (Numerische Mathematik) 1 − x2 dx = arcsin b 1 (x + sin x cos x) . 2 arcsin a Mathematik I Winterersemester 2013/14 347 / 367 Integrationstechniken Weitere nützliche Regeln Seien f : [a, b] → R stetig differenzierbar, r ∈ R (r 6= −1) und f r auf [a, b] definiert. Dann gilt Z 1 (f (x))r+1 + c. f 0 (x)(f (x))r dx = r+1 Sei f : [a, b] → R stetig differenzierbar mit f (x) 6= 0 für alle x ∈ [a, b]. Dann gilt Z 0 f (x) dx = ln(|f (x)|) + c. f (x) Machen Sie sich die beiden Aussagen mit Hilfe geeigneter Substitutionen klar. Berechnen Sie R sin3 (x) cos(x) dx und Oliver Ernst (Numerische Mathematik) R3 dx . 2 x ln(x) Mathematik I Winterersemester 2013/14 348 / 367 Integrationstechniken Integration rationaler Funktionen Erinnerung: Rationale Funktionen sind von der Form f (x) = p(x) , q(x) wobei p und q Polynome sind. Falls grad(p) ≥ grad(q) erhält man mittels Polynomdivision eine Zerlegung f (x) = p(x) t(x) = s(x) + , q(x) q(x) mit Polynomen s und t, wobei grad(t) < grad(q). Somit gilt Z f (x) dx = Z p(x) dx = q(x) Z s(x) dx + Z t(x) dx. q(x) Die Integration von s ist einfach, daher konzentrieren wir uns auf den „echt“ gebrochen rationalen Anteil qt . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 349 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Für die Integration des echt gebrochen rationalen Anteils benötigt man eine sogenannte Partialbruchzerlegung. Dafür beschafft man sich zunächst die Faktorisierung des Nennerpolynoms q(x) = = a0 + a1 x + . . . + an xn k m Y Y νj x2 + p j x + q j an (x − λj )µj , j=1 (6.6) j=1 Pk Pm (wobei n =grad(q) und j=1 µj + 2 j=1 νj = n, λj und (pj , qj ) paarweise verschieden, vgl. Satz 2.29 und S. 222). Für die Integration noch günstiger schreibt man (6.6) mittels quadratischer Ergänzung als: k m Y Y νj q(x) = an (x − λj )µj (x − αj )2 + βj j=1 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) j=1 Mathematik I Winterersemester 2013/14 350 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Der folgende Satz hilft uns nun, g(x) := Struktur zu bringen: t(x) q(x) in eine für die Integration geeignete Satz 6.12 Unter diesen Voraussetzungen und mit diesen Bezeichnungen gibt es eindeutig bestimmte reelle Zahlen ηj,t (j = 1, 2, . . . , k, t = 1, 2, . . . , µj ) σj,s (j = 1, 2, . . . , `, s = 1, 2, . . . , νj ) τj,s (j = 1, 2, . . . , `, s = 1, 2, . . . , νj ), so dass g die folgende Partialbruchzerlegung besitzt: g(x) = µj k X X j=1 t=1 Oliver Ernst (Numerische Mathematik) νj X̀ X σj,s + τj,s x ηj,t + . (x − λj )t j=1 s=1 ((x − αj )2 + βj2 )s Mathematik I Winterersemester 2013/14 (6.7) 351 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Möglicherweise finden Sie folgende Darstellung von (6.7) übersichtlicher: g(x) = η1,2 η1,µ1 η1,1 + + ... + x − λ1 (x − λ1 )2 (x − λ1 )µ1 +... ηk,µk ηk,1 ηk,2 + + + ... + x − λk (x − λk )2 (x − λk )µk + σ1,1 + τ1,1 x σ1,2 + τ1,2 x σ1,ν1 + τ1,ν1 x + + ... + (x − α1 )2 + β12 ((x − α1 )2 + β12 )2 ((x − α1 )2 + β12 )ν1 +... + σ`,ν` + τ`,ν` x σ`,1 + τ`,1 x σ`,2 + τ`,2 x + + ... + (x − α` )2 + β`2 ((x − α` )2 + β`2 )2 ((x − α` )2 + β`2 )ν` Im konkreten Beispiel kann man auf die Doppelindizierung verzichten und für die Unbekannten ηj,t , σj,s und τj,s eingängigere Bezeichnungen (z. B. A, B, C, . . .) wählen. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 352 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Bei der Konstruktion einer Partialbruchzerlegung wählt man also den passenden Ansatz nach Satz 6.12 und muss dann die Koeffizienten ηj,t , σj,s und τj,s bestimmen. Dafür multipliziert man beide Seiten von (6.7) mit q(x) und gleicht dann die Koeffizienten der links und rechts stehenden Polynome ab. Eine noch günstigere Variante ist häufig, nach Multiplikation mit q(x) genau n verschiedene Werte für x einzusetzen und das entstehende lineare Gleichungssystem zu lösen. Eine besonders günstige Wahl für die einzusetzenden Werte sind dabei die Nullstellen λj von q. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 353 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Am leichtesten erlernt man die Partialbruchzerlegung anhand von Beispielen: Man bestimme eine Partialbruchzerlegung von f (x) = 5x2 − 37x + 54 . x3 − 6x2 + 9x Welche Ansätze sind für die Partialbruchzerlegungen folgender Funktionen zu wählen? 42 1 g(x) = 3 , h(x) = . x (x + 1)2 (x + 1)2 (x2 + 1) Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 354 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Die Funktionen aus (6.7) besitzen folgende Stammfunktionen: R f (x) F (x) = f (x) dx 1 x−λ 1 (x−λ)k 1 (x−α)2 +β 2 x (x−α)2 +β 2 ln(|x − λ|) 1 1 − k−1 (x−λ)k−1 1 β arctan x−α βα 1 2 2 +β + β arctan x−α ln (x−α) 2 β λ∈R k ∈ N, t > 1 α, β ∈ R, β 6= 0 Die verbleibenden Integrale müssen rekursiv berechnet werden: Z x dx −1 dx = + α , ((x−α)2 +β 2 )k ((x − α)2 +β 2 )k 2(k−1) ((x − α)2 +β 2 )k−1 Z Z dx x−α 2k − 3 dx = + k−1 2 2 +β 2 )k−1 2 2 2 ((x−α)2 +β 2 )k 2(k−1)β ((x−α) 2(k−1)β ((x−α) +β ) Z für k ∈ N, k > 1. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 355 / 367 Integrationstechniken Partialbruchzerlegung Wir fassen die Schritte zur Integration einer rationalen Funktion f (x) = einmal zusammen: p(x) q(x) noch Spalte mittels Polynomdivision den echt gebrochen rationalen Anteil ab: f (x) = s(x) + t(x) q(x) mit grad(t) < grad(q) t(x) Berechne für g(x) = q(x) eine Partialbruchzerlegung und integriere die entstehenden Summanden mit Hilfe der Formeln und Tabellen auf Seite 355. Das verbleibende Integral über s(x) ist einfach. Man bestimme auf diese Weise Z b 4 2x − 12x3 + 23x2 − 37x + 54 dx. x3 − 6x2 + 9x a Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 356 / 367 Uneigentliche Integrale Bisher können wir nur beschränkte Funktionen und beschränkte Intervalle behandeln. Wir erweitern den Integralbegriff daher ein wenig. Definition 6.13 (Uneigentliches Integral) Sei b ∈ R ∪ {∞} und f : [a, b) → R auf jedem Intervall [a, r] mit a < r < b, Riemann-integrierbar. Falls lim r→b− Z r f (x) dx =: a Z b f (x) dx a existiert, so heißt f auf [a, b) uneigentlich Riemann-integrierbar. Rb Man sagt auch, a f (x) dx ist konvergent. Analog für f (a, b] → R oder f : (a, b) → R mit a ∈ R ∪ {−∞}. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 357 / 367 Uneigentliche Integrale Von besonderem Interesse sind häufig folgende Fälle: der Integrand ist bei Annäherung an eine der Integrationsgrenzen unbeschränkt (links), das Integrationsintervall ist unbeschränkt (rechts). f f a r Bestimmen Sie a b R∞ 1 dx x2 sowie Oliver Ernst (Numerische Mathematik) R42 0 r dx √ . x Mathematik I Winterersemester 2013/14 358 / 367 Uneigentliche Integrale Weitere Beispiele Für r > 1 und a > 0 gilt Z ∞ a Dagegen existiert R∞ a dx xr dx 1 = . r x (r − 1) ar−1 für r ≤ 1 nicht. In der Stochastik benötigt man häufig Z ∞ √ exp(−x2 ) dx = π. −∞ Zu welchem Ergebnis aus dem Kapitel Reihen erkennen Sie im ersten Beispiel Parallelen? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 359 / 367 Volumenberechnung bei Rotationskörpern Für die Berechnung krummflächig berandeter Körper benötigt man eigentlich mehrdimensionale Integrale. Bei Körpern, die durch Rotation eines Funktionsgraphen um die x-Achse entstehen, reichen jedoch eindimensionale Integrale aus. Man nennt solche Körper Rotationskörper. f x a Oliver Ernst (Numerische Mathematik) dx Mathematik I b Winterersemester 2013/14 360 / 367 Volumenberechnung bei Rotationskörpern „Herleitung“ der Volumenformel in Leibniz-Notation Die Größe dx wird als „infinitesimal“ kleine R Zahl interpretiert; das Integral als Summe (beachte stilistische Ähnlichkeit von „ “ und „S“). Für das Volumen der grau markierte Scheibe gilt für sehr kleine dx VScheibe ≈ π[f (x)]2 dx. Damit ergibt sich für das Volumen VK des Rotationskörpers VK = π Z b [f (x)]2 dx a (Natürlich steckt hinter dieser „Herleitung“ eigentlich wieder ein Grenzwertprozess.) Welches Volumen hat der Körper, der durch Rotation des Graphen von f : [1, r] → R, f (x) = x1 , um die x-Achse entsteht? Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 361 / 367 Quadraturformeln – ein erster Einblick Nur die wenigsten Integrale kann man geschlossen auswerten; in den allermeisten Fällen ist man auf numerische Näherungsverfahren – sogenannte Quadraturverfahren – angewiesen. Prominente Integrale, die sich nachweislich nicht durch elementare Stammfunktionen bestimmen lassen, sind zum Beispiel Z x 2 2 e−s ds (x ∈ R). Φ(x) := √ π 0 Die entstehende Funktion x 7→ Φ(x) heißt Fehlerfunktion. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 362 / 367 Quadraturformeln – ein erster Einblick Als Vorbetrachtung ersetzen wir eine stetige Funktion f : [a, b] → R näherungsweise durch ihre Sekante s durch (a, f (a)) und (b, f (b)). s a f b Damit erhalten wir die Näherungsformel Z b 1 f (x) dx ≈ (b − a)(f (a) + f (b)). 2 a (6.8) Schon anschaulich wird klar, dass diese Formel im Allgemeinen nur sehr grobe Näherungen liefern kann. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 363 / 367 Quadraturformeln – ein erster Einblick Wesentlich bessere Ergebnisse erhält man aber, wenn man [a, b] in N gleichlange Teilintervalle [xi , xi+1 ] unterteilt mit xi = a + ih (i = 0, 1, . . . , N ) mit h = (b − a)/N. und die einfache Trapezregel (6.8) über jedem Teilintervall anwendet: Z a ≈ N −1 X = h b f (x) dx i=0 1 h (f (xi ) + f (xi+1 )) 2 (6.9) 1 1 f (x0 )+f (x1 )+f (x2 )+. . .+f (xN −1 )+ f (xN ) . 2 2 Wir bezeichnen den Ausdruck auf der rechten Seite als Trapezsumme Tf (h) und die Formel (6.9) als zusammengesetzte Trapezregel. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 364 / 367 Quadraturformeln – ein erster Einblick Alternativ kann man f lokal auch durch quadratische Polynome ersetzen, und dadurch eine noch bessere Approximation erreichen: Dieser Ansatz führt letztlich auf die zusammengesetzte Simpsonregel: Z b f (x) dx ≈ a h [f (x0 )+4f (x1 )+2f (x2 )+4f (x3 )+2f (x4 )+. . .+4f (xN −1 )+f (xN )] . 3 Dabei ist N gerade zu wählen. Den Term auf der rechten Seite bezeichnen wir mit Sf (h). Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 365 / 367 Natürlich will man wissen, wie groß der resultierende Fehler bei Verwendung einer Quadraturformel ist. Dabei hilft uns: Satz 6.14 (Quadraturfehler Trapez- und Simpsonregel) Ist f auf [a, b] zweimal stetig differenzierbar, dann gilt Z b b−a h2 max |f 00 (x)|. f (x) dx − Tf (h) ≤ a a≤x≤b 12 Ist f auf [a, b] viermal stetig differenzierbar, dann gilt Z b b−a f (x) dx − Sf (h) ≤ h4 max |f (4) (x)|. a a≤x≤b 180 Welche der beiden Regeln ist für genügend kleine h genauer? Approximieren Sie ein bekanntes Integral Ihrer Wahl mit beiden Quadraturformeln für mehrere geeignete Werte von h. Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 366 / 367 Ziele erreicht? Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Selbststudium): den Begriff des Riemann-Integrierbarkeit tiefgreifend verstanden haben, den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung beherrschen und Integrale mit Hilfe der Stammfunktion berechnen können, die Stammfunktionen zu den gängigen elementaren Funktionen kennen (am besten auswendig), einige Integrationstechniken sicher anwenden können (part. Integration, Substitution, einfache Fälle der Partialbruchzerlegung), uneigentliche Integrale und das Volumen von Rotationskörpern sicher berechnen können, über Quadraturformeln grob bescheidwissen. Sie sind sich nicht sicher oder meinen “nein“? Naja, . . . Oliver Ernst (Numerische Mathematik) Mathematik I Winterersemester 2013/14 367 / 367