Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Anteilen

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Chronische Schmerzen mit somatischen
und psychischen Anteilen (F45.41) –
Eine neue Beliebigkeitsdiagnose oder
näher an der Realität?
Psychosomatik
Dr. med. Andreas Linde
Das Leid mit den somatoformen Störungen
•  Unscharf gefasst: z. B. MUS, Abgrenzung zu anderen
psychischen Störungen wie z. B. Angst, Depression
•  Wirklich nur psychisch?
•  Zeitlich Instabilität einzelner Symptome
•  Wirklich nur eine Störung?
•  Hohes Eingangskriterium: Der unbekehrbare Patient
•  Geringe Akzeptanz bei Patienten, Ärzten u. Versicherungen
•  Was fange ich denn jetzt damit an?
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Was ist eigentlich Somatisierung?
W. Stekel (1908) „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“:
Psychische Konflikte werden in körperlichen Distress
überführt über einen ‚Konversionsmechanismus‘!
KW Bridges & DP Goldberg (1985) „Somatic presentation of DSM-III
psychiatric disorders in primary care“ (J. Psysom. Res.): Typische
Präsentationsform einer genuin psychiatrischen
Störung innerhalb des primären medizinischen
Versorgungssektors!
Lipowski ZJ (1988) „Somatization. The concept and its clinical
application“ (Am J. Psychiatry): Krankheitsverhalten das eine
vorübergehende oder anhaltende Tendenz beinhaltet,
psychosozialen Stress in der Form von körperlichen
Symptomen wahrzunehmen und zu kommunizieren und
hierfür um medizinische Hilfe nachzusuchen!
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Je aktueller die Definition umso komplizierter
wird die Sache
Kellner R (1990) „Somatization, theories and research“. J Nerv
Ment. Dis.: Somatisierung stellt weder eine diskrete
klinische Identität dar, noch resultiert sie aus
einem einheitlichen pathologischen Prozess. Es
ist Aufgabe einer sorgfältigen Diagnostik, die
Beziehung von „Somatisierung“ zu einer
definierten psychiatrischen Störung und/oder
einer psychosozialen Problematik zu klären.
Pathogenetisch ist „Somatisierung“ jeweils
innerhalb eines multimodalen Bedingungssystems
zu analysieren.!
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Wer somatisiert hier eigentlich?
•  Obwohl Patienten bereits sehr früh Hinweise auf
psychosoziale Belastungen geben, gehen viele Ärztinnen
und Ärzte nicht darauf ein, sondern verfolgen ausschliesslich
eine somatische Agenda.
•  Die Ursachen liegen – zumindest am Anfang – weniger in der
Psychopathologie eines Patienten, sondern in der Qualität
der Arzt-Patienten-Interaktion
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.40
•  Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und
quälender Schmerz,
•  der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche
Störung nicht vollständig erklärt werden kann.
•  Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder
psychosozialen Belastungen auf, die schwerwiegend genug sein
sollten, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können.
•  Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder
medizinische Hilfe und Unterstützung.
•  Schmerzzustände mit vermutlich psychogenem Ursprung, die im Verlauf
depressiver Störungen oder einer Schizophrenie auftreten, sollten hier
nicht berücksichtigt werden.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Kritik des Diagnose-Konzepts der somatoformen
Schmerzstörung (King SA, Strain Strain JJ1992)
•  Mangelhaft operationalisierte diagnostische Kriterien mit
einem zu hohen Interpretationsspielraum für den Anwender
•  Grosse Überlappung mit anderen diagnostischen
Kategorien wie z. B. der Somatisierungsstörung, den
depressiven oder Angststörungen
•  Problematische Bestimmung eines exzessiven
Schmerzerlebens im Hinblick auf vorliegende
Organbefunde
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Kritik des Diagnose-Konzepts der somatoformen
Schmerzstörung (King SA, Strain JJ 1992)
•  Problematische Bestimmung einer „fehlenden Organpathologie“ oder
eines „pathophysiologischen Mechanismus“ als Erklärungsbasis für den
Schmerz bei der Möglichkeit einer unzureichenden diagnostischen
Beurteilung oder eines klinischen Verlaufs noch unter der Schwelle der
objektiven Nachweisbarkeit,
•  Ausschluss von Patienten mit einer dysfunktionalen Schmerzreaktion
auf eine organische Läsion,
•  Ungerechtfertigte Vorgabe einer eigenständigen Schmerzform durch die
Qualifikation „somatoform“,
•  Einengung auf Chronizität durch ein 6-Monats-Kriterium und damit
Ausschluss von akuteren Schmerzformen, bei denen ebenfalls
psychologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen können.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Der wissenschaftliche Fortschritt schläft nicht
•  ICD-10 und DSM-IV-Diagnosen sind aus den 80er Jahren
und mittlerweile „uralt“
•  Die Dichtomie psychogen vs. somatogen ist nicht mehr
gerechtfertigt
•  Schmerz ist immer ein Erlebnis, d. h. er spielt sich in der
Sphäre von Wahrnehmung und Verarbeitung ab und wird
stark von Erfahrungen und Erwartungen geprägt
•  Schmerzerleben ist überwiegend eine Sache des Gehirns
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Anteilen
Vorstellungen von denen man sich wohl hier
trennen muss."
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René Descartes
1596-1650
Wilhelm Dilthey
1833-1911
Res Cognitans vs. Res Extensa
Geistiges geht aus Geistigem hervor
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Schmerz sozialer Ausgrenzung wird dort verarbeitet,
wo auch körperlicher Schmerz verarbeitet wird
(Eisenberger N, Lieberman M, Science 2003)
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
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Funktionelle Bildgebung der Placeboanalgesie
(Qui et al 2009, Zubieta 2008)
Placeboanalgesie induziert
•  eine verminderte neuronale Aktivität im ACC, Inselrinde,
Thalamus und Hirnstamm, einschliesslich PAG und
ventromedialer Medulla Oblongata
•  das endogene Opioid-System und die Aktivierung des µOpiodrezeptorsystems scheinen den Effekt zu vermitteln
•  PET-Studien mit Dopanin D2/D3-Rezeptor-Tracern zeigten eine
erhöhte Aktivierung des Ncl. Accumbens und der Basalganglien
•  die Aktivierung geschieht in Abhängigkeit der Erwartung, dass
die Analgesie helfen wird
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Prädiktoren für die Chronifizierung von
Schmerzen (Waddell 1998)
•  Dysfunktionale kognitive Bewertungen („Schmerz muss
vollständig verschwinden; Ich kann meine Schmerzen
nicht beeinflussen; ich bin hilflos“)
•  Vermeidungsverhalten, Schonverhalten, Klageverhalten
•  AU-Tage; berufliche Unzufriedenheit; keine Anreize für
Rückkehr an Arbeitsplatz
•  Widersprüchliche ärztliche Diagnosen; dramatisierende
Arzt-Erläuterung
•  Emotionen: „Fear of pain“; depressive Stimmung;
Reizbarkeit
•  Fehlende oder inadäquate soziale Unterstützung
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Chronische Schmerzen mit psychischen und
somatischen Anteilen F45.41 (Rief et al. 2009)
•  Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens 6 Monaten
bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen,
•  die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer
körperlichen Störung haben.
•  Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad,
Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen,
jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn.
•  Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
Funktionsbereichen.
•  Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht (wie bei der
vorgetäuschten Störung oder Simulation).
•  Schmerzstörungen insbesondere im Zusammenhang mit einer affektiven, Angst-,
Somatisierungs- oder psychotischen Störung sollen hier nicht berücksichtigt werden.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Wie sollten Sie diagnostizieren? (Nilges, Rief 2010)
Der ursprünglich auslösende somatische Faktor
-  wurde diagnostiziert (Bsp.: Herpes Zoster,
Bandscheibenvorfall mit passender Schmerzlokalisation)
-  wurde aufgrund von Anamnese und Untersuchung
identifiziert (Bsp.: Muskelhartspann bei Lumbago), oder
-  entspricht einem bekannten Krankheitsbild, bei dem
positive Befunde nicht bekannt sind (Bsp.: Migräne,
Kopfschmerz vom Spannungstyp)
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
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Wie sollten Sie diagnostizieren? (Nilges, Rief 2010)
Genau zu identifizierende aufrechterhaltende psychische
Faktoren. Mindestens 2 der nachfolgenden Kategorien
müssen vorliegen:
-  Stress und Belastungssituationen ggf. in Verbindung mit
ungünstigen Verarbeitungsprozessen führen zur
Beeinflussung des Schmerzerlebens
-  schmerzbezogene Angst (ohne dass eine Angststörung
vorliegt) führt auf der Verhaltensebene zu Passivität,
Schonung und Fehlhaltungen
-  Dysfunktionale Durchhaltestrategien
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Wie sollten Sie diagnostizieren? (Nilges, Rief 2010)
-  Maladaptive Kognitionen: Gedankliche Einengung auf das
Schmerzerleben, Katastrophisieren von
Körperempfindungen und Krankheitsfolgen, Grübeln über
schmerzassoziierte Inhalte, rigide Attribution der Ursachen
auf organische Faktoren
-  Ausgeprägte emotionale Belastungen (z. B. Verzweiflung,
Demoralisierung) sind nachweisbar. Sind Kriterien einer
Angststörungen oder Depressionen erfüllt, so sind diese
Diagnosen daneben zu kodieren. ACHTUNG: Schmerzen,
die nur unter Angst u. Depression auftreten dürfen nicht
ubnter F45.41 kodiert werden
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
Anteilen
Wie sollten Sie diagnostizieren? (Nilges, Rief 2010)
- Familiäre, soziale und existenzielle Konsequenzen: Die
Überzeugung, körperlich nicht mehr belastbar zu sein, hat
zu veränderten Rollen in der Familie geführt, ist mit
reduzierten Kontakten im Freundeskreis (sozialer
Rückzug) und zunehmenden Problemen im Beruf
(Krankschreibung, Kündigung, vorzeitige Berentung)
verbunden.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
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Differentialdiagnosen
•  Schmerzen ohne Krankheitswert
•  Akute Schmerzsyndrome
•  Chronische rein körperlich bedingte Schmerzsyndrome
•  Depression
•  Angststörungen
•  Andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem
Schmerzsyndrom (R82.80)
•  Psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei
anderenorts klassifizierten Krankheiten (F54)
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• 
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Differentialdiagnose anhaltende somatoforme
Schmerzstörung
•  Hierbei liegt ein primärer psychischer Faktor vor, der für
die Auslösung der Schmerzsymptomatik identifiziert
werden kann.
•  Sind an der Auslösung auch körperliche Faktoren
substanziell beteiligt, so ist die Diagnose F45.41 zu
verwenden.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
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Differentialdiagnose (undifferenzierte)
Somatisierungsstörung (F45.0 bzw. F45.1)
•  Auch bei diesen Störungen treten häufig Schmerzen auf.
•  Sie stellen jedoch ein Symptom unter mehreren dar und
stehen in der Regel nicht im Vordergrund.
•  Auch bei bestehender Somatisierungsstörung kann
zusätzlich noch eine chronische Schmerzstörung (F45.41)
bestehen und muss dann auch kodiert werden.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
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Psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei
anderenorts klassifizierten Krankheiten (F54)
•  Bei der Diagnose F54 sind die psychischen Störungen
meist leicht bis mittelstark ausgeprägt und rechtfertigen
nicht die Zuordnung zu einer der anderen Kategorien des
Kapitels V.
•  Im Unterschied zu solchen Einflussfaktoren kommt den
psychischen Faktoren bei der F45.41 eine zentrale
Stellung für die Chronifizierung zu, in Verhalten,
Kognitionen, Emotionen und Veränderungen
psychosozialer Bedingungen.
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F45.41: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen
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A Cost Utility Analysis of Interdisciplinary Early Intervention Versus
Treatment as Usual For High-Risk Acute LowBack Pain Patients
(Rogerson MD et al. 2009)
The majority of 1,000 ... samples demonstrated the
dominance of the early intervention program as being both
more effective and less costly from a societal perspective.
The early intervention treatment was the preferred option in
over 85% of samples within an established range of
acceptable costs. These results are encouraging evidence
for the costeffectiveness of interdisciplinary intervention
and the benefits of targeted early treatment.
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Zahl der Arzttermine sinkt drastisch im 1Jahres-Follow-up
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Deutlich weniger Krankheitstage im 1-JahresFollow-up
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Kosten-Nutzen-Analyse fällt zugunsten der
Frühinterventionen aus
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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