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Kurt Schilde: Rezension von: Kim Wünschmann: Before Auschwitz.
Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge,
MA / London: Harvard University Press 2015, in sehepunkte 16
(2016), Nr. 10 [15.10.2016],
URL:http://www.sehepunkte.de/2016/10/27978.html
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sehepunkte 16 (2016), Nr. 10
Kim Wünschmann: Before Auschwitz
Seit einigen Jahren ist die Geschichte von jüdischen KonzentrationslagerHäftlingen eine zunehmend und zu Recht mehr Beachtung findende
Facette der deutschen und internationalen Forschung zum
Nationalsozialismus. Es geht um die vor den Massenmorden im Zweiten
Weltkrieg stattgefundenen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in
Europa. In der Endphase befinden sich die Dissertationen von Karoline
Georg fokussiert auf das Berliner Konzentrationslager Columbia und von
Julia Pietsch über KZ-Häftlinge in Berlin und Brandenburg. [ 1 ]
Hingewiesen sei noch auf die (teilweise nicht veröffentlichten) Studien
von Anna Hájková, Irmgard Seidel, Günter Morsch/Susanne zur Nieden,
Linde Apel, Marco Esseling, Harry Stein und Detlef Garbe/Sabine
Homann. [ 2 ] Vor allem hat die derzeit in England arbeitende
Historikerin Kim Wünschmann die Geschichte von jüdischen Häftlingen
in Konzentrationslagern untersucht [ 3 ]. Sie ist am Birkbeck College
(University of London) an einem von Nikolaus Wachmann geleiteten
Forschungsprojekt über NS-Konzentrationslager in der Zeit vor dem
Zweiten Weltkrieg beteiligt gewesen und hat in diesem Zusammenhang
ihre - gleichfalls von Wachsmann "supervised" (348) - Dissertation
erarbeitet.
Wünschmann hat auf einer umfassenden Quellengrundlage - in der
Bibliographie werden über dreißig Archive in Deutschland, Jerusalem,
London und den USA aufgelistet - und der Auswertung internationaler
Quellen- und Forschungspublikationen - so viel kann schon gesagt
werden - das Standardwerk über jüdische Häftlinge in den deutschen
Konzentrationslagern zwischen 1933 und 1939 verfasst.
Gleich zu Beginn stellt sie in der fundierten Einführung heraus: "The
concentration camps of the prewar era were different from the wartime
camps." (3) Sie erarbeitet ihr Thema chronologisch in sechs Schritten
und konzentriert sich auf die Konzentrationslager Dachau, Breitenau,
Osthofen, Lichtenburg, Sonnenburg, Sachsenhausen, Buchenwald und
die Emslandlager. Sie geht auch auf andere KZ ein, wie z.B. das zwischen
1933 und 1936 in Berlin vorhandene Gefängnis des Geheimen
Staatspolizeiamtes bzw. KZ Columbia. Ihre Ausführungen werden von
zahlreichen biografischen Beispielen von prominenten und unbekannten
jüdischen Männern - und im dritten Kapitel jüdischen Frauen - begleitet,
die das Verständnis des Beschriebenen erleichtern.
Sie betont die Bedeutung von Gewalt seit Beginn der Verfolgung der
jüdischen Minderheitsbevölkerung im Allgemeinen und gegenüber den in
den frühen Konzentrationslagern inhaftierten Juden und Jüdinnen im
Besonderen. Ihre Untersuchung startet mit dem Instrument der
Schutzhaft gegen "radical political activists and then turn to left-wing
politicians and political journalists". Weiterhin fragt die Historikerin nach
der Verfolgung jüdischer Juristen, Landjuden und "ordinary Jews" (21).
Im zweiten Kapitel wird das Geschehen in den Lagern 1933-34
untersucht und mit zahlreichen Beispielen von Misshandlung, Isolierung
und Ermordung illustriert. Sie erinnert an die Separierung jüdischer
Männer in den KZ Oranienburg und Dachau und interpretiert die Morde
als "Vorbereitung" der SS-Männer - sie sollten "hart wie Kruppstahl"
werden - für die späteren Verbrechen. Trotz des Terrors hat es
Selbstbehauptungsbemühungen und Widerstand gegeben, dessen
spektakulärste Form wenige Fluchten waren. Der aus Oranienburg
geflohene Gerhart Seeger z.B. hat seine Erlebnisse 1934 in der
Tschechoslowakei veröffentlicht.
Das dritte Kapitel ist den weiblichen jüdischen
Konzentrationslagerhäftlingen der Jahre 1933 bis 1939 gewidmet. Nach
Beispielen von widerständigen Jüdinnen, die häufig eher in
Polizeigefängnissen ihrer Freiheit beraubt gewesen waren, geht sie
zunächst auf das Frauen-KZ Moringen sowie auf als
"Rassenschänderinnen" Verfolgte und Rückwanderinnen ein, die in
Schulungshaft genommen wurden. Mit dem letztgenannten Procedere
sollten die Frauen zur endgültigen Auswanderung gezwungen werden.
Anschließend stellt Wünschmann dar, wie das antijüdische Feindbild sich
1935-38 zunehmend verstetigte. Das jüdische Individuum verschwand
hinter dem Feindbild "des Juden", der streng von nichtjüdischen
Häftlingen separiert wurde. Dieser Trend setzte sich fort, wie sie im
folgenden Kapitel zur antijüdischen Politik 1938, der massenhaften
Verfolgung und der Bedeutung der Konzentrationslager im Jahr der
Novemberpogrome aufzeigt. Es kommt zur - später perfektionierten öffentlichen Kennzeichnung mit noch unterschiedlichen Zeichen: In
Sachsenburg z.B. durch den gelben Stern oder in Lichtenburg mittels
gelber Binden am Hosenbein und Streifen auf dem Rücken der
Häftlingsjacken. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen zeigte
sich auch an den höheren Todesraten der jüdischen Häftlinge. Sie
thematisiert auch Konflikte in dieser Gefangenenkategorie.
Abschließend fragt sie: "Calm after the Storm?" im letzten Jahr vor dem
Krieg. Diese Ruhe hat es bekanntlich nicht gegeben. Stattdessen hat die
Verfolgung zugenommen und die jüdische Bevölkerung ist zunehmend
ausgebeutet worden. "Jews were thus forced to finance their own
expulsion." (212) Die ersten tschechischen Juden gelangten im
September 1939 in das KZ Buchenwald, polnische und staatenlose Juden
nach Sachsenhausen und ebenfalls nach Buchenwald. Deutsche Juden
und Jüdinnen galten nun nicht mehr als Deutsche, sondern nur noch als
Juden und rechtlos.
Dementsprechend wird in der Zusammenfassung darauf eingegangen,
wie die Konzentrationslager als Verfolgungsinstrument geholfen hatten,
"to transform German Jews from a heterogeneous minority group within
society to outsiders perceived as a homogeneous group of enemies to be
excluded from German communal life." (233 f.) Der Ausschluss aus der
"Volksgemeinschaft" diente als Test, wie die Mehrheitsbevölkerung in
Zukunft reagieren würde.
Kim Wünschmann hat mit ihrer Studie zur Verfolgung der jüdischen
Bevölkerung und deren Verschleppung in Konzentrationslager einen
wichtigen Beitrag zu einem bisher zu wenig beachteten Thema vorgelegt.
Damit hat sie das Augenmerk auf die jüdischen Häftlinge in den frühen
deutschen Konzentrationslagern gelenkt, die bisher im Schatten der
massenhaften Ermordung in außerhalb Deutschlands gelegenen
Konzentrationslager gestanden haben. Sie hat beschrieben und
nachgewiesen: Es hat eine eigenständige Phase "Before Auschwitz"
gegeben.
Anmerkungen :
[ 1 ] Vgl. die Vorabveröffentlichungen von Karoline Georg: Manifestation
der Ausgrenzung. Das Konzentrationslager Columbia als Instrument der
Judenverfolgung in Berlin; Julia Pietsch: Stigmatisierung von Juden in
frühen Konzentrationslagern. Die Häftlinge der 'Judenkompanie' des
Konzentrationslagers Oranienburg 1933/34, beides in: Marco
Brenneisen / Christine Eckel / Laura Haendel / Julia Pietsch (Hgg.):
Stigmatisierung - Marginalisierung - Verfolgung, Berlin 2015.
[ 2 ] Anna Hájková: Prisoner society in the Terezίn ghetto, 1941-1945,
University of Toronto 2013; Irmgard Seidel: Jüdische Frauen in den
Außenkommandos des Konzentrationslagers Buchenwald, in: Gisela Bock
(Hg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im
nationalsozialistischen Lagersystem, Frankfurt am Main 2005; Günter
Morsch / Susanne zur Nieden (Hgg.): Jüdische Häftlinge im
Konzentrationslager Sachsenhausen 1936 bis 1945, Berlin 2004; Linde
Apel: Jüdische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945,
Berlin 2003; Marco Esseling: Juden als Häftlingsgruppe in
Konzentrationslagern. Verhaftung von Juden und ihre Stellung im Lager
bis 1942 unter besonderer Berücksichtigung des KZ Dachau, LudwigMaximilians-Universität München 1995; Harry Stein: Juden in
Buchenwald 1937-1942, Weimar 1992; Detlef Garbe / Sabine Homann:
Jüdische Gefangene in Hamburger Konzentrationslagern, in: Arno Herzig
(Hg.): Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, Hamburg 1991.
[ 3 ] Vgl. u.a.: Die Konzentrationslagererfahrungen deutsch-jüdischer
Männer nach dem Novemberpogrom 1938. Geschlechtergeschichtliche
Überlegungen zu männlichem Selbstverständnis und Rollenbild, in:
Susanne Heim / Beate Meyer / Francis Nikosia (Hgg.): "Wer bleibt, opfert
seine Jahre, vielleicht sein Leben". Deutsche Juden 1938-1941, Göttingen
2010; Jüdische politische Häftlinge im frühen KZ Dachau. Widerstand,
Verfolgung und antisemitisches Feindbild, in: Nikolaus Wachsmann /
Sybille Steinbacher (Hgg.): Die Linke im Visier. Zur Errichtung der
Konzentrationslager 1933, Göttingen 2014.
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