19 5 Begriffe, Ätiologie, Epidemiologie und ­Versorgungssituation Arbeitsgruppe 1: Hausteiner-Wiehle C, Glaesmer H, Schneider G, Mönkemöller K, ­Noll-Hussong M, Ronel J, Schäfert R Vorbemerkung Ein zentrales Problem beim Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden ist die uneinheitliche, teilweise unscharfe und stigmatisierende Terminologie. Ziel der Leitlinie ist es daher auch, Transparenz und ein Bewusstsein für die Vor- und Nachteile der jeweiligen Begriffswahl zu schaffen. Aufgrund ihrer Heterogenität, unzureichender Validität, unzureichender Akzeptanz, und aufgrund der überhöhten Bedeutung des problematischen Kriteriums der fehlenden somatischen Erklärbarkeit sind alle bislang gebräuchlichen Begrifflichkeiten als letztlich unzureichend einzustufen (Stone et al. 2002; Berrios u. Markova 2006; Löwe et al. 2008; Fink et al. 2008; Launer 2009; Creed 2009; Creed et al. 2010; Henningsen et al. 2011). 5.1Begriffe Statement 4a: „Medizinisch“ „organisch“ oder „somatisch nicht/nicht hinreichend erklärte Körperbeschwerden“ sind körperliche Beschwerden, für die auch nach systematischer Abklärung keine hinreichende somatische Krankheitsursache gefunden wird. Der Nachweis zentralnervöser funktioneller oder struktureller Veränderungen ist mit dieser Bezeichnung jedoch vereinbar. Starker Konsens Statement 4b: Die häufigsten Erscheinungsformen somatisch nicht hinreichend erklärter Körperbeschwerden sind: zzSchmerzen unterschiedlicher Lokalisation zzStörungen von Organfunktionen einschließlich so genannter vegetativer Beschwerden zzErschöpfung/Müdigkeit. Starker Konsens Kommentar zu Statements 4a und 4b: Körperliche Beschwerden sind in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig: 82 % der Befragten geben Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten Woche zumindest leicht, 22 % mindestens eine Beschwerde an, die sie schwer beeinträchtigten (Hiller et al. 2006). Die Ursache für die Beschwerden wird selten gefunden, in vielen Fällen wird erst gar nicht danach gesucht. Denn viele Beschwerden (am besten nennt man sie vielleicht „Befindlichkeitsstörungen“) verschwinden ganz von selbst oder durch die Anwendung von einfachen Hausmitteln oder Verhaltensänderungen wieder. Wenn die Betroffenen ihre Beschwerden jedoch als beunruhigende Warnsignale wahrnehmen, sich in Ihrem Alltag beeinträchtigt fühlen, sich Sorgen machen, sich Hilfe erhoffen, oder ausschließen wollen, an einer ernsthaften Erkrankung zu leiden, dann wenden sie sich an einen Arzt und werden dadurch zu „Patienten“. Klinisch relevante Körperbeschwerden gehen mit mehr oder weniger deutlichen Bedeutungszuschreibung von Nichtnormalität einher und sind in der Regel 20 Leitlinie mit weiteren (auch gesellschaftlichen und medialen) Bedeutungszuschreibungen und Verhaltenskonsequenzen (z.B. Krankschreibung) verbunden (Henningsen et al. 2002; Aronowitz 2001). Wenn für Körperbeschwerden auch nach sorgfältiger Ursachenabklärung kein hinreichendes somatischen Korrelat gefunden werden kann, werden sie als „somatisch unerklärt“ bezeichnet; in der englischsprachigen Literatur hat sich hierfür in den letzten Jahren der Begriff „medically unexplained (physical) symp­ toms (MU(P)S)“ durchgesetzt (Rosendal et al. 2007; McFarlane et al. 2008; Hatcher et al. 2008; Guthrie et al. 2008). Solche Beschwerden können grob eingeteilt werden in drei große Gruppen; Schmerzen verschiedener Lokalisation, Störung von Organfunktionen oder Müdigkeit/Erschöpfung (Henningsen et al. 2007); außerdem kann das klinische Bild von Gesundheitsangst dominiert werden (bisher klassifiziert als Hypochondrische Störung). Umstritten ist das gemeinsame Auftreten mehrerer Symptome als ausgestanzte „Cluster“; die verschiedenen epidemiologischen Studien widersprechen sich (Fink et al. 2007; Dimsdale u. Creed 2010; Schröder u. Fink 2010). Die Negativdefinition von „MU(P)S“ über das Fehlen somatischer Erklärungen birgt eine Reihe methodischer Probleme: Experten sind oft uneinig, was einzelne Befunde bedeuten bzw. wann eine somatische Diagnostik „abgeschlossen“ ist; eine langdauernde somatische Ausschlussanstatt einer biopsychosozialen Paralleldiagnostik führt häufig zur Verzögerung einer adäquaten Therapie (Hickie et al. 1998; Reid et al. 1999; van Hemert et al. 1993; Noyes et al. 2008; Creed et al. 2010); Patienten, die ihre Beschwerden ja real erleben sind durch die Negation (implizit „Sie haben nichts“) verunsichert; und vor allem dann, wenn mehrere unklare Körperbeschwerden vorliegen ist die Frage, ob davon manche erklärt werden können, andere nicht, von geringer praktischer Relevanz. Statement 5: Der Begriff „nicht-spezifische Körperbeschwerden“ wird überwiegend in der Allgemeinmedizin verwendet. Er betont die (vorläufig, oft aber auch dauerhaft) fehlende Zuordenbarkeit vieler Beschwerden, mit denen Patienten ihre Ärzte, v.a. ihren Hausarzt, aufsuchen. Darüber hinaus soll er eine zu frühe diagnostische Etikettierung als „Krankheit“ v.a. in solchen Fällen verhindern, in denen die Beschwerden aufgrund fehlender Progredienz, fehlender Signalwirkung für eine somatische Erkrankung oder fehlender Beeinträchtigung von Lebensqualität oder Funktionsfähigkeit des Patienten keinen eigenen Krankheitswert besitzen. Konsens Kommentar zu Statement 5: Vor allem in der Allgemeinmedizin wird für (noch) unerklärte Beschwerden und Symptome relativ häufig der Begriff „nicht-spezifisch“ verwendet. Ein solcher Begriff betont mehr als andere die (vorläufig, oft aber auch dauerhaft) fehlende Zuordenbarkeit vieler ­Beschwerden zu einer spezifischen Erkrankung, mit denen Patienten ihre Ärzte aufsuchen und soll eine zu frühe diagnostische Etikettierung als „Krankheit“ („disease“) und damit Schaden für den Patienten verhindern („quartäre ­Prävention“) (Abb. 5.1; Schäfert et al. 2010). Gerade in der hausärztlichen Praxis ist anfangs fast jede Beschwerde „nicht-spezifisch“, da noch keine Diagnostik und (bewusst!) noch keine Zuordnung zu einer Erkrankung erfolgt sind. Zwar gibt es zu diesem Begriff so gut wie keine wissenschaftliche Literatur (vereinzelt: „non-specific back, neck“ und „chest pain“) und somit beziehen sich auch die in dieser Leitlinie zusammengetragenen Stu­dien ganz überwiegend auf „funktionelle“ und „somatoforme“ Körperbeschwerden, bei denen bereits eine hinreichenden Ausschlussdiagnostik erfolgt ist. Nach ausführlicher Diskussion in den Konsensuskonferenzen und 5 Begriffe, Ätiologie, Epidemiologie und ­Versorgungssituation 21 Programmierte Diagnostik Nachtestwahrscheinlichkeit 100 Diagnosen 10% Klassifizierung von Krankheitsbildern 40% Klassifizierung von Symptomgruppen 25% Klassifizierung von Symptomen 25% 0 Vortestwahrscheinlichkeit 100 (mit freundlicher Genehmigung von Antonius Schneider nach Braun, Mader und Danninger 1989) Abb. 5.1 Diagnostische Unschärfe, v.a. in der Hausarztpraxis Fachgesellschaftsvorständen wird er jedoch aus folgenden Gründen bewusst in Titel und Text der Leitlinie beibehalten: Einerseits soll damit ein klares Zeichen gegen eine zu frühe Medikalisierung von Beschwerden gesetzt werden. Andererseits ist es, da erst eine somatische Ausschlussdiagnonstik abgewartet werden muss, bis Beschwerden als funktionell oder somatoform bezeichnet werden können, dann oft bereits zu spät für eine bewusst gestaltete Behandler-Patient-Beziehung und eine gleichzeitig abwartende und offene, somatische und psychosoziale Paralleldiagnostik. Auch wenn die Beschwerden im weiteren Verlauf wieder verschwinden, und auch, wenn sie später doch einer klar definierten körperlichen Erkrankung zugeordnet werden können, sind die in dieser Leitlinie gegebenen Empfehlungen gültig. Allerdings entspricht auch der Begriff „nichtspezifisch“ einer Negativdefinition, die die Notwendigkeit eines bewussten Umgangs mit diesen Beschwerden (s.u.) unzureichend abbildet. Statement 6: Der Begriff „funktionell“ deutet an, dass hier überwiegend die Funktion des aufgrund der Beschwerden betroffenen Organ(system)s (z.B. des Herzens bei Herzbeschwerden, des Darms bei Verdauungsstörungen) bzw. der zentralnervösen Verarbeitung von Beschwerdewahrnehmungen gestört ist. Der Begriff wird zum Teil auch so interpretiert, dass die Beschwerden eine bestimmte Funk­ tion für den Organismus bzw. für die Person haben (z.B. Signal für Rückzug). Starker Konsens