Pharmakotherapie im Management von Depressionen und Suchtkrankheiten – ein Update 2017 HenrikeWolf(PDDr.med.) Ärz5nfürPsychiatrieundPsychotherapie PsychiatrischeDiensteGraubünden,APDSt.Moritz ENGADINERFORTBILDUNGSTAGE2017 8.bis10.September2017 Scuol Update2017 1HISTORIEUNDAKTUELLERSTAND 100JAHRE„TRAUERUND MELANCHOLIE“ 100JAHRE„TRAUERUND MELANCHOLIE“ „Die Melancholie stellt uns noch vor andere Fragen, deren Beantwortung uns zum Teil entgeht. ...dass sie nach einem gewissen Zeitraum abgelaufen ist, ohne nachweisbare Veränderungen zu hinterlassen. Ein wahrscheinlich somatisches, psychogen nicht aufzuklärendes Moment kommt in der regelmässig auftretenden Linderung des Zustandes zur Abendzeit zum Vorschein Die merkwürdigste und aufklärungsbedürftigste Eigentümlichkeit der Melancholie ist durch ihre Neigung gegeben, in den symptomatisch entgegengesetzten Zustand der Manie umzuschlagen.“ SOMATISCHE,PSYCHOGENNICHTAUFZUKLÄRENDEMOMENTE DERMELANCHOLIE/DEPRESSION–IDEENVON1917!!! DIAGNOSTISCHEKRITERIENDERDEPRESSIVEN EPISODE Kernkriterien • DepressiveS5mmung,anhaltendfürdie meisteZeitdesTages,mindestens2 Wochen • Interessen-undFreudeverlust • VerminderterAntrieb/gesteigerte Ermüdbarkeit 1 2 3 DIAGNOSTISCHEKRITERIENDERDEPRESSIVEN EPISODE Zusatzkriterien Verlust des Selbstwertgefühls Selbstvorwürfe, unangemessene Schuldgefühle Wiederkehrende Gedanken an den Tod, Suizid, suizidales Verhalten Vermindertes Denk- und Konzentrationsvermögen, Unschlüssigkeit Agitiertheit/ Hemmung Schlafstörungen Appetitverlust REINPHÄNOMENOLOGISCHERANSATZ:DIE HEUTIGENDEPRESSIONSKRITIERIEN HW AnhaltendüberdiemeisteZeitdesTages,mindestend2Wochen 9/23/17 7 SOMATISCHESSYNDROM Somatisches Syndrom, assoziiert mit dem Begriff „melancholische Depression“ oder „Major Depressive Disorder“ SOMATISCHESSYNDROM-KRITERIEN • Deutlicher Freud- und Interessenverlust • Mangelnde Fähigkeit, auf Ereignisse oder Aktivitäten emotional zu reagieren • Früherwachen – 2h früher als gewöhnlich • Morgentief • Ausgeprägte psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit • Deutlicher Appetitverlust • Gewichtsverlust • Deutlicher Libidoverlust HÄUFIGESYMPTOMEBEIDEPRESSION Weinerlich Bedrückt Ängstlich Interesse Konzentra5on Hemmung Minderung Affekt Denken Antrieb „leer“ gereizt Selbstanklage Wahn „agi5ert“ reduziert Schmerzen Schwere starr (psycho) Motorik Vegeta5vum/ Schlaf/Sex/ Appe5t Körperwahrnehmung vermehrt Suizidalität!10-15%suizidierensichim VerlaufderErkrankung HäufigeManifesta\ondepressiver Erkrankungen-nichtnurbeiälteren Menschen! AFFEKTIVESTÖRUNGEN–KLASSIFIKATION NACHICD-10 Manische Episode Hypomanische Nachschwankung Depressive Episode Normale Dysthymia Schwankungen Zyklothymia Unipolare Bipolare Depression StörungI BipolareStörung II BesonderheitenderDepressionimHinblickaufdie Behandlung/neueBehandlungsansätze 2HINTERGRUND 1Besonderheiten:Chronizität REZIDIVIERENDEDEPRESSIVESTÖRUNG– PROGRESSIVEHIRNERKRANKUNG? 2Besonderheiten:PlaceboEffekt DIE„DROGEARZT“ • PlaceboundNocebo-Effekte • „Eswirdmirhelfen“ • „Eswirdmirschaden“ 3Besonderheiten:Dieposi\veEigendynamik SPONTANREMISSION „...dasssienacheinemgewissenZeitraumabgelaufenist,ohne nachweisbareVeränderungenzuhinterlassen.“ „DIEGESCHICHTEDER PHARMAKOTHERAPIEDERDEPRESSION ISTSCHNELLERZÄHLT.“ • • • • Lithium als Gichtmittel, Beobachtung, dass es bei bipolaren Patienten das Risiko erneuter Episoden verringert (Carl Georg Lange, 1895), John Cade (1949): Wiederentdeckung 1951-1958 Iproniazid (Hoffmann-La Roche, MAO-Hemmer, ebertoxisch) 1940-1957 auf der Suche nach einem Neuroleptikum wurde zufälig die antidepressive Wirkung von Imipramin entdeckt. (Ciba Geigy, Roland Kuhn, Münsterlingen) Tofranil® 1968 Izyaslav P. Lapin und Gregory F. Oxenkrug: Serotonin-Hypothese triggert Entwicklung von Fluoxetin (SSRI, 1988, Eli Lilly) • • Lithiumwurdebereits1895als Psychopharmakonentdeckt,das Wissengingverloren Bisheutedaswich\gste Phasenprophylak\kumundin Kombina\onmitAn\depressivum diewirkungsvollste Pharmakotherapiebeischwerer und/odertherapieresistenter Depression DIEMONOAMINHYPOTHESEDERDEPRESSION,STIMMIG,ABER FALSCH: „TAGUNDNACHTENTSTEHEN,WEILSICHDIESONNEUMDIEERDE DREHT“ Serotonin Noradrenalin Wachheit Angst Reizbarkeit Motivation EinMangelderMonoamine Noradernalin,Serotoninund DopaminkönntedieSymptome derDepressionbedingen. Impuls Stimmung Emotion Denken Appetit Konzentr Sex Aggression Antrieb Dopamin EineErhöhungderMonoamine Noradernalin,Serotoninund DopaminkönntedieSymptome derDepressionlindern. SubstanzenundihrEinsatzinderPraxis 3AKTUELLERSTANDDER PHARMAKOTHERAPIE MEDIKAMENTÖSE THERAPIE Differentiell – zwei Ansatzpunkte – 1) Phasenbehandlung/-verkürzung, 2) Phasenprophylaxe • Akut: Antimanische Behandlung, z.B. Neuroleptika, Valproat, Lithium Manische Episode Hypomanische Nachschwankung Depressive Episode Normale Schwankungen Dysthymia SSRI Zyklothymia Unipolare Depression Bipolare Störung I Bipolare Störung II Lithium • Antidepressivum, z.B. Trizyklikum, SSRI oder SNRI, verkürzt Episode! An5depressivavermeiden! • Stimmungsstabilisatoren/Phasenprophylaxe: Lithium/ Carbamazepin, Valproat, Lamictal Substanzklasse Beispiele Tricyklika Trimipramin(Surmon5l®),Nortriptylin* (Nortrilen®)*vomMarktgenommen Tetracyklika „alte“An=depressiva SER Mapro5lin(Ludiomil®)*vomMarkt genommen NA SSRI,Sero5nin-Wiederaufnahmehemmer SNRI,Ser-Noradrenalin-WA-H. SER SER Fluexe5n,Sertralin,Paroxe5n,Citalopram,SCitalopram NA Venlafaxin,Duloxe\n,Milnacipran NA SDNRI,Sel.Dopamin-Noradrenalin-WA-H.,SDNRI Bupropion D NaSSA,Alpha2-Antagonisten,noradrenergeund Mianserin,Mirtazapin SER NA spezifischserotonergeAn5depressiva(NaSSA) Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer(NARI) Reboxe5n(CHseit2013Einschränkungen) NA Melatonin-RezeptoragonistenneuerMechanismus Agomela5n(Valdoxan®EUCH2009,2010) SER SARI,SSRI+5-HT2-Antagonist Trazodon(Trikco®) MAO-I,Monoaminoxidase-Inhibitoren NA SER D Phytopharmaka Tranylcypromin(irreversibel),Moclobemid (reversibel) Johanniskraut-Extrakt Neu,mul=modal SSRI,serot.AgonistundAntagonist Vor5oxe5n(Brintellix®)(CH9/2016) UnterschiedlichepharmakologischeEigenschaoen, auchinnerhalbeinerGruppe,sieheSSRI 4WICHTIGESUBSTANZGRUPPEN Substanzklasse Tricyklika Tetracyklika SSRI „Mul5-modal“ Sero5nin(SER)/ Noradrenalin(NA) &andere(zBM1) Nebenwirkungen!!! Beispiele Trimipramin(Surmon5l®),Nortriptylin* (Nortrilen®)*vomMarktgenommen Mapro5lin(Ludiomil®)*vomMarkt genommen Fluoxe5n,Sertralin1,Paroxe5n2,Citalopram3, S-Citalopram4, 1inhohenDosenDopamin-WA-Hemmer,2 M1-Rezeptor-Antagonist–an5cholinerg!,3 ! Paroxe5n schwachan5histaminerg–evtl.Sedierung,4 „schmuddelig“,SER,NA, nichtan5histaminerg,keineCyp4502D6an5cholinerg Hemmung(niedrigstesInterak5onspoten5al) ! S-Citalopram „rein“serotonerg (SER) SNRI,Ser-Noradrenalin-WA-Hemmer SERundNA Venlafaxin,Duloxe5n,Milnacipran SDNRI,Sel.Dopamin-Noradrenalin-WA-H.,SDNRI Bupropion(Wellbutrin4,) NAundDopamin(D) WICHTIGESEDIERENDEANTIDEPRESSIVA,BEI SCHLAFSTÖRUNG,ZURAUGMENTATION Substanzklasse Beispiele NaSSA,Alpha2-Antagonisten,noradrenergeund spezifischserotonergeAn5depressiva(NaSSA) Mianserin,Mirtazapin(Remeron®) ! Mirtazapin DiebesteschlafförderendeWirkungwirdvermutlichmit 7.5mgerreicht,an5depressiverEffekt30-45mg SARI,SSRI+5-HT2-Antagonist Trazodon(Trioco®) Reinsedierendbei25-150mg,an5depressiverEffektbei 150mg-600mg AuchfürMonotherapiegeeignet! UNTERSCHIEDLICHEPHARMAKOLOGISCHE EIGENSCHAFTENBEITRAZODON,JENACHDOSIS InniedrigenDosenRezeptor-Antagonnist,inhohenDosenzusätzlichSerotoninWiederaufnahme-Hemmer Quelle:Stahlonline.cambridge.org NEUEANTIDEPRESSIVA1 Agomela\n(Valdoxan®): „Ersatzmelatonin“ Re-Sekngcircadianer Rhythmen,zusätzlichwirksam anserotonergenRezeptoren (2C-Blocker),noradrenergund dopaminerg SchlafverbesserndesAn5depressivum Quelle:Stahlonline.cambridge.org NEUEANTIDEPRESSIVA2 Vor\oxe\n(Brintellix®)(CH 9/2016) Mul\-modalesAn\depressivum „Vor5oxe5neactsviaallthreemodes withacombina5onoffive pharmacologicac5ons:reuptake blockingmode(SERT),G-protein receptormode(5HT1Aand5HT1B/D par5alagonist,5HT7antagonist),and ion-channelmode(5HT3antagonist). Inanimalmodelsvor5oxe5ne increasesthereleaseoffivedifferent neurotransmiuers:notonlytriple monoamineac5onon5HT,NE,and DArelease,butalsoincreasesinthe releaseofacetylcholineand histamine.” • Güns5gesNebenwirkungsspektrum(häufiger NauseaalsunterSSRI) • SeltenersexuelleDysfunk5on • Kogni5onssteigerndeEffekte Quelle:Stahlonline.cambridge.org Evidenzbasierteundpraxisorien5erteBetrachtung 5WAHLDESANTIDEPRESSIVUMS EVIDENZBASIERTEBETRACHTUNG • Alle Antidepressiva wirken gleich gut • Erhöhung der Dosis bei SSRI erhöht nicht die Wirksamkeit • Antidepressiva haben keinen Einfluss auf Suizidalität (Einige Studien zeigen, dass initial die Suizidrate erhöht ist) EVIDENZBASIERTEBETRACHTUNG • Die Wirksamkeit der Antidepressiva ist geringer als ursprünglich gedacht • Number needed to treat (NNT) • 80er Jahre: NNT 4-8, aktuell: 10-20 • Das liegt im Wesentlichen an der hohen PlaceboResponse in klinischen Studien • Schwere Depressionen zeigen ein besseres Ansprechen auf Medikamente als leichte DEFINITIONNNT&NNH • Number needed to treat – Wie viele Pat. müssen das Medikament einnehmen, damit mit Sicherheit ein Patient durch das Medikament profitiert? Number needed to harm – Wie viele Pat. müssen das Medikament nehmen, damit einer mit Sicherheit eine unerwünschte Nebenwirkung durch das Medikament erfährt? z.B. Citalopram 4-30 Praxis–Leitlinienempfehlung,z.B.S3Leitlinie Aus:S3-Leitlinie,In:Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kund Stufentherapie Praxis–RemissionsratenundTherapieresistenz Quelle:Stahlonline.cambridge.org Aus:S3-Leitlinie,In:Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kund Stufentherapie Fs.Aus:S3-Leitlinie,In:Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kund Stufentherapie DOSISSTEIGERUNG Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kund Stufentherapie KOMBINATIONSTHERAPIE Cave! • Kombina5onMAO-HemmermitSSRIistkontraindiziert • hemmendeWirkungvonFluoxe5n,FluvoxaminundParoxe5naufdas Cytochrom-P450-System. Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kundStufentherapie Bschor:ChronischeundtherapieresistenteDepression,Diagnos5kundStufentherapie Allgemeineprak5scheTipps • • • • • FokusaufeineHandvollAn5depressiva KenntnisdesNebenwirkungsspektrums EinhaltungderAlgorithmen Geduld(ZIELDOSIS!)undZuversicht ShareddecisionmakingmitPa5entenvor BeginnderTherapie PRAXIS:INTENTIONENFÜRDIEWAHLDES ANTIDEPRESSIVUMS 1NachdervorherrschendenSymptoma5k 2AnhandderNebenwirkungen/zuvermeidende Nebenwirkungen 3Subgruppen PRAXIS:INTENTIONENFÜRDIEWAHLDES ANTIDEPRESSIVUMS 1NachdervorherrschendenSymptoma5k z.B.SSRIbeiStörungderImpulskontrolle/Angst z.B.BupropionbeiMüdigkeit,Erschöpfung z.B.NaSSAoderSARIbeiSchlafstörung PRAXIS:INTENTIONENFÜRDIEWAHLDES ANTIDEPRESSIVUMS 2AnhandderNebenwirkungen/zuvermeidende Nebenwirkungen UnmiuelbareNebenwirkungen(wenigeTage)lassen sichnichtvermeiden!(z.B.Nausea,Schwitzen,Unruhe): Esgehtvorbei,Geduld!!! Langzeit-Nebenwirkungen: BeisexuellerDysfunk5on:BupropionoderMirtazapin BeiGewichtszunahme/Angstdavor:Bupropion,NaSSA vermeiden BeiSedierung:sedierendeMedikamentevermeiden, Bupropion PRAXIS:INTENTIONENFÜRDIEWAHLDES ANTIDEPRESSIVUMS 3Subgruppen z.B.atypischeDepression(Hypersomnie, Gewichtszunahme) z.B.postmenopausaleFrauen z.B.ältereMenschenmitPolypharmazie PRAXIS:INTENTIONENFÜRDIEWAHLEINES/DES ANTIDEPRESSIVUMS:ALTER An\depressivawirkenambestenimmitlerenErwachsenenalter! Quelle:Stahlonline.cambridge.org VERORDNUNGSPRAXIS:Jeälter,destomehrMedikamente? AusgewählteBehandlungsformenbeiambulanterDiagnosevonDepressionen erstesQuartal2004,GEK-Daten,weiblicheVersicherte DILEMMATA • • • • Wannansetzen,wannwarten SchwangerschaoundS5llzeit Ältere,mul5morbidePa5enten(80+) Wannundwieabsetzen?(Empfehlungmind. 6-12MonatenachRemission Erhaltungstherapie) ALTERNATIVENZURPHARMAKOTHERAPIE HoheWirksamkeit. Ist Pharmakotherapie bei therapierefraktärer Depression überlegen. EKT Lichttherapie, bes. bei saisonaler Depression Nichtpharmakologische, biologische Therapien der Depression Schlafentzug L-Thyroxin als „Augmentation“ bei Depression/ Phasenprophylaxe AUSBLICK:PHARMAKOTHERAPIEDERDEPRESSION • • • • NeueMechanismen SubtypenvonDepressionen Subgruppen(z.B.ältereMenschen,Frauen) PersonalisierteAnsätze,z.B.Gentests NEUESINDERSUCHTTHERAPIE • Nalmefen(Selincro®)–erstesMedikamentmitdem ZielderTrinkmengenreduk5on,mussmit Verhaltenstherapiekombiniertwerden • RetardiertesMorphin • Pharmakogene5scheAnsätze:personalisierte Medizin(Opioid-Rezeptor-GenPolymorhismus) • MedikamentefürTabakabhängigkeitsolltenin Kombina5onmitVerhaltenstherapeiangeboten werden(Entwöhnungprogramm) • VielenDankfürIhreAufmerksamkeit!