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9 Diagnostik und differenzielle Therapieplanung
Die Qualität innerer und äußerer Objektbeziehungen
Die Frage nach der Qualität von Objektbeziehungen beinhaltet, welche Vorstellung
ein Patient grundsätzlich von engen Beziehungen hat und inwieweit er in der Lage
ist, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und zu respektieren. Werden Beziehungen als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung gesehen? Oder
existiert ein Gefühl von gegenseitigem Geben und Nehmen?
Eine stabile und integrierte Selbst- und Objektwahrnehmung, über die Patienten
mit einer konsolidierten Identität verfügen, ist von der Fähigkeit getragen, die Bedürfnisse Anderer – unabhängig von den eigenen – zu berücksichtigen. Patienten
mit konsolidierter Identität verfügen über die Fähigkeit zu gegenseitigem Geben
und Nehmen, sie können zulassen abhängig von Anderen zu sein, aber auch, dass
Andere von ihnen abhängig sind. Ihre zwischenmenschlischen Beziehungen zeichnen sich durch Stabilität und Dauerhaftigkeit sowie Vertrauen und Respekt für den
Anderen als eigenständiges Individuum aus. Interpersonelle Störungen beschränken sich auf spezifische Konfliktbereiche.
Im Rahmen einer Identitätsstörung jedoch ist die Vorstellung von Beziehung eng an
die Frage der Bedürfnisbefriedigung geknüpft. Es steht weniger die Gegenseitigkeit
von Geben und Nehmen im Vordergrund als vielmehr die Überlegung, wie viel
man bekommt und wie viel man gibt. Die Bedürfnisse Anderer können nur sehr
schwer unabhängig von den eigenen Wünschen und Vorstellungen wahrgenommen
werden. Im zwischenmenschlichen Bereich haben wir es in der Regel mit instabilen
und oftmals chaotischen Beziehungen zu tun, die durch Misstrauen und Feindseligkeit sowie fehlende Intimität gekennzeichnet sind.
Teil III
Abwehr und rigide Persönlichkeitsstruktur
Im Rahmen schwerer Persönlichkeitsstörungen kommt es infolge von Verzerrungen der Selbst- und Objektbilder sowie Spaltungsmechanismen zu Beeinträchtigungen auf der Verhaltensebene. Das interpersonelle Erleben ist verzerrt und
instabil. Aus diesem Grund lassen sich Spaltungstendenzen, wie sie die Abwehr
schwerer Persönlichkeitspathologie überwiegend kennzeichnen, während des
diagnostischen Interviews relativ einfach erkennen. Die Polarisierung und Instabilität in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Widersprüchlichkeit
einzelner Persönlichkeitsmerkmale (z. B. schüchterne Grundschullehrerin, die
sich als Stripperin etwas dazu verdient), die häufig die Kernmerkmale einer
schweren Persönlichkeitsstörung ausmachen, spiegeln ebenfalls die vorwiegend
auf Spaltung basierende Abwehr des Patienten wider. Dies impliziert auch den
Wunsch, das Gegenüber auf die eine oder andere Weise zu kontrollieren. Insbesondere projektive Identifizierung, omnipotente Kontrolle und Idealisierung/Entwertung können uns im Rahmen der Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung begegnen.
Im Gegensatz dazu kann die Abwehr im Rahmen höher strukturierter Persönlichkeitsstörungen diagnostisch schwerer zu erfassen sein, da sie sich weniger unmittel-
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bar im Verhalten des Patienten und/oder Erleben des Interviewers manifestiert. Von
daher basiert unsere Diagnose eher auf Schlussfolgerungen als auf der unmittelbaren Beobachtung neurotischer Abwehrbewegungen in Verbindung mit rigiden
Persönlichkeitsmustern. Wie in Kapitel 2 beschrieben, zeigen sich diese in wiederholten maladaptiven Verhaltensmustern, die dem Patienten nicht bewusst sind oder
die zu ändern er nicht in der Lage ist (s. S. 28 ff.). Maladaptive Persönlichkeitsmuster – z. B. ein übermäßiges Bedürfnis zu gefallen oder zu kontrollieren – inszenieren
sich in den Interaktionen des Patienten mit dem Interviewer.
Ethisches Funktionsniveau
Neben den Bereichen Identität und Abwehr umfasst eine genaue Einschätzung der
Persönlichkeitsorganisation auch das ethische Funktionsniveau des Patienten
(Kernberg 2006a). In der Regel ist dieser Punkt bei Patienten mit höher strukturierten Persönlichkeitsstörungen weniger problematisch, da diese über ein relativ gut
integriertes und stabiles internalisiertes Wertesystem verfügen. Pathologische Ausprägungen zeigen sich typischerweise als inflexible Charakterstruktur und sind
durch eine Neigung zu übertriebener Selbstkritik und unangemessen hohe internalisierte Standards gekennzeichnet.
Auf eine nachhaltige Beeinträchtigung des ethischen Funktionsniveaus – im Sinne
unvollständig internalisierter Wertesysteme – treffen wir bei Patienten mit tiefgreifender Störung ihrer Identitätsbildung (Kernberg 2006a). Diese manifestiert sich als
eine Kombination aus übermäßig harschen oder rigiden moralischen Forderungen
einerseits und Ich-syntonen moralischen „Lücken“ oder Defiziten andererseits. Ein
Beispiel: Ein offizieller Vertreter der Kirche stellt sich ganz in den Dienst Gottes und
seiner Gemeinde, während er, ohne mit der Wimper zu zucken, Andere zu seinem
persönlichen Vorteil ausnutzt. Die Pathologie des internalisierten Wertesystems
eines Patienten spiegelt sich im Schweregrad seiner antisozialen Verhaltensmuster
wider. In der Diagnose schwerer Persönlichkeitsstörungen stellt die Evaluierung des
ethischen Funktionsniveaus einen wichtigen differenzialdiagnostischen und prognostischen Marker dar (Clarkin et al. 2008).
Eine psychodynamisch orientierte Diagnostik basiert nicht allein auf dem, was ein
Patient im Gespräch über sich berichtet. Sein Verhalten sowie die Art, wie er den
Kontakt zum Interviewer gestaltet, fließen ebenso in die diagnostische Einschätzung mit ein wie das Gegenübertragungsempfinden des Therapeuten. Zu einem
tieferen Verständnis der Persönlichkeitsorganisation und rigiden Charakterstruktur
des Patienten gelangen wir über die Klärung des subjektiven Erlebens des Patienten
(wenn seine Informationen vage, unklar oder offenkundig lückenhaft sind) sowie
über die taktvolle Konfrontation mit Auslassungen und Widersprüchen. Dabei
Teil III
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9 Diagnostik und differenzielle Therapieplanung
geht es immer auch um die Frage, wie der Patient selbst diese Diskrepanzen versteht
und erlebt und welche zusätzlichen Informationen zu einer weiteren Klärung beitragen können. Da Konfrontationen für gewöhnlich die Abwehr des Patienten auf
den Plan rufen – was sich auch im Kontakt zum Therapeuten niederschlagen wird
– gilt es, die Reaktionen des Patienten diesbezüglich genau zu explorieren. Während
der Patient aufgerufen ist, sein Verhalten und die zugrunde liegenden Beweggründe
zu reflektieren, versucht der Therapeut, genau diese Reflektionsfähigkeit einzuschätzen. Das, was wir über das subjektive Erleben des Patienten erfahren, in Verbindung mit seinem Verhalten im Gespräch, erlaubt schließlich, Aussagen über die
Persönlichkeitsorganisation des Patienten zu treffen.
Das klinische Interview kann als Entscheidungsbaum mit unterschiedlichen Untersuchungsebenen konzeptualisiert werden (Abb. 9-1).
Symptomatik, Funktionsniveau der Persönlichkeit und Persönlichkeitsorganisation
Das strukturelle Interview
Bei dem von Otto Kernberg (2006a) entwickelten strukturellen Interview handelt
es sich um ein klinisches Interview, das von erfahrenen Therapeuten in etwa 90
Minuten durchgeführt werden kann. Es zielt darauf ab, Borderline-Persönlichkeitsorganisation und neurotische Persönlichkeitsorganisation auf der einen Seite sowie
Symptome/Leidensdruck
Funktionsbereiche/
dysfunktionale Bereiche
Teil III
Konsolidierung der Identität
und Abwehroperationen
neurotische
Persönlichkeitsorganisation
BorderlinePersönlichkeitsorganisation
Ausmaß der Rigidität
der Persönlichkeit
ethisches Funktionsniveau/
Soziopathie
fokale vs. nonfokale
Behandlungsziele
Aggression/
Impulsivität
Abb. 9-1 Entscheidungsbaum für die diagnostische Einschätzung des Patienten.
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