Arzneimittel im Alter Probleme und Lösungsmöglichkeiten LSVB Bezirk Schwaben Bezirksversammlung Augsburg Vortrag 16. März 2016 Dr. Jens Schneider Was ist der Hintergrund? • FQA in München stellt fest: 50% aller Heimbewohner bekommen sedierende Pharmaka (2014) • Weitere 10% erhalten zusätzlich eine sedierende Bedarfsmedikation • Die medikamentöse Sedierung ohne therapeutischen Zweck wird selten als freiheitsentziehende Maßnahme eingestuft • Das Bewusstsein über die Themenfelder Nebenwirkungen, Wechselwirkungen, Suchtpotential ist grundsätzlich zu wenig ausgeprägt • Ein paar Daten zum Problem • Was ist bei Arzneimitteln und älteren Menschen zu beachten • Welche Auswirkungen hat das auf die Arzneimitteltherapie • Lösungsansätze Bevölkerungsentwicklung in Deutschland Ein paar Zahlen … • Patienten über 65 Jahre – 48 % > 2 chron. Erkrankungen – 21 % > 4 chron. Erkrankungen • Über 60-Jährige (ca. 25 % der Gesamtbevölkerung) – Mehr als 50 % des GKV-Arzneimittelumsatzes – Etwa 3 Arzneimittel pro Tag • Jeder Dritte zwischen 75 und 80 Jahren > 8 Arzneimittel / Tag Anderson 2002 Schwabe U., Paffrath D. (Hrsg): Arzneiverordnungs-Report 2007. Springer Medizin Verlag, Heidelberg (2007) Die gesundheitliche Situation • Etwa 80% der über 60-Jährigen leiden an mindestens einer chronischen Krankheit Erkrankung Häufigkeit Arthritis 70% Hypertonie 45% Herzerkrankungen 21% Diabetes 12% Quelle: McLean & LeCouteur 2004 Die gesundheitliche Situation Geriatrische Syndrome • Verwirrtheitszustände • Depressive Verstimmung • Stürze • Orthostasestörung • Obstipation • Inkontinenz Foto: Pixelio.de • Ein paar Daten zum Problem • Was ist bei Arzneimitteln und älteren Menschen zu beachten • Welche Auswirkungen hat das auf die Arzneimitteltherapie • Lösungsansätze (auch bei Demenz) Warum Arzneimittel im Alter anders wirken - Beispiele § § § § Organe und deren Zellen reagieren weniger empfindlich Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse gehen zurück Aktivität von Enzymen nimmt ab Hormonelle Veränderungen Dies bewirkt unter anderem § Veränderte Aufnahme, Verteilung, Umwandlung und Ausscheidung von Nahrungsmitteln und Arzneimitteln Ausscheidung über die Niere Die Niere Veränderungen im Alter • Anzahl der Nierenzellen ê • Nierengewicht ê • Pathologische Veränderungen é Folge: Entgiftungsleistung der Niere stark vermindert Abbau in der Leber Die Leber Veränderungen im Alter • Anzahl der Leberzellen ê • Lebergewicht ê • Pathologische Veränderungen é Folge: Ausscheidung über die Leber verändert Veränderte Körperzusammensetzung im Alter Veränderung im Alter Fettgewebe é Muskelmasse ê Gesamtkörperwasser ê Wie sich der Arzneistoff im Körper verteilt Fettlösliche Stoffe Bsp.: • Psychopharmaka – Sedativa/Hypnotika – Antidepressiva – Antipsychotika • Amoxicillin • Furosemid Können länger wirken Wasserlösliche Stoffe Bsp.: • Enalapril • Phenazon • Lorazepam • Thyroxin Können stärker wirken Veränderte Arzneimittelwirkungen im Alter § Empfindlicher für Benzodiazepine, Neuroleptika, Antidepressiva § Unempfindlicher gegen Beta-Rezeptorenblocker § Stärkere Wirkung von Bluthochdruckmitteln, Entwässerungsmitteln, Schmerzmitteln § Entgegengesetzte (paradoxe) Wirkung von Benzodiazepinen • Ein paar Daten zum Problem • Was ist bei Arzneimitteln und älteren Menschen zu beachten • Welche Auswirkungen hat das auf die Arneimitteltherapie • Lösungsansätze (auch bei Demenz) Arzneimittelproblematik im Alter • Evidenzbasierte Medizin in der Geriatrie schwierig • Arzneimittelbezogene Probleme und Interaktionen im Alter ca. 5 mal häufiger • Multimedikation • Potentiell inadäquate Medikation beim alten Menschen (Priscus-, Forta- und Stopp-Liste) Wichtige arzneimittelbezogene Probleme bei älteren Menschen Studie in Pflegeheimen in NRW 2008 • Sturzrisiko durch Psychopharmaka oder blutdrucksenkende Mittel • Magendarmblutungen durch entzündungshemmende und (oder) blutverdünnende Mittel • Appetitlosigkeit, Verstopfung und Übelkeit als Arzneimittelnebenwirkung • Verwirrtheit als Arzneimittelnebenwirkung • Allergische Reaktionen auf Antibiotika Wichtige arzneimittelbezogene Probleme bei älteren Menschen • Benommenheit durch Psychopharmaka • Fehlen einer adäquaten Schmerztherapie • Patient kann sein Arzneimittel nicht richtig anwenden Resümee für ältere Menschen: Sowenig Medikamente wie möglich aber soviel wie nötig! Ursachen für hohen Arzneimittelverbrauch im Alter • Multimorbidität (mehrere chronische Erkrankungen) • Polypragmasie (Behandlung durch mehrere Ärzte + Selbstmedikation) – Kommunikationsprobleme • Ungenaue Diagnosen, unklare Indikationen • Nicht-Beendigung von Therapien MULTIMEDIKATION Verschreibungskaskaden UAW Verordnung Diagnose: neue Erkrankung Verordnung UAW Diagnose: neue Erkrankung Verschreibungskaskaden Hoher Blutdruck UAW ACE-Hemmer Verordnung Reizhusten Hustenreizstiller Verstopfung Abführmittel Kaliumverlust Kaliumpräparat Multimedikation Diagnose: neue Erkrankung Verordnung UAW Diagnose: neue Erkrankung Interaktionen Die Gefahr steigt mit: è der Zahl gleichzeitig eingenommener Medikamente1 è Alter der Patienten2 è Anzahl verschreibender Ärzte3 è Anzahl der Apotheken3 1) Seymour et al., Drugs Aging. 1998 Jun; 12 (6): 485 2) Dormann et al., Drug Saf. 2003; 26 (5): 353 3) Becker et al. Drug Saf. 2005; 28 (5):371 Interaktionsbeispiele Marcumar zur Blutverdünnung ß-Sympathomimethika (Asthmamittel) Antidementiva Antibiotika (Makrolide) Schilddrüsenhormone Aspirin ß-Blocker (Augentropfen!!!) Anticholinerg wirkende Arzneimittel Cholesterinsenkende Mittel (Statine) Calcium, Eisen, Aluminium Potentiell inadäquate Medikation für ältere Menschen www.priscus.net HELIOS Klinikum Wuppertal Die Priscus Liste • Erarbeitet zur Verbesserung der AMTS bei älteren Menschen • Umfasst derzeit 83 potentiell inadäquate Wirkstoffe • Erläutert Risiken und therapeutische Alternativen • Beschreibt Maßnahmen, wenn das AM trotzdem verwendet werden soll • Beschreibt zu vermeidende Begleiterkrankungen Ist die Priscus-Liste relevant? Untersuchungen zeigen: • 40% von Pflegeheimpatienten nehmen mindestens ein PIM-AM ein • Ambulant betreute Patienten: 20% ein PIM-AM, 9% zwei und mehr • Die Liste ist für jedermann zugänglich • Ein paar Daten zum Problem • Was ist bei Arzneimitteln und älteren Menschen zu beachten • Welche Auswirkungen hat das auf die Arzneimitteltherapie • Lösungsansätze 5 Punkte, um den Einsatz von PIM, Sturzrisiko und UAW zu reduzieren 1. Ansetzen eines neuen Arzneimittels – wenn: „Start low, go slow“ • Vorsicht: Polymedikation • Vorsicht: Dosierung • Vorsicht: Anticholinerge Nebenwirkungen wie z.B. Mundtrockenheit, Verstopfung, Harnverhalten, Tachykardie , Blutdruckanstieg, Unruhe, Angst....... bei Antidepressiva, Neuroleptika, Cetirizin, Diphenhydramin Nach „GERAS-Das UKE-PIM-Tool“ B.Wickop et. al. 5 Punkte, um den Einsatz von PIM, Sturzrisiko und UAW zu reduzieren 2. Sturz unter blutdrucksenkender Medikation • Überprüfung der Therapie, Blutdruckmessen auch im Stehen 3. Sturzrisiko durch Hypnotika und Psychopharmaka • Absetzen oder Dosisreduktion Nach „GERAS-Das UKE-PIM-Tool“ B.Wickop et. al. 5 Punkte, um den Einsatz von PIM, Sturzrisiko und UAW zu reduzieren 4. Schlafstörungen • Reduktion der Sturzgefährdung durch Dosisreduktion • Zopiclon ist bei älteren Patienten günstiger als Benzodiazepinen und Antihistaminika • Zopiclon 3,75 mg empfohlen für kurze Zeit Nach „GERAS-Das UKE-PIM-Tool“ B.Wickop et. al. 5 Punkte, um den Einsatz von PIM, Sturzrisiko und UAW zu reduzieren 5. Wenn Schmerzmittel vom NSAR-Typ, dann mit Magenschutz • Magenschutz z.B. Protonenpumpenhemmer (PPI) • Kurzfristige Gabe auch ohne Magenschutz • NSAR und PPI gemeinsam absetzen Nach „GERAS-Das UKE-PIM-Tool“ B.Wickop et. al. Grundsätze der Arzneimitteltherapie im Alter • Strenge Indikationsstellung • Vollständige und regelmäßige Arzneimittelüberprüfung: einmal im Jahr mit dem Hausarzt • Berücksichtigung der Besonderheiten bei älteren Menschen • Niedrige Anfangsdosis, langsame Dosissteigerung • Multimedikation vermeiden • Auslass- und Absetzversuche (Arzt!) • Achten auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen • Aufklärung, Information und Beratung • Einfache Anwendung, ggf. Applikationshilfen • Abwägung: Lebensverlängerung oder Lebensqualität Teamwork Betreuer Angehörige Pflegekräfte Patient Apotheker Facharzt Krankenhaus Hausarzt Kommunikation Bringt Teamwork etwas? • DIAS-Studie (DGGPP 2008) Kommunikation zwischen Arzt und ambulanten Pflegediensten ausbaufähig, Pflegedienste sind dazu bereit • IDA-Studie (AOK BV, AOK Bayern, Eisai, Pfizer 2010) Zusammenarbeit von Hausarzt und Beratungsstellen vermitteln Betroffene und Angehörige schneller zu Hilfeeinrichtungen • AMTS-Studie in Alten- und Pflegeheimen (P.Thürmann, U.Jaehde 2009/2010) Multidisziplinärer Ansatz ist machbar, Hausärzte müssen noch besser eingebunden werden Verbesserung der AMTS bei Alten- und Pflegeheimbewohnern • Multiprofessioneller Ansatz (Arzt, Apotheker, Pflegekräfte) ist machbar • 80 % der arzneimittelbezogenen Probleme konnten gelöst werden • Die Dauermedikation konnte von 8 auf 6 Arzneimittel gesenkt werden • Die Kostenreduktion betrug über 20% • Ein zeitlicher Mehraufwand ist zu erwarten I.Waltering , LIGA-NRW 2011 Patienten und Angehörige müssen auch aktiv werden!!!! • Ich muss die Arzneimittel einnehmen • Ich muss die Nebenwirkungen- und Wechselwirkungen aushalten • Ich möchte über meine Therapie Bescheid wissen • Bei Multimedikation (mehr als 5 AM) jährliche Überprüfung einfordern • Ich kann einen eigenen Beitrag leisten Tipps für eine sicheren Arzneimitteltherapie • Führen Sie eine Liste aller Arzneimittel, die Sie derzeit einnehmen bzw. anwenden. • Legen Sie die Liste bei jedem Arztbesuch vor und bei einem Klinikaufenthalt. • Zeigen Sie die Liste auch, wenn Sie in der Apotheke ein Rezept einlösen oder ein Arzneimittel ohne Rezept kaufen. • Hinweise zur Einnahme bzw. Anwendung beachten. • Achten Sie darauf, ob neue Beschwerden auftreten. Tipps für eine sicheren Arzneimitteltherapie • Akute Erkrankung und Dauertherapie: was ist zu tun? • Bitte beachte Sie: Arzt und Apotheker sind in vielen Fällen gesetzlich verpflichtet, Ihnen bei gleichem Wirkstoff ein preisgünstiges Arzneimittel zu verordnen bzw. abzugeben. Fragen Sie nach! • Haben Sie alle Informationen bei Arzt und Apotheker richtig verstanden? Quelle: www.ap-amts.de „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“ Franz Kafka Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Quellen für diesen Vortrag • „Arzneimittel im Alter“ von Thomas Uhrhan März 2010 Herausgeber: ABDA Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände • „Arzneimitteltherapiesicherheit in Alten- und Pflegeheimen“ 3. Deutscher Kongress für Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie Berlin Juni 2010 • „Medikationsmanagement bei geriatrischen Patienten“ Dr. Nina Griese Potsdam April 2010 • „Arzneimitteltherapie für Ältere“ Wehling, Burkhardt, Springer-Verlag 2010 • Fachtagung „Arzneimittelversorgung von Heimbewohnern“ J.Kruse, I. Waltering Düsseldorf 25./26.5.2011 • Arzneimittelversorgung und Arzneimittelsicherheit in stationären Pflegeeinrichtungen, T. Uhrhan, M. Schäfer, Bundesgesundheitsblatt 2010, 53: 451-459 • Opi und die vielen Pillen: DocCheck News 4.2.2014