GERHARD ROTH KRANKE SEELE – KRANKES GEHIRN? Neurobiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen und ihrer Therapie INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN G. Roth, 2015 Wilhelm Griesinger (18171868) - einer der Begründer der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie: „Psychische Erkrankungen sind Erkrankungen des Gehirns!“ Sigmund Freud (1856-1939) S. Freud „Das Unbewusste“ (1915) „Es ist ein unerschütterliches Resultat der Forschung, dass die seelische Tätigkeit an die Funktion des Gehirns gebunden ist wie an kein anderes Organ. … Aber alle Versuche, von da aus eine Lokalisation der seelischen Vorgänge zu erraten, alle Bemühungen, die Vorstellungen in Nervenzellen aufgespeichert zu denken und die Erregungen auf Nervenfasern wandern zu lassen, sind gründlich gescheitert. Dasselbe Schicksal würde einer Lehre bevorstehen, die etwa den anatomischen Ort des Systems Bw, der bewussten Seelentätigkeit, in der Hirnrinde erkennen und die unbewussten Vorgänge in die subkortikalen Hirnpartien versetzen wollte. Es klafft hier eine Lücke, deren Ausfüllung derzeit nicht möglich ist, auch nicht zu den Aufgaben der Psychologie gehört. “ SIND WIR INZWISCHEN WEITER? HYPOTHESE Psychische Erkrankungen beruhen auf strukturellen und funktionalen Störungen corticaler und subcorticaler limbischer Hirnzentren und ihrer Interaktion mit cortical-exekutiven Zentren (bes. präfrontaler Cortex) Psychische Erkrankungen werden verursacht durch eine Kombination genetisch-epigenetischer Vorbelastung, einer Schwächung der Stress-Achse, frühkindlicher Traumatisierung und negativer Erfahrungen in späterer Kindheit und Jugend. Eine erfolgreiche Psychotherapie sollte einhergehen mit einer sichtbaren Veränderung der gestörten Aktivität der limbischen Zentren und ihrer Interaktion. Längsschnitt durch das menschliche Gehirn Blau: Limbisches System als Sitz der Persönlichkeit und „Psyche“ Hypothalamus (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Limbisches System AUSGANGSSITUATION Angststörungen und depressive Erkrankungen haben eine sehr hohe Prävalenz (Angststörungen 25-30%, Depressionen 13-17%). Die Behandlungserfolge sind zumindest bei Depression begrenzt, d.h. bei ca. 1/3 depressiver Patienten zeigen sich deutliche und langanhaltende, bei einem weiteren Drittel nur mäßige und vorübergehende Erfolge mit hohen Rückfallquoten (> 60%; Holzheimer & Mayberg, 2010), beim restlichen Drittel keine deutlichen Effekte. Die von den gängigen Psychotherapien gelieferten Wirkungserklärungen sind nicht hinreichend von grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen und von empirischen Studien gestützt. WICHTIGE SCHRITTE IN DER PSYCHONEURALEN ENTWICKLUNG DES KINDES • Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich, früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Beruhigungssystems (früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Motivationssystems (erste Lebensjahre) • Entwicklung des Impulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr) • Entwicklung des Bindungssystems und von Empathie und Theory of Mind (2.-20. Lebensjahr) • Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3. – 20. Lebensjahr oder noch später) „STRESS ACHSE“ CRF-ACTH-Cortisol-Rückkopplungsschleife zwischen Nebennierenrinde, Hypothalamus und Hippocampus Hypothalamus CRF + _ Hippocampus Hypophyse + ACTH _ Min.-C. R. + Nebennierenrinde Cortisol Cortisol AUSWIRKUNGEN PRÄNATALEN UND POSTNATALEN STRESSES Pränatal über mütterliche Stresserfahrung sowie früh-postnatal wird der Besatz mit Glucocorticoid-Rezeptoren in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns massiv gestört. Bei relativ mildem postnatalen Stress und Bindungserfahrung kommt es zu einem Hypercortisolismus, d.h. einer Überängstlichkeit, Angstzuständen, melancholischer Depression und reaktiver Aggression. Bei starkem, chronischem und nicht bewältigbaren Stress kommt es zu einen Hypocortisolismus, der zu atypischer Depression, Hilflosigkeit, Empfänglichkeit für PTSD und emotionaler Unempfindlichkeit bis hin zu Psychopathie führen kann. SEROTONIN- (5HT-) SYSTEM Cools et al., Nature Neuroscience 2007 Caspi et al., Science 2002 Niedrige MAO-A-Aktivität, frühkindliche Misshandlung (drei Kategorien) und späteres antisoziales Verhalten (vier Kategorien) Verhaltensauffälligkeit Gewaltbereit -schaft Straffällig wg. Gewaltverbrechen Antisoziale Persönlichkeitsstörung Die frühkindliche Bindungserfahrung ist die wichtigste Erfahrung in unserem Leben. Durch sie wird unser individuelles und gesellschaftliches Verhalten bestimmt: Selbstwertgefühl, Empathie, Verantwortlichkeit. Aktivierung des Motivationssystems durch Blickkontakt mit einem freundlichen Menschen Aron et al., J. Neurophysiol., 2005 Anstieg des Oxytocin-Spiegels bei Eltern und Kind bei liebevoller Interaktion Feldman et al. 2010 DER EFFEKT DER OXYTOCIN-AUSSCHÜTTUNG Reduktion der CRF-ACTH-Cortisol-Produktion und dadurch Verminderung von Angst- und Bedrohtheitsgefühlen. Erhöhung des Spiegels von Serotonin und endogener Opioide und damit Beruhigung und Erhöhung des Wohlbefindens. Anregung der Bildung neuer Nervenzellen in limbischen Zentren des Gehirns (Hippocampus, Basalganglien usw.) und damit Möglichkeit der Kompensation früher psychischer Defizite. KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE Die kognitive Verhaltenstherapie (A. Beck) fokussiert auf: • Bewusstmachung tiefgreifender falscher Kognitionen („Schemata“) • Überprüfung falscher Kognitionen und Schlussfolgerungen auf ihre Angemessenheit • Korrektur von irrationalen Einstellungen („kognitive Re-Strukturierung“) • Dadurch verbesserte kognitive Kontrolle subcorticaler limbischer Strukturen. GEHIRN UND DEPRESSION Populäres funktionales Modell der „kognitiven Kontrolle“: Depression beruht auf dem Zusammenbruch der kognitiven Kontrolle subcorticaler Zentren (vornehmlich der Amygdala) durch den dlPFC und den dACC). Deshalb müsste sich vor Therapiebeginn eine Verringerung dorsofrontaler und eine Erhöhung amygdalärer Aktivität zeigen, was sich nach erfolgreicher Therapie umkehrt. DEPRESSION: Beobachtete Effekte nach KVT dlPFC (Goldapple et al., 2004; Brody et al., 2001a) Ventraler ACC (Brody et al., 2001a) Dorsal midGC (Goldapple et al., 2004) R Basalganglien (Martin et al., 2001) !! Amygdala?? Hippocampus (Goldapple et al., 2004) !! L temporaler Cortex (Brody et al., 2001) GENERELLE AUSSAGE ZU KVT Das KVT-Paradigma der kognitiven Umstrukturierung als Hauptfaktor des Therapieerfolges wird empirisch nicht bestätigt und ist auch nicht mit neuroanatomischen und neurophysiologischen Erkenntnissen über die Verbindung des (dorso)lateralen PFC mit subcorticalen Zentren vereinbar: Der dorsolaterale und laterale PFC haben keine nennenswerten direkten Verbindungen zur Amygdala, zum Nucleus accumbens/VTA und können sie somit nicht stark beeinflussen. Die wesentliche Wirkung von KVT muss also auf emotional wirkenden Faktoren wie Bindung („Bindungsorientierte KVT“) und auf Training/Einüben („prozedurale Effekte“) beruhen. PSYCHOANALYTISCHE THERAPIE Die psychoanalytische Therapie versucht, dem Patienten ein vertieftes Verständnis der ursächlichen (meist unbewussten) Zusammenhänge seines Leidens zu vermitteln, das in der Regel aus negativen (früh)-kindlichen und pubertären Erfahrungen bzw. Defiziten resultiert. Verdrängte Erfahrungen sind einer Verarbeitung durch das Bewusstsein vorübergehend entzogen und können nicht in die Persönlichkeit integriert werden. Dies wird nach Meinung von Freud und der meisten heutigen Psychoanalytiker geleistet durch das Bewusstmachen und Deuten dieser Konflikte und eine dadurch ermöglichte Integration dieser Mitteilungen durch den Patienten. . HANSE-NEURO-PSYCHOANALYSE-STUDIE (HNPS) Magnetenzephalograph (MEG) Kernspintomograph (NMR) Magnet Magnet • Die VP bzw. der Patient liest vier Sätze, die sich auf drei unterschiedliche Situationen beziehen: – Entspannungssätze – Stresshafte Verkehrssituation – OPD-generierte individuelle Sätze • 30 Minuten Präsentation der Sätze HNPS-T1, fMRI-Daten: Zentren, in denen die Präsentation der OPD-Sätze bei Patienten eine höhere Aktivität hervorruft als bei Kontrollpersonen VERÄNDERUNGEN IM BDI NACH 7-10 MONATEN: Depressive Symptome gehen deutlich zurück, sind aber noch nicht verschwunden Hanse-Neuro-Psychoanalyse-Studie Vergleich der Aktivität der Amygdala und des Caudato-Putamen von Patienten und Kontrollen bei T1 vs. T2 (12 Monate) Verringerte Aktivität im ventralen anterioren cingulären Cortex bei Präsentation von OPD-Sätzen in T2 bei Patienten: Verringerter Leidensdruck durch Abstumpfung? PSYCHOANALYSE: „BEWUSSTMACHEN UNBEWUSSTER KONFLIKTE“ Prozesse in subcorticalen limbischen Zentren (Hypothalamus, Amygdala, Nucleus accumbens usw.), aber auch solche, die vor der Ausbildung eines erinnerungsfähigen corticalen Langzeitgedächtnisses bewusst erlebt werden („infantile Amnesie“), können grundsätzlich nicht bewusst gemacht werden, Diese Inhalte sind psychisch wirksam und äußern sich in der psychischen Befindlichkeit und der nichtverbalen Kommunikation (Gestik, Mimik, emotionale Sprache). Sie können nichtverbal vom Therapeuten erfahren werden, und zwar im Rahmen von Übertragung und Gegenübertragung.. Eine rein sprachlich-aufklärende Mitteilung an den Patienten wirkt nicht auf die subcorticalen limbischen Zentren. Deshalb kann die „Deutung“ des Leidens durch den Therapeuten keine tiefgreifende Wirkung haben. „COMMON-FACTOR“ - THEORIE . Zahlreiche Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapien (z.B. Wampold, 1997; Imel und Wampold, 2008) ergaben, dass die gängigen Psychotherapien mehr oder weniger dieselbe Effektivität zeigen; 30-70% der Wirkung scheinen auf einen gemeinsamen Faktor zurückzugehen Dieser scheint im Bindungs- und Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Patient, dem Glauben des Therapeuten an seine Methode (welcher Art auch immer) und dem Glauben des Patienten, dass ihm geholfen werden wird („therapeutische Allianz“), zu bestehen. Allerdings scheint dieser „Common factor“ nur für die erste Therapie-Phase zu gelten. ERSTE THERAPIE-PHASE Die „therapeutische Allianz“ führt wahrscheinlich zu einer Beeinflussung des CRF- bzw. Cortisol- und Serotonin-Stoffwechsels durch die bindungsbezogene Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden. Eine bindungsorientierte PT könnte die Oxytocinfreisetzung erhöhen und dadurch die CRF- und Cortisolfreisetzung hemmen. Dies würde eine Hochregulation von 5-HT1A-Rezeptoren im vmPFC bewirken und seine grüblerische „Innengerichtetheit“ vermindern. Die eigentlichen strukturell-funktionalen Defizite werden dabei aber offenbar nicht behoben – dies könnte die hohe Rückfallquote bei Depression erklären. Karlsson, 2010, Psychol. Medicine 40. Erhöhte 5-HT1A-RezeptorBindung bei depressiven Patienten nach einer psychodynamischen Kurzzeittherapie, und zwar vornehmlich in der Amygdala, im Hippocampus, insulärem, medio- und orbitofrontalen Cortex (generell 8%), nicht im dlPFC. ZWEITE THERAPIE-PHASE Behandlung von Störungen als Ergebnis einer Kombination genetisch-epigenetischer Vorbelastungen, einer Traumatisierung in früher Kindheit bis hin zu schweren strukturellen, meist entwicklungsbedingten Störungen z.B. in der Verteilung, Dichte und Empfind-ichkeit von Cortisol- und Serotoninrezeptoren in den limbischen Zentren und einem Ungleichgewicht zwischen diesen Zentren. Diese Störungen können offenbar nur sehr langsam und auf eine Weise, die dem impliziten Lernen ähnelt, behandelt werden, indem sich auf der Ebene der Basalganglien neue Muster von Antworteigenschaften („Ersatzschaltungen“) ausbilden, welche die alten Muster überlagern, ohne sie ganz auszulöschen. Hierbei könnte die Oxytocin-vermittelte Neubildung von Neuronen im Hippocampus und in den Basalganglien eine wichtige Rolle spielen. Schnitt durch die Basalganglien Nucleus caudatus Putamen Globus pallidus Funktionelle Organisation des Striatum (Nucleus caudatus, Putamen, Nucleus accumbens/ventr. Striatum Instr. Lernen Gewohnheiten -Fertigkeiten Bewertung Liljeholm und O‘Doherty, TiCS 2012 ZUSAMMENFASSUNG I „Seele“ , d.h. Psyche und Persönlichkeit entstehen in strenger Parallelität zur Entwicklung des Gehirns. Hierbei entstehen im Gehirn die sechs neuropsychischen Systeme, die aufeinander aufbauen: • • • • • • Stressverarbeitung (HPA-Achse) Selbstberuhigung und Frustrationstoleranz Emotions- und Impulskontrolle Bindung und Sozialität (Empathie, Theory of Mind) Belohnungsempfindlichkeit und Belohnungserwartung Realitätsbewusstsein und Risikowahrnehmung Defizite im Stressverarbeitungs-, Selbstberuhigungs- und Bindungssystem liegen allen psychischen Störungen und Verhaltensproblemen zugrunde. ZUSAMMENFASSUNG II Psychotherapien verlaufen oft in zwei unterschiedlichen Phasen: In der ersten Phase tritt eine schnelle, aber überwiegend unspezifische Besserung aufgrund der „therapeutischen Allianz“ und der damit verbundenen Wirkung von Oxytocin und endogenen Opioiden („common factor“) ein. In der zweiten, langwierigen Phase muss es zu funktionalen und strukturellen Veränderungen in subcorticalen limbischen Zentren (Amygdala, Basalganglien) auf der Ebene von Rezeptoren im Bereich der Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bindungsfähigkeit und Impulshemmung kommen. Dies geschieht in einer „impliziten“ bzw. „prozeduralen“ Weise, die langwierig und dornig ist. Dennoch ist diese zweite, langwierige Phase notwendig für eine nachhaltige Linderung der psychischen Störungen. Klett-Cotta, Stuttgart 2014 VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT!