Akutereignis – Ein Leitfaden für Angehörige

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Akutereignis – Ein Leitfaden für Angehörige
Walter Ullmer
Hamburg, 2006
(2. korrigierte Auflage 2007)
Der Leitfaden informiert Angehörige, wie sich die Dinge typischerweise weiter entwickeln, was auf sie zukommt, worauf sie achten sollten und was sie selbst zu einem positiven Verlauf beitragen können. Wir haben Punkte zusammengestellt, die typisch für viele Fälle sind.
www.schaedel-hirnpatienten.de
Walter Ullmer: Akutereignis – Ein Leitfaden für Angehörige
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Überblick
Im Folgenden werden die Worte „Patient“ für den Schädel­Hirnverletzten und „Angehörige“ für die Familie bzw. Menschen, die sich um den Patienten küm­
mern, verwendet.
Der Patient ist zuerst im Koma mit tiefer Bewusstlosigkeit. Nach Tagen oder Wochen wird der Patient entweder „Aufwachen“ und ansprechbar sein oder in das sogenannte „Wachkoma“ oder „apallische Syndrom“ wechseln. Damit ist kein fixer Status bezeichnet, sondern die Begriffe dienen als unscharfer Sammelbegriff für verschiedene Stadien mit unterschiedlichen Graden an Wahrnehmungs­ und Reaktionsfähigkeit. Vor allem handelt es sich dabei um ein dynamisches Erkran­
kungsbild, bei dem über die Zeit starke Änderungen eintreten können, aber leider nicht immer eintreten. Um die Dynamik deutlich zu machen, spricht man auch vom „apallischen Durchgangssyndrom“.
Damit sich eine Dynamik entwickeln kann, wurde ein System von aufeinander aufbauenden Behandlungsschritten entwickelt, das Phasenmodell der neurologi­
schen Rehabilitation. Dieses Modell wird den Alltag des Patienten und der Ange­
hörigen die nächste Zeit bestimmen.
Die folgenden Informationen beziehen sich vorwiegend auf Patienten mit schweren Schädel­Hirnverletzungen, die mindestens mehrere Tage oder Wochen bewusstlos sind und deren Krankheitsverlauf mehrere Monate oder Jahre dauernd wird. Die Tabelle auf der nächsten Seite gibt eine Übersicht über die wichtigsten Themen.
Behandlung / Rehabilitation
Intensivstation (Phase A)
Ziel: Verlegung in die
Frührehabilitation
erste Prognose über weitere Entwicklung
Kostenträger
Krankenkasse
Betreuung
Antrag durch Angehörige beim Vormundschaftsge­
richt, wenn keine Betreu­
ungsverfügung oder an­
dere Vollmachten vorlie­
gen ­ ansonsten wird Be­
treuung von Amts wegen eingeleitet, z.B. durch die Klinik Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.
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Behandlung / Rehabilitation
Frührehabilitation
(Phase B)
Weiterführende Rehabilitation
(Phase C, D E)
Langzeitversorgung
in Pflegeeinrichtung (Phase F)
oder zu Hause
Kostenträger
Krankenkasse
●
●
●
●
●
●
Rentenversicherung
Berufsgenossenschaft
Wiedereingliederungs
hilfe
Pflegeversicherung
eigene Mittel (z.B. Rente) und/oder So­
zialhilfe
Krankenversicherung nur für medizinische Behandlung, bei häuslicher Pflege: Krankenkasse über­
nimmt Behandlungs­
pflege ­ 3 ­
Betreuung
Betreuer muss der Verle­
gung in jedem der folgen­
den Schritte zustimmen
Einstufung der Pflege­
stufe durch den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen):
regelmäßig Stufe III
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Die Rolle der Angehörigen
Angehörigen kommt bei der Betreuung der Patienten eine besondere Rolle zu. Sie können Zuwendung, Geborgenheit und vor allem Zeit geben ­ Dinge, die vom Fachpersonal meist nicht leistbar, aber für einen positiven Verlauf von elemen­
tarer Bedeutung sind. Patienten vertrauen am ehesten den Angehörigen, diese erkennen auch Änderungen im Verlauf der Krankheit vielfach früher als Ärzte, Therapeuten und Pflegepersonal.
Schrittweise werden die Angehörigen in Entscheidungen über den Therapiever­
lauf einbezogen, z.B. die Frage, in welche Klinik der Patient verlegt wird. Im weiteren Verlauf werden die Angehörigen immer mehr selbst die Verantwortung für ihren Patienten übernehmen – bis hin zu der Frage, ob die Angehörigen den Patienten langfristig zu Hause betreuen wollen und können.
Diese Schritte kommen in den meisten Fällen sehr schnell. Die durchschnittliche Verweildauer auf der Intensivstation beträgt 1 bis 3 Wochen, die durchschnittliche Verweildauer in der Frührehabilitation beträgt 6 bis 12 Wochen. Bereits nach 2 Monaten muss in vielen Fällen die Weiche für eine langfristige Versorgung in einer Pflegeeinrichtung oder zu Hause gestellt werden. Die meisten Angehörigen sind dabei natürlich überfordert und müssen unbedingt fachkundige Hilfe suchen.
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Erster Schritt: Intensivstation
Auch Patienten im Koma, die anscheinend nicht sehen und nicht antworten können, werden in den meisten Fällen über Sinne wie Hören, Fühlen oder Riechen ansprechbar sein. Angehörigen kommt hier eine wichtige Rolle zu. Sprechen Sie ruhig und gelassen mit dem Patienten. Gehen Sie davon aus, dass Ihr Patient Sie versteht – auch wenn er es nicht unmittelbar zeigen kann. Dis­
kussionen über die Prognose und die Behandlung des Patienten müssen außerhalb des Krankenzimmers geführt werden! Berühren und Streicheln Sie Ihren Patien­
ten. Bringen Sie persönliche Dinge mit, z.B. Parfüm oder Rasierwasser, oder Musik, die Ihr Patient über Kopfhörer hören kann. Fragen Sie, ob Sie beim Waschen und bei der Pflege helfen können. Ihr Patient wird es vermutlich als an­
genehm empfinden, wenn Sie ihn versorgen. Sie verlieren ihre Hilflosigkeit und lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Generell gilt: sprechen Sie alle Schritte mit dem Pflegepersonal auf der Intensivstation ab – auch Häufigkeit und Dauer Ihrer Besuche.
Auf der Intensivstation hat es sich bewährt, wenn nur ein oder zwei Angehörige die Kontaktperson zu Pflegekräften und Ärzten sind. Suchen Sie eine Ver­
trauensperson! Diese kann sowohl Arzt als auch Pflegekraft sein. Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummer für den Fall, dass Komplikationen auftreten.
Der Umgang mit den Patienten wird ausführlich in der Broschüre „Informationen und Hinweise für Angehörige von Schädel­Hirn­Verletzten und Menschen im Koma und Wachkoma (sog. apallisches Syndrom)“ von Andreas Zieger be­
schrieben, die hier ausdrücklich empfohlen wird. PD Dr. Andreas Zieger ist leitender Arzt einer Klinik für neurologische Frührehabilitation. Ein wichtiger Zwischenschritt ist Übernahme der (vorläufigen) rechtlichen Be­
treuung durch einen Angehörigen. Machen Sie diesen Schritt unbedingt bereits während der Zeit auf der Intensivstation! Sie stellen dazu einen formlosen Antrag an das Vormundschaftsgericht und verweisen auf das Krankenhaus, in dem Ihr Patient liegt. Weitere Informationen finden sie hier unter Rechtliche Betreuung – rechtzeitig einleiten.
Wenn die akute Phase der Schädel­Hirnverletzung überstanden ist, reagiert der Patient zunehmend auf äußere Reize. Möglicherweise reagiert er auf Ansprache oder drückt die Hand. Gerade in dieser Phase sind Besuche der Angehörigen besonders wichtig. Auch wenn eine genaue Prognose nicht möglich ist, wird absehbar sein, ob der Genesungsverlauf mehrere Monate oder Jahre dauern wird Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.
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und man davon ausgehen muss, dass mehr oder weniger ausgeprägte Behinde­
rungen eine lebenslange Betreuung erforderlich machen werden.
Dies ist auch der Zeitpunkt, den nächsten Behandlungsschritt einzuleiten.
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Zweiter Schritt: Wechsel in die Frührehabilitation
Der nächste Schritt ist die Verlegung in die sog. Frührehabilitation. Entscheidend ist, dass jeder (!) Patient diese Chance bekommen muss – außer der Verlauf ist so günstig, dass z.B. eine Verlegung direkt in die weiterführende Rehabilitation möglich ist. Eine Aussage, dass eine Frührehabilitation z.B. wegen das Alters oder der Schwere der Schädigung nicht sinnvoll ist, sollten Sie auf keinen Fall hinnehmen!
Es ist die Aufgabe des Akutkrankenhauses, für die Verlegung in die Frührehabili­
tation zu sorgen. Die direkte Verlegung in ein Pflegeheim sollten Sie nicht zu­
lassen, weil eine negative Prognose über den Erfolg einer Frührehabilitation grundsätzlich nicht möglich ist! Spätestens, wenn eine solche Diskussion einsetzt, haben Sie hoffentlich die rechtliche Betreuung für den Patienten beantragt und übernommen. Dann können Sie nicht ohne weiteres übergangen werden. Eine qualifizierte Frührehabilitation ist immer sinnvoll! Die Angehörigen brauchen die Zeit der Frührehabilitation, um die spätere, langfristige Versorgung sorgfältig zu planen. Die Verlegung in „irgendein“ Pflegeheim wird die möglichen Chancen für Ihren Patienten deutlich verschlechtern. Ansprechpartner sind die verantwortlichen Ärzte und der Sozialdienst des Krankenhauses. Finden Sie heraus, wer zuständig ist und nehmen Sie Kontakt auf. Welche Vorstellungen bestehen, gibt es Ideen über eine Klinik mit besonderen Schwerpunkten oder Erfahrungen, welche Klinik wird überhaupt in Betracht gezogen. Der Bundesverband führt Listen mit Reha­Kliniken, die Sie anfordern oder als Mitglied direkt einsehen können. Insbesondere dann, wenn mehrere Kliniken in Frage kommen, suchen Sie den Erfahrungsaustausch mit anderern Angehörigen oder regionalen Selbsthilfegruppen. Hier finden Sie in der Regel zusätzliche Informationen über therapeutische Konzepte und verfügbare Ressour­
cen, die Sie in die Entscheidungsfindung mit einbringen können. Adressen von Betroffenen und Angehörigen in Ihrer Nähe können Sie über die Bundesge­
schäftsstelle erhalten, regionale Selbsthilfegruppen können Sie auch hier ein­
sehen.
Die Verlegung in eine Reha­Klinik in Wohnortnähe ist natürlich anzustreben. Wenn dies nicht zeitnah möglich ist, ist die Verlegung in eine weiter entfernte Klinik im Regelfall günstiger als das wochenlange Warten auf einen Platz in der Nähe.
In der Frührehabilitation wird die Rolle der Angehörigen immer wichtiger. Je mehr der Patient ansprechbar wird, umso wichtiger sind die persönlichen Kon­
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takte und die systematische Erinnerung an bekannte Dinge. In der bereits erwähn­
ten Broschüre von Andreas Zieger finden Sie auch zu dieser Phase viele wertvolle Hinweise.
Angehörige haben mittlerweile meistens gelernt, mit der veränderten Lebenssitua­
tion umzugehen. Trotzdem muss von Anfang an bewusst sein, dass auch diese Etappe nur ein Zwischenschritt ist und die Weichenstellung für die Zukunft im Regelfall bereits nach wenigen Wochen vorbereitet werden muss!
Der Kostendruck im Gesundheitswesen führt dazu, dass die Krankenkassen be­
reits nach 2 – 4 Wochen prüfen, ob der Patient erkennbare Fortschritte macht. Eine Verlängerung wird in vielen Fällen bereits nach 4 Wochen abgelehnt. Das bedeutet dann den sofortigen Wechsel in die Langfristige Versorgung (siehe Vierter Schritt).
Umso wichtiger sind die Beobachtungen der Angehörigen! Schreiben Sie ein Tagebuch, in dem Sie den Verlauf aus Ihrer Sicht festhalten. Suchen Sie vertraute Ansprechpartner in der Klinik, denen Sie Ihre Beobachtungen vermitteln und mit denen Sie den weiteren Verlauf besprechen können. Wenn keine oder kaum sichtbare Fortschritte zu beobachten sind, müssen Sie davon ausgehen, dass spätestens nach 3 Monaten die Krankenkassen eine weitere Behandlung ablehnen. Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.
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Dritter Schritt: Wechsel in die Weiterführende Rehabilitation
Dieser Schritt ist nur dann möglich, wenn während der Frührehabilitation hin­
reichende Fortschritte erzielt werden.
Im günstigen Verlauf wird der Patient soweit mobilisiert, dass er sich selbst fortbewegen kann (Gehen oder Rollstuhl), dass er angemessen kommunizieren kann und für eine berufliche oder schulische Förderung ausreichend belastbar ist. Dann erfolgt die Verlegung in eine Einrichtung der weiterführenden Reha­
bilitation zur schulischen oder beruflichen Wiedereingliederung. Hier ist grund­
sätzlich eine individuelle Beratung durch den Sozialdienst und die Arbeits­ bzw. Schulverwaltung notwendig. Achten Sie darauf, dass nicht vorschnell ein Rentenantrag gestellt wird. Vorher müssen unbedingt alle (!) Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung genutzt werden.
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Vierter Schritt: Langfristige Versorgung Zu Hause oder in einer
Pflegeeinrichtung?
Bei weniger günstigem Verlauf bleiben Behinderungen bestehen, die eine dauer­
hafte Pflege und Betreuung erfordern. Die Angehörigen müssen jetzt die wich­
tigste Entscheidung treffen:
a) Wollen und können wir unseren Patienten zu Hause versorgen?
oder:
b) In welche Pflegeeinrichtung soll unser Patient verlegt werden?
a) Wollen und können wir unseren Patienten zu Hause versorgen?
Es ist ganz sicher so, dass die Versorgung zu Hause für den Patienten in den meisten Fällen deutliche Vorteile bringen kann. Trotzdem darf diese Möglichkeit nur nach sorgfältiger Beratung in Betracht gezogen werden, weil die Verant­
wortung für den Patienten damit weitgehend von den Angehörigen übernommen wird. •
Welche Angehörigen wollen und können ihre Lebensplanung auf die Ver­
sorgung des Patienten ausrichten und Pflege und Therapie mit über­
nehmen?
•
Sind mindestens zwei Angehörige „immer“ verfügbar? Dies ist u.a. des­
halb wichtig, damit auch im Krankheitsfall mindestens ein Angehöriger da sein kann.
•
Welche finanziellen Mittel stehen zur Verfügung, um einen Pflegedienst einzusetzen oder Pflegekräfte einzustellen?
•
Welche baulichen Maßnahmen sind erforderlich? Wer übernimmt die Kosten? Mit dem Argument, dass bauliche Voraussetzungen für die Ver­
sorgung zu Hause noch nicht gegeben sind, lässt sich die Dauer der (von der Krankenkasse) bezahlten Frührehabilitation ggf. verlängern, da eine zwischenzeitliche Verlegung in ein Pflegeheim dem Patienten schaden würde!
Detailliertere Hinweise finden sie im Abschnitt Betreuung zu Hause.
b) In welche Pflegeeinrichtung soll unser Patient verlegt werden?
In vielen Fällen ist die Entscheidung für eine Pflegeeinrichtung die richtige Entscheidung, weil die Angehörigen mit der Versorgung zu Hause überfordert Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.
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wären. Die Auswahl einer geeigneten Pflegeeinrichtung erfordert aber ebenfalls eine sorgfältige Beratung. Natürlich sind speziell qualifizierte Einrichtungen i.d.R. teurer als „beliebige“ Pflegeheime.
Entscheidend ist, dass in einer qualifizierten Pflegeeinrichtung auch langfristig genauso Fortschritte und positive Entwicklungen des Patienten möglich sind wie in der kurzen Phase der Frührehabilitation. Zu empfehlen sind die Pflegeeinrich­
tungen, die spezielle Stationen für Patienten im Wachkoma haben. Bei anderen Pflegeeinrichtungen sollten Sie unbedingt nach der Qualifikation und dem spe­
ziellen Pflege­/und Therapiekonzept für Patienten im Wachkoma fragen. Die Er­
fahrung zeigt, dass hier große Sorgfalt angezeigt ist. Weitere Kriterien sind z.B. Wohnortnähe, Altersstruktur der Bewohner oder das Konzept zur Angehörigen­
integration.
Zu den Punkten, die überlegt werden müssen, gehören: ●
●
Wie lassen sich Besuchte ermöglichen und organisation?
Wie erfolgt die ärztliche Versorgung, insbesondere mit neurologischen Fachärzten?
●
Wie erfolgt die Verordnung von Hilfsmitteln?
●
Wie erfolgt die Verordnung der Therapien?
●
Gibt es eine Angehörigengruppe?
Detailliertere Informationen finden sie im Abschnitt Versorgung in einer Einrich
­ tung.
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Finanzielle Grundlagen
Der Wechsel in die Langzeitversorgung ist, unabhängig von der gewählten Alter­
native, auch mit einem wesentlichen Einschnitt verbunden: Die Leistungspflicht der Krankenkasse beschränkt sich jetzt nur noch auf medizinische Behandlungen, nicht mehr auf die Pflege.
In jedem Einzelfall muss mit Fachleuten wie z.B. dem Sozialdienst der Frühreha­
bilitationsklinik die finanzielle Situation sorgfältig geklärt werden. Mögliche Bau­
steine sind :
●
Pflegeversicherung
●
Berufsgenossenschaft bei Wege­/Berufsunfällen
●
Erwerbsunfähigkeitsrente und andere Renten
●
Haftpflichtversicherung bei Unfällen oder durch Dritte verschuldeten Verletzungen
In den meisten Fällen, wenn nicht ein Arbeits­ oder Wegeunfall oder ein schaden­
ersatzpflichtiges Drittverschulden vorliegt, wird die Finanzierung im wesentlichen auf der Pflegeversicherung aufbauen. Die ist allerdings, im Unterschied zur Krankenversicherung, eine „Teilkasko“ Versicherung: Sie leistet nur bis zu einer gesetzlich festgelegten Obergrenze, die aber die tatsächlich entstehenden Kosten nur zu einem (zumeist geringen) Teil abdeckt. Der Rest muss aus dem Vermögen des Betroffenen und danach dem der unterhaltsverpflichteten Angehörigen be­
stritten werden. Erst wenn das nicht ausreicht, tritt die Leistungspflicht der Sozialhilfe ein. Spätestens hier wird deutlich, dass die Schädel­Hirnverletzung die Lebenssituation der gesamten Familie komplett verändert.
Die Obergrenze hängt von der Schwere der Schädigung und dem Umfang der notwendigen Pflege ab, d.h. welche pflegerischen und hauswirtschaftlichen Leistungen benötigt werden und welcher Zeitbedarf für jede Leistung zu veran­
schlagen ist. Die Minuten werden addiert und daraufhin eine Eingruppierung in eine von 3 Pflegestufen (I, II und III) vorgenommen. Für die Stufe III gibt es noch den Sonderfall einer besonders aufwändigen Pflege (Stufe III Härtefall). Der Antrag auf Leistung wird bei der Pflegekasse des Patienten gestellt, dies ist in den meisten Fällen die bisherige Krankenkasse. Die Leistungspflicht beginnt ab Antragsdatum. Eine rückwirkende Leistung ist nicht zulässig! Im Normalfall wird die entlassende Klinik die Antrag stellen. Aber Sie sollten selbst auch darauf achten, um Einbußen zu vermeiden!
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Im Regelfall ist bei Schwer­Schädel­Hirnverletzten von Pflegestufe III auszu­
gehen. Die Pflegekasse trägt dann monatlich einen Betrag von maximal 1.432,­ Euro als Pflegesachleistung (d.h. Versorgung in einer Einrichtung oder durch einen ambulanten Pflegedienst) bzw. 665,­ Euro als Pflegegeld (d.h. Pflege durch Angehörige oder selbst engagierte Hilfen, auf Nachweise können notwendige Aufwendungen wie Fahrtkosten oder Verdienstausfall zusätzlich bis 1.432 Euro erstattet werden). Die Erfahrung zeigt, dass die Einstufung als Härtefall oft nur mit Unterstützung durch eine erfahrene Pflegekraft, einen engagierten Hausarzt oder einen sachkundigen Rechtsanwalt zu erreichen ist. In diesem Fall würde maximal ein Betrag von 1.918,­ Euro als Pflegesachleistung gezahlt werden.
In der Praxis ist immer wieder zu beobachten, dass Patienten bei der Verlegung aus dem Akutkrankenhaus oder der Frührehabilitationsklinik in Pflegestufe II eingestuft werden, weil die Einstufung nach „Aktenlage“ gemäß der Pflegedoku­
mentation des Krankenhauses ermittelt wird. In diesen Fällen müssen Sie unbe­
dingt Widerspruch einlegen (formloses Schreiben an die Pflegekasse genügt) und eine persönliche Begutachtung fordern.
Die Begutachtung erfolgt durch den MDK (Medizinischer Dienst der Kranken­
kassen). Gerade bei häuslicher Pflege treten häufig „Mißverständnisse“ auf, die zu der Festlegung einer zu niedrigen Pflegestufe führen. Suchen Sie unbedingt die Unterstützung durch Fachleute. Eine gute Pflegeeinrichtung oder ein erfahrener Pflegedienst wird das leisten. Auch unser Bundesverband kann Sie beraten. Bei einer ungünstigen Einstufung kann ein Widerspruchsverfahren und nachfolgend der Klageweg beschritten werden, besser ist aber eine Vorbeugung durch gute Vorbereitung, insbesondere durch eine gute Dokumentation des tatsächlichen Pflegeaufwandes (z.B. durch Führen eines Pflegetagebuches). In dem Fall eines Arbeits­ oder Wegeunfalls oder eines schadenersatzpflichtigen Drittverschuldens ist die Finanzierung deutlich einfacher. Die Versicherungen decken auch den Aufwand für die Pflege ab und übernehmen ebenfalls Therapien in einem größeren Umfang als die gesetzlichen Krankenkassen. Aber auch in diesem Fall sollte noch vor der Überleitung in die Langzeitversorgung ein Antrag auf Leistung bei der Pflegeversicherung gestellt werden. Auch wenn die Leistungen dann von anderen Versicherungen übernommen werden, trägt die Pflegekasse in dem Fall, wenn ein Angehöriger die Pflege zumindest in Teilen übernimmt, den Rentenbeitrag – aber auch erst ab Antragsdatum!
Weitere detailliertere Informationen sind im Abschnitt Informieren unter dem Punkt Rechtliches zu finden.
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