190 9 Diagnostik und differenzielle Therapieplanung Die Qualität innerer und äußerer Objektbeziehungen Die Frage nach der Qualität von Objektbeziehungen beinhaltet, welche Vorstellung ein Patient grundsätzlich von engen Beziehungen hat und inwieweit er in der Lage ist, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und zu respektieren. Werden Beziehungen als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung gesehen? Oder existiert ein Gefühl von gegenseitigem Geben und Nehmen? Eine stabile und integrierte Selbst- und Objektwahrnehmung, über die Patienten mit einer konsolidierten Identität verfügen, ist von der Fähigkeit getragen, die Bedürfnisse Anderer – unabhängig von den eigenen – zu berücksichtigen. Patienten mit konsolidierter Identität verfügen über die Fähigkeit zu gegenseitigem Geben und Nehmen, sie können zulassen abhängig von Anderen zu sein, aber auch, dass Andere von ihnen abhängig sind. Ihre zwischenmenschlischen Beziehungen zeichnen sich durch Stabilität und Dauerhaftigkeit sowie Vertrauen und Respekt für den Anderen als eigenständiges Individuum aus. Interpersonelle Störungen beschränken sich auf spezifische Konfliktbereiche. Im Rahmen einer Identitätsstörung jedoch ist die Vorstellung von Beziehung eng an die Frage der Bedürfnisbefriedigung geknüpft. Es steht weniger die Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen im Vordergrund als vielmehr die Überlegung, wie viel man bekommt und wie viel man gibt. Die Bedürfnisse Anderer können nur sehr schwer unabhängig von den eigenen Wünschen und Vorstellungen wahrgenommen werden. Im zwischenmenschlichen Bereich haben wir es in der Regel mit instabilen und oftmals chaotischen Beziehungen zu tun, die durch Misstrauen und Feindseligkeit sowie fehlende Intimität gekennzeichnet sind. Teil III Abwehr und rigide Persönlichkeitsstruktur Im Rahmen schwerer Persönlichkeitsstörungen kommt es infolge von Verzerrungen der Selbst- und Objektbilder sowie Spaltungsmechanismen zu Beeinträchtigungen auf der Verhaltensebene. Das interpersonelle Erleben ist verzerrt und instabil. Aus diesem Grund lassen sich Spaltungstendenzen, wie sie die Abwehr schwerer Persönlichkeitspathologie überwiegend kennzeichnen, während des diagnostischen Interviews relativ einfach erkennen. Die Polarisierung und Instabilität in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Widersprüchlichkeit einzelner Persönlichkeitsmerkmale (z. B. schüchterne Grundschullehrerin, die sich als Stripperin etwas dazu verdient), die häufig die Kernmerkmale einer schweren Persönlichkeitsstörung ausmachen, spiegeln ebenfalls die vorwiegend auf Spaltung basierende Abwehr des Patienten wider. Dies impliziert auch den Wunsch, das Gegenüber auf die eine oder andere Weise zu kontrollieren. Insbesondere projektive Identifizierung, omnipotente Kontrolle und Idealisierung/Entwertung können uns im Rahmen der Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung begegnen. Im Gegensatz dazu kann die Abwehr im Rahmen höher strukturierter Persönlichkeitsstörungen diagnostisch schwerer zu erfassen sein, da sie sich weniger unmittel- Das diagnostische Interview: Methodisches Vorgehen 191 bar im Verhalten des Patienten und/oder Erleben des Interviewers manifestiert. Von daher basiert unsere Diagnose eher auf Schlussfolgerungen als auf der unmittelbaren Beobachtung neurotischer Abwehrbewegungen in Verbindung mit rigiden Persönlichkeitsmustern. Wie in Kapitel 2 beschrieben, zeigen sich diese in wiederholten maladaptiven Verhaltensmustern, die dem Patienten nicht bewusst sind oder die zu ändern er nicht in der Lage ist (s. S. 28 ff.). Maladaptive Persönlichkeitsmuster – z. B. ein übermäßiges Bedürfnis zu gefallen oder zu kontrollieren – inszenieren sich in den Interaktionen des Patienten mit dem Interviewer. Ethisches Funktionsniveau Neben den Bereichen Identität und Abwehr umfasst eine genaue Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation auch das ethische Funktionsniveau des Patienten (Kernberg 2006a). In der Regel ist dieser Punkt bei Patienten mit höher strukturierten Persönlichkeitsstörungen weniger problematisch, da diese über ein relativ gut integriertes und stabiles internalisiertes Wertesystem verfügen. Pathologische Ausprägungen zeigen sich typischerweise als inflexible Charakterstruktur und sind durch eine Neigung zu übertriebener Selbstkritik und unangemessen hohe internalisierte Standards gekennzeichnet. Auf eine nachhaltige Beeinträchtigung des ethischen Funktionsniveaus – im Sinne unvollständig internalisierter Wertesysteme – treffen wir bei Patienten mit tiefgreifender Störung ihrer Identitätsbildung (Kernberg 2006a). Diese manifestiert sich als eine Kombination aus übermäßig harschen oder rigiden moralischen Forderungen einerseits und Ich-syntonen moralischen „Lücken“ oder Defiziten andererseits. Ein Beispiel: Ein offizieller Vertreter der Kirche stellt sich ganz in den Dienst Gottes und seiner Gemeinde, während er, ohne mit der Wimper zu zucken, Andere zu seinem persönlichen Vorteil ausnutzt. Die Pathologie des internalisierten Wertesystems eines Patienten spiegelt sich im Schweregrad seiner antisozialen Verhaltensmuster wider. In der Diagnose schwerer Persönlichkeitsstörungen stellt die Evaluierung des ethischen Funktionsniveaus einen wichtigen differenzialdiagnostischen und prognostischen Marker dar (Clarkin et al. 2008). Eine psychodynamisch orientierte Diagnostik basiert nicht allein auf dem, was ein Patient im Gespräch über sich berichtet. Sein Verhalten sowie die Art, wie er den Kontakt zum Interviewer gestaltet, fließen ebenso in die diagnostische Einschätzung mit ein wie das Gegenübertragungsempfinden des Therapeuten. Zu einem tieferen Verständnis der Persönlichkeitsorganisation und rigiden Charakterstruktur des Patienten gelangen wir über die Klärung des subjektiven Erlebens des Patienten (wenn seine Informationen vage, unklar oder offenkundig lückenhaft sind) sowie über die taktvolle Konfrontation mit Auslassungen und Widersprüchen. Dabei Teil III Das diagnostische Interview: Methodisches Vorgehen 192 9 Diagnostik und differenzielle Therapieplanung geht es immer auch um die Frage, wie der Patient selbst diese Diskrepanzen versteht und erlebt und welche zusätzlichen Informationen zu einer weiteren Klärung beitragen können. Da Konfrontationen für gewöhnlich die Abwehr des Patienten auf den Plan rufen – was sich auch im Kontakt zum Therapeuten niederschlagen wird – gilt es, die Reaktionen des Patienten diesbezüglich genau zu explorieren. Während der Patient aufgerufen ist, sein Verhalten und die zugrunde liegenden Beweggründe zu reflektieren, versucht der Therapeut, genau diese Reflektionsfähigkeit einzuschätzen. Das, was wir über das subjektive Erleben des Patienten erfahren, in Verbindung mit seinem Verhalten im Gespräch, erlaubt schließlich, Aussagen über die Persönlichkeitsorganisation des Patienten zu treffen. Das klinische Interview kann als Entscheidungsbaum mit unterschiedlichen Untersuchungsebenen konzeptualisiert werden (Abb. 9-1). Symptomatik, Funktionsniveau der Persönlichkeit und Persönlichkeitsorganisation Das strukturelle Interview Bei dem von Otto Kernberg (2006a) entwickelten strukturellen Interview handelt es sich um ein klinisches Interview, das von erfahrenen Therapeuten in etwa 90 Minuten durchgeführt werden kann. Es zielt darauf ab, Borderline-Persönlichkeitsorganisation und neurotische Persönlichkeitsorganisation auf der einen Seite sowie Symptome/Leidensdruck Funktionsbereiche/ dysfunktionale Bereiche Teil III Konsolidierung der Identität und Abwehroperationen neurotische Persönlichkeitsorganisation BorderlinePersönlichkeitsorganisation Ausmaß der Rigidität der Persönlichkeit ethisches Funktionsniveau/ Soziopathie fokale vs. nonfokale Behandlungsziele Aggression/ Impulsivität Abb. 9-1 Entscheidungsbaum für die diagnostische Einschätzung des Patienten.