GERHARD ROTH GEHIRN UND PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN G. Roth, 2012 Wilhelm Griesinger (18171868) - einer der Begründer der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie: „Psychische Erkrankungen sind Erkrankungen des Gehirns!“ HYPOTHESE Psychische Erkrankungen beruhen auf strukturellen und funktionalen Störungen corticaler und subcorticaler limbischer Hirnzentren und ihrer Interaktion mit cortical-exekutiven Zentren (bes. präfrontaler Cortex) Psychische Erkrankungen werden verursacht durch eine Kombination genetisch-epigenetischer Vorbelastung (vornehmlich des serotonergen System), einer Schwächung der Stress-Achse, frühkindlicher Traumatisierung und negativer Erfahrungen in späterer Kindheit und Jugend. Eine erfolgreiche Psychotherapie sollte einhergehen mit einer sichtbaren Veränderung der gestörten Aktivität der limbischen Zentren und ihrer Interaktion. WICHTIGE SCHRITTE IN DER PSYCHONEURALEN ENTWICKLUNG DES KINDES • Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich, früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Beruhigungssystems (früh nachgeburtlich) • Entwicklung des Bindungssystems und des Motivationssystems (erste Lebensjahre) • Entwicklung des Impulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr) • Entwicklung von Empathie und Theory of Mind (3.-20. Lebensjahr) • Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3. – 20. Lebensjahr oder noch später) STRESS-VERARBEITUNGSSYSTEM Erste Stress-Reaktion: Adrenalin-Noradrenalin (Nebennierenmark, Locus coeruleus). Sekundenschnelle Erhöhung des Muskeltonus, der Reaktionsbereitschaft und der Aufmerksamkeit („Schreck“). Zweite Stress-Reaktion: Cortisol (Nebennierenrinde) Mobilisierung der metabolischen, physiologischen und psychischen Reserven. Dauert Minuten bis Stunden. Das Stressverhalten wird vorgeburtlich und früh-nachgeburtlich über das mütterliche Gehirn bzw. andere Umwelteinflüsse „eingestellt“ (Erhöhung und Erniedrigung der Zahl der Cortisolrezeptoren bes. in der Amygdala und im Hippocampus). „STRESS ACHSE“ CRF-ACTH-Cortisol-Rückkopplungsschleife zwischen Nebennierenrinde, Hypothalamus und Hippocampus Hypothalamus CRF + _ Hippocampus _ Hypophyse ACTH _ Glu+Min.R. + Nebennierenrinde Cortisol Cortisol Schädigung des Gehirns durch Traumatisierung in der Kindheit Untersuchung von Bremner et al. (American Journal of Psychiatry 2003) an 33 Frauen, davon 10 mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit und mit PTSD (A), 12 Frauen mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit ohne PTSD (B) und 11 Frauen ohne beides. Messung des Hippocampus-Volumens mit strukturellem MRI, Messung der HC-Aktivität während einer deklarativen Aufgabe mit PET Der HC von Gruppe A war um 16% verkleinert gegenüber dem von Gruppe B und um 19% verkleinert gegenüber Gruppe C. Besonders stark betroffen war der rechte HC (22% A vs. C). Bremner et al., 2003; Am. J. Psychiatry Volumenvergleich Hippocampus SEROTONERGES BERUHIGUNGSSYSTEM Serotonin (5-HT, entsteht in den Raphe-Kernen des Hirnstamms): Normale Funktion (1A-Rezeptoren): Regulation der Nahrungsaufnahme, Schlaf und Temperatur; Dämpfung, Beruhigung, Wohlbefinden. Mangel ruft Schlaflosigkeit, Depression, Ängstlichkeit, reaktive Aggression und Impulsivität hervor. Erhöhte Ängstlichkeit über Defizite im Transporter-Gen (5-HTT). Erhöhte Aggression über Defizite im MAO-A-Gen. 2A-Serotoninrezeptoren wirken dagegen offenbar impuls- und ängstlichkeitssteigernd. Der Serotonin- und der Cortisolhaushalt stehen in enger Verbindung POLYMORPHISMUS DES 5-HT-TRANSPORTER-GENS Canli und Lesch, Nature Neuroscience 2007 5-HTT-DNA Kurze und lange 5-HTT-PromoterRegion 5-HT-SYNAPSE Die kurze Variante des Serotonin-Transporter-Gens ist korreliert mit erhöhten Angststörungen, Depression und reaktiver Gewalt als Folge eines erhöhten Bedrohtheitsgefühls und verminderter Impulskontrolle. Science 2002 Caspi et al., Science 2002 Niedrige MAO-A-Aktivität, frühkindliche Misshandlung (drei Kategorien) und späteres antisoziales Verhalten (vier Kategorien) Verhaltensauffälligkeit Gewaltbereit -schaft Straffällig wg. Gewaltverbrechen Antisoziale Persönlichkeitsstörung BINDUNGSSYSTEM (Oxytocin-System) Die frühkindliche Bindungserfahrung ist die wichtigste Erfahrung in unserem Leben. Durch sie werden unser Selbstwertgefühl, unsere Emotionskontrolle und unsere erwachsene Bindungsfähigkeit bestimmt. EMPATHIESYSTEM Selbsterfahrener Schmerz (rot) und beobachteter Schmerz (blau) (Olsson und Ochsner, TiCS 12: 65-71 (2007) CORTICO-LIMBISCHES IMPULSHEMMUNGSSYSTEM (Glutamat, GABA) Erziehung und Erfahrung: Hemmende corticale Verbindungen, bes. vom orbitofrontalen, anterioren cingulären, temporalen und entorhinalen Cortex zur Amygdala Primär: Erregende Verbindungen der Amygdala zum Cortex, bes. zum präfrontalen, prämotorischen, insulären und entorhinalen Cortex EINGRIFFSMÖGLICHKEITEN FÜR PSYCHOTHERAPIE AUS SICHT DER NEUROBIOLOGIE 1. Veränderung der Wahrnehmung von Umweltereignissen mit emotionaler Valenz durch kognitiv-sprachliche Einwirkungen („kognitive Umstrukturierung“). Dadurch Stärkung der Kontrolle subcorticaler emotional-affektiver Zentren, insbesondere der Amygdala, durch den dorsolateralen präfrontalen und orbitofrontalen Cortex und Wiedererlangen des „Gleichgewichts“ zwischen kognitiven und emotionalen Zentren. Schwierigkeit: Geht nur in Verbindung mit der oberen und mittleren limbisch-emotionalen Ebene! 2. Reparatur „falsch konditionierter“ neuronaler Netzwerke in der Amygdala und in anderen subcorticalen limbischen Zentren durch positive Erfahrungen, Therapie. Schwierigkeit: Die Amygdala „lernt“ sehr gut in den ersten Lebensjahren und wird dann zunehmend resistent gegen weitere Veränderungen. Wahrscheinlich „vergisst“ die Amygdala nicht oder nur schwer traumatische Erlebnisse (Evidenz aus Tierversuchen). 3. Verbale und nichtverbal-emotionale Induktion des Entstehens von kompensatorischen Netzwerken in der Amygdala oder anderen limbischen subcorticalen Zentren. Diese reduzieren in unterschiedlichem Ausmaß den Zugriff der „falsch konditionierten“ Netzwerke auf die Verhaltenssteuerung und erhalten selbst einen solchen Zugriff. Der Erfolg einer Therapie hängt dann ab von der Stärke der „falschen Konditionierung“ amygdalärer Netzwerke, der individuellen Plastizität der Amygdala und anderer subcorticaler limbischer Zentren und der Art der Beeinflussung. GEHIRN UND DEPRESSION Populäres funktionales Modell der „kognitiven Kontrolle“: Depression beruht auf dem Zusammenbruch der kognitiven Kontrolle subcorticaler Zentren (vornehmlich der Amygdala) durch den dlPFC und den dACC). Deshalb müsste sich zu Anfang eine Verringerung dorsofrontaler und eine Erhöhung amygdalärer Aktivität zeigen, die sich nach erfolgreicher Therapie wieder zurückbildet. NEUROBIOLOGISCHE VALIDIERUNG VON PSYCHOTHERAPIEN Es gibt nur wenige Studien, die Psychotherapie-Effekte mit bildgebenden Verfahren untersucht haben, darunter keine Untersuchung zum Effekt psychodynamischer Therapien. Zwei neuere Überblicksarbeiten zum Forschungsstand funktioneller Bildgebung und Psychotherapie (Roffman et al., 2005; Linden, 2006) weisen auf weltweit ca. 15 Orginalarbeiten hin. Studien zu Depression Studie Therapie, Dauer Psychotherapie Patienten Kontrollen Bildgebung Brody et al. IPT, 12 (2001a) Wochen 14 MDD 10 MDD Paroxetine 16 HC Martin et al. (2001) 13 MDD 15 Venlafa- SPECT, xine resting state 14 MDD 13 Paroxetine, (6 Wochen) IPT, 6 Wochen Goldapple KVT, 20-30 et al. (2004) Wochen FDG-PET, resting state FDG-PET, resting state DEPRESSION: Mögliche Therapie-Effekte PFC (Goldapple et al., 2004; Brody et al., 2001a) Ventraler ACC (Brody et al., 2001a) Dorsal midCC (Goldapple et al., 2004) R posteriorer CC (Martin et al., 2001) R Basalganglien (Martin et al., 2001) Hippocampus (Goldapple et al., 2004) L temporaler Cortex (Brody et al., 2001) Therapie-Effekte bei Depression in bisherigen Studien Die Mehrheit der Studien finden bei Depressiven eine präfrontale Hypoaktivität, die bei Rückgang der Depression zurückgeht (Navarro et al. 2002). Dieser Effekt trat jedoch sowohl bei Pharmakotherapie als auch bei Verabreichung von Placebos auf. (Mayberg et al. 2002). Bei depressiven Patienten, die gut auf eine KVT oder eine IPT reagierten, ergab sich bei PET- und SPECT-Untersuchungen eine Aktivitätsverringerung im gesamten präfrontalen Cortex (Goldapple et al. 2004; Brody et al. 2001; Martin et al. 2001). Dies steht im eklatanten Gegensatz zum Modell der kognitiven Kontrolle. Fitzgerald et al. (2008): A meta-analytic study of changes in brain activation in depression (Human Brain Mapping 29:683-695). 28 Studien. Gemessen wurde (1) Ruhezustand, (2) Aktivierung bei Darstellung negativer oder positiver Darstellungen, (3) Effekt von SSRI. Ruhezustand: Aktivitätsverringerung in praegenual.., dors. und post. Cing., lat. FC, Insula. Aktivitätserhöhung in Thalamus, Caudatum, med. FC, OFC, linker sup. FrC und rechter mittl. FrC. Aktivierungsparadigma bei negativen Darstellungen: Aktivitätsverringerung in linkem OFC, praegen., dors. und post. Cing., lat. FC, Insula, STG. Aktivitätserhöhung in lat. FC, post. Cing., Amygdala (!), Putamen, Cerebellum. SSRI-Verabreichung: Aktivitätsverringerung in Insula, Putamen, praeund subgen. Cing., inf. PFC, linker sup. FC. Aktivitätserhöhung mittl. FC, dors. und post. Cing., Putamen. Widersprüchlich, teilweise überlappende Aktivierung u. Deaktivierung GENERELLE UNZULÄNGLICHKEIT BISHERIGER UNTERSUCHUNGEN Große Unterschiede in der Methodik (PET, fMRI, SPECT, CT) und in der Auflösung der bildgebenden Verfahren Zu grobe neuroanatomische Zuordnungen Unklare Diagnostik, Ko-Morbiditäten, PsychopharmakaEffekte Unterschiedliche Therapieverfahren (KVT, IPT) Zu kleine Stichproben Zu kurze Therapiezeiten (bis 8 Wochen) Zum Teil keine Kontrollgruppen Bisher keine Untersuchung der Wirkung von PA HANSE-NEURO-PSYCHOANALYSE-STUDIE (HNPS) METHODE 20 depressive Patienten zu Beginn einer rund zweijährigen psychoanalytischen Behandlung, 20 Kontrollpersonen. Bestimmung des Schweregrades der Depression mithilfe des Beck Depression Inventory (BDI) und der Heidelberg Structural Change Scale (HSCS). Ausgedehnte Interviews mithilfe der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD). Identifikation von 4 „Kernsätzen“, die das psychische Betroffensein der Patienten und der Kontrollgruppen am besten ausdrücken. EEG- und fMRI-Messungen zu Beginn der Therapie, nach 7-10 Monaten, nach 15-20 Monaten. HNPS-STUDIE Beck Depression Inventory bei T1 Siemens Allegra fMRI Scanner (3 Tesla) (Universität Bremen, Zentrum für Kognitionswissenschaften) • Die VP bzw. der Patient liest vier Sätze, die sich auf drei unterschiedliche Situationen beziehen: – Entspannungssätze – Stresshafte Verkehrssituation – OPD-generierte individuelle Sätze • 30 Minuten Präsentation der Sätze HNPS-T1, fMRI-Daten: Zentren, in denen die Präsentation der OPD-Sätze bei Patienten eine höhere Aktivität hervorruft als bei Kontrollpersonen fMRI-Daten zu T1: Bei den OPD-Sätzen zeigen die Patienten in der Regel in limbischen und parietalen Zentren eine höhere Aktivität als die Kontrollen. Diese Erhöhung ist besonders deutlich im insulären Cortex und in der Amygdala (Schmerz- und Furcht / Angstwahrnehmung) und im Caudato-Putamen (Verhaltensrelevanz). Keine Unterschiede finden sich im dorsolateralen präfrontalen Cortex. OPD-EXPERIMENTE NACH 7-10 MONATEN (T2) VERÄNDERUNGEN IM BDI NACH 7-10 MONATEN: Depressive Symptome gehen deutlich zurück, sind aber noch nicht verschwunden Reaktionen auf OPD-Sätze: Während die Kontrollen in T1 und T2 die Sätze gleich-relevant und gleich-aufregend beurteilen, vermindert sich in T2 bei Patienten beides. Patienten scheinen „unempfindlicher“ geworden zu sein. OPD Experiment – T2 Hirnareale getestet in T1 und T2: Deutlicher Rückgang der Unterschiede zwischen Patienten und Kontrollen T2: Bei Patienten verringerte Aktivität im ventralen anterioren cingulären Cortex bei Präsentation von OPD-Sätzen im Vergleich zu den Kontrollpersonen: Geringere Beachtung des eig. Leidens Vergleich der Aktivität des Caudato-Putamen von Patienten und Kontrollen bei T1 vs. T2. Angleichung des Verhaltens. ZUSAMMENFASSUNG DER T2-BEFUNDE Befindlichkeit: Die (oberflächliche) depressive Symptomatik, gemessen mit dem Beck Depression Inventory (BDI), fällt während 7-10 Monaten von 25 auf 15 deutlich unter den negativen Schwellenwert von 18. Die „Heidelberg Structural Chance Scale (HSCS, positives Maximum 7) zeigt ebenfalls signifikante Verbesserung von 2,8 auf 3,5, bleibt noch unter dem Schwellenwert von 4. Symptomatisch geht es den Patienten nach 7 Monaten deutlich besser, eine tiefergreifende Besserung scheint sich aber auch nach 1 Jahr noch nicht ergeben zu haben. fMRI-Daten: Die anfängliche Übererregung limbischer Hirnzentren bei Patienten während Präsentation der OPD-Sätze geht zurück (bes. subcortical) und „normalisiert“ sich. Patienten scheinen gegenüber dem eigenen Leiden gleichgültiger zu werden (geringere Aufmerksamkeit - ACC). In den rein kognitiven Hirnzentren tut sich dabei nichts. ZUSAMMENFASSUNG Es bestätigt sich die Hypothese, dass psychische Erkrankungen auf einer Störung corticaler und subcorticaler limbischer Zentren, besonders des anterioren cingulären, insulären und posterior-parietalen Cortex, der Amygdala und des Caudato-Putamen und der Interaktion dieser Zentren einhergehen. Durchgängig findet man bei Depression eine Hyperfunktion subcorticaler und eine Hypofunktion corticaler limbischer Areale. Die Beteiligung kognitiver Areale ist unklar. Bei einer erfolgreichen Psychotherapie scheinen sich solche Störungen zurück-zubilden, d.h. es scheint sich ein neues Gleichgewicht zwischen subcorticalen und corticalen limbischen Arealen (bes. orbitofrontaler, ventromedialer und ant. cingulärer Cortex herzustellen. Diese Änderungen müssen nicht eine Rückkehr zum Normalzustand darstellen, denn das neue Gleichgewicht kann auch auf einem „Abstumpfen“ gegenüber dem Leidensdruck beruhen. Das populäre Modell der rein kognitiven Kontrolle wird durch Befunde NICHT gestützt. Therapeutische Effekte beruhen wohl wesentlich auf Veränderungen der limbisch-emotionalen Zentren und nicht oder nicht primär auf „kognitiver Umstrukturierung“. Dem wird inzwischen in der „bindungsorientierten Verhaltenstherapie“ Rechnung getragen. Internationale Vergleichsstudien zur Wirksamkeit von Psychotherapien ergaben, dass die emotional-vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Therapeut ca. 50% des Therapieeffektes ausmachen. Der „Therapeut“ kann auch eine Gruppe sein. Vergleichbares findet sich bei der Wirkung von Psychopharmaka und Schmerzmitteln. VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT!