5 Begriffe, Ätiologie, Epidemiologie und

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5
Begriffe, Ätiologie, Epidemiologie
und ­Versorgungssituation
Arbeitsgruppe 1: Hausteiner-Wiehle C, Glaesmer H, Schneider G, Mönkemöller K,
­Noll-Hussong M, Ronel J, Schäfert R
Vorbemerkung
Ein zentrales Problem beim Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen
und somatoformen Körperbeschwerden ist
die uneinheitliche, teilweise unscharfe und
stigmatisierende Terminologie. Ziel der Leitlinie ist es daher auch, Transparenz und ein
Bewusstsein für die Vor- und Nachteile der
jeweiligen Begriffswahl zu schaffen. Aufgrund
ihrer Heterogenität, unzureichender Validität, unzureichender Akzeptanz, und aufgrund
der überhöhten Bedeutung des problematischen Kriteriums der fehlenden somatischen
Erklärbarkeit sind alle bislang gebräuchlichen
Begrifflichkeiten als letztlich unzureichend
einzustufen (Stone et al. 2002; Berrios u. Markova 2006; Löwe et al. 2008; Fink et al. 2008;
Launer 2009; Creed 2009; Creed et al. 2010;
Henningsen et al. 2011).
5.1Begriffe
Statement 4a: „Medizinisch“ „organisch“
oder „somatisch nicht/nicht hinreichend
erklärte Körperbeschwerden“ sind körperliche Beschwerden, für die auch nach systematischer Abklärung keine hinreichende somatische
Krankheitsursache gefunden wird. Der Nachweis
zentralnervöser funktioneller oder struktureller
Veränderungen ist mit dieser Bezeichnung jedoch vereinbar.
Starker Konsens
Statement 4b: Die häufigsten Erscheinungsformen somatisch nicht hinreichend erklärter Körperbeschwerden sind:
zzSchmerzen unterschiedlicher Lokalisation
zzStörungen von Organfunktionen einschließlich so genannter vegetativer Beschwerden
zzErschöpfung/Müdigkeit.
Starker Konsens
Kommentar zu Statements 4a und 4b:
Körperliche Beschwerden sind in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig: 82 % der Befragten geben Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten Woche zumindest leicht,
22 % mindestens eine Beschwerde an, die sie
schwer beeinträchtigten (Hiller et al. 2006).
Die Ursache für die Beschwerden wird selten gefunden, in vielen Fällen wird erst gar
nicht danach gesucht. Denn viele Beschwerden (am besten nennt man sie vielleicht „Befindlichkeitsstörungen“) verschwinden ganz
von selbst oder durch die Anwendung von
einfachen Hausmitteln oder Verhaltensänderungen wieder.
Wenn die Betroffenen ihre Beschwerden jedoch als beunruhigende Warnsignale wahrnehmen, sich in Ihrem Alltag beeinträchtigt
fühlen, sich Sorgen machen, sich Hilfe erhoffen, oder ausschließen wollen, an einer ernsthaften Erkrankung zu leiden, dann wenden
sie sich an einen Arzt und werden dadurch
zu „Patienten“. Klinisch relevante Körperbeschwerden gehen mit mehr oder weniger
deutlichen Bedeutungszuschreibung von
Nichtnormalität einher und sind in der Regel
20
Leitlinie
mit weiteren (auch gesellschaftlichen und medialen) Bedeutungszuschreibungen und Verhaltenskonsequenzen (z.B. Krankschreibung)
verbunden (Henningsen et al. 2002; Aronowitz 2001).
Wenn für Körperbeschwerden auch nach sorgfältiger Ursachenabklärung kein hinreichendes somatischen Korrelat gefunden werden
kann, werden sie als „somatisch unerklärt“ bezeichnet; in der englischsprachigen Literatur
hat sich hierfür in den letzten Jahren der Begriff „medically unexplained (physical) symp­
toms (MU(P)S)“ durchgesetzt (Rosendal et
al. 2007; McFarlane et al. 2008; Hatcher et al.
2008; Guthrie et al. 2008). Solche Beschwerden können grob eingeteilt werden in drei große Gruppen; Schmerzen verschiedener Lokalisation, Störung von Organfunktionen oder
Müdigkeit/Erschöpfung (Henningsen et al.
2007); außerdem kann das klinische Bild von
Gesundheitsangst dominiert werden (bisher
klassifiziert als Hypochondrische Störung).
Umstritten ist das gemeinsame Auftreten mehrerer Symptome als ausgestanzte „Cluster“; die
verschiedenen epidemiologischen Studien widersprechen sich (Fink et al. 2007; Dimsdale u.
Creed 2010; Schröder u. Fink 2010). Die Negativdefinition von „MU(P)S“ über das Fehlen
somatischer Erklärungen birgt eine Reihe methodischer Probleme: Experten sind oft uneinig, was einzelne Befunde bedeuten bzw. wann
eine somatische Diagnostik „abgeschlossen“
ist; eine langdauernde somatische Ausschlussanstatt einer biopsychosozialen Paralleldiagnostik führt häufig zur Verzögerung einer adäquaten Therapie (Hickie et al. 1998; Reid et
al. 1999; van Hemert et al. 1993; Noyes et al.
2008; Creed et al. 2010); Patienten, die ihre Beschwerden ja real erleben sind durch die Negation (implizit „Sie haben nichts“) verunsichert;
und vor allem dann, wenn mehrere unklare
Körperbeschwerden vorliegen ist die Frage, ob
davon manche erklärt werden können, andere
nicht, von geringer praktischer Relevanz.
Statement 5: Der Begriff „nicht-spezifische Körperbeschwerden“ wird überwiegend in der Allgemeinmedizin verwendet. Er betont die (vorläufig, oft aber auch dauerhaft) fehlende Zuordenbarkeit vieler Beschwerden, mit
denen Patienten ihre Ärzte, v.a. ihren Hausarzt,
aufsuchen. Darüber hinaus soll er eine zu frühe
diagnostische Etikettierung als „Krankheit“ v.a.
in solchen Fällen verhindern, in denen die Beschwerden aufgrund fehlender Progredienz, fehlender Signalwirkung für eine somatische Erkrankung oder fehlender Beeinträchtigung von Lebensqualität oder Funktionsfähigkeit des Patienten keinen eigenen Krankheitswert besitzen.
Konsens
Kommentar zu Statement 5:
Vor allem in der Allgemeinmedizin wird für
(noch) unerklärte Beschwerden und Symptome relativ häufig der Begriff „nicht-spezifisch“ verwendet. Ein solcher Begriff betont
mehr als andere die (vorläufig, oft aber auch
dauerhaft) fehlende Zuordenbarkeit vieler
­Beschwerden zu einer spezifischen Erkrankung, mit denen Patienten ihre Ärzte aufsuchen und soll eine zu frühe diagnostische
Etikettierung als „Krankheit“ („disease“) und
damit Schaden für den Patienten verhindern
(„quartäre ­Prävention“) (Abb. 5.1; Schäfert et
al. 2010).
Gerade in der hausärztlichen Praxis ist anfangs fast jede Beschwerde „nicht-spezifisch“,
da noch keine Diagnostik und (bewusst!)
noch keine Zuordnung zu einer Erkrankung
erfolgt sind. Zwar gibt es zu diesem Begriff
so gut wie keine wissenschaftliche Literatur
(vereinzelt: „non-specific back, neck“ und
„chest pain“) und somit beziehen sich auch
die in dieser Leitlinie zusammengetragenen
Stu­dien ganz überwiegend auf „funktionelle“
und „somatoforme“ Körperbeschwerden, bei
denen bereits eine hinreichenden Ausschlussdiagnostik erfolgt ist. Nach ausführlicher Diskussion in den Konsensuskonferenzen und
5 Begriffe, Ätiologie, Epidemiologie und ­Versorgungssituation
21
Programmierte Diagnostik
Nachtestwahrscheinlichkeit
100
Diagnosen
10%
Klassifizierung von
Krankheitsbildern
40%
Klassifizierung von
Symptomgruppen
25%
Klassifizierung
von Symptomen
25%
0
Vortestwahrscheinlichkeit
100
(mit freundlicher Genehmigung von Antonius Schneider nach Braun, Mader und Danninger 1989)
Abb. 5.1 Diagnostische Unschärfe, v.a. in der Hausarztpraxis
Fachgesellschaftsvorständen wird er jedoch
aus folgenden Gründen bewusst in Titel und
Text der Leitlinie beibehalten: Einerseits soll
damit ein klares Zeichen gegen eine zu frühe Medikalisierung von Beschwerden gesetzt
werden. Andererseits ist es, da erst eine somatische Ausschlussdiagnonstik abgewartet werden muss, bis Beschwerden als funktionell oder somatoform bezeichnet werden
können, dann oft bereits zu spät für eine bewusst gestaltete Behandler-Patient-Beziehung
und eine gleichzeitig abwartende und offene,
somatische und psychosoziale Paralleldiagnostik. Auch wenn die Beschwerden im weiteren Verlauf wieder verschwinden, und auch,
wenn sie später doch einer klar definierten
körperlichen Erkrankung zugeordnet werden
können, sind die in dieser Leitlinie gegebenen
Empfehlungen gültig.
Allerdings entspricht auch der Begriff „nichtspezifisch“ einer Negativdefinition, die die
Notwendigkeit eines bewussten Umgangs
mit diesen Beschwerden (s.u.) unzureichend
abbildet.
Statement 6: Der Begriff „funktionell“
deutet an, dass hier überwiegend die Funktion des aufgrund der Beschwerden betroffenen Organ(system)s (z.B. des Herzens bei Herzbeschwerden, des Darms bei Verdauungsstörungen) bzw. der zentralnervösen Verarbeitung
von Beschwerdewahrnehmungen gestört ist.
Der Begriff wird zum Teil auch so interpretiert,
dass die Beschwerden eine bestimmte Funk­
tion für den Organismus bzw. für die Person haben (z.B. Signal für Rückzug).
Starker Konsens
121
8
Therapie nicht-spezifischer, funktioneller
und somatoformer Körperbeschwerden
8.1
Therapeutisches ­Prozedere
in der Hausarzt- und
­somatischen Fachmedizin
Arbeitsgruppe 4: Sattel H, Häuser W,
Herrmann M, Schäfer R
92: Die Behandlung nicht► Empfehlung
spezifischer, funktioneller und somatoformer Körperbeschwerden in der Hausarzt- und
somatischen Fachmedizin sollte schweregradgestuft (d.h. mittels Basis- und ggf. erweiterten Maßnahmen) auf der Grundlage der
„Psychosomatischen Grundversorgung“
erfolgen (► Curriculum „Psychosomatische
Grundversorgung“ der Bundesärztekammer).
Für spezifische Empfehlungen zu einzelnen
funktionellen Syndromen ► spezielle LL, z.B.
S3-LL „Fibromyalgie-Syndrom“, „Reizdarmsyndrom“ und „chronischer Unterbauchschmerz
der Frau“ sowie die NVL „Kreuzschmerz“.
KKP Konsens
Kommentar zu Empfehlung 92:
Ein gestuftes Vorgehen ist zu empfehlen, um
den vielfältigen Manifestationen der Störungsbilder zu begegnen (Smith et al. 2003; Henningsen et al. 2007; Fink u. Rosendal 2008; Gask et al.
2011). In der Behandlung kommen Basismaßnahmen bei leichteren, unkomplizierten Verläufen und erweiterte Maßnahmen bei schwereren, komplizierten Verläufen zur Anwendung.
Die „Psychosomatische Grundversorgung“
als ein in die vertragsärztliche Versorgung
eingeführter Tätigkeitsbereich benennt funktionelle Störungen/somatoforme Erkrankungen als eine von vier Gruppen von Erkrankungen, für welche die Grundversorgung vor-
gesehen ist (Bundesärztekammer 2001). Die
Wirksamkeit einfacher, in der Grundversorgung integrierter basistherapeutischer Empfehlungen und Komponenten wie beispielsweise regelmäßige Wiedereinbestellungen
(siehe auch Empfehlung 50) ist gesichert. Die
Wirksamkeit ist für leichtere Formen nichtspezifischer, funktioneller und somatoformer
Körperbeschwerden größer.
Auch bei schwereren Verläufen nicht-spezifischer, funktioneller und somatoformer Körperbeschwerden stellt die hausärztliche bzw.
somatisch-fachärztliche Betreuung meist das
zentrale Behandlungselement dar, mitunter
auch das einzige. Hier ist der Einsatz erweiterter Maßnahmen (Aktivierung, Thematisieren
von Ängsten und Vermeidung, Medikation)
möglich und zu empfehlen. Bei multimodalen Behandlungsansätzen kommt dem Hausarzt (bzw. dem Frauenarzt als „Hausarzt der
Frau“) häufig eine einleitende und koordinierende, zentrale Rolle zu.
Sind die Kriterien für ein funktionelles Syndrom (z.B. Reizdarmsyndrom, FibromyalgieSyndrom) erfüllt, sollen bei entsprechender
Verfügbarkeit einer Leitlinie die dort genannten Empfehlungen berücksichtigt werden.
Statement 93: Allgemeine Therapieziele in
der Hausarzt- und somatischen Fachmedizin
sind:
zzVerbesserung der Lebensqualität
zzVerhinderung von Chronifizierung und
Selbstschädigung z.B. durch ­ausgeprägtes
Schon- und Vermeidungsverhalten oder
­iatrogen durch repetitive Diagnostik und
­riskante Therapien
zzBegleitung bei eingetretener Chronifizierung
122
Leitlinie
zzErweiterung
des Erklärungsmodells des
Patienten hin zu einem biopsychosozialen
Modell und seiner Bewältigungsmöglichkeiten
zzMotivation und Überweisung zu einer
Fachpsychotherapie bzw. fachbezogenen
Psychotherapie, falls die Indikation hierfür
gegeben ist.
Starker Konsens
Kommentar zu Statement 93:
Bei der gemeinsamen Festlegung von Therapiezielen sollte nicht eine Heilung der Beschwerden, sondern eine Verbesserung der
Lebensqualität in den Vordergrund gestellt
werden, und zwar insbesondere hinsichtlich
ihrer körperlichen Aspekte, ohne psychische
Aspekte zu vernachlässigen. Klare Kommunikation auf dieser Ebene unterstützt potenziell
die Fähigkeit zur Selbststeuerung und damit
die Selbstwirksamkeit der Patienten (Salmon
et al. 1999; Kouyanou et al. 1998; Foster et al.
2010).
Das Gelingen der ersten Behandlungsphase
kann den weiteren Verlauf deutlich beeinflussen. Bei Nichtgelingen droht eine Verzögerung bei der Einleitung einer angemessenen
Behandlung sowie Chronifizierung (Bouton
et al. 2008; Müller et al. 2000). Bei einer bereits
eingetretenen Chronifizierung und mangelnder Bereitschaft des Patienten zu einer fachbezogenen Psychotherapie übernimmt der
Hausarzt häufig eine auf lange Sicht begleitende Rolle.
Ferner sollte zusammen mit dem Patienten
dessen Vorstellungen, wodurch seine Erkrankung verursacht ist, in Richtung eines Krankheitsmodells erweitert werden, welches nicht
ausschließlich nur biologische, sondern auch
psychosoziale Elemente enthält (Morriss et al.
2006). Diese Erweiterung des Erklärungsmodells bildet eine gute Grundlage für neue, dem
Patienten bisher weniger verfügbare Bewältigungsmöglichkeiten und damit schließlich
für eine nachhaltige Verbesserung seiner Lebensqualität.
Schließlich nimmt der Hausarzt eine Schlüsselrolle bei der Veranlassung und Koordination von Überweisungen und Diagnostik sowie deren Integration ein (Hoedemann et al.
2010) (Steuerungsfunktion sowie Koordinations- und Integrationsfunktion des Hausarzt).
Dies gilt insbesondere bei schwereren Verläufen, wenn weitere Behandlungselemente wie
z.B. Fachpsychotherapie, physiotherapeutische
oder körperorientierte Verfahren in den Behandlungsplan eingebracht werden. Der Hausarzt sollte eine Motivation zur Überweisung
zur Psychotherapie als ein therapeutisches Ziel
und nicht als eine Bringschuld betrachten und
nicht erwarten (bzw. solange abwarten), dass
(bis) der Patient diese Möglichkeit selbst anspricht (siehe auch Empfehlung 110).
Empfehlung 94: Nach einer Behand► lungsdauer
von etwa 3 Monaten (bei
manchen Beschwerden auch schon früher; ►
NVL „Kreuzschmerz“) sollte eine Reevaluierung der Beschwerden, eine erneute Beurteilung der Schwere des Verlaufs ( Tab. 7.2
und 7.3) und ggf. eine Modifikation der Behandlung vorgenommen werden (z.B. Hinzuziehen weiterer somatischer bzw. psychosozialer Fachleute, Einleitung von fachgebundener
oder Fachpsychotherapie, stationäre Weiter­
diagnostik und -behandlung, Rehabilitationsmaßnahmen) (Evidenzgrad 2b).
Empfehlungsstärke: B Starker Konsens
Kommentar zu Empfehlung 94:
Um der Gefahr einer Chronifizierung entgegenzuwirken, sollten bestimmte Zeiträume
für eine systematische und gemeinsame (Wieder-)Beurteilung des Verlaufs der Beschwerden eingehalten werden („Bilanzierungsdialog“, vgl. auch Empfehlung 46). Fink und Kollegen (2002) empfehlen Zeiträume von bis zu
6 Wochen, der Zeitraum sollte – falls keine
245
„Mein Arzt findet nichts“ – so g
­ enannte
­nicht-­spezifische, funktionelle und
­somatoforme ­Körperbeschwerden
Eine Leitlinie für Betroffene und ihre Angehörigen – Langfassung
Vorbemerkungen
zzDiese
Patientenleitlinie richtet sich an
Menschen, die an körperlichen Beschwerden leiden, ohne dass eine körperliche Erkrankung nachgewiesen werden kann, die
sie hinreichend erklärt.
zzDiese Leitlinie beruht auf den inhaltlichen
Aussagen der S3-Leitlinie „Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen
und somatoformen Körperbeschwerden“, die
sich an Ärzte und andere Therapeuten richtet. Sie wird hier nun für medizinische Laien „übersetzt“ und durch Fallbeispiele und
Selbsthilfetipps ergänzt.
zzDie Leitlinie spricht überwiegend von
„Ärzten“ oder „Ärzten und ­Therapeuten“
und meint damit alle Berufsgruppen, die
an der Behandlung von Patienten mit
nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden beteiligt
sind, zum Beispiel auch Psycho-, Physio-,
und ErgotherapeutInnen, und zwar jeweils
Frauen und Männer.
Das Urheberrecht an der Patientenleitlinie
und den ihr zugeordneten Materialen verbleibt bei den Herausgebern und Autoren. Die
AWMF erhält mit dem Einreichen der Leitlinie ein Nutzungsrecht für die elektronische
Publikation im Informationssystem AWMF
online. Kommentare von Lesern sind willkommen: www.funktionell.net
251
3
Was bedeuten die Begriffe „nicht-spezifisch“,
„funktionell“ und „somatoform“?
Beispiel:
Stellen Sie sich vor: Eine Frau leidet bereits seit
mehreren Monaten an den meisten Tagen der Wo­
che an Bauchschmerzen, Blähungen und Verstop­
fung. Ihr Partner sagt: „Stell Dich doch nicht so an.
Das wird schon wieder.“ „Das sind bloß Befind­
lichkeitsstörungen“, sagt ihre Hausärztin, zu der
sie dann doch geht. Ein anderer Allgemeinarzt,
den sie um eine zweite Meinung bittet, sagt: „Das
ist etwas Nicht-Spezifisches“. Ein Gastroentero­
loge sagt: „Das sind funktionelle Beschwerden:
Sie haben ein Reizdarmsyndrom“. Ein Psycho­
somatiker sagt: „Sie haben eine somatoforme
Störung“. Was hat die Frau denn nun? Ist sie
überhaupt „krank“?
Für die Beschreibung von unklaren Körperbe­
schwerden, für die keine hinreichende körper­liche
Ursache gefunden wird, gibt es leider sehr viele
verschiedene Begriffe. Das liegt zum einen an der
Vielzahl medizinischer Fachgebiete, von denen je­
des die dort vorkommenden „unklaren“ Körperbe­
schwerden und Syndrome beschreibt. Zum anderen
sind sich die verschiedenen Experten auch inner­
halb eines Fachgebiets oft selbst nicht einig, wie die
Beschwerden eines Patienten am besten benannt
und bewertet werden, ob sie entweder als „körper­
lich“ oder als „seelisch“ einzuordnen sind – oder
ob sie irgendwie beides zugleich sind. Am häufigs­
ten kommt das vor bei Schmerzen, bei Störungen
von körperlichen Funktionen (z. B. Stuhlgang, Was­
serlassen) oder bei Müdigkeit/Erschöpfung.
Diese Leitlinie benutzt drei häufig verwendete Be­
griffe – „nicht-spezifische, funktionelle und soma­
toforme“ Körperbeschwerden – stets gemeinsam
und meint damit Beschwerden, die körperlich er­
lebt werden und insofern also real sind, für die aber
keine hinreichende körperliche Erklärung gefunden
wird und die weder eindeutig als „körperlich“ noch
als „seelisch“ bezeichnet werden können.
i
einem Arztbesuch, sondern verschwinden
von selbst oder durch Anwendung einfacher
Hausmittel (etwa einer Wärmflasche) oder
Verhaltensänderungen (etwa mehr Schlaf).
Oft wird aber auch nach einer sorgfältigen Abklärung keine hinreichende
körperliche Krankheitsursache gefunden (je
nach ­Symptom liegen die Zahlen bei rund
75 %). Am häufigsten kommt das vor bei (s. a.
Kasten 1):
zzSchmerzen unterschiedlicher Körperregionen (z. B. Kopf-, Glieder- und Muskelschmerzen)
Körperliche Signale bzw. Beschwerden
wie Müdigkeit oder Muskelverspannungen sind normal. Sie gehören zum Leben
wie Regentage oder Stimmungsschwankungen, denn eine hundertprozentige Gesundheit
gibt es nicht. Solche „Alltagsbeschwerden“
(manchmal werden sie auch „Befindlichkeitsstörungen“ genannt) sind oft sogar sinnvoll,
wenn sie z. B. die Trauer nach einem Todesfall ausdrücken oder zeigen sollen „Du über­
forderst Dich!“. Sie beeinträchtigen die Betroffenen meistens nur wenig in ihrem Alltag
und führen deshalb in der Regel gar nicht zu
i
252
Patientenleitlinie
zzStörungen
von Organfunktionen einschließlich so genannter „vegetativer“ Beschwerden (z. B. Verdauungsstörungen,
Kreis­laufstörungen)
zzErschöpfung/Müdigkeit.
i
Der Begriff „nicht-spezifische Körperbeschwerden“ wird überwiegend in der
Allgemeinmedizin verwendet. Damit ist gemeint, dass viele Beschwerden zumindest
nicht sofort einer eindeutigen Ursache zugeordnet werden können, und vielleicht ja auch
gar nicht müssen. Denn viele nicht-spezifische Beschwerden verlaufen unkompliziert
(s. a. Kap. 10). Der Begriff „nicht-spezifisch“
soll deshalb auch ganz absichtlich eine vorschnelle Etikettierung als „Krankheit“ verhindern, weil sich der Betroffene vielleicht gar
nicht richtig krank fühlt oder durch eine solche „Etikettierung“ Nachteile haben könnte
(z. B. die Verschreibung unnötiger Medikamente). Manche Betroffene fühlen sich durch
die ­Offenheit des Begriffs „nicht-spezifisch“
­beruhigt, manche finden den Begriff aber
auch zu nichtssagend („Und was heißt das
jetzt?“, „Was kann und soll ich jetzt tun?“).
Viele Patienten erwarten vom Arzt, dass er ihren Beschwerden einen „Namen“, d. h. eine
Diagnose, gibt.
Der Begriff „funktionell“ wird v. a. in
der „Körpermedizin“ (z. B. Gastroenterologie, Rheumatologie) verwendet. Er deutet
an, dass hier überwiegend die Funktion eines
Organ(system)s (z. B. des Darms bei Verdauungsstörungen, der Harnblase bei Problemen
mit dem Wasserlassen) gestört ist, was nicht
notwendigerweise bedeutet, dass das Organ
selber (also z. B. Zellen oder Nerven) geschädigt ist. Man könnte das vielleicht vergleichen
mit einem verstimmten, in seinen Einzelteilen
jedoch völlig intakten Klavier. Der Begriff
„funktionell“ könnte manchmal auch so interpretiert werden, dass die Beschwerden eine
bestimmte Funktion für den Organismus bzw.
i
für die Person haben (z. B. ein Signal für Überlastung). „Funktionelle Syndrome“ sind bestimmte Beschwerdebilder wie Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie-Syndrom oder Chro­
nisches Müdigkeitssyndrom. Damit eine solche „Diagnose“ vergeben werden kann, müssen in der Regel mehrere anhaltende, körperlich nicht hinreichend erklärte Beschwerden
in einem bestimmten Organsystem vorliegen.
Funktionelle Syndrome können aber sehr unterschiedlich verlaufen (s. a. Kap. 10): Nicht
alle Betroffenen sind so stark beeinträchtigt,
dass man von „Krankheiten“ sprechen sollte.
Andere wiederum fühlen sich überaus stark
belastet, haben Begleiterkrankungen oder Beschwerden in mehreren Organsystemen. (Auf
diese Weise erfüllen viele Patienten die Diagnosekriterien für mehrere funktionelle Syndrome gleichzeitig, z. B. „Reizdarmsyndrom“
und „Fibromyalgie-Syndrom“).
Eine „somatoforme Störung“ (von
griechisch: soma = Körper) liegt vor,
wenn eine oder mehrere Körperbeschwerden,
für die keine hinreichende körperliche Ursache gefunden wird, über mindestens ein halbes Jahr anhalten. Wo im Körper die Beschwerden sind, ist dabei zweitrangig, es können auch mehrere Körperregionen oder Organsysteme gleichzeitig betroffen sein. Eine
somatoforme Störung kann aber nur dann diagnostiziert werden, wenn die Beschwerden
schwerer verlaufen, wenn also die Patienten
(z. B. durch starke Krankheitsängste oder
durch Schonverhalten) in ihrem Alltag deutlich beeinträchtigt sind (s. a. Kap. 10). Der Begriff wird überwiegend in der psychosozialen
Medizin verwendet.
Für Körperbeschwerden ohne hinreichende körperliche Erklärung gibt es
also verschiedene Begriffe (man könnte auch
sagen „Etiketten“), die hauptsächlich zeigen,
dass verschiedene Fachgebiete unterschiedliche Sichtweisen und entsprechend auch unterschiedliche Bezeichnungen von ganz ähn­
i
i
IX
Vorwort
In diesem Buch wird die neue, von den psychosomatischen Fachgesellschaften DKPM
und DGPM koordinierte und 2012 offiziell von den beteiligten 30 Fachgesellschaften bzw. Verbänden verabschiedete Leitlinie
„Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funk­tionellen und somatoformen Störungen“ übersichtlich aufbereitet: In Form einer Langversion mit Praxistipps und Quellentexten (also Begründungen und Literatur,
die den Empfehlungen der Leitlinie zugrunde
liegen), einer zugleich im Deutschen Ärzteblatt publizierten Kurzversion und einer Patientenleitlinie, die ebenfalls in einer Langund einer Kurzfassung vorliegt. Es war uns
ein Anliegen, in dem Buch praxistaugliche
Handlungsempfehlungen und wissenschaftliche Genauigkeit zusammenzubringen. Besonders wichtig ist uns, dass hier das Ergebnis einer umfangreichen Diskussion und
Konsensbildung unter Beteiligung nahezu
aller wesentlichen Fachgebiete der Medizin
vorgestellt wird. Damit, so hoffen wir, trägt
das Buch dazu bei, dass – vom Hausarzt über
den „somatischen“ und den „psychosozialen“
Facharzt bis zum Psychotherapeuten – zukünftig ein einheitlicherer und informierterer
Umgang mit dieser Patientengruppe möglich
wird, indem ein integriertes und schlüssiges
Konzept an die Stelle der bislang so heterogenen ätiologischen Annahmen, Benennungen,
diagnostischen Vorgehensweisen und Therapiekonzepten tritt. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf Empfehlungen zu einer geeigneten „Haltung“ und „Gesprächsführung“. Das
mag für eine Leitlinie auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinen, ist aber (nicht
nur, aber vor allem) bei dieser Patientengruppe von entscheidender Bedeutung – für das
Gelingen der therapeutischen Beziehung, die
beidseitige Behandlungszufriedenheit und
wohl auch für die Prognose.
Unser Dank geht an erster Stelle an die Kolleginnen und Kollegen, die als Delegierte
­ihrer Fachgesellschaften und Verbände bei
drei Konsensuskonferenzen und in vielen
weiteren schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen die Leitlinie mit uns erarbeitet ­haben. Ein besonderer Dank geht auch
an Frau Professor Kopp von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizi­
nischen Fachgesellschaften (AWMF), die uns
in metho­discher Hinsicht beraten und die
Konsensus­konferenzen angenehm und ergebnisorientiert moderiert hat.
Das Buch steht in der Tradition der älteren,
2002 ebenfalls in einem Buch des SchattauerVerlags veröffentlichten „Leitlinie Somatoforme Störungen“ aus der Psychosomatik. Die
Impulse dafür gingen von Professor Gerd Rudolf, Heidelberg, aus – dafür danken wir ihm.
Nicht zuletzt danken wir Herrn Dr. Bertram
und Frau Dr. Schmidt aus dem SchattauerVerlag für die gute Betreuung.
Für die Herausgeber, im Dezember 2012
Constanze Hausteiner-Wiehle
und ­Peter ­Henningsen
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