GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN DIE ENTWICKLUNG DES KINDLICHEN GEHIRNS – NORMALITÄT UND TRAUMATISCHE STÖRUNGEN G. Roth, 2011 AUSGANGSTHESE Alle psychischen Funktionen sind aufs Engste mit Hirnfunktionen verbunden. Entsprechend gibt es eine strenge Parallelität zwischen der Entwicklung des Gehirns und der Entwicklung von Psyche und Persönlichkeit. Störungen der psychischen Entwicklung sind deshalb stets mit Störungen von Hirnfunktionen verbunden, besonders mit solchen des limbischen Systems,. Dies gilt unabhängig davon, welches ihre Ursachen sind. Diese können genetisch, entwicklungsbedingt und umweltbedingt sein – das Gehirn ist der „Treffpunkt“ der Wirkung dieser Faktoren. Seitenansicht des menschlichen Gehirns Großhirnrinde Kleinhirn Längsschnitt durch das menschliche Gehirn Hypothalamus (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Limbisches System Vorgeburtliche Entwicklung des menschlichen Gehirns VORGEBURTLICHE HIRNENTWICKLUNG 5.-7. Woche: Beginn der Entwicklung limbischer Zentren (Hypothalamus, Amygdala, Septum, Nucleus accumbens) 7.-8. Woche: Beginn der Entwicklung der Basalganglien, von Teilen des Kleinhirns, des limbischen Cortex 13. Woche: Beginn der Entwicklung des Hippocampus und der umgebenden Rinde 14.-21. Woche: Beginn der Entwicklung des Cortex, des Gyrus cinguli, des Hinterhaupts- und Scheitellappen 22. Woche: Beginn der Entwicklung des Hippocampo-corticalen Systems 26.-38. Beginn der Entwicklung des präfrontalen Cortex Die Interaktion mit der Umwelt beginnt bereits vor der Geburt! CORTICALE SYNAPTISCHE KONTAKTE (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Neurobiologische Erkenntnisse Die menschliche Entwicklung vollzieht sich im Zusammenspiel zwischen Umwelt und Gehirn Erfahrungen tragen zu Verknüpfungen von Neuronen bei Die Verknüpfung der Neuronen erfolgt überproportional häufig in der frühen Kindheit und nimmt zum Erwachsenenalter hin langsam ab FRÜHES LERNEN UND HIRNREIFUNG A Dendrit Axon Synapse B Grobvernetzung Verstärkung C Abschwächung Umwelt emotionale Erfahrungen, Lernen, Erziehung II III „Formatierung“, Feinvernetzung Entwicklung der Synapsenzahl im Laufe des Lebens NACHGEBURTLICHE HIRNENTWICKLUNG Dendritenentwicklung und Synapsendichte Visueller Hinterhauptscortex: Höhepunkt der Dendritenentwicklung und Synapsendichte mit einem Jahr, dann Reduktion bis zum 11. Jahr. Broca-Sprachareal (grammatisch-syntaktische Sprache): Ausreifung ab Ende des dritten Jahres. Frontalcortex (Intelligenz/Denken/Urteilskraft): Höhepunkt der Dendritenentwicklung und Synapsendichte mit 1 Jahr (doppelt so hoch wie im visuellen Cortex). Reduktion ab 5-7 Jahren, Ende mit ca. 16 Jahren, beim OFC bis 22 Jahren. Myelinisierung ENTWICKLUNG DER MYELINISIERUNG CORTICALER AXONE Primäre sensorische und motorische Areale (pränatal) Sekundäre sensorische und motorische Areale (perinatal) Assoziative okzipitale, parietale und temporale Areale (1.- 4. Monat postnatal) Präfrontale Areale (vorpubertär) Orbitofrontale Areale (bis nach der Pubertät) NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich zusammen mit der Entwicklung des limbischen Systems auf drei „limbischen Ebenen“ Querschnitt durch das menschliche Gehirn auf Höhe des Hypothalamus Großhirnrinde Hypothalamus Untere limbische Ebene Gehirn: Hypothalamus – zentrale Amygdala –vegetative Zentren des Hirnstamms Ebene unbewusst wirkender angeborener Reaktionen und Antriebe: Schlafen-Wachen, Nahrungsaufnahme, Sexualität, Aggression – Verteidigung – Flucht, Dominanz, Wut usw. Diese Ebene ist überwiegend genetisch oder durch vorgeburtliche Einflüsse bedingt und macht unser Temperament aus. Sie ist durch Erfahrung und Erziehung kaum zu beeinflussen. Hierzu gehören grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit-Verschlossenheit, Selbstvertrauen, Kreativität, Vertrauen-Misstrauen, Umgang mit Risiken, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein. Amygdala: Zentrum für emotionale Konditionierung und das Erkennen emotionaler Signale Amygdala (Mandelkern) Mittlere limbische Ebene Gehirn: basolaterale Amygdala, mesolimbisches System Ebene der unbewussten emotionalen Konditionierung: Anbindung elementarer Emotionen (Furcht, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung und Erwartung) an individuelle Lebensumstände. Die Amygdala ist auch der Ort unbewusster Wahrnehmung emotionaler kommunikativer Signale (Blick, Mimik, Gestik, Körperhaltung, Pheromone). Diese Ebene macht zusammen mit der ersten Ebene (Temperament) den Kern unserer Persönlichkeit aus. Dieser Kern entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist im Jugend- und Erwachsenenalter nur über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen veränderbar. Erkennen emotionalkommunikativer Signale (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Pheromone) Aktivierung des mesolimbischen Systems (VTA-Nucleus accumens) bei Gewinn-Erwartung Knutson B. et al. (2003) Neuroimage, 18:263-272. Ausschüttung hirneigener Opiate durch Blickkontakt Kampe K.K.W. et al. (2001) Nature, 413:589. Obere limbische Ebene Gehirn: Prä- und orbitofrontaler, cingulärer und insulärer Cortex. Ebene des bewussten emotional-sozialen Lernens: Gewinn- und Erfolgsstreben, Anerkennung–Ruhm, Freundschaft, Liebe, soziale Nähe, Hilfsbereitschaft, Moral, Ethik. Sie entwickelt sich in später Kindheit und Jugend. Sie wird wesentlich durch sozial-emotionale Erfahrungen beeinflusst. Sie ist entsprechend nur sozial-emotional veränderbar. Hier werden zusammen mit den unteren Ebenen grundlegende sozial relevante Persönlichkeitsmerkmale festgelegt wie Machtstreben, Dominanz, Empathie, Verfolgung von Zielen und Kommunikationsbereitschaft. Funktionale Gliederung der Großhirnrinde BEWEGUNGSVORSTELLUNGEN MOTORIK ANALYSE PLANUNG ENTSCHEIDUNG SOMATOSENSORIK KÖRPER RAUM SYMBOLE SEHEN SPRACHE BEWERTUNG AUTOBIOGRAPHIE OBJEKTE HÖREN GESICHTER SPRACHE SZENEN Selbsterfahrener Schmerz (rot) und beobachteter Schmerz (blau) (Olsson und Ochsner, TiCS 12: 65-71 (2007) VIER-EBENEN-MODELL DER PERSÖNLICHKEIT - WICHTIGE SCHRITTE IN DER PSYCHO-NEURALEN ENTWICKLUNG DES KINDES • Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems (vorgeburtlich, früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Beruhigungssystems (früh nachgeburtlich) • Entwicklung des internen Motivationssystems (erste Lebensjahre) • Entwicklung des Impulshemmungssystems (1.–20. Lebensjahr) • Entwicklung von Empathie und Theory of Mind (3.-20. Lebensjahr) • Entwicklung des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung (3. – 20. Lebensjahr oder noch später) STRESS-REAKTION Erste Stress-Reaktion: Adrenalin-Noradrenalin (Nebennierenmark, Locus coeruleus). Sekundenschnelle Erhöhung des Muskeltonus, der Reaktionsbereitschaft und der Aufmerksamkeit („Schreck“). Zweite Stress-Reaktion: Cortisol (Nebennierenrinde) Mobilisierung der metabolischen, physiologischen und psychischen Reserven. Das Stressverhalten wird vorgeburtlich und früh-nachgeburtlich über das mütterliche Gehirn bzw. andere Umwelteinflüsse „eingestellt“ (Erhöhung und Erniedrigung der Zahl der Cortisolrezeptoren bes. in der Amygdala und im Hippocampus). STRESSREGULATION Milder Stress („Herausforderung“) ist gut, Dauerstress schädigt das Gehirn durch Überproduktion von Cortisol. Negative Rückkopplung „STRESS ACHSE“ CRF-ACTH-Cortisol-Rückkopplungsschleife zwischen Nebennierenrinde, Hypothalamus und Hippocampus Hypothalamus CRF + _ Hippocampus _ Hypophyse ACTH _ Gluc.R. + Nebennierenrinde Cortisol Cortisol Bremner et al. American Journal of Psychiatry 2003 Untersuchung an 33 Frauen, davon 10 mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit und mit PTSD (A), 12 Frauen mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit ohne PTSD (B) und 11 Frauen ohne beides. Messung des Hippocampus-Volumens mit strukturellem MRI, Messung der HC-Aktivität während einer deklarativen Aufgabe mit PET Der HC von Gruppe A war um 16% verkleinert gegenüber dem von Gruppe B und um 19% verkleinert gegenüber Gruppe C. Besonders stark betroffen war der rechte HC (22% A vs. C). Bremner et al., 2003; Am. J. Psychiatry Figure 1 Figure 2 SEROTONERGES BERUHUNGSSYSTEM Serotonin (Locus coeruleus): Normale Funktion (1A-Rezeptoren): Regulation der Nahrungsaufnahme, Schlaf und Temperatur; Dämpfung, Beruhigung, Wohlbefinden. Mangel ruft Schlaflosigkeit, Depression, Änstlichkeit, reaktive Aggression und Impulsivität hervor. Erhöhte Ängstlichkeit über Defizite im Transporter-Gen (5-HTT). Erhöhte Aggression über Defizite im MAO-A-Gen. 2A-Serotoninrezeptoren wirken dagegen offenbar impuls-und ängstlichkeitssteigernd. POLYMORPHISMUS DES 5-HT-TRANSPORTER-GENS Canli und Lesch, Nature Neuroscience 2007 5-HTT-DNA Kurze und lange 5-HTT-PromoterRegion 5-HT-SYNAPSE Die kurze Variante des Transporter-Gens ist korreliert mit erhöhten Angststörungen, Depression und reaktiver Gewalt als Folge eines erhöhten Bedrohtheitsgefühls und verminderter Impulskontrolle. Science 2002 Caspi et al., Science 2002 Niedrige MAO-A-Aktivität, frühkindliche Misshandlung (drei Kategorien) und späteres antisoziales Verhalten (vier Kategorien) Verhaltensauffälligkeit Gewaltbereit -schaft Straffällig wg. Gewaltverbrechen Antisoziale Persönlichkeitsstörung CORTICAL-LIMBISCHES IMPULSHEMMUNGSSYSTEM (Glutamat, GABA) Hemmende corticale Verbindungen, bes. vom orbitofrontalen, anterioren cingu-lären, temporalen und ento-rhinalen Cortex zur Amygdala Erregende Verbindungen der Amygdala zum Cortex, bes. zum präfrontalen, prämotorischen, insulären und entorhinalen Cortex SOZIALITÄTS- UND EMPATHIESYSTEM Sozialität und Bindung (Hypothalamus, mesolimbisches System, Amygdala): Oxytocin, endogene Opiate. Empathie (orbitofrontaler, anteriorer cingulärer, insulärer und superior-temporaler Cortex, mesolimbisches System, Amygdala): Übertragung des eigenen Schmerzverhaltens auf andere Personen („Mitleid“). Selbst empfundener Schmerz und empathischer Schmerz Die frühkindliche Bindungserfahrung ist die wichtigste Erfahrung in unserem Leben. Durch sie wird unser individuelles und gesellschaftliches Verhalten bestimmt: Selbstwertgefühl, Empathie, Verantwortlichkeit. ZUSAMMENFASSUNG Das Gehirn reift vor- und nachgeburtlich aus auf der Grundlage einer engen Interaktion von genetischer Steuerung, Selbstorganisation und Umwelteinflüssen. Der anfänglichen Überproduktion von Neuronen und Synapsen folgt eine durch diese drei Faktoren gesteuerte Reduktion. In diesem Rahmen entstehen die sechs psychischen Kontrollsysteme: • • • • • • Stressverarbeitung Bedrohungsempfindlichkeit und Frustrationstoleranz Impulsivität und Impulskontrolle Belohnungsempfindlichkeit und Belohnungserwartung Bindung und Sozialität (Empathie, Theory of Mind) Realitätsbewusstsein und Risikowahrnehmung Diese Systeme entwickeln sich höchst individuell und wechselwirken verstärkend und hemmend miteinander. Hiermit lassen sich gut die Hauptfaktoren der Persönlichkeit und ihre Entwicklung bzw. Fehlentwicklung erklären. ICH DANKE IHNEN FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT